7
Kapitel
Erstes Kapitel , Zweites Kapitel , Drittes Kapitel , Viertes Kapitel , Fünftes Kapitel ,
Sechstes
Kapitel , Siebtes
Kapitel ,
Achtes Kapitel ,
Neuntes Kapitel ,
Zehntes
Kapitel , Elftes
Kapitel , Zwölftes
Kapitel , Dreizehntes
Kapitel ,
Vierzehntes Kapitel , Fünfzehntes
Kapitel , Sechzehntes
Kapitel ,
Siebzehntes
Kapitel , Achtzehntes
Kapitel , Neunzehntes Kapitel
Eine
Studie
Vor kurzem
las ich einen Bericht über eine Studie von Harald Euler in der Fachpresse, die
sich mit Mädchen und Pferden beschäftigte.
Er
untersuchte die Anziehungskraft, welche ein Pferd auf ein Mädchen ausüben kann.
Er beschreibt es als Phänomen junger Frauen. Männer seien am Reitsport nicht
mehr interessiert gewesen, seitdem es nach dem zweiten Weltkrieg Frauen möglich
war, die Reitvereine zu besuchen. Nach nur zehn Jahren waren die Frauen den
Männern zahlenmäßig bereits überlegen. Vor Ende des Krieges hieß es noch,
Frauen wären nicht in der Lage, rittlings zu reiten, denn sie verfügen nicht
über die ausreichende Muskulatur, ein Pferd zu lenken.
Die Frage,
die sich mir stellte, war, ob Frauen Pferde zum Selbstzweck besitzen wollen
oder aus demselben Zweck wie Männer? Aber eigentlich wird diese These auch
hinreichend geklärt. Männer reiten Turniersport, Frauen – reiten. Es gibt die
eine oder andere Ausnahme, aber die Zahlen sprechen für sich.
Man
überwindet die Pferde-Phase als Frau letztendlich, so heißt es.
Mädchen
überbrücken die Zeit der Kindheit mit Puppen, um die sie sich kümmern, die
weitere Kindheit bis zum Teenageralter mit Pferden, um die sie sich kümmern,
bis sie dann irgendwann eigene Kinder haben, welche dann den letzten Ersatz
darstellen, um welchen sich gekümmert werden muss. Pferde dienen der
emotionalen Bindung der Mädchen, in einem gewissen Alter.
Das Pferd
sei das Sinnbild einer Therapie für das Mädchen, denn es biete ihm einen Ausweg
aus der adretten, sauberen Umwelt, in die es gezwungen wird.
Nur einem
geringen Prozentteil der Bevölkerung ist der tatsächliche Besitz eines Pferdes
möglich. Das Offensichtliche sind die Kosten, Pferdesport zu betreiben.
Erblicke
ich ein Pferd, erfüllt mich stumme Ehrfurcht. Wie es schaut. Wie es sich
bewegt. Es hat etwas Uraltes an sich. Und das ist es auch, was es ist. Das
Pferd existiert seit 60 Millionen Jahren auf der Erde. Damals war es so groß
wie ein Hund, aber dennoch begleitet es den Menschen seit der Zeit der
Neandertaler, also seit mehr als 15.000 Jahren.
Heute gilt
Pferdesport als Luxussport. Ein Nutztier, dessen Verzicht bis weit in das 20.
Jahrhundert noch undenkbar gewesen war, wird zum Luxusobjekt.
Heute ist
es günstiger, ein Auto zu besitzen, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Es
ist simpler, sauberer, günstiger zu finanzieren. Nutzfahrzeuge der
Landwirtschaft erledigen schneller und kostensparender die Arbeiten, für die
diese Tiere einst unersetzbar waren.
Damit
einher geht somit recht unstreitig die These, dass die Pferdehaltung im
klassischen Sinne überholt ist, unnötig und nur Pferdeliebhabern vorbehalten. Das
Pferd heutzutage hat keinen landwirtschaftlichen überdimensionalen Nutzen mehr.
Die Zucht und das Training eines Pferdes gipfeln im reinen Gebrauch des Tieres.
Nicht als Arbeitstier, nicht als Transporttier. Sein Nutzen ist dem eines
kostspieligen Haustieres gewichen, größer als Katze oder Hund, mit dem
Hintergrund, es vorzuführen, seine Fähigkeiten im Lauf oder Sprung zu
demonstrieren, zu zeigen, dass man in der Lage ist, ein solches Tier zu reiten,
zu kontrollieren.
Reduziert
man also den Nutzen des Pferdes auf den reinen Darstellungszweck seines
Besitzers gelangt man zu dem Ergebnis, dass ein Pferd nur besitzen kann, wer
über das nötige Geld verfügt. Nicht nur allein die Haltung und Versorgung sind
teuer, auch das Zubehör für Mensch und Tier hat seinen Preis.
Der
Reitunterricht ähnelt immer noch dem militärischen Stil der Dressur. Es ist die
Basis, denn es gilt, die Bewegung des Pferdes zu begreifen, und sie am
vorteilhaftesten für den Reiter zu nutzen. Es dient dazu, das Gleichgeweicht
des Pferdes zu fördern, in dem der Reiter sich so auf dem Pferderücken bewegt,
dass er die Bewegungen des Pferdes nachahmt, es unterstützt und damit praktisch
eins mit dem Pferd wird.
Die
Grundidee galt der Gesundheitsförderung des Tieres, denn im Militär war es durchaus
rentabler ein Pferd solange wie möglich nutzen zu können. Außerdem war es
wichtig, dass sich der Reiter auf das Tier verlassen konnte, dass es sich so
bewegte, wie es musste.
Heutzutage
wird ein Pferd nicht mehr für die Militärarbeit ausgebildet. Die Dressur eines
Pferdes endet im Turniersport.
Diese
Disziplin entstand vor über hundert Jahren unter Offizieren und war diesen
zunächst auch vorbehalten. Es wirkt wie eine Perversion des eigentlichen
Nutzens des Tieres, zwingt man es nämlich zu einer unnatürlichen Körperhaltung
und verursacht dadurch letztendlich doch massive Schäden an seiner Gesundheit.
Betrachtet
man also den damaligen Zweck eines Pferdes – nämlich der Haltung als
Nahrungsquelle des Menschen, anschließend die Zähmung zum Arbeits-, Nutz- und
Reittier – ist der Zweck heute ein anderer. Vor allem, weil die wenigstens
Reiter ein eigenes Pferd besitzen. Sie leihen sich ein solches und nehmen
teuren Unterricht.
Fragt man
die Reiterin, weshalb sie Reitunterricht nimmt, ist die Antwort häufig
dieselbe. Sie liebte Pferde schon als Mädchen und wollte immer reiten. Und mehr
wird sie nicht sagen.
Man ist
immer Opfer seiner Sozialisation. Persönlich sehe ich hinter einem Pferd mehr
als die Zuneigung, die ich für das Tier empfinde. Mir wurden der Wert und der
Nutzen einer jeden Sache näher gebracht. Was man haben will, muss man sich
leisten können.
Diese
simplen Worte ziehen in Bevölkerungsschichten eine klare Grenze. Nicht jeder
kann sich ein Auto leisten. Nicht jeder leistet sich ein Haus. Nicht jeder hat
Platz auf seinem Grundstück. Und erst nach der Deckung des Grundbedarfs eines
Menschen, manchmal größer oder kleiner, schließt sich der Besitz eines Pferdes
vielleicht an.
Entfernt
man sich vom Wert und Nutzen des Tieres, kann man sich seiner Existenz und
seiner Ausstrahlung gegenüber stellen. Das Bewusstsein für das Tier ist für
mich dann ein anderes.
Es
symbolisiert eine unberührte Schönheit der Natur und Freiheit, welche der
Verstand in einer funktionierenden, wirtschaftlich orientierten Welt nicht mehr
finden kann.
Die Idee
Pferd ist ein Gegenbeispiel zum gewöhnlichen Alltag. Es bedeutet nicht nur
finanzielle, sondern auch geistige Freiheit. Das Bild, auf dem Pferd durch die
unberührte Natur zu reiten, sich der Stille und Entspannung hingeben zu können,
stimuliert zumindest meine Vorstellung von gedanklicher Harmonie.
Dazu kommt
die Fähigkeit eines Menschen, die es bedarf, ein Pferd zu führen.
Es ist kein
Auto. Es genügt nicht, den Schlüssel zu drehen und die Pedale zu betätigen.
Es bedarf eines
Könnens, eines Feingefühls. Es geht um Fertigkeiten, die sich nur durch
Ausdauer und Hingabe erlernen lassen. Dafür benötigte man die kostbare Zeit,
über die niemand mehr verfügt, in der Zeit der Beschleunigung und des
Fortschritts.
Es benötigt
Vertrauen. Nicht das Vertrauen, was man Menschen entgegenbringt, was nicht
immer von aufrichtiger Natur ist, denn Menschen bemerken oft die
Unaufrichtigkeit der anderen nicht.
Einem Tier
gegenüber kann man seine wahren Beweggründe jedoch nicht verbergen. Und sind
sie von schlechter Natur, dann spürt das Fluchttier, mit dem feinen Gespür für
die Unaufrichtigkeit des Reiters, dieses sofort.
Ich sprach
von der Dressur, denn in der Theorie ist sie die höchste Kunst des Reitens.
Es verlangt
einem Menschen die höchste Auffassungsgabe in Bezug auf ein Pferd ab. Ausdauer,
Kondition und Begabung. Natürlich mag es eine fragwürdige Kunst sein, denn
neben der Lehre des Pferdes und seiner natürlichen Beschaffenheit, verlangt es
dem Pferd einen menschenähnlich antrainierten Gehorsam ab. Und Gehorsam in
dieser Form liegt wohl in keiner Natur eines jeden Tieres.
Schreibe
ich also über Pferde, geht es in erster Linie um das Tier, jedoch geht es auch
um die Therapie der Seele.
Die Figur
des Pferdes vereinigt so viele erstrebenswerte Ziele.
Ich kam zu
dem Schluss, dass Dressur eine Art analoge Ehrlichkeit darstellt. Keine
Abzweigungen, keine geheimen Schleichwege, keine Hintertürchen, keinen Subtext.
Man muss
dem Pferd die ehrliche Bewegung zeigen, den Befehl physisch erteilen, und nur,
wenn man ihn ehrlich meint, ohne Zögern ausführt, erfolgt die direkte Antwort
des Pferdes auf das unmissverständliche Signal.
Der
Knackpunkt ist das unmissverständliche Signal, das vielen Menschen
Schwierigkeiten bereitet. Denn unmissverständlich kann ein solch subtiles
Signal nur dann sein, wenn man sich selber nicht ablenken lässt, sich nicht
sabotiert. Dressur kann nur reiten, wer mit seinem Körper, mit seiner Sprache,
mit dem Tier im Einklang ist.
Und jedes
Tier merkt, wenn man nicht im Einklang ist.
Diese
Ehrlichkeit geht unter den Menschen verloren, und schnell habe ich begriffen,
diese Geschichte wird von Ehrlichkeit handeln.
Die
Beziehung zwischen Reiter und Pferd muss also zwangsläufig auf Ehrlichkeit
basieren. Denn das Pferd ist ein weitaus zu gefährliches Tier, als dass man
sich auf bloßes menschliches Vertrauen verlassen könnte. Es ist ein
gefährlicher Sport. Er ist reizvoll, wenn man denn glaubt, man besäße
ausreichendes Vertrauen, genügend Ausdauer, genug eigene Überzeugung.
Die
Symbiose zwischen Mensch und Tier war das schönste Bild, was sich mir bis
hierhin offenbart hatte.
Wie gesagt,
man ist Opfer seiner Sozialisation. Ein solches Denken lässt natürlich simple
Rückschlüsse zu. Ich denke, man kann jedes Problem lösen, wenn man sich
genügend Distanz verschafft, und es aus der Entfernung betrachtet.
Und ich
denke, deshalb schreibt man. Und manchmal bringen einen die Worte an
ungewöhnliche Orte, man findet Dinge, die man längst verloren geglaubt hatte.
Denn jeder Reise wohnt eine heimliche Bestimmung inne. Die Worte können einen
so weit fort tragen, dass man, wenn man wiederkehrt, eine völlig neue Sicht der
Dinge hat.
Und die
Seele ist geheilt.
Besonderen
Dank an: Claudia, Gwenny, Ellie, Mary, Dani, Gigi, Blair & Caro – ohne euch
wäre vieles unmöglich gewesen <3
–
Ronja Räubertochters Tochter –
Sie fühlte
sich besiegt von einer größeren Macht, gegen die sie nichts ausrichten konnte. Ihr
Kopf sank auf die Tischplatte, und das Schlimme war, wie enttäuscht ihre Mutter
sein würde. Sie seufzte auf, und wünschte sich, irgendwo anders zu sein. Nur
nicht hier. Kaya plante bereits ihre Flucht. Sie würde ihrer Mutter einfach von
unterwegs eine Flaschenpost schicken und alles erklären, während sie sich
durschlug, als Straßenkünstler oder sie trainierte einen streunenden Hund, der
für sie Geld verdienen könnte, in dem er auf den Hinterbeinen lief. Nicht, dass
sie wüsste, wie eine Flaschenpost in Prenzlau ankommen sollte, aber das waren
nur nebensächliche Kleinigkeiten.
„Schade“,
vernahm sie die verhasste Stimme von Carolina Berg und hob den Blick durch
ihren schützenden blonden Haarvorhang. „Ich hatte gehofft, dass sie fliegen
würde. Wenn sie die Nachprüfung
richtig verhaut, vielleicht darf sie dann sowieso nicht mehr zurück?“ Sie hatte
sich mit milder Schadenfreude an ihren Freund gewandt. Jedoch schien dieser
kein besonderes Interesse an diesem Gespräch zu haben. Das Klassenzimmer leerte
sich schnell.
„Caro,
wieso lässt du mich nicht in Ruhe, ok?“ Bastian Kaminsky war der Oberprimus,
wie ihn Herr Steiner immer nannte. Herr Steiner war ihr Kurslehrer, der ihr
gerade eröffnet hatte, dass sie durch Volleyball spielen und um den Sportplatz
joggen die Sportnachprüfung niemals bestehen würde, und dass Stefanie Weber
letztes Jahr in einem Wildwasser-Camp gewesen wäre, und dort mit ihrem
Camcorder ihre Rafting-Tour gefilmt hatte. So etwas sollte Kaya doch machen!
Klar, sie würde einfach beim verdammten Zirkus mitmachen und sich filmen, wie
sie beim Hochseilakt zu Tode stürzen würde.
Herr
Steiner hatte ihr einige Dinge vorgeschlagen, wie Rock-Climbing, was sie bei
ihrer Höhenangst überhaupt nicht weiter in Erwägung zog, oder Kunstreiten oder
etwas ähnlich Außergewöhnliches, worüber sie auch noch einen Aufsatz schreiben
sollte!
Wieso – wieso?! – hatte ihre Mutter sie nur auf
diese Schule geschickt? Auf der Realschule, auf der sie vorher gewesen war, war
es den Lehrern egal gewesen, ob die Schüler in der ersten großen Pause den
Sportplatz in die Luft gejagt hätten, und hier musste sie Felshänge
hochklettern und sich dabei filmen, um eine Nachprüfung zu bestehen!
Carolina
war fertig, ihrem Freund die Meinung zu sagen und verschwand schnaubend mit
ihren Freundinnen. Sie trug immer hohe Schuhe, ihre braunen Haare lagen immer
lächerlich glatt und perfekt, wie in einer Shampoo-Werbung, und Kaya nahm an,
sie wachte bereits mit perfektem Makeup auf. Immerhin bekam Kaya jetzt nicht
mehr ihre Aufmerksamkeit zu spüren. Sie hasste Carolina Berg und ihren reichen
Vater, mit dem sie überall angab, weil er der Architekt war, der die neue Aula
des Schiller-Gymnasiums finanziert hatte. Wie konnte man schon gegen so etwas
anstinken?
Nur noch
sie und Bastian waren jetzt im Klassenzimmer. Anscheinend hatte sie ihn zu
lange angesehen, denn er schenkte ihr einen gereizten Blick. Tatsächlich war
sie letztes Jahr kurz in ihn verschossen gewesen, aber wirklich nur kurz, denn
wenn man ihn kennenlernte, begriff man, dass er oberflächlich und arrogant war.
Deswegen war er wahrscheinlich auch mit Carolina zusammen.
„Was?“, fuhr er sie an, und sie konnte seine schlechte Laune überhaupt nicht
verstehen. Er war doch wieder einmal Klassenbester. Nur einmal wünschte sie
sich, so viel Glück zu haben. Und sie wünschte, ihre beste Freundin Alina wäre
nicht schon vor einer halben Stunde abgereist. Fast die ganzen Sommerferien
musste sie ohne Alina auskommen, und ihr graute schon vor der Sportprüfung, wo
ihre größte Kunst sein würde, drei Orangen zu jonglieren. Bastian Kaminsky war
Klassenbester, Mädchenschwarm und noch tausend andere Sachen, die Gott manchen
Leuten regelrecht in den Hintern zu schieben schien, um es mit den Worten ihrer
Mutter auszudrücken.
Sein Vater
war Chefarzt der Charité, und sie glaubte nicht, dass sie jemanden kannte, der
reicher war als Bastian Kaminsky. Und dennoch war er so unglaublich ätzend.
„Gar
nichts, ok?“, gab sie genauso gereizt zurück und fuhr sich durch die langen
blonden Haare, die sie nur zum Trotz nicht hatte schneiden lassen, um ihre
Mutter zu ärgern. Mittlerweile kam es ihr kindisch vor, denn sie hatte jetzt
größere Sorgen, als rebellisch gegen ihre Mutter zu sein. Denn ihre Mutter
hatte diese Schule so oft aufgesucht, bis sie Kaya endlich aufgenommen hatten,
dass das schlechte Gewissen ihre Kehle zuschnürte.
Ihre Mutter
würde bestimmt wieder diesen enttäuschten Ausdruck bekommen und kein einziges
Wort sagen, und Kaya würde sich wie die undankbarste Tochter auf der Erde
fühlen.
„Was machst
du hier noch?“, erwiderte er, als gehöre ihm das leere Klassenzimmer. Sie sah
ihn verstört an.
„Wieso? Musst du für den Rest der Ferien das Kursbuch bewachen oder so?“, gab
sie zurück, und er fuhr sich seufzend durch die hellen Haare. Er trug eine
rechteckige Brille, eine weiße Bluse unter einem blauen Pulli und eine dunkle
Jeans. Sie konnten nicht gegenteiliger sein, allerdings saßen sie jetzt
zusammen hier im Klassenzimmer, als hätte auch er gerade eine Lebenskrise. „Ich
warte auf Herrn von Ende“, sagte sie schließlich. Der Schulleiter gewährte den
armen Lämmern der Schule die letzte Ehre, ehe sie geschlachtet wurden, dachte
sie grimmig. Es war so nett wie es demütigend war, nahm sie an. Wahrscheinlich
wollte er ihr ins Gewissen reden, aber wenn es zu Mathe und Sport kam, hatte
sie kein Gewissen. Da war eine nutzlose Leere in ihrem Innern, und sie konnte
es nicht ändern.
Bastian
sagte nichts darauf. Ob auch die guten Schüler vom Schulleiter einen
Schulterklopfer bekamen? Aber Bastian wirkte viel zu nervös, als würde er den
gutmütigen Herrn von Ende erwarten, den Dumbledore ihrer Schule. Er war zwar
nicht so alt und hatte auch keinen Bart, aber wahrscheinlich war er von Grund
auf gut.
„Ich habe
gleich Führerscheinprüfung“, erklärte Bastian jetzt widerwillig und lockerte den
Kragen seines Hemds. Sie runzelte die Stirn. Konnte man das hier in der Schule
haben? Sie würde sich bei dieser Schule über gar nichts mehr wundern! Man
musste sich schließlich auch filmen, während man sich zum Affen machte. Und
tatsächlich war Bastian-Alles-Könner mal nicht vollkommen gelassen und
vorbereitet. Das war auch ein netter Anblick.
„Du bist siebzehn, oder nicht?“, erkundigte sie sich, denn sie hatte nicht
gewusst, dass Bastian Kaminsky älter wäre als sie. Er verdrehte die Augen.
„Sicher bin
ich siebzehn!“, fuhr er sie an. „Mit siebzehn macht man seinen Führerschein!“,
informierte er sie überheblich, als wäre es Allgemeinwissen. Er war so ein
Idiot. Tja, sie würde das nicht tun. Sie würde wohl auch mit achtzehn keinen
Führerschein machen können, sollte sie nicht einen besseren Job finden, als
Prospekte in Prenzlau auszutragen, was ihr drei Euro pro Tag brachte, weil sie
Frank, den Kioskmann, kannte.
Aber sie
wusste, Bastian musste Medizin studieren und Arzt werden. So wie auch sein Vater,
und das auch noch an der Charité, von der ihrer Mutter meinte, dass nur
Einserschüler genommen wurden.
Also, wo
sie nicht mal in einer Millionen Jahren angenommen werden würde. Nicht mal als
Patient, nahm sie bitter an. Sie hatte zwei Fünfen auf dem Zeugnis und
überlegte langsam, ob eine Nachprüfung in Mathe nicht wesentlich einfacher
gewesen wäre, als eine Selbstmord-Mission zum Rock-Climbing?
Sie könnte
auch eine Fahrradtour durch Europa machen, hatte Herr Steiner gesagt.
Allerdings besaß Kaya nicht mal ein Fahrrad. Ihr Kopf legte sich wieder auf die
kühle Tischplatte.
„Wird deine
Mutter ausrasten?“, fragte Bastian jetzt ruhiger, anscheinend um irgendwas zu
sagen, und er klang seltsamerweise fast amüsiert. Sie hob wieder den Kopf und
stützte ihr Kinn auf ihren Händen ab.
„Ich…-
keine Ahnung, nein“, erwiderte sie achselzuckend. Ihre Mutter rastete nicht
aus. Sie war eher der Typ, der still bestrafte, wie die Psychopathen in den
Horrorfilmen, dachte sie beunruhigt. Ihre Mutter benutzte die Schuldschiene.
Nicht die
einmal-ausrasten-und-meiner-Tochter-sechs-Wochen-Hausarrest-geben-Nummer. Ihre
Mutter ging subtiler vor.
„Dann hast
du ja Glück“, bemerkte er neidisch. Kaya lachte freudlos auf.
„Ja, wer
hätte nicht gerne eine Nachprüfung in Sport“, murmelte sie bitter.
„Na und?
Sport ist Kinderkram“, entgegnete er überheblich und fuhr sich wieder durch die
Haare, so dass sie jetzt völlig unordentlich lagen.
„Sebastian“,
durchschnitt eine strenge Stimme die Stille im Klassenzimmer. „Hier bist du.
Ich habe dich schon gesucht.“ Selbst Kaya saß plötzlich gerade auf ihrem Stuhl.
Ja, Dr. Kaminsky war furchteinflößend! Sein Anzug war nachtschwarz, warf keine
einzige Falte, und seine Krawatte war so ordentlich und streng gebunden, dass
sie ihn fast erwürgen musste, nahm sie an.
Bastian sah
ihm unglücklich entgegen. „Zur Feier deiner bald bestanden Fahrprüfungen,
kannst du mich bereits morgen früh nach Tegel zum Flughafen bringen, dann muss
ich kein Taxi bestellen“, klärte sein Vater ihn auf und bemerkte sie erst
jetzt. Er bedachte sie mit einem kurzen Blick. „Ist das Carolina?“, fügte er
nickend hinzu, und Kaya sah von ihm zu Bastian.
Sie
verstand. Bastians Vater hatte also keine Zeit für seinen Sohn, kannte nicht
einmal dessen Freundin und Bastian schien morgen bereits als Fahrer eingespannt
zu sein, obwohl heute noch nicht feststand, ob er überhaupt seine Prüfung
bestand. Bei so viel Druck hätte sie sich schon längst übergeben.
„Mhm“,
sagte Bastian nur, und Kaya starrte ihn an.
„Wirklich nett, doch noch die Freundin meines Sohns kennenzulernen, mein Name
ist Dr. Matthias Kaminsky, vielleicht sieht man sich ja eventuell bei einem
gemeinsamen Essen, wenn ich von meiner Reise wiederkomme?“ Er schüttelte sogar
kurz ihre Hand, ehe er Bastian die warme, starke Hand auf den Rücken legte.
„Sebastian, du hast eine Minute, dich zu verabschieden, dann erwarte ich dich
auf dem Schulhof“, erklärte er mit einem strengen Blick, ehe er Kaya noch
einmal zum Abschied zunickte.
Bastian war
eine Spur blasser geworden. „Du hättest sagen können, dass mein Name nicht
Carolina ist!“, fuhr sie ihn jetzt an. Aber sie meinte es nur halb so ernst,
denn er sah ziemlich mitgenommen aus. Wieder fuhr er sich durch die Haare,
legte kurz die Hände über die Augen, und sie fragte sich, ob sie irgendetwas
Tröstendes sagen musste.
„Ich
verrate dir ein Geheimnis“, begann er mit einem freudlosen Lächeln, als er den
Rücken durchstreckte. „Ich habe verdammte Prüfungsangst“, schloss der fünfmal
wiedergewählte Kurssprecher, der nur Einsen schrieb und dieses Jahr die
souveräne Begrüßungsrede für die Schüler gehalten hatte. Ihre Augen wurden
größer.
„Echt?“ Sie
klang ungläubig, und er sah sie an.
„Echt“,
wiederholte er resignierend.
„Ach komm“, räumte sie jetzt betont munter ein. „Du musst bloß rechts vor links
beachten, bei Rot halten, rückwärts einparken und Anekdoten über Geld und
Sportwagen erzählen, und dann beginnen deine Ferien“, fügte sie achselzuckend
hinzu. „Ich muss Einrad auf der Zugspitze fahren und nicht runterfallen,
während ich mich filme“, endete sie verzweifelt, und tatsächlich schenkte er
ihr ein Lächeln.
„Also, wenn
ich heute bestehe, und du recht hast, dass Geld und Auto-Gespräche mir helfen,
dann komme ich morgen bei dir vorbei und helfe dir bei deinem
Zugspitzen-Problem“, versprach er plötzlich. Sie sah ihn an.
„Ach, schon gut“, murmelte sie. So viel Aufmerksamkeit hatte sie von ihrem
Ex-Schwarm nicht mal dann bekommen, als sie versucht hatte, ihm aufzufallen. Wie
sollte er ihr überhaupt helfen? Und warum bot er es an? Und… hatte er nicht
eine Freundin? Die er seinem Vater nicht vorstellte? Sie hatte einige Fragen,
aber er sah ihr fest ins Gesicht.
„Nein,
wirklich. Versprochen!“, wiederholte er ernst. Sie sagte nichts auf diesen
seltsamen Deal. Er wusste ja nicht mal, wo sie wohnte.
Es klopfte
am Türrahmen.
„Fräulein
Rothenberg?“, sagte der Schulleiter freundlich, und Bastian atmete ein letztes
Mal aus. Er nickte ihr zum Abschied zu, wie sein Vater, ehe er den Schulleiter
passierte.
„Herr von
Ende, schöne Ferien wünsche ich Ihnen“, sagte er noch zum Schulleiter, und
dieser klopfte ihm zumindest auf die Schulter.
„Das
wünsche ich Ihnen auch, Herr Kaminsky. Ich erwarte Sie in sechs Wochen
pünktlich um zehn vor acht“, ergänzte er lächelnd. Bastian hob die Hand zum
Abschied und war verschwunden. Möglicherweise hatte sie ein Date mit dem
Kursschwarm morgen, ging ihr dumpf durch den Kopf, und sie wusste, Alina würde
ausrasten, wenn sie es ihr erzählte. Alina und natürlich Bastians Freundin.
„So, dann
erzählen Sie mir von Ihrem Problem, Fräulein Rothenberg“, begann der
Schulleiter und setzte sich tatsächlich zu ihr an den Doppeltisch, an dem sie
sonst mit Alina saß. Sein Anzug war kariert und seine grauen kurzen, streng
frisierten Haare standen mittlerweile um die Ohren etwas ab, als hätte auch er
einen anstrengenden Tag gehabt.
„Mit wie
vielen armen Fünfer-Schülern mussten Sie schon sprechen?“, fragte Kaya
neugierig, mit ein wenig Mitgefühl für den Schulleiter, der bestimmt auch
andere Sorgen hatte.
„Ach, mit
nicht so vielen, wie Sie wohl glauben mögen“, erwiderte er kryptisch. Was
sollte das heißen? Dass Sie und Jens die einzigen schwarzen Schafe des
Gymnasiums waren? Nicht besonders aufbauend. „Immerhin denke ich, dass die
Nachprüfung bei Ihnen kein Problem darstellen wird, nicht wahr, Fräulein
Rothenberg?“
Kayas Augen
wurden größer. Ach? Nicht?!
„Schade, dass Ihre Mutter nicht auch hier sein konnte“, bemerkte er bedauernd,
aber sie zuckte die Achseln. Ihre Mutter arbeitete. Das war eigentlich die
einzige Antwort, die sie kannte, wenn jemand sie fragte, wo ihre Mutter war.
„Also? Haben Sie sich Gedanken über die Prüfung gemacht?“, fragte er beinahe
fröhlich, und Lehrer waren ihr ein Rätsel. „Ich denke, es sollte ja eine
regelrechte Freude für Sie sein, aus Berlin rauszukommen, nicht wahr? Es kann
im Sommer recht… heiß werden, in der Stadt“, ergänzte er nachdenklich, und ehe
sie fragen könnte, weshalb sie denn nicht den Sommer über in der Stadt sein
sollte, fuhr er fort.
„Wissen
Sie, ich kenne Ihren Großvater tatsächlich“, bemerkte er nickend, als hätte sie
es angezweifelt. „Wir haben gemeinsame Bekannte in Schleswig-Holstein“,
erläuterte abwinkend, falls sie näher hatte darauf eingehen wollen, was sie
nicht wirklich vorgehabt hatte zu tun.
„Ah?“, sagte sie also in Ermangelung besserer Worte.
„Ferien auf
einem Gestüt ist doch für jedes Mädchen ein Traum, nicht wahr?“, fuhr er
lächelnd und fort, und sie nickte knapp. Ja, für jedes Mädchen, das reiten
konnte, Geld hatte und dorthin eingeladen wurde, sicher. Sie nahm an, das
machte dann Mordsspaß. „Verfügen Sie über eine Kamera? Ich weiß, Herr Steiner
liebt Video-Montagen“, ergänzte er zwinkernd. „Falls nicht, können Sie sich
gerne Schulequipment ausleihen, aber bitte heile wiederbringen“, fügte er
mahnend hinzu.
„Vielen Dank, Herr von Ende“, erwiderte sie resignierend. Er nahm an, sie
konnte reiten. Er nahm an, sie kannte ihren Großvater. Aber er kannte ihn
anscheinend besser als sie es tat.
„Ich habe ja
nicht viel mit Pferden zu tun, aber ich habe gehört, dass aus dem Gestüt Ihres
Großvaters die renommiertesten Springpferde stammen?“ Es war eine echte Frage,
die sie mit einem unverbindlichen Kopfrucken beantwortete.
„Kann
sein?“, entgegnete sie vage mit einem schmalen Lächeln.
„Na“, rief
er schließlich aus, erhob sich und zwinkerte ihr zu. „Gut, dass wir dieses
Gespräch hatten und dass es bei Ihnen ja Gott sei Dank so einfach ist, eine
Sportart zu finden, die unseren Herrn Steiner begeistern kann. Er ist ein
Pferdenarr, müssen Sie wissen. Wahrscheinlich hat er Ihre Fünf in Sport bereits
freudig antizipiert“, vermutete Herr von Ende mit jedoch mahnendem Blick, auch
wenn sie nicht wusste, was antizipiert
bedeutete. Aber es klang nicht nett.
Und sie stand
wieder am Anfang. Fahrradfahren auf der Zugspitze klang mittlerweile fast schon
sympathisch. „Grüßen Sie mir Ihre Mutter, Fräulein Rothenberg. Und Ihren
Großvater, wenn Sie ihn sehen“, ergänzte er nickend.
Sicher. Ihr
Großvater kannte ihren Namen zwar nicht, aber das sollte nur ein kleines
Problem werden, bei den fünfhundert anderen Problemen, die sie hatte.
„Danke,
Herr von Ende“, sagte sie, denn sie brachte es nicht über sich diesem
freundlichen Mann zu erklären, dass sie weder reiten konnte, noch Kontakte zu
irgendwelchen Gestütbesitzern pflegte.
„Keine
Ursache, ich helfe gern. Und kommen Sie morgen einfach beim Sekretariat vorbei.
Die Damen werden Sie gerne mit einer Kamera ausstatten, Fräulein Rothenberg“,
wiederholte er ernst. Sie nickte erneut, und dann war sie wieder allein. Und
wieder sank ihr Kopf auf die Tischplatte zurück. Was für beschissene Ferien es
werden würden.
Und es half
nichts. Sie konnte nicht hier bleiben. Sie nahm an, irgendwann schloss auch die
Schule ihre undankbaren Türen.
Und sie
hatte auch noch mehr Sorgen als ihre Nachprüfung. Es stand wieder der
monatliche Anruf an. Aber Oliver hatte heute auch noch Geburtstag. Ihre Mutter
hatte sie extra erinnert, damit sie ihn anrufen würde. Sie war sich nicht mal
sicher, ob ihre Mutter sich überhaupt bei ihm meldete. Sie glaubte, eher nicht.
Vor allem
wusste sie auch schon, wie ihre Mutter reagieren würde, würde sie auch nur
darüber nachdenken, ihren Großvater anzusprechen, denn bei diesem Thema
reagierte ihre Mutter mehr als sensibel, deswegen wusste Kaya auch nichts über
ihren angeblichen Großvater. Absolut gar nichts!
Aber auch
über ihren Vater wusste sie nur wenig.
Oliver, ihr
Vater, war vor sechzehn Jahren nach München gezogen, und seitdem sah sie ihn
nur alle paar Jahre, wenn überhaupt. Sie telefonierten alle paar Monate
miteinander, und eigentlich kannte sie ihn überhaupt nicht gut genug, um ihm
regelmäßig zum Geburtstag zu gratulieren. Aber ihre Mutter ließ ihr da
erstaunlich wenig Spielraum.
Sie wusste,
ihre Eltern waren sechzehn gewesen, als ihre Mutter sie bekommen hatte. Sie
waren nur ein Jahr zusammen gewesen, weil ihr Vater dann festgestellt hatte,
dass er schwul war. Sie hatte die Geschichte nie begriffen, und ihre Mutter
machte sich nie die Mühe weiter auszuholen, Dinge besser zu erklären, denn in
den Augen ihrer Mutter war das alles, was man wissen musste.
Sie und ihr
Vater waren zusammen gewesen, waren unbeabsichtigt schwanger geworden, waren
von Zuhause abgehauen, hatten sich in Berlin eine Wohnung genommen – wie sie das
fertig gebracht hatten, war Kaya auch schleierhaft, denn sie durfte mit
siebzehn nicht mal Alkohol kaufen gehen, geschweige denn, länger als eine Nacht
von Zuhause wegbleiben! Und dann war ihrem Vater scheinbar die Erkenntnis
gekommen, dass eine Frau, ein Kind und das Familienleben wohl doch nicht das
waren, was er sich vorgestellt hatte. Und da endete die romantische Geschichte
ihrer Eltern. Die keine romantische Geschichte war.
Und sie
hatte sie nur Alina erzählt. Niemandem sonst. Wahrscheinlich wusste die
Schulleitung Bescheid, aber sonst keiner.
Wer würde
es auch verstehen, unter all den verwöhnten Gymnasiasten, deren Mütter
Hausfrauen waren, die Geschwister hatten und Väter, die nicht schwul waren.
Jetzt war ihr
Vater Sänger an irgendeinem Staatstheater. Ihre Mutter arbeite am Deutschen
Theater in Berlin als Schauspielerin. Sie war also das Kind von seltsamen
Künstlern, natürlich. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, es wäre ein Geschenk
gewesen, dass sie an diesem Theater spielen durfte,
mit keiner Schauspielausbildung. Soweit Kaya es beurteilen konnte, hatten die
wenigsten der Schauspielerfreunde ihrer Mutter irgendein Talent. Sie hatten
tausend schlechte Angewohnheiten, das konnte Kaya sagen. Ihre Mutter war schon die
beste, fand sie. Ihre Mutter hatte am Rennaissance Theater durch eine Bekannte
eine Stelle als Maskenbildnerin bekommen. Und weil sie sich nicht nur darin gut
angestellt hatte, sondern sich auch noch besser Text hatte merken können als
die Darsteller, hatte sie nach und nach kleine Rollen bekommen.
Allerdings
sah ihre Mutter auch noch besser aus als die meisten Frauen des Theaters. Und
wie es nun mal so war, war sie zwar gut gewesen, aber die Frauen waren neidisch
geworden. Und vielleicht war es Glück, vielleicht war es Unglück, dass der
blöde Exfreund ihrer Mutter ein verkappter Regisseur gewesen war, der zufällig
ein Stück am Deutschen Theater aufführte, für dessen weibliche Hauptrolle er
nur ihre Mutter hatte haben wollen.
Das Stück
hatte gefloppt, und der Typ hatte keinen weiteren Auftrag mehr bekommen, aber
ihre Mutter war ins Ensemble aufgenommen worden. Zwar nur als zweite
Nebenbesetzung, aber auf einmal hatten sie fast doppelt so viel Geld wie
vorher! Das war nicht viel, aber es war mehr. Komischerweise hatte der Typ ihre
Mutter verlassen, als diese sich geweigert hatte im Theater zu kündigen. Kaya
war das nur recht gewesen. Sie hatte ihn nie ausstehen können!
Aber noch
etwas widerstrebte ihr, neben dem Theaterleben ihrer Mutter, aber sie hatte sich
daran gewöhnt. Sie hieß nicht wie ihre Mutter. Sie hieß wie ihr Vater. Auch
hier bildete sie die riesengroße Ausnahme in ihrer Klasse. Warum ihre Mutter
entschieden hatte, dass Kaya nicht ihren Nachnamen bekommen sollte, war Kaya
noch immer ein Rätsel, wie so vieles. Ihre Mutter hieß Petersen, Kaya hieß
Rothenberg. Und so war es schon immer gewesen, und ihre Mutter hatte sich
schwer dafür eingesetzt, dass diese Formalität auch jedes Mal gründlichst
beachtet wurde.
Tatsächlich
so gründlich, dass selbst ihre Großmutter jeden seltenen Brief an Petersen und
Rothenberg adressierte.
Kaya
wusste, wenn sie volljährig war, würde sie den Nachnamen ihrer Mutter annehmen.
Das hatte sie ihrer Mutter noch nicht erzählt, aber es hatte ihr nie gefallen,
nicht so zu heißen wie ihre Mutter. Es war manchmal, als wären sie nicht
verwandt.
Ihre Mutter
hatte sie vertröstet mit der Begründung, dass sie angenommen hatte, Kayas Vater
zu heiraten, wären sie erst einmal achtzehn gewesen, aber das hatte sich dann
ja zerschlagen. Und Kaya begriff nicht, weshalb sie nun damit gestraft war,
alleine diesen Namen zu tragen, der in ihrer Mutter bestimmt alles andere als
schöne Erinnerungen hervorrief.
Sie war
anders. Das war aber nichts Neues mehr.
Sie hatte
sich die Tasche über die Schulter geworfen, während sie das Handy aus der
Hosentasche zog. Es war das alte Handy ihrer Mutter. Ein Samsung-irgendwas mit
einem gesprungenen Display, aber es funktionierte immerhin.
Die Gänge
der Schule lagen ausgestorben vor ihr. Nur ihre Schritte hallten von den Wänden
wider. Ab und an erspähte sie eine der Putzfrauen in den Räumen, die aber kein
Wort mit den Schülern sprachen. Kaya würde auch nicht mit den Schülern
sprechen, würde sie hier als Putzfrau arbeiten.
Sie verließ
dankbar das uralte Gebäude, das ihr jeden Tag nur Bauchschmerzen brachte und
ließ den Schulhof nur zu schnell hinter sich. Die Haltestelle lag nicht weit
entfernt, aber sie musste zwanzig Minuten fahren, bis sie zu Hause war.
Ihre Finger
glitten angespannt über die Namen ihres spärlichen Adressbuchs auf dem
gesprungenen Display, während sie nach dem Namen Oliver suchte. Sie kannte allerdings nur einen. Die Bahn kam, und
die meisten Schüler waren alle bereits verschwunden, also hatte sie das Glück,
nicht mit den Massen nach Hause fahren zu müssen. Viele Eltern holten ihre
Kinder am letzten Tag ohnehin von der Schule ab.
Sie setzte
sich ans Fenster und betrachtete den Wechsel an Häuserfassaden, während sie
Charlottenburg hinter sich ließ und die Umgebung schäbiger wurde, mit jedem
weiteren Kilometer, den sie zurücklegte. Es klickte in der Leitung und sie
wartete gespannt.
„Oliver
Rothenberg?“, vernahm sie seine ernste Stimme, und sie war jedes Mal nervös,
wenn sie mit ihrem Vater sprach. Er war ja praktisch ein Fremder. Ein Fremder,
dessen Namen sie trug. Manchmal war es anstrengend, Traditionen aufrecht zu
erhalten.
„Hey
Oliver“, begrüßte sie ihn und sank tiefer in den unbequemen Sitz zurück.
„Herzlichen Glückwunsch… zum Geburtstag“, ergänzte sie und nahm an, dass er
heute 33 geworden war. Aber sie fragte nicht nach. Sie sagte ihm auch nicht,
wer anrief, denn sie wollte testen, ob er sie überhaupt noch erkannte.
„Oh – hi,
Kaya“, erwiderte er, tatsächlich überrascht. Ihr Name klang immer wieder
seltsam aus seinem Mund, aber er kannte sie also noch. Ihr Name klang ohnehin
schon seltsam genug, aber ihre Mutter hatte ihr erklärt, es wäre wichtig, einen
besonderen Namen zu haben. Das war ihr gelungen. Sie konnte ihn praktisch jedes
Mal für jeden buchstabieren. „Ich danke dir. Alles klar?“, fügte er hinzu, und
er klang normal. Seine Stimme war sogar angenehm, aber sie konnte sich nicht
mehr wirklich erinnern, ob sie immer so gewesen war.
„Klar“,
beschloss sie zu lügen, denn sie musste ihrem Vater ja nicht erzählen, dass sie
zwei Fünfen hatte und eine Nachprüfung in Sport machen musste, die sie niemals
bestehen würde. Es bestand ja keine Gefahr, dass er jemals nach Berlin kommen
würde. „Läuft alles gut im Theater?“, ergänzte sie also, um das Thema von sich
abzulenken.
„Sicher, alles wunderbar. Sie haben mir heute eine unglaubliche Torte gebacken,
tausend Tonnen schwer, und später gehen wir noch feiern“, erzählte er gut
gelaunt. Sie hatte ihrem Vater noch nie etwas geschenkt, fiel ihr auf. Und sie
wusste nicht mal, wer die Leute waren, mit denen er feiern ging. Ob einer davon
sein Freund war? Es schauderte sie, daran zu denken.
„Hm, cool“,
sagte sie also. Kurz schwiegen sie, ehe er sich wieder räusperte.
„Alles in
Ordnung mit Vivian?“, fragte er, wie jedes Mal, und auch der Name ihrer Mutter
klang seltsam aus seinem Mund. Kaya wusste nicht, wann er ihre Mutter das
letzte Mal gesehen hatte, aber sie nahm an, es war auch sieben Jahre her.
„Ja, alles
in Ordnung. Sie geht wahrscheinlich nach London die nächsten Wochen“, beschloss
sie wertfrei zu erzählen, obwohl sie es ihrer Mutter übel nahm, dass sie
alleine ging.
„Nach
London?“, fragte ihr Vater beeindruckt, und Kaya seufzte.
„Ja,
wahrscheinlich sieben Wochen lang“, erklärte sie. „Sie hat eine winzige Rolle
in Starlight Express am Broadway in London bekommen“, fügte sie fast schon
bitter hinzu.
„Tatsächlich?“
Er klang beeindruckt.
„Ja, sie
kennt wen, der krank geworden ist, und… keine Ahnung“, erklärte sie
achselzuckend. Sie war immer noch beleidigt.
„Das ist
eine gute Chance“, sagte ihr Vater anerkennend. Ja, das war es wohl. Vor allem
war es auch gutes Geld. Ihre Mutter sparte, so dass sie sich endlich einen
Urlaub leisten konnten. Vielleicht sogar schon in den Herbstferien. Das wäre
wirklich super. Aber Kaya zog es vor, weiterhin eingeschnappt zu sein. „Du
kannst nicht mit, nehme ich an?“, schloss er schließlich ernster, und sie war
überrascht, dass er zu diesem Schluss überhaupt gekommen war. Denn ja. Das war
das ganze blöde Problem an der Sache.
„Ja, nee.
Sie sagt, sie müssen da in kleinen Trailern wohnen, und… sie kann da mit mir
nichts anfangen, also…“ Kaya wusste, sie klang trotzig. Aber jeder würde
trotzig sein, würde er als Bürde bezeichnet werden, als wäre sie noch ein
Kleinkind. Ein Kleinkind, was eine Nachprüfung bestehen musste.
„Also?“,
fragte er nach, als würden sie jeden Tag so ein Gespräch führen. „Bleibst du
alleine in Berlin?“, wollte er ungläubig wissen.
„Nein, ich
fahre den Sommer über zu Oma Mariele“, räumte sie ein. Eigentlich wollte sie da
nicht hin. Vor allem nicht, weil sie sich da bestimmt nicht filmen könnte,
während sie von einem Berg hing.
„Oh“,
erwiderte er und klang, wie sie sich fühlte. Ja, sie nahm an, er hatte erst
recht kein gutes Verhältnis zu der Mutter seiner Exfreundin „Deine… Freundin
ist weg?“ Sie wusste, Oliver hatte keine Ahnung mehr, wie ihre beste Freundin
hieß, aber sie nahm es ihm nicht übel. Sie wusste auch nicht, wie seine Freunde
hießen.
„Alina ist
mit ihrer Familie auf einer Kreuzfahrt für drei Wochen, also… ja, sie ist weg“,
antwortete sie nickend.
„Hm“,
erwiderte er schließlich.
Sie nahm
an, das Gespräch war jetzt zu einem Ende gelangt.
Sie
überlegte manchmal, ob sie ihn fragen sollte, ob man sich mal treffen könnte, aber
sie verwarf den Gedanken immer wieder. Der Weg war weit. Sie hatte kein Geld,
also müsste er kommen, oder er müsste ihr die Zugfahrt bezahlen – oder sonst
etwas. Und nach Geld wollte sie ihn erst recht nicht fragen. Sie nahm an, er
war ähnlich knapp bei Kasse, wie sie und ihre Mutter auch. Es war wohl einfach
zu kompliziert, nahm sie an. Er bot es auch von sich aus nie an, also fragte
sie gar nicht erst.
Sie wollte
nie wirklich mit ihm reden, aber wenn sie denn mal telefonierten, dann tat sie
sich schwer mit dem Auflegen. Sie vermisste ihren Vater nie wirklich, aber wenn
sie seine Stimme hörte, dann kamen ihr immer die Fetzen ihrer Mutter in den
Sinn, die sie dann und wann mal preisgab. Kaya erinnerte sich nicht mehr an das
Gesicht ihres Vaters. Nicht mehr im Detail, aber ihre Mutter hatte ihr erzählt,
dass er damals der hübscheste Junge gewesen war. Sie hatte kein Foto von ihm.
Sie glaubte, ihre Mutter hatte alle Bilder vernichtet, auch wenn sie es nicht
zugab. Sie erinnerte sich, dass er groß war. Und schlank. Er hatte dunkelblonde
Haare gehabt damals, vor sieben Jahren. Ihre Mutter hatte gesagt, dass alle
Mädchen in ihn verliebt gewesen waren, dass er sich aussuchen konnte, mit wem
er befreundet war und mit wem nicht.
Alles wäre
ihm ganz einfach zugeflogen.
Wahrscheinlich
würde er auch nicht mit ihr sprechen wollen, wäre sie nicht seine Tochter,
überlegte sie und kaute auf ihrer Unterlippe. Aber sie sprach ihre Gedanken
nicht aus. Sie begriff auch nicht, warum er schwul geworden war, warum er ihre
Mutter nicht mehr gewollt hatte, denn sie war überzeugt, ihre Mutter war die
schönste Frau auf der Welt.
Die
elektronische Frauenstimme sagte emotionslos die Stationen an und unterbrach
ihre Gedanken.
„Dann…
mach’s gut“, sagte sie fast schon unbeholfen. Kurz dachte sie, er hätte längst
aufgelegt, aber dann hörte sie ihn ausatmen.
„Danke für deinen Anruf, Kaya“, erwiderte er und klang nur noch ernst. Nicht
mehr fröhlich. „Grüß Vivian von mir“, fügte er noch hinzu, und dann legte er
auf.
Sie hatte
ihn noch nie Papa genannt. Nicht mal
in ihren Gedanken.
Sie
schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Sie hatte keine Ahnung,
wann ihre Mutter fahren würde, aber sie wusste, es war in den nächsten Tagen.
Ihre Laune verschlechterte sich. Wie sollte sie die blöde Nachprüfung bestehen?
Sie konnte gar nichts. Sie war so unsportlich wie eine Scheibe Toast.
Die Bahn
erreichte letztendlich ihr Ziel, und sie stieg mit einigen anderen Leuten aus.
Sie musste noch ein Stück die Eberswalder Straße runter laufen. Es war ein
heißer Tag geworden. Tausend Menschen schienen wieder einmal unterwegs zu sein.
Und viele in ihrem Alter. Kaum war die Schule vorbei, krochen sie aus ihren
Löchern.
Sie
erreichte ihr Haus, kramte nach ihrem Schlüssel und glaubte nicht, dass ihre Mutter
noch Zuhause sein würde. Aber sie irrte sich, als sie im zweiten Stock
angekommen war und die Wohnungstür aufschloss. Das gesamte Haus roch nach
irgendwelchen exotischen Speisen der Nachbarn, nahezu jeden Tag. Ihr Magen
knurrte kurz, aber Hunger war hinter ihren anderen Sorgen zurückgetreten.
Sie hörte
ihre Mutter im Wohnzimmer fluchen.
„Mama?“,
rief sie durch den Flur, und ihre Mutter erschien barfuß im Türrahmen des
Wohnzimmers. Ihre blonden Locken lagen wild auf ihrem Kopf und fielen
ungebändigt über ihre Schultern. Ihr Kleid war sommerlich und beige. Sie sah
sehr gut aus, wie immer.
„Hey Kleine. Ich bin gleich weg. Mach dir einfach Spaghetti, ok? Ich muss
diesen verdammten Koffer zu Ende packen“, entfuhr es ihr, und sie wandte sich
wieder um. Ihre Mutter hatte nicht mal gemerkt, dass sie geflucht hatte,
stellte Kaya fest. Für gewöhnlich vermied ihre Mutter Kraftausdrücke. Sie zog
die Jacke aus, warf sie über die Kommode und trat sich die Schuhe von den
Füßen. Sie ging durch den Flur ins Wohnzimmer, wo der große rote Koffer ihrer
Mutter aus allen Nähten zu platzen drohte.
„Was hat Herr Steiner gesagt?“, wollte ihre Mutter angestrengt wissen, während
sie versuchte, den Reißverschluss zu schließen.
„Was?“, entfuhr es Kaya ertappt, und ihre Mutter hob den gehetzten Blick.
„Die
Nachprüfung? Du musst doch in Sport die Nachprüfung machen, oder?“ Ihre Mutter
kam also sofort zur Sache.
„Jaah. Es
wird etwas komplizierter als um den Sportplatz zu joggen, Mama“, widerlegte
Kaya ihre ursprüngliche Theorie, die sie noch vor einigen Tagen mit ihrer
Mutter geteilt hatte. Ihre Mutter seufzte auf.
„Ich habe
auch schlechte Nachrichten für dich“, erklärte sie entschuldigend. „Deine Oma
Mariele ist gestürzt. Sie hat sich das Schienbein angebrochen und bleibt bei
deinem Onkel Jannis“, erklärte ihre Mutter angestrengt, während sie den Koffer
endlich zubekam. Ihre Mutter sprach nie besonders freundlich über ihre eigene
Mutter. Wahrscheinlich weil sich die beiden seit ihrer ungewollten
Schwangerschaft damals sowieso nicht mehr verstanden, wie ihre Mutter es gesagt
hatte. Kaya wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Oh,
autsch. Tut bestimmt weh“, sagte Kaya nur. „Das ist… wirklich blöd“, ergänzte
sie. Aber vielleicht nahm ihre Mutter sie jetzt ja doch nach London mit!
„Das ist
wirklich richtig blöd. Aber meine Mutter wird wieder gesund, und sie
entschuldigt sich, dass du nicht kommen kannst“, merkte ihre Mutter an. Kaya
kannte ihren Onkel Jannis nur aus Erzählungen. Er hatte wohl einen
Schreibtischjob in irgendeiner Röhrenfirma, eine Frau und drei kleine Kinder.
Und Kaya nahm an, ihre Mutter war menschlich genug, sie nicht dorthin zu
zwingen. Zu der Familie, die sie nicht kannte und die ihre Mutter nicht
wirklich leiden konnte. Kaya tat es alles auch nicht wirklich leid, denn auch
ihre Großmutter hatte sie Jahre nicht gesehen. „Und was meinst du damit, mit
Joggen wäre es nicht getan?“, griff ihre Mutter ihre Worte wieder auf und
wischte sich einige Locken aus der Stirn. „Und hast du Oliver angerufen?“,
schien ihr jetzt noch einzufallen, und Kaya nickte.
„Ja, ich hab ihn vorhin angerufen. Schöne Grüße“, wiederholte sie die Worte
ihres Vaters. „Und ich muss ein Videotagebuch über irgendeine tolle sportliche
Tätigkeit machen“, erklärte sie.
„Aha, was
soll das heißen?“ Ihre Mutter war im Begriff, ihre hohen Schuhe anzuziehen,
denn sie war bereits zu spät dran, stellte Kaya mit einem Blick auf die bunte
Uhr fest, die schief an der orangenen Wohnzimmerwand hing.
„Keine Ahnung?
Hochseilakte? Bergsteigen? Wasser-Rafting?“, zählte sie verzweifelt auf, und
ihre Mutter schüttelte verständnislos den Kopf.
„Wieso
musst du etwas machen, was im Sportunterricht niemals auch nur vorkommen
wird?“, wollte sie entgeistert wissen, und Kaya zuckte die Achseln. Ihre Mutter
sah sie mitleidig und unentschlossen an.
„Weil es Sadisten sind, Mama. Es tut mir furchtbar leid“, fügte sie hinzu, denn
ihre Mutter wirkte wieder einmal untröstlich.
„Ach, so
ein Unsinn“, murmelte ihre Mutter, aber Kaya wusste, ihre Mutter gab sich schon
wieder die Schuld daran, dass Kaya einfach nur faul war. Zumindest in Sport. In
Mathe war sie hoffnungslos. „Also, was machen wir jetzt?“, wollte ihre Mutter
ratlos wissen, während sie ihre Schlüssel in die Handtasche steckte.
„Na ja,
Rollschuhfahren in England wäre bestimmt etwas, was sich lohnen würde
aufzuzeichnen?“, schlug sie scheinheilig vor, aber der Blick ihrer Mutter war
eindeutig.
„Kaya, wir
haben darüber gesprochen. Es ist laut und gefährlich. Der Trailer ist zu klein
für uns beide, und Kinder sind außerdem nicht erlaubt“, sagte sie wieder,
gereizter als vorhin, und Kaya war kein Kind mehr. Nicht mehr wirklich
zumindest. „Ich kann mich nicht um dich kümmern, und alleine lasse ich dich
bestimmt nicht durch London laufen!“ Es hatte keinen Sinn, darüber wieder zu
streiten. Kaya wusste es ja.
„Ich… mir
fällt schon was ein“, gab Kaya nach. „Mama, ich…“, setzte sie erneut an, und
ihre Mutter warf abwesend einen Blick auf die Uhr an der Wand.
„Ja?“ Sie
klang gestresst, denn sie musste los. Und sie musste arbeiten, um Geld zu
verdienen und die Miete zu zahlen, und Kaya hasste sich dafür, dass sie nicht
klüger war oder eifriger. Das schlechte Gewissen nagte an ihr.
„Na ja, Herr
von Ende hat mit mir gesprochen und gesagt, Reiten wäre… auch eine
Möglichkeit“, räumte sie schließlich ein. Der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer
Mutter war für sie nicht zu deuten.
„Du kannst nicht reiten“, sagte sie lediglich konsterniert.
„Ich… könnte es lernen?“, widersprach
Kaya vorsichtig, nicht sicher, wie ihre Mutter reagieren würde.
„Wir haben kein Geld dafür, das weißt du“, sagte ihre Mutter, und Kaya wusste,
sie würde abblocken.
„Ja, aber…
wenn mein Großvater-“, begann sie, aber der Ausdruck ihrer Mutter war eisig
geworden.
„Wir betteln nicht bei wildfremden Menschen um einen Gefallen, Kaya!“, schnitt
ihre Mutter ihr jedes weitere Wort ab. „Du musst dich einfach nur bei
irgendetwas Sportlichem filmen. Da werden wir wohl nicht die Längen einer
Reitausbildung gehen müssen, oder?“, vergewisserte sich ihre Mutter gereizt,
und Kaya ruckte mit dem Kopf.
„Es war nur
ein Vorschlag“, entgegnete sie defensiv, aber ihre Mutter hatte die Stirn in
Falten gelegt.
„Wir überlegen das später. Ich muss wirklich los. Ich versuche, früh
wiederzukommen, denn ich fliege morgen, Kaya. Es sind einige Kollegen vom
Theater den Sommer über in Berlin. Da kannst du dann hin, ok? Vielleicht kannst
du helfen, das Bühnenbild zu streichen? Da müsstest du auf einen Hochsitz, das
ist doch auch spannend. Und sportlich?“, schlug ihre Mutter betont munter vor,
und Kaya verzog nur den Mund. Und die Hölle müsste sich auftun, bevor sie zu
irgendeinem der bekloppten Theater-Freunde ihrer Mutter ging! „Mach’s gut,
Kurze, bis später“, verabschiedete sich ihre Mutter entschuldigend, küsste Kaya
auf die Stirn und verließ mit klackernden Absätzen die Wohnung.
Ach, wäre
sie doch auch auf einem Kreuzfahrtschiff in der Südsee, und hätte sie doch auch
einfach nur Zweien, wie Alina….
Kaya ließ
sich auf die ausgesessene Ledercouch fallen und griff sich den Laptop ihrer
Mutter.
Sie hatte
nicht mal besonders großen Appetit. Das waren ja finstere Aussichten.
Wahllos
tippte sie auf der Tastatur, suchte bei Google nach einfachen Extremsportarten,
die man Zuhause machen konnte, wurde aber nicht wirklich fündig.
Ihr Handy
vibrierte in ihrer Hosentasche. Dankbar ging sie ran, als sie die Nummer
erkannte.
„Wie kann es sein, dass du Empfang hast?“, wollte sie ungläubig wissen. Sie
hörte Alina lachen.
„Wir sind ja noch in deutschen Gewässern, also kein Problem. Mein Bruder
übergibt sich seit einer Stunde, obwohl wir bis vorhin nur im Hafen gelegen
haben“, fügte sie angewidert hinzu. „Meiner Mutter ist auch schlecht, nur mein
Vater und ich waren schon am Buffet“, ergänzte sie fröhlich. Kaya wusste, ihr
würde auch schlecht werden.
„Klingt
super“, bemerkte sie trocken.
„Und? Was sagt deine Mutter zur Nachprüfung?“, wollte Alina jetzt begierig
wissen. Alina hatte erstaunliches Timing, stellte Kaya schlecht gelaunt fest
und bekam heiße Schuldgefühle.
„Ach so… ja, ich werde glatt durchfallen“, schloss Kaya bitter. „Herr Steiner
sagt, ich muss mich filmen, wie ich Fallschirm springe oder Snowboarde oder…
keine Ahnung!“, rief sie unglücklich aus.
„So ein Mist“, entfuhr es Alina. „Ja, ich erinnere mich an das Video letztes
Jahr von Stefanie Weber. Das war ziemlich cool. Da warst du noch nicht auf der
Schule. Und du kannst ja nicht mal Fahrrad fahren“, bemerkte ihre beste
Freundin ratlos.
„Hey! Ich kann Fahrrad fahren. Ich
habe nur keins“, verbesserte Kaya sie gereizt.
„Ok, und
was machen wir jetzt?“
„Wir? Du hockst auf einem
Südsee-Kreuzer“, beschwerte sich Kaya neidisch.
„Ja, ich weiß. Wann fährst du zu deiner Oma?“, wollte sie jetzt wissen.
„Oh, das hat
sich erledigt. Die hat sich das Bein gebrochen und ist bei meinem Onkel.“
„Oh je. Das tut mir leid!“, entfuhr es Alina.
„Ja, aber
meine Oma ist zäh, denke ich“, fügte sie unsicher hinzu, denn sie wusste es
nicht. Aber wenn sie war wie ihre Mutter, würde sie ein gebrochenes Bein
bestimmt nicht unterkriegen. „Und meine Mutter versucht mich jetzt bei ihren
verrückten Kollegen unterzubringen“, ergänzte sie schlecht gelaunt.
„Oh wie
blöd“, bestätigte Alina. „Aber es gibt viele Sachen, die du in Berlin machen
könntest, wobei du dich filmen kannst“, schlug Alina vor. „Im Fitnessstudio
haben sie eine Kletterwand“, fügte sie hinzu, und Kaya musste fast lachen.
„Ja, ich bin sicher, so etwas hat Herr Steiner gemeint. Ich filme mich dabei,
wie ich eine Wand runterfalle“, gab sie bitter zurück.
„Wie wäre
es mit Spandau bei Nacht? Du könntest versuchen, den Verrückten zu entkommen
und heile wieder nach Hause zu finden! Das würde dir zumindest den Respekt der
Schule einbringen“, schlug Alina ratlos vor. Kaya ignorierte Alinas Worte und
gab bei Google seufzend die nächsten Worte ein. Gestüt Rothenberg. Sie hatte es
noch nie gegoogelt. Sie interessierte sich eher selten für Pferde, oder Dinge,
die damit zusammenhingen.
„Ich bin
dabei, das Gestüt von meinem Großvater zu googlen“, informierte sie Alina, die
plötzlich aufmerksamer wurde.
„Der Unbekannte, bei dem deine Mutter das Zucken im Gesicht bekommt, wenn du
davon anfängst?“, vergewisserte sich Alina neugierig. „Und ist das mit
Pferden?“, wollte sie beiläufig wissen. „Dass du reiten könntest, wäre mir
neu“, bemerkte sie fast spöttisch.
„Nein, kann ich nicht, aber… es wäre eine Idee“, rechtfertigte sie sich.
„Vielleicht… ist das keine so blöde Idee“,
entgegnete Alina schließlich nachdenklich.
„Na ja, es
ist keine besonders gute Idee“, räumte sie ein. Und sie bekam über 7000 Hits
bei Google. Sie starte auf die Google-Seite, und ihre Augen überflogen die
Zeilen. Rothenberger Allee, Duvenstedt, Hamburg. Da befand sich das Gestüt.
„Ich bin
auf der Homepage“, fügte sie knapp hinzu, als sie die Seite öffnete. Dass die
Straße tatsächlich auch so hieß! Das war doch nur Zufall, oder?
„Du willst
echt reiten gehen?“, vergewisserte sich Alina unsicher, aber Kaya seufzte.
„Ich will
ganz bestimmt nicht, ich google nur?“
„Und dann was? Du willst ihn einfach anrufen und ihn fragen, ob du umsonst auf
sein Gestüt kannst, wo du dann Pferde filmst?“ Kaya kaute auf ihrer Lippe,
während sie die Homepage studierte. Der Hintergrundrahmen war dunkelblau, und
in weißer Schnörkelschrift zog sich der Schriftzug Gestüt und Reitschule von
Rothenberg über den oberen Rand. Im Hintergrund war ein Bild zu sehen. Es sah
aus, wie eine unglaubliche Auffahrt, gesäumt mit weißem Rhododendron, mit einer
riesigen offenen Wiese. Ziemlich luxuriös, überlegte sie kopfschüttelnd.
Weit hinten
war ein riesiges Haus zu sehen. Ein Mann mit Reitgerte in schwarzen glänzenden
Stiefeln hatte seine Hand hoch auf den Sattel eines braunen Pferdes gelegt und
blickte ernst in die Kamera. Er sah noch sehr jung aus, fiel ihr auf, aber
eigentlich machte es Sinn, wenn ihr Vater erst 33 war, nahm sie an.
Darunter
stand: Dr. Alexander Julius von
Rothenberg ist Eigentümer des Familiengestüts und der Reitschule Rothenberg.
Die Reitschule gilt als renommierteste Adresse Hamburgs für Schüler der hohen
Reitkunst und ist überdies seit vierzig Jahren Partner der Spanischen
Hofreitschule in Wien. Das Gestüt Rothenberg war überdies auch 2013 Sponsor der
SML-Tour Germany, außerdem gehörten die Sieger zu den hauseigenen
Turnierteilnehmern. Der Rekordsieg beim diesjährigen S&D-Derby wurde
angeführt von Leonard König, welcher ebenfalls unter den Top-Springen der
VR-Classics der internationalen
Weltranglisten-Springprüfung Kl. S*** mit Stechen vertreten ist, zusammen mit
Tom Kiergarten…
„Was heißt
S&D-Derby?“, fragte Kaya verwirrt und hätte auch gerne gewusst, was hohe
Reitkunst sein sollte, aber Alina machte ein unwilliges Geräusch.
„Woher soll
ich es wissen? Ich sitz auf einem Schiff“, erläuterte sie. „Aber vielleicht
steht es für Sadomaso und Dance?“, schlug Alina lachend vor. „Willst du ihn
anrufen?“, wollte Alina lauernd von ihr wissen, aber Kaya hatte keine Ahnung.
Alina hatte wahrscheinlich recht. Es war ein bisschen
viel verlangt, von jemandem, der einen nicht mal kannte, zu fordern, dass sie
umsonst sechs Wochen auf seinem Gestüt wohnen durfte, oder?
Sie klickte
auf den blau unterlegten Namen des Mannes, den sie nicht kannte.
Sie landete
bei Wikipedia. Alexander von Rothenberg war am 9. August 1964 in Hamburg
geboren. Er war jetzt 51 Jahre alt. Er besuchte mit zehn Jahren das
Albert-Schweitzer Gymnasium in Ohlsdorf und wurde während seiner Kindheit von
seinem Vater bereits in Spring- und Dressurreiten ausgebildet. Er studierte
anschließend Rechtswissenschaften an der Ruprechts-Karls-Universität in
Heidelberg und machte dort auch sein zweites Staatsexamen.
Er wurde
nach dem frühen Tod seines Vaters Treuhänder des Familienerbes, übernahm die Leitung
des Turnier Gestüts und lebte seit seinem Abschluss wieder in Duvenstedt.
Er
heiratete noch vor seinem Studium mit achtzehn Jahren die zwanzigjährige
Katharina Ahrendt. Das Paar bekam nur ein Kind. Oliver-Alexander von
Rothenberg...
Sie musste
ehrlich gestehen, dass sie nicht gewusst hatte, dass ihr Großvater einen
eigenen Wikipedia Eintrag hatte. Aber anscheinend lief dieses Pferde Gestüt
gut, so wie sie es beurteilen konnte. Fast war es beunruhigend. Und sie fragte
sich unwillkürlich, warum ihr Vater keinen Kontakt mehr mit seinem anscheinend
reichen Vater hatte und in München wohnte? Und wieso hießen sie nicht auch von
Rothenberg, sondern nur Rothenberg – wenn sie schon so heißen musste? Aber das
würde ihr auch nicht bei ihrer Nachprüfung helfen.
„Kaya?“,
hörte sie Alinas Stimme und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.
„Wie wäre
es, wenn du einfach nach Hamburg fährst? Ohne Ankündigung, ohne alles?“, fragte
Alina plötzlich.
„Was?“
Alina war wahrscheinlich die Seeluft zu Kopf gestiegen.
„Ja, ich
meine, deine Mutter ist in London, und du bist die arme minderjährige Enkelin,
die ihren Opa besuchen will, um reiten zu lernen“, schlug Alina scheinheilig
vor.
„Opa?“, wiederholte Kaya unsicher das
fremde Wort. „Alina, ich glaube, dein Vater ist älter als mein Großvater“,
erwiderte sie langsam. „Und er sieht ziemlich streng aus.“
„Na und? Das ist doch egal. Denkst du nicht, dass das vielleicht ein besserer
Plan ist, als anzurufen, zu sagen, dass du nicht reiten kannst, aber einen
Gefallen willst, weil du eine Nachprüfung in Sport bestehen musst?“ Kaya verzog
den Mund.
„Das ist beides absolut dämlich“, stellte sie trocken fest. „Außerdem würde
meine Mutter ausflippen, wenn sie wüsste, dass ich einfach so nach Hamburg
fahren wollen würde“, erklärte Kaya kopfschüttelnd.
„Und wenn
wir ihr sagen, du hättest bereits einen anderen Platz, wo du bleiben könntest?“
„Ach ja? Und wo wäre das? Auf einem Schiff in der Südsee?“, wollte sie
ungläubig wissen, aber Alina schnaubte auf.
„Unsinn,
aber wir könnten sagen, mein Vater wurde geschäftlich wieder zurück nach Berlin
berufen, und du würdest bei uns wohnen? Und so unwahrscheinlich ist es nicht.
Meine Mutter befürchtet es die ganze Zeit über“, fügte sie knapp hinzu. „Oder
vielleicht hofft sie es auch“, ergänzte Alina nachdenklich.
„Das ist vollkommen verrückt!“
„Wieso?
Deine Mutter hat keinen Grund, anzunehmen, dass du sie anlügst. Sie würde doch
niemals annehmen, dass du freiwillig auf ein Gestüt fährst, oder?“
„Ja, noch mal zum Hauptproblem: Ich habe kein Geld, Lina“, sagte sie lauter.
„Ach, das
ist kein Problem! Du hast doch noch unseren Haustürschlüssel. Der Code für die
Alarmanlage ist 8470, dann gehst du in mein Zimmer. Der Schlüssel für meinen
Schreibtisch liegt unter dem Fuß vom Globus im Regal, und dann leihst du dir
eben Geld von mir“, schlug Alina achtlos vor. Kayas Augen wurden groß bei ihren
Worten und heftig schüttelte sie den Kopf.
„Was? Nein, auf gar keinen Fall! Ich breche doch nicht bei euch ein, um dir
Geld zu klauen!“
„Unsinn, du
hast einen Schlüssel, du hast den Code, und ich habe genug Geld, Kaya“, fügte
Alina streng hinzu. Seltsam, wie das manche Leute einfach sagen konnten,
überlegte Kaya schockiert. „Und wenn du deine Nachprüfung nicht bestehst sitze
ich ganz alleine beim alten Steiner und schmachte Bastian Kaminsky alleine an,
das willst du doch wohl nicht?“, wollte sie lauernd wissen. Jetzt wäre der
Moment gekommen, Alina zu sagen, dass Bastian sie morgen besuchen wollte, falls
er seine Prüfung bestand. Aber Kaya sagte nichts.
„Ich schmachte ihn nicht an!“,
entfuhr es Kaya schließlich kleinlaut, auch wenn sie sich tatsächlich fragte,
ob er morgen auftauchen würde. Wahrscheinlich nicht.
„Ja, ja…
bestimmt nicht“, wiederholte Alina wissend. „Du stehst ja nicht auf beliebte,
hübsche Jungs“, fügte sie lachend hinzu. Kaya beschloss, darauf nicht
einzugehen.
„Das geht
trotzdem nicht“, begann Kaya wieder.
„Wieso nicht?“
„Weil ich
meine Mutter anlügen müsste und bei euch einbrechen würde. Und wofür? Dafür,
dass wir nicht mal wissen, ob mein Großvater mich bei ihm wohnen lassen würde!“
Kaya hörte Alina stöhnen.
„Also, du hast keinen Sinn für Abenteuer! Und dein Großvater ist nicht blöde,
oder? Der würde niemals eine Minderjährige in der Nacht draußen alleine lassen.
Druck dir die Route aus, plan die Reise, die ich liebend gerne für dich planen
würde, und geh nach Hamburg. Du bist außerdem schlank und hübsch“, fügte Alina
hinzu. Kaya verzog den Mund. Sie konnte es schon nicht leiden, als Minderjährige
bezeichnet zu werden. Sie war doch keine vier mehr.
„Was soll das bedeuten?“, erkundigte sie sich jetzt unwillig.
„Na ja, ich
meine, schlanke, hübsche Mädchen wirft man doch nicht auf die Straße“, erklärte
Alina lachend.
„Ha ha, wirklich witzig.“
„Komm
schon. Und wenn es nicht klappt, kommst du wieder nach Hause und wir überlegen
uns einen neuen Plan, Kaya.“ Alina klang ungeduldig.
„Meine
Mutter würde mich umbringen!“
„Es war
doch deine Idee mit dem Gestüt?“, entgegnete Alina verständnislos.
„Ja, eine Idee, Lina! Das war kein
Plan in Stein gemeißelt!“
„Na und?
Der Plan ist nicht schlecht, bedenkt man, dass Herr Steiner es dir sogar
vorgeschlagen hat!“
„Hat er nicht. Er hat gesagt, Reiten wäre eine Möglichkeit. Er hat nicht gesagt,
geh los und belästige den Großvater, den du noch nicht gesehen hast!“,
informierte Kaya ihre beste Freundin.
„Das sind
alles nur technische Details, Kaya“, erklärte Alina. „Oh, mein Vater kommt!“,
entfuhr es ihr. „Ich ruf dich heute Abend noch mal an. Also, der Code ist 8470,
falls du ihn wieder vergessen hast!“
„Lina-!“,
wollte sie sich beschweren, aber Alina hatte bereits aufgelegt.
Ja, es wäre
ein Plan. Aber es war ein Plan, den auch die Panzerknacker hätten machen
können, denn was da alles schief gehen würde, könnte Kaya nicht mal an zwei
Händen aufzählen. Das schlechte Gewissen schickte wieder heiße Schuldgefühle in
ihren Bauch. Sie musste diese blöde Nachprüfung bestehen! Egal, wie, denn sie
könnte nicht ertragen, dass ihre Mutter sich Vorwürfe machte.
Sie hatte
keine Ahnung, was ihr Großvater von ihr hielt, oder ob er ihr so etwas schuldig
war. Wahrscheinlich nicht. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und hatte keine
Ahnung, was sie tun sollte.
–
Das Glück der Erde –
Das Ticken
der Standuhr an der Wand war das einzige Geräusch, das in den Räumlichkeiten zu
vernehmen war. Die Lepaute Standuhr
war seit 1820 im Familienbesitz. Sie war aus dunklem Rosenholz und die
feuervergoldeten Bronzeappliken zeigten religiöse Motive aus einer Zeit, in der
Standuhren noch als Statussymbole gegolten und Ehrfurcht vor dem Glauben
geherrscht hatte.
Der
Monatsläufer musste nach exakt dreißig Tagen wieder aufgezogen werden, um die
richtige Uhrzeit anzuzeigen. Es war noch nie versäumt worden. Nicht von seinem
Vater, nicht von seinem Urgroßvater oder dessen Urgroßvater. Er wusste nicht
mehr, wen er schließlich mit dieser Aufgabe beauftragt hatte, aber immerhin
nahm derjenige seine Weisung anscheinend ernst.
Jetzt war
die Uhr nur noch ein Artefakt, kein Statussymbol mehr. Genauso wie Ehrfurcht
nur noch ein Artefakt aus einer längst vergessen Zeit zu sein schien, überlegte
er bitter.
Das Licht
schien verhalten durch die doppelverglasten Sprossenfenster in den
Verhandlungsraum, der vor weniger als zehn Jahren noch als Wohnzimmer des
zweiten Stocks genutzt worden war. Seit dem Tod seiner Mutter allerdings gab es
keinen Anlass mehr, ein zweites Wohnzimmer zu unterhalten. Er erinnerte sich
noch, wie die Möbel damals angeordnet gewesen waren, bevor der riesige
Verhandlungstisch und die lederbezogenen Schwingstühle Einzug gefunden hatten.
„Dr.
Rothenberg?“, unterbrach der junge Berater seine Gedanken und sah ihn an, wie
man möglicherweise einen Pensionär betrachtete, der die Unterstützung hunderter
Berater brauchte, weil er nicht mehr in der Lage war, eine eigene Entscheidung
zu treffen und stattdessen gedankenverloren eine Standuhr betrachtete.
Er verzog
den Mund bei dem Unverständnis der anwesenden, angeblich studierten, Elite, die
für ihn jeden Cent zehnmal umdrehte, bis ihre Finger wund waren, um einen
Gewinn zu erzielen, mit angeblichem Fachwissen, dass einem heutzutage in
teilweise unverständlichen Anglizismen präsentiert wurde, um die trockene
Materie benutzerfreundlicher zu machen, nahm er an. Was für ein tragischer
Trugschluss.
„Was?“,
entgegnete er mit gewöhnlichem Gleichmut.
„Wir kämen
dann jetzt zu den Liegenschaften?“, erwiderte der Mann namens Hansen
vorsichtig. Die Herren bedachten ihn mit vorsichtigen Blicken. Er wusste, dass
diese Männer Angst vor ihm hatten. Kriecherische Angst war eine Schwäche, die
diese Fußabtreter aber höchstwahrscheinlich in der Universität heutzutage
beigebracht bekamen, nahm er bitter an. Er betrachtete die Unterlagen vor sich.
„Die Stiftungen laufen im nächsten Jahr aus, Dr. Rothenberg.“
Er hob
gereizt den Blick. „Das ist mir bewusst, Dr. Hansen. Ich habe die
Stiftungsverträge unterzeichnet.“ Er hatte sie unterzeichnet, da hatte Eduard
Hansen gerade den ersten Tag seines verwaschenen Wirtschaftsstudiums begonnen. Manchmal
bereute er, dass ihn seine Position dazu zwang, kleine Besserwisser
einzustellen, die in ihrer jungenhaften Arroganz nicht zu übertreffen waren,
weil sie mit ihrem monatlichen Einkommen knapp über dem Durchschnitt lagen.
„Ja, Dr.
Rothenberg, natürlich“, erwiderte er kleinlaut. Er sah, wie sich der Adamsapfel
des Mannes bewegte als dieser schluckte. Er nahm an, Doktortitel wurden
heutzutage an den Universitäten mit beiden Händen verschenkt, so unfähig wie
ihm dieser Haufen hier vorkam. Sein Blick glitt über die Erscheinung des etwa
dreißig Jahre alten Mannes vor ihm, der kaum die Schultern des auf keinen Fall
handgeschneiderten Anzugs ausfüllen konnte. Anscheinend versuchte er, seine
spärlichen Haare einem der jetzigen Frisurentrends zu unterwerfen, aber das
Versuchsstadium schien nicht überschritten zu sein, denn es sah lediglich
lächerlich aus.
„Ja, gut.
Ich meine… - es wurden sich noch nicht um neue Verträge gekümmert, Dr.
Rothenberg, und… mit Ablauf der vertraglichen Laufzeit-“
„-mit
Ablauf der Vertragslaufzeit sind die Objekte unbenutzt. Ich verstehe das
Prinzip eines befristeten Stiftungsvertrags, Dr. Hansen, vielen Dank.“ Eine
feine Schweißperle erschien am schwindenden Haaransatz des promovierten
Kandidaten vor ihm, und er blätterte durch das Dossier, das ihm im Rahmen der
neuesten Comptersoftware mit unnötigen Verzierungen am Rand präsentiert worden
war.
„Was der
Stab sich überlegt hätte, wären Anfragen an Stiftungen außerhalb Hamburgs. Es
haben sich keine neuen Interessenten überhaupt innerhalb des hanseatischen
Raums gefunden“, erklärte ihm nun ein anderer Anzugträger, der seinem
gefallenen Kameraden nun zu Hilfe sprang. Die Brille, die dieser Mann trug war
randlos, entspiegelt und ganz der Zeit entsprechend. Die Krawatte jedoch war
lachsfarben und nichts, was ein Mann in dieser Position auch nur im Ansatz
überlegen sollte, zu tragen.
Nicht
einmal als Gefallen für seine Frau. Allerdings wusste er, dass keiner dieser
hier anwesenden wirtschaftsrechtlichen Überflieger verheiratet war. Und es
wunderte ihn nicht. Es wunderte ihn auch nicht, dass sich kein Käufer in
Hamburg und Umgebung traute, ihn als Pächter zu haben. Er würde dieses Gespräch
mit seinem Berater-Team nicht weiter hinauszögern. Heute war ein geeigneter
Tag, nahm er an.
Er schloss
das Dossier und schenkte der Runde an jungen Herren einen abschätzenden Blick,
die so übermotiviert ihre Mindmaps erstellt hatten, dass seine nächsten Worte
beinahe mit einem Lächeln seine Lippen verließen.
„Meine
Herren, wie wäre es, wenn Sie die Zeit sinnvoll nutzen würden und mich
verschonen von Hausfrauenstiftungen, die ihre altertümlichen Spinnräder, und
Kachelöfen in meinen Jahrhunderte alten Räumen ausstellen wollen, und einen
geeigneten Käufer finden. Sei es aus Hamburg oder sei es aus Bangkok“, schloss
er lächelnd.
Und er
hatte mit der erstaunten Stille gerechnet. Natürlich, denn, dass er jemals sein
Eigentum würde verkaufen wollen hatte vielleicht unausgesprochen im Raum
gestanden, jedoch war es nie laut geäußert worden, denn es wäre töricht.
„Einen
Käufer? Aber… Sie wollten die Liegenschaften doch nicht verkaufen, Dr.
Rothenberg. Wir-“
„-ich sehe
mich außerstande, mich noch zwei weitere Jahrzehnte mit Verträgen zu befassen,
die mir einen mittelmäßigen Profit bringen, zu dem Preis, dass eingetragene
Verbände mir meine letzte Geduld mit ständigen Verwalterfragen und drohenden
Klageschriften zur Zwangsrenovierung rauben, Dr. Hansen“, unterbrach er den
Mann, der nun seine Krawatte zu lockern schien. „Auch Ihr zehnköpfiges
Beratergespann überzeugt mich nicht, mit den erwirtschafteten Zahlen.“ Die
Zahlen waren soweit in Ordnung. Kein übermäßiger Profit, aber Vermögen
erwirtschaftete sich ja bei einem gewissen Reichtum selbst. Sein Geld arbeitete
für ihn, aber langsam wurde es wieder Zeit, sich um eine geeignete
Weiterfinanzierung der Projekte zu kümmern, und es kostete Kraft.
„Wir… wir
haben uns noch nicht um potentielle Käufer bemüht, Dr. Rothenberg“, sagte ein
weiterer Mann, dem diese Information wohl nun überhaupt nicht in seine Akten zu
passen schien.
„Deshalb
sage ich es Ihnen ja heute“, erwiderte er mit einem nachsichtigen
Kopfschütteln.
„Einen
solchen Käufer für alle Objekte zu finden – das ist…“
„Sie können
die Objekte gerne einzeln verkaufen“, warf er mit schwindender Geduld ein. Gerne
hätte er, dass deswegen kein Skandal vom Zaun gebrochen wurde, denn er war
nicht der erste Mann auf der Welt, der seinen Besitz verkaufte.
„Einzeln?
Sie wollen den gesamten Besitz teilen?“, entfuhr es einem wenig versprechenden
Volljuristen namens Körner, der erst vor zwei Monaten sein Examen mit einem
fragwürdigen magna cum laude
bestanden hatte. „Es wäre vorteilhafter, Pachtverträge zu vereinbaren. Dann
könnte Ihr Erbe in den Vertrag eintreten, wenn-“
Der
Mahagonistuhl knarzte auf dem dunklen Parkettboden, als er sich schließlich
erhob. Er verschloss die blanken Knöpfe des italienischen Jacketts. Das
Gespräch war vorbei.
„Lassen Sie
möglichen Interessenten entsprechende Angebote zukommen, die den jetzigen
Werten der Objekte entsprechen. Informieren Sie mich über Annahmen potentieller
Käufer, und keine weiteren Diskussionen mehr. Ich bringe hiermit mehr als
deutlich zum Ausdruck, dass ich die fünfzehn Objekte allesamt versilbert haben
möchte, ohne Ausnahme. Ich investiere in neue Projekte mit dem Erlös aus den
Liegenschaften, aber das besprechen wir, wenn es an der Reihe ist.“
Seine
Berater taten ihr bestes, ihre Entrüstung zu verbergen.
Es klopfte
an die Eichentür und die schwere bronzene Klinke bewegte sich ächzend. Eine
Assistentin steckte den blonden Kopf hinein.
„Dr.
Rothenberg, ich sollte Sie an den Termin erinnern, wenn-“
„-schon
gut. Wir sind hier fertig, Frau Kramer“, schnitt er ihr das Wort ab. Die Frau
trat hastig ein, um ihm die Tür aufzuhalten. Sie war leicht übergewichtig,
stellte er mit einem abschätzenden Blick fest. Dass sie schwanger war, nahm er
nicht an. Sie war alleinstehend, als ihm ihre Bewerbung vor einigen Jahren
vorgelegt worden war. Und seitdem hatte er sie nie auch nur ein einziges Mal in
männlicher Begleitung gesehen, und sie wohnte hier auf dem Anwesen.
Sie war
allerdings die einzige gewesen, mit fließenden Spanisch Kenntnissen. Für ihren
Beruf vollkommen unnötig, allerdings hatte sie sich mit dieser Eigenschaft von
den anderen gesichtslosen, unqualifizierten Bewerberinnen abgehoben. Es verlieh
ihr eine interessante Note.
Sein
letzter Blick galt noch einmal der Standuhr. Er beschloss, sie von einem
Fachmann polieren zu lassen. Die junge Frau hatte den Blick gesenkt, als er an
ihr vorbeischritt und den geräumigen Saal verließ.
Es
herrschte auch weiterhin betroffene Stille im Verhandlungsraum, während er den
Flur hinab schritt. Sein privates Büro lag ein Stockwerk tiefer. Es überblickte
den See und die angrenzenden Paddocks. Heute begann das Training. Es war eine
gute Ablenkung, nahm er an. Und er hatte jetzt den Termin mit dem Tierarzt.
Er war die
Wendeltreppe runter gegangen. Das Holz des Geländers stieß ihm auch unangenehm
ins Auge. Einige Sachen brauchten eine Überholung hier, stellte er ärgerlich
fest.
„Herr von Rothenberg?“ Er hob den Blick. Seine Köchin sah zu ihm auf.
„Ja, Frau
Fiets?“, erwiderte er, während er weiter schritt. „Lassen Sie einen Handwerker
kommen, der das Treppengeländer aufbessert. Und finden Sie jemanden, der die
Uhr im großen Verhandlungsraum poliert“, ergänzte er gleichmütig, während sie
ihm folgte.
„Gnädiger
Herr, ich wollte Sie daran erinnern, dass Ihr Sohn heute Geburtstag hat.“ Er
konnte keine Angst oder Scheu in der Stimme der Frau hören. Frau Fiets war von
seiner verstorbenen Frau eingestellt worden, war also schon seit über dreißig
Jahren hier auf dem Gestüt.
„Und?“,
entgegnete er ruhig, ruhiger, als er angenommen hatte, als er die Tür zu seinem
Büro öffnete. „Sie erinnern mich jedes Jahr daran, Frau Fiets“, erklärte er,
während er die Schublade einer der Kommoden öffnete, um seine Lederhandschuhe
oben auf zu legen.
„Ich dachte
mir, vielleicht wollten Sie dieses Jahr anrufen, gnädiger Herr. Ich habe seine
Nummer“, fügte sie bedächtig hinzu.
„Vielen Dank, aber nein.“
„Wollen Sie
nicht wissen, woher ich die Nummer habe, Herr von Rothenberg?“
Sie
strapazierte seine Geduld. Er wandte sich um. „Nein, Frau Fiets. Ich würde
gerne wissen, was es heute Abend zu Essen gibt. Und ich möchte, dass Sie sich
darum kümmern, dass die Handwerker zeitig erscheinen“, fuhr er sie jetzt an und
sie neigte ergeben den Kopf.
„Es gibt
Rosmarin-Kartoffeln, Räucherlachs und Pudding. Und ja, ich werde mich darum
kümmern, gnädiger Herr“, ergab sie sich kleinlaut.
„Vielen
Dank“, gab er energisch zurück und wartete, bis sie die Tür hinter sich
schloss. Manche seiner Angestellten schienen sich mehr zu erlauben, als ihnen
zustand, überlegte er ärgerlich. Er hoffte nur, sie würde nicht tratschen.
Soweit es ihn betraf, hatte er keinen Sohn mehr. Er hatte keinen Gedanken an
ihn verschwendet.
Vor allem
gab es heute genug zu tun. Die Lehrer würden mit dem Training beginnen, und mit
viel Pech kam Wolfgang König heute persönlich vorbei, um die frisch dressierten
Stuten abzuholen. Er trennte sich ungern von seinen Pferden. Aber er wusste,
sie wurden nur deshalb dressiert, um sie zu verkaufen.
Und Doktor
Schmidt würde heute seinen Hengst wieder einmal untersuchen. Apollo litt an
Laminitis. Es war eine gewöhnliche Hufrehe, und er weigerte sich, mehr darin zu
sehen, als es war. Er war zornig mit dem Personal, denn er wusste, Apollo hätte
im Sommer keine Schonung gebraucht, hätte nicht wochenlang auf der Weide stehen
müssen, um das Gras zu fressen, was laut Dr. Schmidt verantwortlich sei, für
den Zustand seines Pferdes.
Und er
hatte es zu spät entdeckt. Natürlich hatte er das, denn Hufrehe war ein
Haltungsfehler, etwas, was in seinem Gestüt nicht vorkam. Und er war beinahe
noch zorniger mit seinem Pferd. Denn er hatte ihn wieder trainiert, hatte
diesen Frühling mit hohen Hoffnungen auf das Derby begonnen, nur um schließlich
zu merken, dass sein Pferd kürzere Schritte machte. Und das war alles gewesen.
Er hatte nicht einmal damit gerechnet, dass seinem Prachthengst etwas so
banales wie Hufrehe überhaupt passieren konnte.
Aber es
würde vorübergehen, wie alles andere sonst. Denn sein Hengst war keine acht
Jahre alt. Und er hatte nicht all die Zeit und Mühe in das Tier investiert,
damit es an lächerlicher Hufrehe verendete. Bitter verzogen sich seine
Mundwinkel, und er blickte hinab auf die Lederhandschuhe. Er hatte schon so
viele Pferde verloren oder verkauft, hatte so viele von ihnen überlebt, aber er
wäre unglaublich wütend auf das Tier, würde eine kleine Hufrehe ihn Turnierzeit
kosten.
Denn sein
Hengst war ihm wichtiger als vieles sonst. Wichtiger als die meisten Menschen,
und er würde dem Tier nicht vergeben, würde es ihn so sehr enttäuschen.
Jetzt würde
er sich umziehen, kurz das Training überwachen und die Listen der Anwärter für
das Dressurtraining überprüfen. Nicht dass wieder so eine unglückliche
Geschichte wie letztes Jahr passierte, und eine Schülerin die Kosten nicht mehr
hatte tragen können. So etwas war inakzeptabel. Er verschenkte die Plätze in
seiner Reitschule schließlich nicht.
Der Tag kam
ihm bereits jetzt schon unendlich lang vor. Dabei hatte er noch nicht einmal
angefangen. Und die grauen Haare hatten begonnen sich auf seinem Kopf zu
häufen, stellte er mit einem gereizten Blick in den Spiegel fest. Er war alt
geworden. Wann war das passiert, fragte er sich verblüfft.
Oliver
wurde heute 33. Als ob er es vergessen hatte. Er vergaß gar nichts. Nie. Aber
es war nur eine weitere Zahl. Ein unwichtiges Detail. Hart griff er nach den
Lederhandschuhen und wandte sich vom Spiegel ab.
~*~
„Du hörst mir
gar nicht zu!“, bemerkte ihre Mutter, während Kaya lustlos auf der Pizza kaute,
die sie bestellt hatten. Sie hatte regelrecht Bauchschmerzen vor lauter
Gedanken. Sie war hin und hergerissen und überlegte, wie groß der Fehler war,
den sie wohl machen konnte.
„Was?“, entfuhr es Kaya erschrocken, als sie den Blick ihrer Mutter bemerkte,
die den Harry Potter Film auf Pause schaltete.
„Ich habe
gesagt, Elias könnte dich für ein Woche aufnehmen. Elias ist wirklich nett“,
fügte sie hinzu, als Kaya den Mund verzog.
„Er ist Kettenraucher“, entgegnete Kaya angewidert.
„Na ja, das ist wohl übertrieben, oder? Du hättest sein Gästezimmer und
könntest immer Fenster aufmachen“, wandte ihre Mutter ein, aber auch sie klang
nicht vollkommen überzeugt. „Und dann hätte Martina noch zwei Wochen Platz für
dich.“ Kaya kam sich vor wie ein lästiges Haustier.
„Hm“, machte sie, während sie das kalte Pizzastück wieder in den Karton
zurücklegte. Sie wischte sich die fettigen Finger gedankenverloren an der Hose
ab.
„Ich weiß,
es ist nicht ideal, aber ich finde noch weitere Freunde, bei denen du bleiben
kannst“, versprach ihre Mutter versöhnlicher. Martina war lesbisch und trank
jeden Abend eine Flasche Wein. Kaya kannte sie nur betrunken und ziemlich
offenherzig. Alle Theaterfreunde ihrer Mutter hatten irgendeinen Fehler.
Keiner der
Schauspieler war verheiratet. Sie fragte sich, ob das bei allen Leuten so war,
die im Theater arbeiteten. Überall auf der Welt. Konnte man es nicht verbinden?
War es einfach unmöglich?
Kayas Handy
klingelte plötzlich in ihrer Hosentasche. Sie kramte es hervor. Alina.
„Hey“, nahm
sie lustlos das Gespräch entgegen. Alina begrüßte sie nicht mal.
„Gib mir deine Ma!“, verlangte sie jetzt. Kaya blinzelte die Müdigkeit und
Lustlosigkeit fort.
„Was?“, verlangte
sie zu wissen, aber Alina erklärte nichts weiter.
„Komm schon. Gib mir deine Mutter.“ Aber Kaya ahnte, warum sie anrief.
„Alina, ich glaube nicht-“
„-was? Hat
deine Mutter einen hübschen Platz gefunden bei Ekel-Elias? Der immer stinkt und
den ganzen Tag keine Schuhe trägt?“, erkundigte sich Alina, und eigentlich
musste Kaya nicht so großartig viel abwägen, ehe sie ihrer Mutter das Handy
reichte.
„Für dich“, erwiderte sie auf den fragenden Blick ihrer Mutter hin.
„Hallo?“,
sagte ihre Mutter verwirrt, und Kaya hörte, wie Alina munter anfing zu lügen.
Sie schnappte die Worte „dringend“ und „Arbeitskrise“ und „sofortiger Rückflug
nach Berlin“ auf, während ihre Mutter die Stirn runzelte. Atemlos wartete Kaya.
„Alina, das heißt, ihr kommt wieder zurück? Das ist doch schade! Ihr seid doch
gerade erst gefahren“, ergänzte ihre Mutter mitfühlend. Kaya hörte Alina
gleichmütig plappern.
„Aha, und
deine Eltern haben damit kein Problem? Bist du sicher? Kann ich deine Mutter
sprechen?“
Kaya hörte die
Worte „seekrank“ und „kann morgen anrufen“ heraus.
„Oh, ich bin morgen schon abgereist, Alina“, sagte ihre Mutter nachdenklich.
„Wenn du dir absolut sicher bist? Ich lasse Kaya natürlich genügend Geld hier,
damit sie die Einkäufe deiner Mutter bezahlen kann. Und sie hilft auch gerne im
Haushalt!“, log ihre Mutter, aber Kaya war überrascht, wie schnell ihre Mutter
Alina glaubte. Vielleicht weil sie wusste, dass ihre doofen Theaterfreunde
keine gute Alternative zu den rechtschaffenen Wagners waren.
Alinas
Vater war Controller in einer Immobilienfirma, und ihre Mutter war Hausfrau.
Alinas kleiner Bruder war auch in Ordnung, aber nur weil Kaya ihn nie zu
Gesicht bekam. Er war in sämtlichen Sportvereinen untergebracht, spielte
nebenbei noch Geige und war nur selten Zuhause. Außerdem war Kayas Mutter so
erfreut, dass sie eine so nette Freundin gefunden hatte. Anscheinend hatte sie
damit nicht gerechnet, als Kaya auf die neue Schule gekommen war. Sie wusste
nicht, was ihre Mutter eigentlich dachte, was sie tat. Kaya wusste, sie tat
sich schwer mit Menschen. Auf ihrer alten Schule hatte sie keine echten Freunde
gehabt, und sie hatte auch keine gewollt. Nicht wirklich. Wahrscheinlich war
ihre Mutter dankbar genug, dass Kaya nicht „auf die schiefe Bahn“ geraten war,
wie ihre Mutter es nannte, obwohl Kaya sich nicht sicher war, was das hieß.
Wahrscheinlich, dass sie die Schule schwänzte und anfing zu rauchen oder so
etwas.
Aber eine
Nachprüfung war auch nicht wirklich besser, nahm sie bitter an. Jedenfalls
hatte sie vom ersten Tag an neben Alina gesessen, die ihr alles erklärt hatte,
was man über Kurvendiskussionen eigentlich wissen müsste, und was Kaya niemals
verstehen würde. Alina hatte ihr gezeigt, wie man auf dem Schulhof überlebte,
ohne von den Zicken fertig gemacht zu werden, und sie hatte seitdem jeden Tag
neben Kaya gesessen. Auch Alina hatte vorher keine wirklich beste Freundin
gehabt. Kaya nahm an, beste Freunde passierten einfach. Man suchte sie sich
nicht vorher aus.
Und seit
einem Jahr bereute sie nicht, dass sie sich damals neben Alina gesetzt hatte.
Und ihre Mutter bereute es auch nicht. Wahrscheinlich bekam Kaya auch deshalb
nur halb so viel Ärger. Wahrscheinlich würde ihre Mutter denken, alles wäre
noch schlimmer, wenn Kaya nicht mit ihr befreundet wäre.
Alina
durfte hier so ziemlich alles. Und dass sie lügen könnte, war ihrer Mutter noch
nie in den Sinn gekommen, überlegte Kaya. Ihre Mutter wusste auch, dass Alina
nie Probleme mit Schulnoten hatte. Vielleicht hoffte sie, dass Alinas Verhalten
auf sie abfärben würde. Wenn ihre Mutter nur wüsste…!
„In
Ordnung, wenn es wirklich ok ist. Ich verlasse mich auf dich! Ja, dann eine
gute Heimreise euch. Grüß deine Eltern von mir, Alina. Willst du Kaya noch mal
– nicht? Ok, dann mach’s gut!“, verabschiedete sich ihre Mutter überrascht, und
Kaya nahm wortlos ihr Handy entgegen.
Sie sah ihre Mutter gespannt an. „Wie du vielleicht gehört hast, fahren die
Wagners wieder zurück. Du musst also nicht zu Elias. Aber sei bitte höflich,
ok? Mach Frau Wagner keine Arbeit, hörst du?“ Kaya nickte nur und lächelte. Sie
hatte Angst, dass ihre Mutter die Lüge hören würde, wenn Kaya nur ihren Mund
aufmachte. Ihre Mutter war gut bei so was.
„Und
versuch bitte, die Nachprüfung nicht zu vergessen, ok?“ Kaya nickte erneut.
Oh nein.
Sie würde genau das Gegenteil tun, überlegte sie mit einem mulmigen Gefühl.
„Na gut.
Dann lass uns weitergucken. Ich hab dich doch nur noch heute Abend, Kurze“,
sagte sie liebevoll, und zog ihre Tochter gegen ihre Schulter. Ihre Mutter
nannte sie immer Kurze. Dabei war Kaya mittlerweile genauso groß wie ihre
Mutter. Sie liebte das Parfüm ihrer Mutter. Es roch so blumig und frisch. Sie
schloss die Augen, während sie nur noch daran dachte, dass sie ihre Mutter nur
anlog, um sie nicht zu enttäuschen.
Sie sagte
nicht laut, dass sie nicht wollte, dass ihre Mutter ging. Es war nicht üblich,
dass Kaya sich beschwerte über die Arbeitszeiten ihrer Mutter. Sie wusste, ihre
Mutter war anders als andere Mütter. Und eigentlich gefiel ihr das gut, denn
ihre Mutter war alles, aber nicht langweilig. Sie war wunderhübsch und die
stärkste Frau, die Kaya kannte.
Wenn sie
groß war, wollte sie genauso werden wie ihre Mutter. Also lächelte sie und
kuschelte sich in die Armbeuge ihrer Mutter und vergaß, dass sie schon siebzehn
war, und siebzehnjährige Mädchen eigentlich nicht mehr so anhänglich sein
sollten.
Alina würde
sie auslachen. Denn Alina sprach mit ihrer Mutter nur, wenn es nötig war. Aber
Kaya glaubte, dass eigentlich ihre Mutter ihre beste Freundin war. Oder zumindest
war sie gleichauf mit Alina.
„Ich hab
dich lieb, Mama“, sagte sie zufrieden, und ihre Mutter strich ihr über die
langweiligen, glatten blonden Haare. Sie wünschte sich immer, dass sie
aufwachen würde, und die Locken ihrer Mutter hätte. Aber das passierte wohl
nicht mehr, nahm sie an.
„Ich dich
auch. Ich bin schneller zurück als du glaubst, ok?“, flüsterte ihre Mutter, und
Kaya wusste, ihre Mutter hasste lange Abschiede oder große Szenen. Am liebsten
sagte ihre Mutter gar nichts, wenn sie weg musste. Sie sagte, es wäre dann
leichter, und der Abschied wäre nicht so schmerzhaft. Kaya begriff das nicht,
aber sie widersprach auch nie.
Aber im
Gegensatz zu ihr, weinte ihre Mutter jedes Mal beim letzten Harry Potter Teil. Wahrscheinlich
war sie doch ganz weich innen drin. Weicher als Kaya es war. Aber sie achtete
kaum auf den Film, denn sie wollte sich den Duft ihrer Mutter einprägen, und
wie sie sich anfühlte, denn sie würde fast zwei Monate hunderte von Kilometern
entfernt sein.
Vielleicht
schaffte sie es, nicht einzuschlafen, um so viel von ihrer Mutter wie möglich
zu haben. Sie würde es versuchen.
Auch wenn
sie wusste, dass sie immer schlecht darin war, wachzubleiben, wenn sie musste.
Jedes Jahr an Silvester war es ein Wunder, wenn Kaya nicht schon vor dem
mitternächtlichen Dinner for One eingeschlafen war. Letztes Jahr war sie mit
Alina in der Sporthalle der Schule gewesen, auf einer Party von Alinas
Volleyball Gruppe. Sie hatte den zwölf Uhr Sekt nicht mal getrunken. Alina
hatte sie wecken müssen, weil Kaya auf den blauen Sportmatten eingeschlafen
war.
Die
Chancen, dass sie es heute schaffte wachzubleiben, auch wenn sie ihre Mutter
für zwei Monate nicht mehr sehen würde, waren… wohl eher gering.
Aber noch
war sie wach!
Hellwach….
~*~
Sie
glaubte, sie hörte das Klicken der Haustür, aber das Wohnzimmer lag noch in
finsterer Dunkelheit, und ihre Augen wollten so hartnäckig geschlossen bleiben.
Und sie driftete ab. Sie wollte eigentlich wach bleiben, aufstehen, den Tag nutzen,
aber als sie kurz die Augen entspannte und wieder öffnete, wurde sie wach vom
Vibrationsalarm ihres Handys, das auf dem Tisch lag.
Sie
blinzelte und das Wohnzimmer lag in erschreckender Helligkeit. Ein Blick auf
Uhr an der Wand teilte ihr mit, dass es kurz nach elf war! War es gerade nicht
noch dunkel gewesen? Sie strampelte sich unter ihrer Bettdecke hervor, die ihre
Mutter wohl über sie gelegt haben musste und raffte sich erschöpft auf, um ans
Handy zu gehen.
Mist, der
Akku war fast leer!
Sie schob
ihren Finger über das gesprungene Display, um Alinas Anruf entgegennehmen. Als
sie sich das Handy ans Ohr hielt, gähnte sie herzhaft, und hörte Alina
aufschnauben.
„Du
schläfst noch?“, fragte sie überflüssigerweise, und Kaya streckte sich
stöhnend.
„Bin auf
der Couch eingeschlafen. Meine Mama ist schon weg. Wie ist die See?“, ergänzte
sie missmutig, erhob sich, und verließ die Unordnung des Wohnzimmers wieder, um
in der Küche die Kaffeemaschine anzustellen.
Sie goss
einhändig eine geschätzte Menge Wasser in den schmalen Tank und häufte drei
Löffel Kaffeepulver in den Filter, den sie mit der Zungenspitze zwischen den
Zähnen in die Vorrichtung manövrierte, während Alina von ihrer Mutter erzählte,
die auch an diesem Tag in der Suite verbleiben würde, um sich zu übergeben.
Sie
schlurfte gähnend zurück ins Wohnzimmer, um auf dem schmierigen Glastisch, mit
den zwei wackligen Stühlen, eine Nachricht ihrer Mutter zu finden. Daneben
lagen 300 € für Alinas Mutter. Kaya verdrehte die Augen. Würden die Wagners tatsächlich
zurückkommen, müsste sie Frau Wagner niemals so viel Geld geben! Wenn Frau
Wagner überhaupt Geld von ihr annehmen würde. Immerhin musste sie somit nicht
bei Alina einbrechen. Und bestimmt hatte sich ihre Mutter das vom Mund
abgespart, und Kaya wusste, sie würde einen Teil hier lassen, denn ihre Mutter
konnte für gewöhnlich nicht mit Geld um sich werfen.
Auf der
Notiz hatte ihre Mutter in ihrer schiefen Schrift Grüße und Küsse dagelassen,
den Namen des Ortes, in dem sie sein würde, und sie ermahnte sie erneut, nicht
die Nachprüfung zu vergessen. Sie hatte am Rand der Notiz einen schiefen
Rollschuh gemalt. Kaya musste schmunzeln. Ihre Mutter hasste Rollschuhfahren.
Ihre Mutter war ähnlich unsportlich, wie sie es war. Wahrscheinlich war sie
deshalb nicht so zornig mit ihr, nahm Kaya an. Sie vermisste ihre Mutter jetzt
schon. Sie schob das Geld unter das alte Platzdeckchen, denn Geld hatte man
nicht offen auf dem Tisch liegen, überlegte sie.
„Hör zu,
ich werde gleich von meinem Handy aus deine Reise buchen, denn du wirst wieder
einmal keine Ahnung haben, wie man kostensparend bucht. Außerdem buche ich von
meinem Konto, dann hast du keine Reisekosten!“, fuhr sie selbstverständlich
fort.
„Alina, nein!“, widersprach Kaya, aber Alina unterbrach sie rigoros.
„Unsinn.
Immerhin kommt es auch mir zugute, wenn du die blöde Nachprüfung bestehst. Und
wenn deine Mutter dir Taschengeld dagelassen hat, dann brauchst du jeden
Cent!“, ermahnte sie Kaya jetzt. „Außerdem schicke ich dir per Mail eine Liste
von Dingen, die du kaufen kannst, für die Reise. Astronautenfutter ist zwar
eklig, aber nahrhaft und sättigend. Falls du länger unterwegs bist, oder es
Probleme gibt, hast du genug zu essen, ohne zu viel Geld auszugeben! Und du
kannst heute noch in unsere Wohnung, mein Bargeld holen!“, ergänzte sie hastig.
Kaya wollte
widersprechen, aber Alina schien schon ganz aufgeregt zu sein. Wahrscheinlich
war sie seit acht Uhr wach und plante Kayas Abenteuer.
„Ich rufe
dich wieder an, wenn ich dir die Mail mit deinem Ticket, deine Route und die
Einkaufsliste geschickt habe!“ Kaya wollte sich eigentlich erkundigen, wo Alina
gerade auf dem Ozean war und warum ihr Empfang so verdammt gut war und wie es
ihr ging, aber Alina hatte bereits aufgelegt.
Es
klingelte an der Haustür. Gähnend schlurfte Kaya auf den Flur hinaus. War das
die Post? Die Nachbarn, die schon mal vorsintflutlich eine riesige Party
anmelden wollten? Sie spähte durch den Spion, aber niemand stand vor der Tür.
Also klingelte jemand von unten.
Sie drückte
auf den Knopf der Gegensprechanlage.
„Wer ist da?“, wollte sie unfreundlich wissen, so wie es ihre Mutter ihr
beigebracht hatte.
„Hi, hier ist Bastian“, kam seine Stimme blechern durch den kleinen
Lautsprecher. Sie starrte die Gegensprechanlage an. Dann blickte sie an sich
hinab. Sie trug einen Schlafanzug – und was?! „Ich hab meine Prüfung bestanden.
Und ich habe Brötchen?“, fügte er hinzu.
Echt jetzt?!
Sie spürte,
wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und sie
war überfordert mit dieser Situation. Sie drückte unschlüssig auf den Knopf.
„Eine
Minute, ok?“, erwiderte sie heiser und stürmte zurück.
Hastig
räumte sie die Sachen von den Möbeln, warf die Sachen ihrer Mutter einfach bei
ihr aufs Bett und verschloss die Tür. Mit dem Fuß trat sie ohne Reue alte
Cornflakes unter die Couch, sowie die Blätter der Yucca Palma, zerknüllte
nebenbei den Pizzakarton und eilte in die Küche, um ihn in den vollen Mülleimer
zu stopfen.
Sie holte ihre
Bettdecke eilig aus dem Wohnzimmer, um sie wieder über ihr Bett zu werfen und
schloss auch diese Tür. Denn ihr Zimmer ordentlich zu bekommen, dafür bräuchte
Kaya bestimmt eine ganze Woche!
Mehr
schlecht als recht drückte sie Zahnpasta auf ihre Zahnbürste im Bad und putzte
kaum mehr als fünf Sekunden ihre Zähne, ehe sie die Zahnpasta wieder ins
Waschbecken spukte und sich im verschmierten Badezimmerspiegel betrachtete. Sie
kämmte sich mit der Bürste die langen Haare glatt und ignorierte ihren Schlafanzug,
den sie trug, denn mit Fantasie könnte er als Hausanzug durchgehen.
Vollkommen
erschöpft kam sie wieder vor der Haustür an und drückte den Knopf, um ihn
reinzulassen. Anscheinend wusste er doch, wo sie wohnte. Anscheinend hatte er
einen Führerschein, begriff sie, während sie ihr Gähnen hinter ihrer Hand
verbarg.
Sie öffnete
die Tür, als sie seine Schritte im Flur hören konnte.
„Hey“,
begrüßte er sie unschlüssig und blickte knapp an ihrer Erscheinung hinab. Es
war so seltsam, dass er hier aufgetaucht war. Sie wich von der Tür zurück, um
ihn reinzulassen.
„Hey“,
erwiderte sie ebenfalls und nahm ihm die Brötchentüte ab. „Kaffee?“, fragte sie
ihn jetzt, und er nickte vage. Er war hier! In ihrer Wohnung. Ein Junge, den sie
mal gemocht hatte und den Alina immer noch mochte, war in ihrer Wohnung! Der
erste Junge, ging ihr auf. Sie bedeutete ihm scheu, weiter ins Wohnzimmer zu
gehen, als sie hastig die Küche betrat, um zwei Teller und zwei Tassen zu
holen. Sie füllte die Becher mit Kaffee und stellte sie mit den Tellern auf ein
Tablett. Sie entleerte die prall gefüllte Brötchentüte in einen Brotkorb, den
sie auch auf das Tablett stellte.
Dazu holte
sie noch Margarine, Wurst, Marmelade und Käse aus dem Kühlschrank. Den letzten
Rest an Essen, der noch da war. Sie stellte eine Tüte Milch mit aufs Tablett
und Zucker. Sie kippte die Milch schon in ihre Tasse, denn sie wusste weder, ob
er überhaupt Milch und Zucker wollte, noch, ob er tatsächlich Kaffee trank.
Sie kippte
die Milch versehentlich über ihren Becherrand hinaus und wischte den Fleck
fluchend mit dem Ärmel weg. Dann balancierte sie das schwere Tablett ins
Wohnzimmer.
Er saß
bereits auf der Couch und sah sich neugierig um.
Er schob
den Laptop zur Seite, als sie das Tablett auf den niedrigen Wohnzimmertisch
stellte. Er griff wortlos nach seinem Kaffee, und sie tat es ihm gleich.
Sie kam
sich plötzlich mächtig erwachsen vor. Sie war allein in ihrer Wohnung, und ein
Junge saß auf ihrer Couch.
„Du… hast
deine Prüfung bestanden“, schloss sie schließlich, um irgendwas zu sagen, und
glaubte, bereits jetzt rot geworden zu sein.
„Ja, hab
bestanden“, erwiderte er nickend. Er trank seinen Kaffee also schwarz.
„Hast du
deinen Vater zum Flughafen gebracht?“, fragte sie weiter, obwohl es wohl
offensichtlich war.
„Ja, vor
einer Stunde“, bestätigte er. Da hatte sie noch geschlafen. Wahrscheinlich war
Bastian jemand, der morgens um halb acht aufstand, selbst wenn er keine Schule
hatte, damit er noch mehr lernen konnte, oder so.
„Und bist
du mit dem Auto hier? Das darfst du gar nicht, oder?“, fragte sie weiter, und
hatte keine Ahnung, weshalb sie so viele Fragen stellte. Außerdem musste er
sich dann wohl einen Parkplatz unten erkämpft haben, vermutete sie, denn
Parkplätze gab es hier so selten, wie einen Fleck auf dem Bürgersteig ohne
Hundekot.
„Nein, ich
hab das Auto in der Tiefgarage des Flughafens gelassen und bin mit der Bahn
gekommen“, erklärte er. Sie sah ihn an.
„Echt? Du
wusstest, wo ich wohne?“, entfuhr es ihr überrascht. Er ruckte mit dem Kopf und
zog sein iPhone aus der Tasche.
„Internet?“,
gab er ungläubig zurück, legte es auf dem Tisch ab, und kurz betrachtete sie
neidisch das teure Stück Technik. Aber sie glaubte, es war überbewertet. Das
sagte ihre Mutter auch.
„Und das
Auto bleibt einfach da? Braucht deine Mutter kein Auto?“, fragte sie
gedankenverloren, aber seine Stirn runzelte sich.
„Wir… ähm…
haben mehrere Autos“, gab er etwas kleinlaut zurück. Oh. Natürlich. Er war ja
reich. Jetzt wurde sie wirklich rot. Ihre Mutter hatte gar kein Auto. Sie
konnten es sich gar nicht leisten. Wieso genau war Bastian Kaminsky hier? Die
Wohnung musste ihm vorkommen wie ein größerer Flur, überlegte sie dumpf, voller
Verlegenheit, die eigentlich unangebracht war. Sie schämte sich nämlich nicht.
Es war einfach nur… so seltsam. Das war alles.
„Wieso
besuchst du mich?“, entfuhr es ihr jetzt ratlos.
„Ist es so
schlimm?“, wollte er fast beleidigt von ihr wissen, und sie runzelte die Stirn.
Ja, vielleicht sah er wirklich nicht schlecht aus, ging ihr auf. Seine Haare
schimmerten sogar und sie waren ordentlich frisiert. Er saß gerade auf der
Couch, hatte die Beine nicht hochgelegt, oder so, und er kam ihr so vor, als
würde es ihm nichts ausmachen, hier zu sein. Als würde er sich überall wohlfühlen.
Sein Selbstbewusstsein war wohl das erste, was sie an ihm beeindruckt hatte.
Neben seiner angenehmen Größe. Viele Jungen waren tatsächlich kleiner als sie.
Oh je. Er hatte eine Frage gestellt, ging ihr auf!
„Nein, ich… nein. Aber… wir haben nie Kontakt in der Schule, oder… außerhalb?“,
sagte sie jetzt verwirrt. Er lächelte plötzlich. Und sie war definitiv nicht
gewöhnt, dass Jungen sie anlächelten. Es verursachte ein seltsames Gefühl in
ihrer Magengegend, stellte sie nervös fest. Und sie fand sich selber
erbärmlich. Immerhin hatte sie das erkannt.
„Ja, Caro kann dich nicht leiden“, erklärte er, als wäre es witzig.
„Ähm, ja.
Das wäre noch so eine Sache. Du hast eine Freundin, richtig?“, hakte sie nach,
und er ruckte tatsächlich mit dem Kopf.
„Caro ist…“,
begann er unschlüssig und legte dann den Kopf schräg. „Ich hab dir gesagt, ich
komme vorbei und helfe dir, deine Sportprüfung zu bestehen“, erklärte er jetzt
ernsthaft. Aber sie konnte noch immer nicht begreifen, wieso er das tat.
„Ja… ich…
also, Alina und ich haben da schon einen… Plan“, schloss sie ausweichend, denn
eigentlich wollte sie ihm davon nicht wirklich erzählen. Sie strich sich eine
Strähne hinter ihr Ohr und blickte hinab in ihre Kaffeetasse. Bastian Kaminsky
saß auf ihrer Couch.
Oh mein
Gott! Und Carolina würde sie umbringen!
„Ist er
geheim?“, wollte er sofort wissen, und sie hob erneut den Blick zu seinem
Gesicht. Er sah schon ganz niedlich aus. Sie biss sich auf die Lippe. Sie
konnte nicht verhindern, zu fragen.
„Weiß
Carolina, dass du hier bist?“ Kurz legte sich seine Stirn in Falten.
„Nein“, erwiderte er neutral. Aber sie sah, dass sich seine Oberlippe kurz
abweisend kräuselte.
„Nicht?“,
wiederholte sie ratlos.
„Caro ist
nicht meine Freundin“, sagte er, fast ein wenig gereizt. Kayas Augen wurden
groß.
„Ist sie
nicht?“, stammelte sie nur und hätte schwören können, Carolina sah das anders.
Sie hörte sie schließlich in der Pause schwärmen! Und ging sein Vater nicht
auch davon aus, dass Bastian mit Caro zusammen war?
„Wäre sie gerne“,
bestätigte er mit einem schiefen Grinsen. Das änderte die Dinge ein wenig,
überlegte sie verwirrt. Bastian hatte keine Freundin und besuchte sie in ihrer
Wohnung mit Brötchen? Ohne jeden Grund? Zumindest ohne einen guten Grund?
„Also?“, sagte er energischer, und sie schnappte aus ihren Gedanken.
„Was?“
„Euer
Plan?“
„Wieso…
willst du mir helfen?“, forschte sie weiter nach, und hob die Hand, ehe er
sprechen konnte. „Und sag nicht, weil du es gestern versprochen hast. Ich
meine, das ist… so untypisch und…“ Sie sah ihn an, in Ermangelung weiterer
Worte.
„Ok, du willst also zur Sache kommen?“, sagte er und überraschte sie damit. Oh
je! Bekam sie jetzt ein Liebesgeständnis von Bastian Kaminsky? Das wäre… so
unfassbar! Ihr Herz klopfte wieder lächerlich schnell.
„Ähm… ich
will nur wissen, warum du-“
„-ich mag
Alina“, sagte er schnell. Sie spürte, wie ihre Mundwinkel ausdruckslos sanken.
Was?! Oh… seine Worten ließen sie kurz blinzeln, und sie
senkte den Blick wieder hastig in ihre Tasse. Mist! Sie war so unglaublich
dumm!
„Also, ich…
mag sie wirklich. Und… ihr seid befreundet, und ich…“
Ihr Herz
schlug so schnell vor Scham. Er dachte, wenn er ihr half, dann würde sie ein
gutes Wort für ihn bei Alina einlegen?! Und vor allem, er hatte es nicht mal nötig,
überhaupt einen Umweg über sie zu machen. Und… - sie schluckte die Enttäuschung
runter. Was hatte sie gedacht? Dass irgendein blöder reicher Junge aus ihrer
reichen Gymnasiums-Klasse sie leiden mochte?! Das wäre das erste Mal, dass
irgendwer ihr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Sie war
so dumm.
„Aha“, rang
sie sich nickend ab. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass er ihr
einfach nur bei Facebook eine Nachricht schreiben musste, und sie wäre
höchstwahrscheinlich seins. Aber es wäre vielleicht ein guter Grund, weshalb er
wieder gehen konnte, denn eigentlich fand sie es ziemlich peinlich.
Sie trank
einen großen Schluck Kaffee.
„Ja,
also…“, begann sie beschämt, „dann sag ich ihr… Bescheid“, bot sie an, ohne ihm
in die Augen zu sehen. Gott, sie war dankbar, Alina nicht in aller Vorfreude
berichtet zu haben, dass Bastian Kaminsky bei ihr vorbeikäme. Einfach nur, um
ihr zu helfen. Sie war so unendlich froh! Es ersparte ihr zumindest die Scham,
die sie gegenüber Alina gefühlt hätte, weil sie tatsächlich für eine Sekunde
geglaubt hatte, dass er sich für sie interessierte.
„Hey, ich
hab gesagt, ich helfe dir!“, widersprach er achselzuckend.
„Das ist
wirklich nicht nötig. Du kannst… gerne noch was essen, aber ich brauche
wirklich-“
„- es macht
mir nichts aus!“, versicherte er jetzt. Sie griff sich missmutig ein Brötchen. Als wäre sie ein Sozialfall, dem er helfen
wollte, um als Ritter in schimmernder Rüstung vor Alina dazustehen. Gott,
wusste er nicht, wie er aussah?! Sie konnte seine falsche Bescheidenheit nicht
leiden, dachte sie missmutig.
Allerdings
sagte sie nichts weiter. Oh Gott, es war so unendlich peinlich! Hoffentlich sah
er ihr nicht an, wie peinlich es ihr war!
„Also, dann
habt ihr schon eine Idee? Du weißt, was du für die Nachprüfung machen willst?“,
versuchte er es erneut, und ja. Sie merkte, er hatte das Lächeln aufgelegt,
dass er sonst dem Schulleiter zuteilwerden ließ.
„Ich werde heute zur Schule gehen, um mir die Cam auszuleihen“, räumte sie missmutig ein, ohne ihm weitere Informationen zu geben. Es war doch relativ leicht mit dem Kurschwarm zu sprechen, wenn man wusste, dass er definitiv und absolut gar nichts von einem wollte, stellte sie bitter fest. Zwar wollte sie am liebsten in Grund und Boden versinken, aber ansonsten war alles ok.
„Ich hab
eine Cam. Die kann ich dir leihen. Wirklich, kein Problem! Und meine ist auch
viel besser als die blöde Schul-Cam“, beteuerte er.
„Hey, es
ist wirklich nicht nötig, dass du-“
„-wieso
willst du meine Hilfe nicht?“, unterbrach er sie verwirrt.
„Weil ich
sie nicht brauche“, gab sie bockig zurück. Er sah sie verwirrt an. Sie seufzte
auf. „Weil du mir nicht helfen musst, bloß um Punkte bei Alina zu sammeln“,
fügte sie gereizt hinzu.
„Soweit ich
informiert bin, muss mich auch die beste Freundin leiden können“, entgegnete er
ruhiger. Sie verdrehte die Augen. Er war ein blöder Schleimer. Kurz war sie
wütend auf Alina. Nur sehr kurz, aber sie war definitiv wütend. Oder neidisch.
Oder was auch immer.
„Kaya, ich
leihe dir gerne meine Cam. Und du musst es Alina nicht mal sagen. Ok? Wirklich,
ich habe kein Problem damit. Und sie ist wirklich besser als der Scheiß aus der
Schule“, wiederholte er ernst. Sie seufzte erneut auf. Sie konnte nicht leiden,
dass er sich so große Mühe gab, nur damit sie ihn leiden mochte. Mochte sie
nämlich nicht. Absolut nicht mehr.
„Hab ich
was Falsches gesagt?“, entfuhr es ihm jetzt, und bevor er noch auf den
abwegigen Gedanke käme, dass sie eifersüchtig war, schüttelte sie hastig den
Kopf.
„Fein,
meinetwegen!“, brummte sie in ihr Brötchen. Hunger hatte sie keinen mehr.
„Es bleibt
also ein Geheimnis, was du machen willst?“ Sie begriff nicht, warum er es
unbedingt wissen wollte. Aber sie nahm an, wenn er das ernst meinte, was er
sagte, würde Alina ihn bestimmt nicht abweisen. Sie resignierte.
„Ich werde
auf dem Hof von meinem Großvater reiten gehen“, sagte sie so lapidar als wäre
es ganz natürlich. Immerhin klang es zumindest ein bisschen elitär. Sie konnte
sich denken, dass er sie für eine arme Kirchenmaus halten musste, dass er
glaubte, er würde ihr mächtig aus der Klemme helfen, mit seinem blöden
Kamera-Angebot. Sie war wieder wütend.
„Oh?“,
entfuhr es ihm. „Ich wusste nicht, dass dein Großvater einen Hof hat“, gab er
tatsächlich erstaunt zu bedenken. „Dann hast du ja echt kein Problem. Herr
Steiner steht auf Pferde und all das.“
„Jaah“,
sagte sie und bekam wieder das mulmige Gefühl in ihrem Innern. Ihr Handy
vibrierte in die Stille hinein, und beide schraken zusammen. Sie schämte sich
nur minimal für das gesprungene Display und beachtete seinen Blick gar nicht.
Der blöde Bastian Kaminsky saß auf ihrer Couch, nur um sich bei ihr
einzuschleimen. Alina würde das gefallen, vermutete sie missmutig. Natürlich. Welchem
Mädchen würde das nicht gefallen….
Alina hatte
ihr geschrieben, dass die Mail angekommen sein müsste. Kaya klappte gespannt
den Laptop auf, für den sie sich kurz aus ihrem Sitz erheben musste, und
stellte ihn auf ihren Schoß.
„Was passiert
jetzt?“, wollte er knapp wissen, und lugte über ihre Schulter. Sie roch seinen
Duft. Es verwirrte sie kurz. Sie hatte einen Jungen noch nie so nah aus der
Nähe erlebt. Und ihre Mutter hatte ja seit einer ganzen Weile keine festen
Freunde mehr gehabt. Und sie hatte nicht gewusst, dass Jungen auch gut riechen
konnten.
„Nichts
weiter, ich…“, wich sie seiner Frage aus, und öffnete den Browser, um zu
gucken, ob die Mail tatsächlich angekommen war, während sie unauffällig von ihm
abrückte, bevor sie wieder rot werden würde. Plötzlich griff seine Hand nach
dem Bildschirm und drehte den Laptop. Sie hob überrascht den Blick.
„Rothenberg?“,
entfuhr es ihm, als würde er den Namen bereits von irgendwoher anders kennen
und erst jetzt wirklich mit ihr in Verbindung bringen. Er sah hinab auf die
Homepage des Gestüts, und es war ihr unangenehm. Sie entzog ihm den Laptop
wieder. Sie wollte bestimmt keine Fragen beantworten, die ihre Familie
betrafen. Sie öffnete ihr Mail Postfach und Bastian schien sich mögliche Fragen
zu verkneifen. Und tatsächlich! Alina hatte anscheinend alles nachgeguckt,
alles gebucht, alles geschickt. Sie musste es nur noch ausdrucken! Und kurz
fühlte sie sich schlecht, weil sie wütend auf Alina gewesen war.
Alina war
wirklich ihre allerbeste Freundin. Die beste, die sie jemals hatte, und
eigentlich konnte sie nachvollziehen, warum Bastian Alina als Freundin wollte.
Wer würde Alina nicht wollen? Sie war kleiner als Kaya, hübscher als Kaya und
hatte mehr Geld als sie.
Und dann
vibrierte ihr Handy erneut. Diesmal rief Alina an. Kurz überlegte sie, den
Anruf zu ignorieren, entschied sich aber dagegen. Und Bastian schien es gesehen
zu haben. Sie fuhr mit dem Finger über das Display und drückte sich das Handy
ans Ohr.
„Hey“,
sagte sie gepresst und drehte sich von Bastian weg. „Ja, ich hab alles
bekommen“, beantwortete sie Alinas Frage. Gott, war ihr das unangenehm. „Ja,
ich… hör mal, ich ruf dich gleich noch mal, ok?“
Sie sah,
wie Bastian die Stirn runzelte. Alina sprach wieder, und Kaya hielt ihm in
plötzlicher Eingebung das Handy entgegen und sah ihn auffordernd an. Seine
Augen wurden größer, als er begriff. Und er schüttelte hastig den Kopf. Sie
runzelte die Stirn und nahm das Handy wieder ans Ohr.
„Ich – ja.
Ich rufe dich gleich noch mal an, ok?“, versprach sie Alina, und beendete das
Gespräch. „Vielleicht solltest du mit ihr reden, wenn du sie magst?“, sagte sie
verständnislos, aber er griff sich ein Brötchen.
„Ja, aber
vielleicht sollte ich das nicht tun, wenn sie dich anruft? Dann muss ich
erklären, wieso ich hier bei dir bin“, erläuterte er. Und sie verstand nicht.
Verständnislos sah sie ihn an. Plötzlich zuckten seine Mundwinkel. „Du hast
noch nie einen Freund gehabt, oder?“, fragte er lächelnd, und diese Aussage
ließ sie sofort wieder knallrot werden. Sie senkte den Blick
„Was soll
die Frage?“, fuhr sie ihn an, aber sie sah ihn aus den Augenwinkeln noch immer
lächeln.
„Na ja,
wenn ein Junge und ein Mädchen alleine sind, dann… kann das… ein falsches Bild
vermitteln“, erwiderte er gedehnt. Sie hob den Blick.
„Wieso?“,
entfuhr es ihr verblüfft. Er hob tatsächlich die Augenbrauen, als wäre es
offensichtlich, und sie schloss die Augen, als sie begriff. Oh Gott! Sie war so
peinlich! Und sie wurde noch röter. „Oh… nein!“, sagte sie hastig. „So etwas…
würde sie nie…! Ich…“ Sie unterbrach sich selbst und trank einen sehr langen
Schluck Kaffee, um nicht weitersprechen zu müssen. Er grinste bereits wieder,
schien sie aber nicht mehr quälen zu wollen.
„Sie ist in
Urlaub, oder?“, wollte er wissen, während er sein Brötchen mit Marmelade
beschmierte und Kaya am liebsten sterben wollte.
„Ja.
Kreuzfahrt“, bestätigte sie heiser.
„Ziemlich
cool“, bestätigte er. „Wollen wir gleich die Cam holen?“, fügte er hinzu, und sie
ruckte mit dem Kopf. „Ich weiß ja nicht, wann du zu deinem Großvater fährst“,
fuhr er fort. Richtig. Das wusste sie auch noch nicht. Sie öffnete die Mail.
Das Ticket war im Anhang und sie klickte auf die Vorschau, dankbar irgendetwas
zu tun.
„Morgen früh“,
stellte sie verblüfft fest. Sie fuhr also sonntags. Dann musste sie heute noch
einkaufen. Und packen.
„Wohnst du
allein?“, fragte er plötzlich, und sie hob irritiert den Blick.
„Was? Nein,
ich… meine Mutter ist in London.“
„Sie spielt
am Theater, oder?“, vergewisserte er sich, während er das
Brötchen mit schnellen Bissen aufaß. Kaya nickte nur. „Und sie hat also einen
Gig in London?“, schloss er neugierig. Kaya nickte erneut. „Und wo ist dein
Vater?“, fragte er und schien es tatsächlich wissen zu wollen.
Wahrscheinlich
war es für ihn unbegreiflich keinen Vater zu haben, wo ihm sein Vater
anscheinend alles bezahlte, was er wollte.
„Mein Vater
wohnt in München. Meine Eltern sind nicht mehr zusammen“, sagte sie kleinlaut.
Er nickte und schien nachzudenken.
„Tut mir
leid“, sagte er schließlich.
„Muss es
nicht. Ich kenne meinen Vater kaum, also…“ Sie zuckte die Achseln. „Ich ziehe
mir eben was anderes an, dann können wir los“, schloss sie, um das unangenehme
Gespräch abzukürzen und erhob sich.
„Ok“, sagte
er nickend. Er würde sie mit zu sich nach Hause nehmen, ging ihr auf. Sie war
noch nie da gewesen. Sie war noch nie bei einem Jungen Zuhause gewesen. Sie
beeilte sich, denn sie wollte ihn nicht zu lange im Wohnzimmer alleine lassen.
Als sie
eine ausgewaschene Jeans und ein blaues Shirt übergezogen hatte, hatte er
bereits das Tablett in die Küche gebracht, und den Aufschnitt zurück in den
Kühlschrank gestellt. Kurz war es ihr unangenehm, aber sie sagte nichts. Besser
sagte sie gar nichts mehr, bevor sie noch irgendetwas Peinliches sagen würde.
Im
Wohnzimmer stopfte sie eilig das Geld in ihr Portemonnaie, und zog sich ihre
Chucks im Flur an.
„Ok, wollen
wir los?“, rief sie, und er kam ebenfalls in den Flur.
„Du und
deine Mutter seid nicht wirklich ordentlich, oder?“, sagte er fast amüsiert,
und wieder setzte ihr Herzschlag aus. Sie hatte definitiv keine Erfahrung mit
Jungen.
„Musst du
dich ja nicht dran stören!“, gab sie verteidigend zurück, aber er grinste
breit.
„Es stört mich nicht“, erwiderte er bloß, und sie konnte sich keinen Reim auf
ihn machen. Sie stellte sofort fest, dass er wesentlich teurer gekleidet war
als sie, als sie an sich hinabblickte.
„Ähm…
sollte ich… mir vielleicht was anderes anziehen?“ Seine Stirn lag in krausen
Falten.
„Wieso?“, erkundigte er sich ehrlich verblüfft.
„Weil…“ Sie
sah kurz an ihm hinab. Er winkte lächelnd ab.
„Du siehst
gut aus, ok?“, gab er nur zurück, und sie griff sich etwas beschämt ihren
Schlüssel aus der Schüssel im Flur. Und nein, sah sie nicht. Sie war noch nicht
zum Wäsche machen gekommen. Sie trug wirklich gerade ihre letzten Sachen, die
noch sauber waren.
Aber wenn
es ihm egal war, konnte es sie auch nicht stören. Sie musste sich ja nicht mal
Mühe mit ihm geben. Er wollte sie ja nicht. Verstohlen blickte sie immer wieder
auf das eingestickte Krokodil seines Shirts. Sie hatte vergessen, was es für
eine Marke war, aber sie kannte sie aus der Werbung. Sie verstand nicht, warum
Menschen Marken unbedingt haben wollten. Als wären die Sachen damit gleich
tausendmal besser. Sie kaute auf ihrer Lippe, während sie unauffällig
versuchte, einen Fleck aus ihrem Shirt zu reiben, als sie die Stufen runter
gingen.
~*~
„Oh mein
Gott!“ Alina klang, als wäre sie im siebten Himmel gelandet. „Ist das wirklich
dien Ernst? Wie süß ist das denn?“, entfuhr es ihr aufgeregt. „Und er mag mich?
Wirklich mich?!“, vergewisserte sich
ihre beste Freundin, als wäre es so unwahrscheinlich. Alina war hübsch und
normal und ihre Eltern hatten Geld, und… Kaya konnte sich fast schon kein
langweiligeres Pärchen vorstellen.
„Ja“,
bestätigte sie zum hundertsten Mal, während sie in einer Drogerie versuchte,
die seltsamen Vitamine zu kaufen, die Alina als lebenswichtig markiert hatte.
„Hast du
ihm gesagt, dass du heimlich nach Hamburg fährst?“, wollte Alina gespannt
wissen, aber Kaya schüttelte den Kopf.
„Nein, geht
ihn nichts an, oder?“ Aber Alina schien ihr nicht mehr wirklich zuzuhören.
„Oh Gott!
Bastian Kaminsky mag mich! Er mag mich!“, rief sie glücklich ins Handy, und
Kaya verdrehte die Augen.
„Ja, ja. Konzentrier dich bitte noch kurz auf mein Problem?“, verlangte Kaya
genervt, und Alina wurde ruhiger.
„Oh, ja!
Sicher. Aber… du hast ihm gesagt, wann ich wiederkomme?“, vergewisserte sich
Alina kleinlaut. Kaya stöhnte auf.
„Ja. Ich
hab ihm gesagt, wann du wiederkommst, was dein Lieblingsessen, dein
Lieblingsfilm, dein Lieblingsbuch, deine Lieblingsklamotten sind – alles,
Alina, ok?“ Sie hörte Alina seufzen vor Glück.
„Oh, und er
sieht so gut aus! Carolina wird grün vor Eifersucht werden! Wie war sein
Haus?“, fragte sie, und schien wieder vergessen zu haben, sich auf Kayas Sorgen
konzentrieren zu wollen.
Und
Bastians Haus war regelrecht ein Palast gewesen. Es war ihr so unangenehm. Ihre
Wohnung war ihm bestimmt wie eine Abstellkammer vorgekommen, nahm sie an. Sein
Haus stand an einem See. Mit einem Bootssteg. Auf Stelen. Mit tausend Zimmern.
Und sie war froh, dass seine Mutter nicht zuhause gewesen war.
„Schön“,
kürzte sie das Thema ab. „Wieso hast du mir die Jugendherbergen mit
angegeben?“, wollte Kaya jetzt wissen und hörte Alina ausatmen.
„Nur für
alle Fälle“, sagte sie vage. „Also, falls alle Zimmer belegt sind, oder…“ Kaya
kaute auf ihrer Lippe, als sie mit den Vitaminen zur Kasse ging. Sie hatte
jetzt fünfzig Euro für Proviant ausgegeben. Und Alina schien ihre Gedanken zu
erraten. „Du kannst dir wirklich mein Geld holen, Kaya!“, sagte sie. „Oder ich
überweise dir Geld“, schlug sie jetzt vor.
„Auf gar keinen Fall!“, beteuerte Kaya kopfschüttelnd
und bezahlte weitere drei Euro für Vitamine, die sie nicht brauchte.
„Aha, und
was ist mit Stiefeln?“, fragte Alina überlegen. Kaya stutzte, als sie das
Geschäft verlassen hatte, und die Sonne in ihrem Nacken brannte. Es war über
Nacht also tatsächlich echter Sommer geworden.
„Welche Stiefel?“, wollte Kaya besorgt wissen, und Alina stöhnte auf.
„Kaya! Du
gehst reiten. Denkst du, die Ausrüstung gibt es gratis? Ich denke, es zeigt
Entgegenkommen, wenn du deine Ausrüstung mitbringst“, schloss Alina streng.
„Ausrüstung?
Ich habe keine Ausrüstung“, erwiderte sie, und ihre Vorfreude riss ab.
„Ja, ich weiß. Aber ich habe noch Reitstiefel und einen Helm“, erklärte sie.
„Nein“,
sagte Kaya bloß. „Mir passen schon deine Stilettos nicht. Wieso sollte ich dann
in deine Reitstiefel passen? Wie teuer sind die denn so?“, wollte sie vage
wissen und hörte Alina seufzen.
„Gute
Stiefel? Ein paar hundert Euro bestimmt“, gab sie zu bedenken. Kaya schloss die
Augen.
„Ach, komm
schon. Das ist ein Gestüt! Da wird schon Ausrüstung genug sein!“, entgegnete
sie gereizt. Alina stöhnte auf.
„Ok, wie du
meinst. Dann geh nach Hause, pack deine Sachen und ruf mich wieder an!“ Sie
klang etwas beleidigt, aber Kaya würde nicht auch noch bei Alinas Eltern
einbrechen!
„Ok, bis
später“, verabschiedete sich Kaya und rannte die letzten Meter zur Haltestelle,
wo die Bahn dankenswerterweise hielt. Nicht, dass es in der Bahn kälter wäre
als draußen, stellte sie erschöpft fest als sie auf einen der Plätze fiel.
Ihr Handy
klingelte erneut. Der Name ihrer Mutter war auf dem Display erschienen. Hastig
fuhr sie mit dem Finger darüber, um ranzugehen.
„Mama!“,
rief sie erleichtert, und es war laut im Hintergrund.
„Hey, Kurze!
Ich bin angekommen und umgezogen. Ich wollte mich nur eben melden. Hast du
alles gefunden? Ich werde die nächsten Tage keine Zeit haben anzurufen,
verstehst du?“, sagte ihre Mutter hastig, als wäre sie auf dem Sprung. Und das
kam Kaya eigentlich nur recht. Kurz meldete sich wieder ihr schlechtes
Gewissen, und sie bekam ein schlechtes Gefühl im Bauch. Und was sollte sie
gefunden haben? Den nichtvorhandenen Aufschnitt im Kühlschrank? Oder ihre
Zahnbürste? Manchmal dachte sie, ihre Mutter hielt sie für ein Kleinkind.
„Ja, ich…
ok!“, sagte Kaya nickend. „War dein Flug ok?“, fragte sie, denn sie wusste
nichts Besseres zu fragen.
„Ja, hat ja
nur eine Stunde gedauert. Du, ich muss los! Ich hab dich lieb, Kurze! Grüß
Alinas Eltern! Und hab viel Spaß, ja? Und sei vorsichtig und mach keine
Dummheiten!“, fühlte sie sich wohl noch gehalten, zu sagen. Kaya nickte.
„Nein, Mama. Versprochen“, erwiderte sie zögerlich. „Mach’s gut“, sagte sie
noch, aber ihre Mutter hatte schon aufgelegt.
- Ans Ende der Welt und über den Rand -
Sie hatte
nicht wirklich Angst allein Zuhause, aber sie hatte dennoch alle Lichter
angeschaltet und den Schlüssel im Schloss zweimal umgedreht. Nur für den Fall!
Sie hatte
jetzt zum dritten Mal alle Sachen wieder aus ihrer Tasche geräumt, denn jedes
Mal war die Tasche zu schwer, als dass sie sie durch Hamburg würde tragen
können. Alina hatte ihr auch geraten, eher weniger als zu viel einzupacken.
Unten im Keller trockneten ihre übrigen Sachen gerade im Trockner. Das durfte sie
nicht vergessen.
Ihr Handy
klingelte, und Kaya pustete sich eine Strähne aus der verschwitzten Stirn, als
sie es aus der Hosentasche zog. Sie wusste, sie musste ein Handtuch mitnehmen,
damit sie nicht nach einem Handtuch würde fragen müssen. Und am besten nahm sie
auch einen Schlafsack mit, überlegte sie dumpf, während sie die unbekannte
Nummer betrachtete, bevor sie den Anruf entgegennahm.
„Ja?“,
entfuhr es ihr vorsichtig, und sie war bereit, sämtliche Werbevertreter zornig
abzuwimmeln, die es wagten, sie anzurufen.
„Hey“,
vernahm sie eine Jungenstimme und ärgerte sich, dass sie sofort wusste, dass es
Bastian war. Ihr Herz schlug schneller.
„Hey“, gab
sie einfallslos zurück. „Woher hast du meine Nummer?“, wollte sie unsicher
wissen und hörte ihn lachen.
„Du bist
echt naiv“, erwiderte er, und ihr Mund öffnete sich vor Entrüstung. „Du bist
kein Superheld mit geheimer Identität, ok?“, erklärte er jetzt. „Deine Adresse
ist online im Telefonbuch, und deine Handynummer hast du auf der Klassenliste
angegeben“, fuhr er gleichmütig fort.
„Oh“,
entfuhr es ihr verblüfft. „Ok. Hast du… mit Alina gesprochen?“, fragte sie,
weil sie sonst nicht wusste, was sie sagen sollte, während sie erneut
versuchte, die Tasche zu schließen.
„Ich… nein“,
gestand er ein. „Noch nicht.“ Sie runzelte die Stirn.
„Warum rufst du an?“, wollte sie unsicher wissen.
„Ich habe
nichts Besseres zu tun“, sagte er ehrlich, und sie wusste nicht, ob das
ziemlich dreist von ihm war und sie auflegen sollte, oder ob sie sich
geschmeichelt fühlen sollte. Aber hatte er wirklich nichts Besseres zu tun als
das?! Wieder warf sie sich halb auf ihre Tasche und wusste, sie hatte noch
immer kein Handtuch eingepackt.
„Aha? Ich
dachte, Bastian Kaminsky muss auf alle angesagten Partys in Berlin?“, gab sie
ächzend zurück und begriff, die Tasche würde so niemals zugehen. Erschöpft
atmete sie aus.
„Meine
Freunde sind in Spanien. Jugendreisen“, gab er ziemlich offen zu. „Außerdem
muss ich nächste Woche zwei Wochen Praktikum in der Charité machen“, fügte er
gleichmütig hinzu. Sie glaubte nicht, dass sie so gleichmütig wäre, würden alle
ihre Freunde Gruppenurlaub in Spanien machen, nur sie müsste hier bleiben und
arbeiten. Aber sie kannte nicht mal genug Leute für eine Gruppe, ging ihr
plötzlich auf. Sie biss sich auf die Lippe. Sie wusste nicht, wie sie Bastian
vorkommen musste. Aber sie nahm es ihm kaum übel, dass sie nicht seine
Aufmerksamkeit erregte. Sie war so unauffällig, dass sie wahrscheinlich die
nächsten sechs Wochen allein hier in der Wohnung sein könnte, und niemand würde
es merken.
„Hm“,
erwiderte sie, während sie einen Pullover, den sie wohl wahrscheinlich nicht
brauchen würde aus der halboffenen Tasche zerrte. „Praktikum als was?“,
ergänzte sie gepresst.
„Als Sklave
meines Vater“, erwiderte er trocken, und sie musste grinsen bei seinen Worten
und bekam endlich die Tasche zu.
„Das tut
mir leid“, entgegnete sie und wischte sich die Haare aus der Stirn.
„Schon gut.
Also… du hast jetzt meine Nummer“, schien er sagen zu müssen. „Wenn irgendwas
ist, kannst du anrufen, ok?“ Und sie runzelte die Stirn. Was sollte sein,
weswegen sie ihn anrufen müsste?
„Ok?“, erwiderte sie unschlüssig, und er räusperte sich. „Danke. Das ist… nett
von dir?“, ergänzte sie langsam. „Und danke für die Cam. Ich verspreche, ich
mache sie nicht kaputt“, sagte sie jetzt.
„Kein
Problem“, erwiderte er, und sie war sich nicht sicher, worauf er noch wartete.
Aber sie hatte eine Vermutung. Es war ihr peinlich, aber sie sagte es dennoch.
„Ich… habe
mit Alina gesprochen“, sagte sie schließlich. Kurz herrschte Stille.
„Oh, echt?“ Er klang zu lässig. Fast übertrieben, und sie lächelte.
„Ja“,
bestätigte sie und wartete, dass er sprach.
„Und?“,
entfuhr es ihm etwas zu teilnahmslos.
„Also, sie
klang nicht abgeneigt“, entschied sie sich zu sagen. Und dann hörte sie ihn
ausatmen.
„Oh, cool.
Ja… cool“, entgegnete er betont beiläufig.
„Du kannst
ihr ja bei Facebook schreiben?“, bot sie ihm grinsend an. Sie hörte ihn tippen.
Wahrscheinlich suchte er Alina gerade bei Facebook, nahm sie an.
„Jetzt?“,
entfuhr es ihm ratlos, und sie nickte.
„Sicher. Ich bin mir sicher, Alina würde sich freuen“, fügte sie hinzu. Und wie
sie sich freuen würde. Wahrscheinlich würde sie Kaya nicht schlafen lassen,
weil sie die ganze Nacht lang mit ihr über Bastians Grübchen oder seine
Oberarme sprechen wollte oder so was!
„Hey,
ich…“, begann er, und sie war überrascht, dass er tatsächlich unschlüssig
klingen konnte.
„Ja?“,
entgegnete sie fragend und hörte ihn seufzen.
„Danke, Kaya“, sagte er schließlich. Sie setzte sich auf ihr Bett und fuhr sich
über die Stirn.
„Bastian, kann ich dich was fragen?“, sagte sie jetzt und wechselte das Handy
ans linke Ohr, während sie ihren Mut zusammen nahm.
„Klar“,
erwiderte er jetzt.
„Wieso…
bist du so… unsicher?“, erkundigte sie sich jetzt vorsichtig. Kurz schwieg er
am anderen Ende. Sie glaubte schon, er hätte aufgelegt.
„Wie meinst du das?“ Sie hörte, dass er eine Spur verletzt klang.
„Ich meine,
wieso… musstest du mir deine Hilfe anbieten? Wieso hast du Alina nicht einfach
angerufen? Du hast doch die Klassenliste und all das“, ergänzte sie ratlos.
„Ich bin
mir lieber hundertprozentig sicher“, kam seine nüchterne Antwort, und sie war
ernsthaft überrascht. Sie erwiderte nichts darauf. Sie hatte nicht gedacht,
dass Leute wie Bastian sich irgendwann einmal nicht zu Hundertprozent sich
waren. Und es störte sie, dass es fast zu einfach war, mit ihm zu reden. Er war
sogar leider richtig nett.
Sie starrte
hinab auf die Tasche und wusste, wüsste ihre Mutter Bescheid, dann würde sie
richtigen Ärger bekommen. Wirklich richtigen Ärger! Heiße Schuldgefühle
brodelten wieder an die Oberfläche. Und sie würde einfach ausnutzen, dass
Bastian sie angerufen hatten.
Sie wickelte
sich abwesend eine Strähne um den Finger, als sie sich erhob und ins Wohnzimmer
schlenderte.
„Erzähl mir
von der Fahrprüfung“, sagte sie jetzt und ließ sich auf die Couch fallen,
während sie ein paar alte Chips aus der Tüte in ihren Mund fallen ließ. Kurz
sagte er nichts. Sie hatte es ganz vergessen. Sie hatte ihn heute fragen
wollen, aber… sie war zu aufgeregt gewesen. Es war definitiv leichter, mit ihm
am Telefon zu sprechen und nicht sehen zu müssen, wie gut er aussah.
„Ich… hab
bestanden“, gab er knapp zurück. Sie kaute laut auf den Chips.
„Und das
wusstest du von vornherein? Hattest du keine Sorge, dass es schief geht?“,
wollte sie wissen, und hörte ihn ausatmen.
„Ok…
vielleicht ganz kurz“, räumte er ein, und sie hörte ehrliche Aufregung in seiner
Stimme. „Da… da war diese Kreuzung, und dieser Radfahrer kam komplett aus dem
Nichts…“
~*~
Das
Vibrieren ihres Handys schreckte sie komplett unerwartet aus ihren wirren
Träumen. Sie war schon wieder auf der Couch eingeschlafen, stellte sie fest, und
sie streckte sich gähnend nach dem Handy. Es war noch dämmrig draußen, aber sie
war eingeschlafen, ohne die Lichter im Wohnzimmer auszumachen. Nur der
Fernseher war ausgegangen, weil der Timer angeschaltet gewesen war. Sie schlief
selten in ihrem Bett. Meistens schlief sie auf der Couch ein, weil sie auf ihre
Mutter wartete, und diese aber erst weit nach elf Uhr nach Hause kam.
Sie hatte
sowieso noch nie gut in Betten schlafen können. Die Matratzen waren immer
irgendwie zu weich.
Sie fuhr
mit dem Finger über das Display.
„Hm?“,
sagte sie, und hörte am anderen Ende das Rauschen von Wellen.
„Hi,
entschuldige, dass ich dich wecke, aber es war ja den ganzen Abend bei dir
besetzt. War dein Handy wieder leer?“, fuhr Alina sie an. „Wir liegen vor
Thailand“, ergänzte sie aufgeregt, ohne eine Antwort abzuwarten. „Und wir gehen
endlich mal an Land. Ich glaube, meine Mutter lässt sich da gleich irgendwo
anketten. Timo auch“, ergänzte sie. Timo war ihr kleiner Bruder. Anscheinend
hatte sich die Seekrankheit noch nicht gelegt, stellte Kaya gähnend fest.
„Kaya,
Bastian hat mir geschrieben!“, rückte sie endlich mit der Sprache raus. „Oh, er
ist so süß! So absolut perfekt! Ich konnte nicht länger schlafen! Und ich werde
ihn anrufen. Meinst du, ich kann ihn anrufen?“
Kaya
überlegte, dass sie gestern fast zwei Stunden mit ihm telefoniert hatte, und
dass es sehr lustig gewesen war. Sie hoffte nur, sie war nicht verliebt in ihn.
Das wäre wirklich blöd. Wirklich richtig blöd. Sie horchte in sich. Sie war
zwar traurig, aber eigentlich wurde das überschattet durch ihre Aufregung.
„Klar, ruf
ihn an“, krächzte sie.
„Ja. Ja,
das mache ich!“, rief Alina aus. „Ich hab dir noch hundert Euro überwiesen“,
erklärte sie beiläufig. Ehe Kaya protestieren konnte, sprach Alina weiter. „Hast
du gepackt? Denk an ein Handtuch, ok? Manchmal nimmt man besser seine eigenen
Sachen mit“, erklärte sie.
Ja, ein
blödes Handtuch brauchte Kaya noch. Und ihre Unterwäsche aus dem Trockner.
„Ich will nicht, dass du mir Geld überweist“, brummte sie jetzt und streckte
sich.
„Zu spät.
Und sei nicht albern. Das ist kein Problem. Du musst in drei Stunden zum
Bahnhof. Und ich will nicht, dass du irgendwas vergisst. Nimm deinen
Schülerausweis mit. Vielleicht bekommst du dann irgendwas günstiger. Denk an
den Perso! Und hast du dein Ticket ausgedruckt?“, fuhr sie geschäftig fort.
„Ja, alles
ausgedruckt“, bestätigte Kaya, und sie würde gleich ziemlich heiß duschen
gehen. Sie wusste nämlich nicht, wann sie das das nächste Mal können würde. Je näher
die Erfüllung des Plans rückte, umso unsicherer wurde sie. Und wie viele
Prospekte sie für hundert Euro austragen musste! Alina übertrieb es!
„Ok.
Vergiss deinen Schlüssel nicht. Und das Bargeld. Vergiss das auch nicht, ok?“,
ermahnte Alina sie. „Und wenn es Probleme gibt – ruf mich an, ja?“, fuhr sie
fort, und dass Bastian Kaminsky, Klassenschwarm und Besserwisser, bald Alinas
Freund sein würde, schien sie wieder vergessen zu haben. Sie klang ernsthaft
besorgt. „Lad dein Handy noch auf! Und nimm das Kabel mit, Kaya!“, sagte sie
streng, und Kaya verdrehte die Augen.
„Ja, mach
ich“, gab sie trotzig zurück. Und sie hätte es wahrscheinlich vergessen. Sie
schlurfte in ihr Zimmer, um das Handy aufzuladen, was wahrscheinlich wirklich
gleich ausgehen würde.
„Ruf mich
an, bevor du gehst!“, rief Alina noch in ihr Handy.
„Ok“, gab
Kaya zurück, und am liebsten hätte sie ihre Mutter angerufen und ihr alles
gebeichtet. Aber dann müsste sie vielleicht doch noch zu Ekel-Elias. Es war
sechs Uhr. Gott, war sie müde. Sie schloss das Handy ans Ladekabel an, und
dankbar schien es aufzuladen.
Duschen,
anziehen und Wäsche aus dem Trockner holen. Das war jetzt gerade ganz oben auf
ihrer Liste. Sie zog sich die Jogginghose und das Shirt aus, während sie die
Badezimmertür verschloss. Sie hatte Angst, stellte sie fest. Aber sie konnte
jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Sie war noch nie in Hamburg gewesen. Sie
war noch nie alleine ICE gefahren. Und es war Sommer. Wenn alles schief laufen
sollte, könnte sie immer noch auf einem Feld unter dem Sommerhimmel schlafen.
So wie Huck Finn und Tom Sawyer.
Sie wusch
sich gründlich, massierte Shampoo in ihre Haare und ließ es eine Minute
einziehen. Sie rasierte sich die Achseln, die Beine, putzte sich die Zähne
unter der Dusche und ignorierte ihr klopfendes Herz. Sie stellte schließlich
das heiße Wasser aus, trocknete sich im dampfenden Badezimmer ab und öffnete
anschließend das schmale Fenster.
Die Vögel
sangen bereits und es wurde hell draußen.
Sie lief im
Handtuch durch den Flur in ihr Zimmer. Sie hatte die Tasche wieder ausgekippt.
Jetzt zog sie die Sachen von gestern an. Sie glaubte nicht, dass sie für die
Zugfahrt gute Kleidung anhaben müsste. Die verwaschene Jeans war ein wenig zu
groß, aber immerhin war sie lang genug. Sie zog auch das blaue Shirt wieder
über, stieg in ihre Chucks und griff sich den Schlüssel, um nach unten in den
Keller zu gehen, um ihre Wäsche zu holen.
Sie ging in
ihrem Kopf noch mal die Liste durch. Sie würde keinen Schlafsack mitnehmen,
entschied sie plötzlich. Und sie würde auch kein Handtuch mitnehmen. Sie würde
schon irgendwo ein Handtuch herbekommen, ansonsten kaufte sie sich einfach
eins! Wie teuer waren Handtücher schon?
Sie knipste
das Licht im Keller an, öffnete den Trockner und packte ihre restlichen Sachen
in den Plastikkorb.
Dann lief
sie wieder hoch, schloss die Tür auf, während sie einhändig den Korb hielt und
trat die Tür mit dem Fuß drinnen wieder zu. Sie kippte den Inhalt des Korbs auf
ihr Bett und kaute nervös auf ihrer Unterlippe.
Sie hatte
nicht genügend Unterwäsche. Sie würde waschen müssen. Zur Not hatte sie aber
Shampoo und könnte irgendwo in einem Waschbecken ihre Sachen waschen.
Sie machte
sich das erste Mal die Mühe, ihre Unterwäsche zu falten. Immerhin hatte es ein
gutes, dass Alina sie überredet hatte Stringtangas zu tragen: Sie waren winzig
und nahmen keinen Platz weg.
Es folgten
ihre Socken, danach ein einziger warmer Pullover. Ansonsten nur Shirts und
Spaghettiträgertops und ihre drei BHs. Auch ihre fünf Hosen legte sie so streng
und penibel zusammen, dass noch ein wenig Platz übrig blieb. Dann kam ihr
Kulturbeutel mit vorsorglichem Makeup, verschiedenen Cremes und Salben. Sie
holte mit Schrecken ihre Pille aus der Schreibtischschublade. Alina nahm die
Pille noch gar nicht, fiel ihr wieder ein. Ihre Mutter hatte als Kaya fünfzehn
geworden war dafür gesorgt, dass Kaya beim Frauenarzt gesessen hatte, um die
Pille verschrieben zu bekommen, damit ihrer Tochter auf gar keinen Fall
dasselbe passierte wie ihr damals mit fünfzehn.
Als ob!
Kaya hatte ja nicht mal einen Freund. Sie verzog grimmig den Mund, warf die
Pillenpackung achtlos in die Tasche. Jetzt fehlte noch ihr Ladekabel. Ihren
Ausweis, das Ticket, Bastians Cam und den Proviant hatte sie in ihrem Rucksack,
den sie auch noch mitnehmen würde. Da würde sie auch noch eine Flasche Wasser
zu packen. Und das restliche Geld.
Es wurde
langsam ernst. Sie schloss die Tasche mit letzter Kraft und wusste, sie würde
sie in Berlin nicht mehr aufmachen. Sie platzte fast aus den grünen Nähten.
Sie ging in
die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und hatte keinen Hunger. Sie prüfte
noch mal im Rucksack, ob sie alles hatte, steckte das restliche Geld ein und
ließ 100 Euro zurück, denn ihre Mutter wäre froh, wenn sie nicht alles ausgeben
würde.
Sie
kontrollierte noch mal die Route, um die sich Alina gekümmert hatte und wusste,
sie hatte alle Sachen. Sie hatte nichts übersehen, hatte nichts vergessen und
brauchte jetzt einfach genügend Glück. Etwas, dass sie noch nie gehabt hatte.
Es konnte
viel schief gehen. Das meiste, glaubte sie. Aber das Ticket, was Alina gebucht
und bezahlt hatte, beinhaltete auch eine offene Rückreise, innerhalb eines
Monats.
Sie konnte
also wieder nach Hause kommen.
Und sie
wusste, sie würde so viele Prospekte austragen gehen, bis sie Alina alles
zurückgezahlt hatte. Sie wusste nichts mit sich anzufangen. Sie würde gleich
ihre Haare trocken föhnen und Kaffee trinken, bis sie gehen musste.
Mit Glück
wäre sie dann so aufgekratzt, dass sie im Zug im Dreieck springen würde.
Wenn man
darauf wartete, dass die Zeit verging, dauerte alles Ewigkeiten, stellte Kaya
nervös fest. Es war still im Haus. Natürlich war noch keiner der Hartz IV
Nachbarn wach. Sie mochte das Haus eigentlich, denn wenn sie wirklich oft
alleine war, dann waren die Nachbarn alle tagsüber Zuhause, und die Hälfte war
auch wirklich nett.
Aber jetzt
gerade wollte sie gar nicht irgendwohin. Je weniger wussten, was sie vorhatte,
umso größer war die Chance, dass ihre Mutter es vielleicht nie erfahren müsste.
Das wäre ideal. Sie würde die nächsten Wochen reiten lernen, sich langweilig
dabei filmen lassen und ihre Mutter wäre ja sowieso erst nach ihrer Prüfung
wieder in Berlin, und vielleicht könnte Kaya sie erfolgreich davon abhalten,
jemals ihr Prüfungsvideo zu sehen.
Aber diese
Sorge konnte sie sich erst in sechs Wochen machen. Sie hatte ja noch nicht mal
die erste Hürde überwunden. Wieder überkam sie die Angst. Aber sie ließ es
dieses Mal nicht zu, ging schnurstracks ins Bad und föhnte ihre Haare kopfüber
im engen Bad zwischen Waschbecken und Badewanne und versuchte sich auf die
Zugfahrt zu freuen.
~*~
„Und du
hast alles?“, vergewisserte sich Alina aufgeregt. Kaya hörte im Hintergrund
wildes Geplapper. Sie waren gerade von Bord gegangen. Sie hörte Alinas Bruder
irgendwas rufen, aber Alina ignorierte wohl alles andere.
„Ja, ich
hab alles“, erwiderte Kaya. Sie hatte die Klinke in der Hand. Sie hatte ihre
Tasche, ihren Rucksack, ihr Portemonnaie, die Cam, das Ticket, die Route, ihren
Schlüssel, ihren Proviant. Sie hatte die Lichter ausgemacht, die
Kaffeemaschine, den Strom.
Sie hatte
alles. Absolut alles. Auch ihr Ladekabel, das sie fast vergessen hätte. Nur
fast natürlich.
„Ok, ich
weiß, du hast kein Internet unterwegs, aber du hast genug Guthaben, um mich
anzurufen, richtig?“, fuhr Alina ungerührt fort, während sie wohl durch eine
thailändische Einkaufsstraße ging.
„Ja, hab
ich. Ansonsten lade ich es auf.“
„Klingel
mich an, wenn irgendwas ist. Ich telefoniere bei meinem Vertrag umsonst, ok?“,
flüsterte sie jetzt eindringlich.
„Ja, mach
ich. Also, ich muss los“, erwiderte Kaya ungeduldig.
„Ok. Ja.
Oh, Kaya, ich bin so aufgeregt!“, entfuhr es Alina leise.
„Noch ist
nichts passiert“, beschwichtige Kaya sie und hatte wieder das mulmige Gefühl im
Bauch.
„Ok, bis später.
Viel Glück, Kaya! Und denk an Emil! Lass dir im Zug nicht das Geld klauen!“
Kaya musste
fast lächeln. „Also, ich glaube, darum muss ich mir keine Gedanken machen. Ich
fahre schließlich aus der bösen Großstadt weg.
Und ich werde es mit meinem Leben verteidigen!“, fügte sie dramatisch hinzu.
„Sei
vorsichtig!“, rief Alina noch, ehe die Verbindung unterbrochen war. Kaya
streckte den Rücken durch, holte tief Luft und zog die Tür hinter sich zu. Sie
schloss ab, verstaute den Schlüssel in ihrem Rucksack und eilte die Stufen
hinab. Es waren 47 Stufen. Sie hatte sie schon so oft gezählt, dass sie es
mittlerweile wusste.
Es war
wieder warm draußen, keine Wolke am blauen Himmel. Sie musste fünfzehn Minuten
zur Bahnstation laufen und zwang sich, ruhig zu atmen. Sie hatte Alina gar
nicht mehr nach Bastian gefragt, aber sie war sich sicher, Alina hatte ihn
bestimmt schon angerufen.
Sie würde
behaupten, es waren die ereignisreichsten Ferien bisher.
Na ja, auf
der Realschule war sie einmal am letzten Schultag in den Schrank gesperrt
worden und war erst drei Stunden später von der Putzfrau rausgeholt worden. Das
war auch ereignisreich gewesen. Und davon hatte sie ihrer Mutter auch nichts
erzählt. Da wäre aber was los gewesen. Ihre Mutter hatte es gut drauf, wütend zu
werden. Schon oft hatte sie Kayas Lehrer zusammen gestaucht, wann immer Kaya in
einen Streit oder eine Prügelei verwickelt worden war, weil sie einfach zur
falschen Zeit am ganz falschen Ort gewesen war.
Sie hatte
aber nie Angst gehabt oder sich beschwert oder gepetzt. Sie kam aus Prenzlau.
Entweder man lebte damit, oder man konnte gleich aufgeben.
Allerdings
war es heute etwas anders. Sie würde schließlich ihr geliebtes Berlin
verlassen. All ihre geliebten Imbissbuden und die vertrauten, vollen Straßen
mit den bunten Schaufenstern.
Sie mochte
die Großstadt. Man war nie allein. Die Stadt schlief auch nicht, und war auch
nachts noch taghell. Sie war bisher nur bei ihrer Oma in Schleswig-Holstein
gewesen und einmal auf Klassenfahrt auf Norderney. Und das hatte ihr gereicht
an Landleben. Alina hatte es großartig gefunden. Natürlich. Aber Alina fuhr
auch jedes Jahr zweimal mit ihrer Familie in Urlaub. Kaya war gern mit ihrer
Mutter zusammen in ihrer Wohnung, ihrem kleinen Reich. Sie vermisste sie schon
jetzt so schrecklich, aber sie verdrängte die Gedanken schnell, ehe sie wieder
traurig werden würde.
Sie kam an
der Haltestelle an. Der Gurt der Tasche hatte sich schon schmerzhaft in ihre
Schulter gegraben. Sie hatte kurz überlegt gehabt, ihren Föhn mitzunehmen,
hatte dann aber davon abgesehen. Wofür brauchte sie im Sommer einen Föhn? Sie
ließ die Tasche neben sich fallen und sah die Bahn schon um die Ecke biegen.
So weit so
gut. Ächzend griff sie wieder nach dem Gurt der Tasche und war froh, dass um
diese Zeit nicht besonders viele Leute unterwegs waren.
Die
meisten, die sonntags um die Zeit schon wach und unterwegs waren, waren
Kirchgänger. Oder Obdachlose, die in der Ringbahn schliefen. Aber meistens
wurden auch die irgendwann verscheucht. Heute war kein Obdachloser in der Bahn,
stellte sie fest. Wahrscheinlich, weil jetzt Sommer war. Es war nicht mehr zu
kalt, um draußen zu schlafen, nahm sie an. Sie hatte ihren Rucksack auf dem
Schoß und zählte die Stationen. Sie musste zehn Stationen bis zum Hauptbahnhof fahren.
Und da musste sie auf Gleis 7 und kam auf Gleis 5 in Hamburg an. Und sie fuhr
nur zwei Stunden, ohne umzusteigen.
In zwei
Stunden hatte sie das Bundesland gewechselt. Sie hatte sich den Wikipedia
Artikel über ihren Großvater ausgedruckt. Dann hatte sie was zu lesen. Sie
hatte zwar auch das dritte Herr der Ringe Buch dabei,
aber im Moment war ihr nicht nach Krieg in Mittelerde zumute. Vielleicht aber
später.
Sie
erreichte den Bahnhof ohne Schwierigkeiten. Obwohl es Sonntag war, waren die
Gleise voller Menschen. Sie schleppte ihre Tasche zu Gleis 7 und hatte noch
zwanzig Minuten Zeit. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und sah sich um. Viele
Eltern waren hier mit ihren Kindern. Wahrscheinlich um in Urlaub zu fahren,
nahm sie an. Einige der Kinder hingen schlafend auf den Armen der Mütter,
andere weinten, und Kaya konnte es nicht verstehen. Sie liebte es, Zug zu
fahren. Vielleicht auch, weil sie es so selten tat. Aber Flugzeuge machten ihr Angst.
Und
tatsächlich fiel ihr ein Mädchen auf, was ihr sonst niemals aufgefallen wäre,
nahm sie an. Sie hatte einen langen blonden Zopf, trug eine dunkle Jeans, einen
hellen Blazer, hohe Schuhe, und auf ihrem großen schwarzen Rollkoffer
befestigt, klemmte ein schwarz samtener Reiterhelm. Er sah ziemlich modern aus.
Nicht einfach nur rund und samtig, sondern mit Kanten und er glänzte an manchen
Stellen. Sie stand auch auf Gleis 7. Unauffällig bewegte sich Kaya sehr langsam
in Richtung des Mädchens.
Ihr
Silberschmuck schimmerte an ihren manikürten Fingern, und sie wirkte ziemlich
abweisend. Das Handy des Mädchens klingelte laut, und sie zog ein
silberglänzendes iPhone aus ihrer Handtasche. Kaya erkannte es, denn Bastians
Handy hatte auch so ausgesehen.
„Ja?“,
fragte das Mädchen mit heller Stimme, die Kaya auch bis hierher verstehen
konnte. „Nein, ich stehe am Gleis. Glaubst du das? Ich habe das Auto nicht
bekommen! Mein Vater meinte, ich könnte auch ganz einfach Zugfahren. Ja,
unfassbar, oder?“, schien sie sich lautstark zu beschweren, und Kaya grinste
dem Boden entgegen. Sie hatte immer gewusst, Mädchen, die ritten, waren blöde
Ziegen. Sie hielt nach dem Zug Ausschau.
„Und, sind
sie schon da? Echt? Und wie sieht er aus?“, fuhr sie lächelnd fort, und Kaya
hob den Blick. „Du Glückliche! Ich werde erst in drei Stunden anfangen können,
wenn ich bis dahin überhaupt schon da bin. Keine Ahnung, wie heute die Taxen
fahren“, schien sie sich erneut zu beschweren.
„Du warst
schon auf dem Platz?“ Sie klang jetzt neidisch. „Und? Was? Kandare ist Pflicht,
Tina“, informierte sie ihre Gegenüber mit tadelnder Überheblichkeit. „Was? Ach
Unsinn! Du brichst dem Pferd nicht den Kiefer! So was Lächerliches!“ Kurz
herrschte Stille, und dann nickte das Mädchen geschäftig. „Wenn es dir nicht
gehorcht, dann braucht es die nötige Disziplin.“ Das Mädchen betrachtete ihre
Fingernägel. „Ich begreife sowieso nicht, wieso du ihr das nicht schon längst
abgewöhnt hast! Das Martingal ist meiner Meinung nach so uneffektiv!“, erklärte
sie fast entnervt. „Ach, Tina! Ich benutze es, weil es schick aussieht, nicht
weil ich es brauche!“, rief sie jetzt
aus. Kayas Augen hatten sich etwas geweitet, während sie nicht ein einziges
Wort verstand, was das Mädchen gerade von sich gegeben hatte.
„Ich habe
dir gleich gesagt, du sollst dieses Jahr nicht Jewel nehmen, sondern Granger.
Sie hat immerhin kein Problem mit der Sattellage“, schien sie mit einem
schadenfrohen Lächeln zu erwidern, als wäre es ein schlagfertiger Witz gewesen.
Das Mädchen kam sich ohnehin wohl unheimlich wichtig vor.
„Ich glaube
nicht, dass dich Herr von Rothenberg am Turnier teilnehmen lässt, wenn Jewel
noch immer ausbricht, weil sie mit dir machen kann, was sie will!“, erklärte
das Mädchen jetzt lächelnd. „Ich zeige es dir später, Tina. Ja, ich mache es
doch mit Ribbon genauso!“
Kaya hatte
den Namen ihres Großvaters gehört. Und ihr war jetzt klar, dass dieses Mädchen
auf das Gestüt fuhr. Und sie schien sehr gut reiten zu können. Oder sie tat
lediglich so. Kaya kaute wieder auf ihrer Lippe. Die Durchsage am Gleis
kündigte die Einfahrt des Zuges an.
„Tina, ich
muss Schluss machen. Der dämliche Zug kommt.“ Das Mädchen verabschiedete sich
knapp und steckte das Handy zurück in die dunkelbraune Lederhandtasche, die
ebenfalls mit viel Silber verziert zu sein schien. Der ICE hielt und Kaya
setzte sich unschlüssig in Bewegung. Sie blieb hinter dem Mädchen, aber diese
hatte wohl einen Platz in der ersten Klasse. Und Kaya ging auf, dass sie zwar
nichts vergessen hatte, aber dass sie vielleicht ja auch mal nach Pferden hätte
googeln können. Nur ein kleines bisschen.
Alina hatte
ihr einen Fensterplatz reserviert, und nachdenklich setzte sich Kaya, nachdem
sie mit letzter Kraft ihre Tasche nach oben in die Ablage gehievt hatte. Ihren
Rucksack behielt sie auf dem Schoß.
Sie holte
ihren Mp3-Player aus der vorderen Tasche ihres Rucksacks. Sie drückte auf Play
und lauschte den Helden, während der Zug den Bahnhof verließ. Nervös glitt ihr
Blick über die verschiedenen Gleise, über die Hochhäuser, und sie begriff, sie
verließ jetzt ihre Stadt.
– Fast Ferien auf Immenhof –
„Tja, Herr
von Rothenberg“, sagte Dr. Schmidt skeptisch, während er den Hengst
betrachtete, der in der Fürstenhalle verhalten trabte. Er verschränkte die Arme
vor der Brust. Tatsächlich war Dr. Schmidt heute wieder gekommen. Er hatte
seinen Hengst vor zwei Tagen untersucht und hatte gesagt, er würde heute wieder
kommen, um zu sehen, ob die kalten Wickel etwas genutzt hatten. Unschlüssig
folgte sein Blick dem Hengst. Alexander hatte ihn in die Fürstenhalle bringen
lassen. Das Oberlicht hier war heller und natürlicher als das künstliche Licht
der Leuchtstoffröhren in der Trainingshalle. Außerdem brauchte Apollo etwas
Auslauf. Er war in der Box schon ganz nervös geworden. Er müsste geputzt
werden, überlegte er ungeduldig.
„Was sagen
Sie?“, wollte er wissen. Graue kurze Locken türmten sich wüst auf dem Schopf
des Tierarztes. Er trug Gummistiefel, die schon bessere Tage gesehen hatten,
eine braune Cordhose und ein grünkariertes Hemd. Selten sah er den Landarzt
ohne Cord und Karomuster. Und er war hier in der Fürstenhalle genauso Fehl am
Platze, wie ein Pferd mit Hufrehe. Aber er hatte sich an den Anblick des
Tierarztes gewöhnt. Auch an den Klang schlechter Nachrichten aus dem Mund des
Mannes. Und er war sich sicher, so etwas würde jetzt folgen, denn für
gewöhnlich war Dr. Schmidt nicht so still. Er druckste nur bei schlechten
Neuigkeiten herum. Wahrscheinlich fiel es ihm selber gar nicht auf, aber
Alexander merkte es sofort.
„Die Wickel
bringen keine Veränderung“, erklärte der Tierarzt kopfschüttelnd, nachdem er
den Hengst ausgiebig begutachtete hatte. „Ich werde ihm jetzt einige Blocker
spitzen“, fuhr er ernster fort und bückte sich zu seiner Tasche. „Das Tier
sollte jedoch nicht geritten werden“, ergänzte er streng. Alexander atmete
langsam aus. Das bedeutete, er würde Apollo nicht trainieren können. Apollos
Bewegungen hallten von den hohen Wänden der Halle wider. Sein Schnauben, seine
Schritte.
Die
Zuschauerhänge waren noch leer. Wenn das hauseigene Turnier stattfinden würde,
wären sie prall gefüllt. Alle Tickets waren bereits ausverkauft, und Alexander
konnte nur daran denken, dass Apollo dieses Jahr nicht in der Halle zeigen
würde, zu was er eigentlich gezüchtet worden war.
„Wie lange nicht?“, wollte er also wissen, aber der Arzt ruckte mit dem Kopf.
„Wir werden
sehen. Ich spritze ihm schmerzlindernde Mittel, aber Sie müssen bedenken, dass
es dem Pferd lediglich die Schonhaltung abgewöhnt“, fuhr er fort. Alexander
verpasste seinem Hengst einen zornigen Blick, den der Tierarzt wohl richtig
deutete.
„Was wollen
Sie mir damit sagen? Dass… dass es bereits zu spät
ist? Dass ich mir keine Gedanken mehr über die Ausbildung des Tieres machen
soll?“, fuhr er den Arzt an, ohne es verhindern zu können.
„Herr von
Rothenberg“, begann der Arzt behutsam, „Hufrehe kommt schleichend. Natürlich
war damit nicht zu rechnen, aber es muss nicht unbedingt ein Haltungsfehler
gewesen sein. Stress ist auch oft ein Faktor“, warf er gedehnt ein. Jetzt sah
Alexander ihn direkt an.
„Stress?
Das Tier war seit Monaten keinem Stress mehr ausgesetzt!“
„Es ist
bisher jedes Jahr seit seinem zweiten Lebensjahr im Turniersport geritten,
nicht wahr?“, erkundigte sich Dr. Schmidt und betrachtete die Notizen, die er
sich gemacht hatte.
„Ja, das ist zu erwarten, bei einem gezüchteten Springpferd, oder nicht? Andere Pferde werden bis zu ihrem
achtzehnten Lebensjahr im Turniersport geritten“, fuhr Alexander ihn jetzt an.
„Natürlich
ist es zu erwarten, aber nicht jeder
Zuchthengst ist geeignet für eine ständige Inanspruchnahme“, erklärte der
Tierarzt ruhiger. „Und hier…“, er deutete entsprechend um sich. „Wir reden hier
nicht von Hobby-Dressur“, ergänzte er mit hochgezogener Augenbraue.
„Es ist ein
Pferd, und natürlich reite ich ein Pferd, Dr. Schmidt!“, schloss Alexander
mit schmalen Mund.
„Herr von
Rothenberg, ich behaupte auch nicht, dass es Ihr Fehler ist. Manchmal kann man
nichts dafür. Krankheiten tauchen auf. Und Hufrehe ist nun mal mit die häufigste
Pferdekrankheit.“
„Ja,
vielleicht auf Ponyhöfen, wo die fetten Shetlandponys sich auf den Weiden dick
und rund fressen! Also, was ist die Prognose?“, kürzte er das Thema ab, denn er
hatte mit Tom noch die Neueinsteiger zu bewerten.
„Wir werden
sehen. Er stellt die Hinterbeine noch nicht unter den Bauch, was er tun würde,
wenn die Schmerzen unerträglich wären“, erläuterte der Tierarzt mit
unverhohlener Besorgnis, als könne das noch passieren, Himmel noch mal!
Alexander biss die Zähne zusammen und versuchte, sich zu beruhigen. Er wusste,
was zu tun war, wenn die Schmerzen unerträglich würden, und es kam einfach
nicht in Frage! Er hatte nicht so viel Kraft und Aufwand und Geld in das Pferd
gesteckt, damit es ihn enttäuschen würde!
„Wie lange
dauert diese Behandlung?“, konkretisierte er seine Frage. Der Landarzt kratzt
sich am Kopf, den Mund unsicher verzogen.
„Wir warten
jetzt zwei Wochen. Die Durchblutung kann unter Umständen wieder angeregt
werden; sollte das Bindegewebe, was abgestorben ist, sich aber bereits vom
Knochen gelöst haben, dann…“ Kurz schien der Tierarzt nachzudenken.
„Darum kümmern wir uns, wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Ich habe noch zu
tun und danke Ihnen, dass sie sonntags vorbeigekommen sind“, verabschiedete er
den Arzt knapp und unfreundlich.
„Für Sie doch immer gerne, Herr von Rothenberg. Lassen Sie Apollo in der Box
oder lassen Sie ihn zum Auslauf in die Hallen, aber nicht mehr nach draußen,
geben Sie ihm nur trockenes Futter, und rufen Sie mich an, falls er sich hinlegen
sollte und nicht mehr aufstehen will“, erklärte der Arzt, und Alexanders Augen
weiteten sich. „Natürlich wäre das das schlimmste Szenario und wirklich noch
nicht in Aussicht“, fügte der Arzt hastig hinzu. „Mehr können wir im Moment
nicht tun“, ergänzte er entschuldigend. Alexander nickte abweisend. „Und was
ist mit der Stute?“, warf der Arzt plötzlich ein.
Richtig. Da
war ja noch ein Problem. Aber
Alexander winkte ab. Er hatte nicht die Zeit für zwei Problemtiere.
„Darum
können Sie sich in zwei Wochen kümmern, wenn Sie wiederkommen und es die Zeit
erlaubt. Es eilt nicht“, beschloss er gleichgültig. Er nickte dem Tierarzt zu.
„Sie finden den Weg“, ergänzte er und verließ die Halle. Ein Angestellter hatte
am Rand der Fürstenhalle gewartet. „Halten Sie das Tier, während der Arzt es
behandelt“, befahl er dem Mann. „Dann bringen Sie den Hengst nach draußen und
reinigen das Fell“, fuhr er streng fort. Der Mann nickte eifrig und lief in die
Mitte der Halle. Alexander gönnte seinem missratenen Hengst keinen weiteren
Blick mehr. Mehr als hundertzwanzigtausend Euro hatte ihn das Tier gekostet.
Unfassbar,
dass er sich auf gar nichts verlassen konnte. Und er konnte nicht mal klagen,
denn es war auch noch sein eigenes Versagen.
Die Sonne
schien warm. Es würde nur noch heißer werden. Es war schon zu heiß für die
Pferde. Sie würden heute Abend mehr Wasser brauchen als üblicherweise.
Es waren
weite Wege von der Fürstenhalle zu den Trainingshallen, zu den Stallungen bis
zum Herrenhaus. Es war ein gut geölter Betrieb, den er hier leitete, und er
konnte es nicht leiden, wenn seine Pferde nicht mitspielten.
An die
Stute wollte er nicht mal denken müssen. Sie war auch eine teure Anschaffung
gewesen, und jetzt konnte er sich überlegen, von welchem Pferd er menschlich
enttäuschter war. Seinem Hengst oder der verdammten Stute, die ebenfalls so
vielversprechend gewesen war.
„Herr von
Rothenberg!“, rief Tom ihm aus der Entfernung von der großen Koppel zu. Zügig
schritt Alexander zum Gatter. Schon von hier aus erkannte er drei Mädchen, die
einen miserablen Sitz auf ihren Pferden hatten, aber er kommentierte es nicht.
Er nahm an, Tom sah es selber, war aber höflich genug, es nicht direkt
anzusprechen. Wäre er der Lehrer… - aber er verwarf den Gedanken. Genau aus
diesem Grund überließ er es anderen Leuten, die sich anscheinend mit Geduld und
Nächstenliebe auskannten. Sie waren schließlich noch jung.
Dann würde
Tom jetzt also beginnen. Alexander war schon froh, nichts mit der Aufnahme und
Einteilung der Schüler zu tun haben zu müssen. Er unterrichtete Schüler gerne,
allerdings lieber die guten als die, die eigentlich nichts hier zu suchen
hatten.
Natürlich
waren es fähige Reiterinnen, die aufgenommen wurden, aber zwischen fähig und
begabt lagen himmelweite Unterschiede.
„Herr Kiergarten,
wie kommen Sie voran?“, wollte er wissen, als er sich neben den jungen Mann
stellte, und einige der Damen den Rücken auf den Pferden durchstreckten,
während sie ihm erschrockene Blicke zuwarfen. Tom Kiergarten war einer der
festangestellten Reitlehrer. Wüsste er es nicht besser, hätte er dem jungen
Mann nicht zugetraut unter den weltbesten Springreitern zu rangieren. Schon
alleine wegen seiner Größe. Aber Alexander war selber nicht klein und war
ebenfalls einer der besten gewesen, vor fünfzhen Jahren zumindest. Tom trug
eine gewöhnliche Reiteruniform, hatte jedoch auf den Helm verzichtet. Auf
seinem schwarzen Blazer, den er aber über den Gatterzaun gehangen hatte,
glitzerte das eingestickte Emblem des Gestüts. Die Ärmel seines weißen Hemds
waren hochgekrempelt.
„Wir warten
nur noch auf Sie. Ich wollte anfangen mit einigen Runden, um zu sehen, welcher
Klasse die Mädchen zugeordnet werden sollen“, erklärte der junge Mann neben ihm
geschäftig. Um ihn herum arbeiteten nur junge Männer. Aber die Studierten
unterschieden sich von den Reitern immens, fand er immer.
Müsste er
wählen, würde er die Arbeit auf dem Gestüt und der Reitschule vorziehen. Ihm
kamen die verklemmten Anzugträger immer so ungesund vor. Keiner von seinen
Beratern konnte reiten. Nicht einer. Ihm war die Gesellschaft der Reitlehrer
lieber, denn bei ihnen war er sicher, dass sie zu zwischenmenschlichen
Beziehungen fähig waren. Und eine gute Beziehung zu Tieren bedeutete ihm schon
mehr, als gute Beziehungen zu Menschen oder zu Gesetzestexten. Vor einem Tier
konnte man sein wahres Naturell nicht verbergen.
Ein Tier
durchschaute einen Menschen im Bruchteil eines Moments.
Tom war nie
blass. Er war auch nie schlecht gelaunt, soweit Alexander es beurteilen konnte,
aber seine Angestellten hüteten sich auch wohl in seiner Anwesenheit schlechte
Laune zu zeigen, nahm er an. Alexander nickte schließlich.
„Gut, dann
fangen wir an. Leonard ist in der Halle, nehme ich an?“ Der andere Reitlehrer
hatte sich gegen das Unterrichten von Anfängern ausgesprochen. Er war ähnlich
ungeduldig wie Alexander selber mit Turnieranfängern. Und Tom verdrehte die
Augen.
„Ja, und er
hatte schon mehrere Ausbrüche“, ergänzte er mit einem wissenden Blick und
gedämpfter Stimme. Der junge Herr König konnte durchaus jähzornig werden, wenn
es zu Unverstand bei Pferden kam, das hatte Alexander festgestellt, und es
mochte für einen Reitlehrer vielleicht keine positive Eigenschaft sein, aber
hier auf seinem Gestüt war es ein hervorragender Charakterzug.
„Und Ihr
Umzug? Gut verlaufen?“ Für gewöhnlich ließ er die Reitlehrer auf dem Gestüt
wohnen, sowie die Gäste, wenn sie es sich leisten konnten. Dieses Jahr war Tom
aber nach Hamburg gezogen und wohnte dort mit seiner Mutter in der Stadt.
Alexander interessierte sich selten für familiäre Hintergründe seiner
Angestellten, und damit auch nicht für deren finanzielle Probleme, aber er
wusste sehr wohl, Frau Kiergarten war auf die Arbeit und das Gehalt ihres
Sohnes angewiesen. Aber bisher war Alexander zufrieden mit Toms Arbeit.
„Ja, wir
sind vor zwei Wochen endlich mit Wände streichen fertig geworden“, erwiderte er
zögerlich. Alexander konnte sich tatsächlich nicht daran erinnern, jemals eine
Wand gestrichen zu haben. Fast musste er lächeln. Ein Pferd begann zu tänzeln.
Der Reiterin stand der Schweiß auf der Stirn, bemerkte Alexander abschätzend.
„Nun gut,
fangen wir an“, befahl Alexander mit lauter Stimme. Das Privatgespräch war
beendet. Er hielt sich zurück und ließ Tom beginnen.
„Willkommen
zur ersten Turnierstunde“, begrüßte er die Mädchen. Keine stach Alexander
besonders ins Auge. Das Klemmbrett mit der Namensliste hing mit einer Kordel um
einen Holzpfosten, und kurz überflog er die Namen, als er es in die Hand nahm.
Ja, einige waren ihm bekannt. Es passierte häufig, dass die Käufer seiner
Tiere, ihre Kinder zu ihm in eine Ausbildung schickten. Katharina Karlsberg. Er
hob den Blick und betrachtete unauffällig die Mädchen, aber keine sah Ottokar
Karlsberg auch nur im Entferntesten ähnlich. Aber es war auch keine von ihnen
klein, gedrungen, glatzköpfig und dick, überlegte er knapp.
Wahrscheinlich
bräuchte er diese Anhaltspunkte, um sie ausmachen zu können.
„Mein Name
ist Tom Kiergarten. Ich weiß, Sie möchten sich alle in unterschiedlichen Arten
des Reitens weiterbilden. Einige von Ihnen wollen reines Springreiten erlernen,
andere Dressurreiten, sowie schlichtes Kunstreiten, wieder andere interessieren
sich für Rennsport. Wichtig ist allerdings als erstes, dass Sie sicher auf dem
Pferd sind. Die Grundregeln haben Sie zu beherrschen, mindestens ein Jahr
Reiterfahrung haben Sie zu haben“, fuhr er streng fort, „Außerdem sind Sie sich
bitte im Klaren darüber, dass das hier keine Reiterferien sind. Hier wird hohe
Reitkunst gelehrt, und das funktioniert nur mit Disziplin. Mit Ausdauer und
Talent. Ausritte durch Wald und Flur sind Ihnen nur in der Freizeit gestattet,
was konkret bedeutet, nur am Wochenende.“ Er blickte ernst in die Runde.
Alexander
hätte fast geschmunzelt. Er hielt sich souverän und die Mädchen zeigten Züge
von Panik auf ihren vor Sommerhitze geröteten Gesichtern.
„Sobald wir
Sie eingeteilt haben – und manche von Ihnen werden auch bei mir verbleiben, um
vielleicht doch einige Lücken in ihrer Ausbildung aufzufrischen – ändern sich
ihre Reitpläne. Leonard König trainiert Dressur. Ausschließlich, und wer sich
jetzt noch nicht auf seiner Liste befindet, wird es wohl in diesem Jahr auch
nicht mehr schaffen.“ Einige Mädchen tuschelten auf den Rücken der Pferde. „Es
gibt Ausnahmen. Sollten mich Ihre Künste heute so sehr überraschen, dass es ich
es für möglich halte, Sie in sein Team aufzunehmen, werden Sie noch
transferiert“, ergänzte er mit Nachdruck.
„Ich
trainiere mit Ihnen Springreiten und die Basics, falls diese denn noch Training
benötigen sollten, was wir mal nicht hoffen, es kann durch verschiedene
Reitlehrer immer zu Unstimmigkeiten kommen“, wand er ein. „Alle diejenige von
Ihnen, die sich auf Trab- sowie Galopprennen spezialisieren wollen, werden zu
Vanessa Werdelmeier ins Team kommen.“
Vanessa war
noch nicht angekommen. Sie hatte ihm Bescheid gegeben, dass sie erst am Montag
eintreffen würde. Sehr fähiges Mädchen. Ihre Stute stand bereits im Paddock.
Herr Werdelmeier hatte ihm bereits sieben Tiere abgekauft.
„Wichtig
für Sie ist, dass diejenigen, die nach sechs Wochen tatsächlich qualitativ
hochwertige Fortschritte gemacht haben, einen Turnierplatz bei den VR-Classics
erhalten. Natürlich gehört dazu, dass sie das hauseigene Cross-Country Turnier
meistern. Aber sehen Sie es nicht als ihre Pflicht, zum Turnier zu kommen.
Jährlich schaffen es ohnehin nur zwei oder weniger, den Maßstäben gerecht zu
werden. Für Sie sollte zählen, dass Sie hier auf der Reitschule Rothenberg
erstklassig beraten und ausgebildet sind. Das hauseigene Cross-Country Turnier
ist ein ganz eigenes Aushängeschild. Eine Teilnahme hieran ist bereits etwas
Besonderes, und ich möchte Sie erinnern, wie viele hunderte sich diesen Sommer
hier beworben haben, und dass Ihr Aufenthalt jetzt schon bereits eine Ehre und
ein großes Glück für Sie und Ihr Pferd ist.“ Er schenkte den Mädchen ein
gewinnendes Lächeln.
Alexander
senkte den Blick und seine Mundwinkel zuckten. Tom war ein hübscher Junge.
Dunkle Haare, blaue Augen, ein entwaffnendes Lächeln. Ihn einzustellen war eine
wirklich erfolgversprechende Entscheidung gewesen. Die Mädchen hingen an seinen
Lippen, wenn er sprach. Und er würde es nicht laut sagen, aber reines Reiten
zum Spaß und Selbstzweck, war eine Frauendomäne. Reitersport immer noch eine
Männerdomäne. Nichts würde daran etwas ändern. Für gewöhnlich schaffte es kaum
eine Reiterin hier, sich für die VR-Classic zu qualifizieren. Aber auch kaum
ein Reiter schnitt im hauseigenen Turnier sonderlich gut ab. Alexander nahm an,
es lag daran, dass die gewöhnlichen Reiterinnen kein Interesse am Wettkampf
hatten. Es ging ihnen nur, stumpf gesagt, um das Pferd. Und er konnte jetzt
schon sagen, keines der Mädchen hier würde es schaffen.
Er irrte
sich nie, was solche Vorhersagen betraf. Und dieses Mal würde es auch nicht
anders sein.
„Dann
beginnen wir, wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben“, schloss Tom munter
und schwang sich leichtfüßig über das Gatter auf die Koppel. „Noch eine
wichtige Sache“, unterbrach er das aufgeregte Getuschelt der Mädchen. „Das
Zaumzeug wird jeden Abend geputzt. Von Ihnen höchstpersönlich. Die Sättel
werden poliert, ebenfalls höchstpersönlich. Das Equipment, was auf Rothenberg
verwendet wird ist einzigartig in der Welt. Es bedarf der gründlichen Pflege,
und alle diejenigen, die ihr Zaumzeug stets nur einmal im Monat geputzt haben,
die möchte ich besonders zur Ordnung ermahnen. Die Sattelkammer wird jeden
Abend überprüft. Das Equipment ist nur in so gutem Zustand, weil auf eine
erstklassige Pflege Wert gelegt wird.“ Die Peitsche lag locker in seiner Hand.
„Dinge selber in Ordnung zu halten, ist bereits Teil der Disziplin, die von
Ihnen gefordert wird, außerdem eine Pflicht im Vereinskatalog, den sie bitte
bereits ausreichend studiert haben sollten. Es wird keine Ausnahmen geben. Die
Pflege der Pferde übernehmen die Angestellten der Stallungen.“ Kurz wirkten
einige Mädchen entgeistert. Aber Tom ließ ihnen keine Zeit mehr für mögliche
Fragen.
„Sie traben
nach der halben Parade aus dem Schritt an, ich werde Ihr Pferd beobachten, wie
es die Hinterhand bewegt, den Kopf hält, und ob die Haltung generell in Ordnung
ist“, rief er und knallte die Peitschte lautlos in den Sand, so dass dieser
aufwirbelte.
Die
fünfzehn Pferde setzten sich ruckartig in Bewegung. Es war fast schon schwer,
den Mädchen zuzusehen, denn kaum eine machte überhaupt irgendeine nennenswerte
Figur auf ihrem Pferd. Und er erkannte eines seiner Tiere. Es hatte eine
besonders helle Blässe auf der dunklen Stirn, fast halbmondförmig. Er hatte das
Tier Herkules getauft. Einer der Brüder von Apollo. Wahrscheinlich handelte es
sich bei dem kurzen Mädchen um Katharina Karlsberg.
Erst jetzt
erkannte er die Nummern an den Sätteln. Praktische Neueinführung von Tom, nahm
er an. Erneut griff er nach dem Klemmbrett.
13. Ja,
Katharina Karlsberg. Die Steigbügel waren viel zu lang, er sah es von hier aus.
Und das Tier drängte nach außen.
„Karlsberg!“,
rief er und kam näher ans Gatter. Das Mädchen erschrak heftig. „Der Hengst
springt falsch an“, sagte er laut. „Du musst mehr Gewicht nach innen bringen.
Wenn du die äußere Seite nicht kontrollierst, springt er dir noch auf die
äußere Schulter um!“
Das Mädchen
starrte ihn panisch an, als sie ihn in der Runde passierte. Alexander atmete
aus. „Tom, Sie machen das schon“, riss er sich zusammen, bevor das Mädchen noch
anfangen würde zu weinen. Sie nahm die Beine beim Trab zu weit zurück und
brachte das Tier zum Angaloppieren, aber er verkniff sich die Worte. „Legen Sie
im Basic-Kurs Wert auf Hand- und Außengalopp. Am besten lassen Sie Frau
Karlsberg mit Kappzaum selber longieren, damit sie die natürliche Außen- und
Innenstellung erkennen kann“, schloss er strenger. Und das Mädchen begriff,
dass sie also in den Basic-Kurs musste. „Bei Nummer 7,8 und 9 ähnlich“,
ergänzte er, und die Mädchen wirkten erschüttert.
„In Ordnung, Herr von Rothenberg“, entgegnete Tom nickend mit einem leisen
Lächeln und ließ die Peitschte wieder auf den Sand knallen. Reiter
überschätzten sich meistens. Und Alexander übernahm gerne die Position des
strengen, bösen Reitlehrers, damit Tom nicht alle Punkte bei den Damen direkt
am Anfang verlor.
„Lassen Sie
die Pferde sich noch zehn Minuten warm laufen, dann gehen Sie mit den Anfängern
zum Longieren in den Roundpen, die übrigen Reiter können in die kleine Halle.
Herr Bornemann wird dort Zaum-Training machen und die Spring- und Dressurpferde
für die Kandaren messen“, ergänzte er. „Rennreiter müssen sich bis morgen
gedulden“, fügte er knapp hinzu.
„Dann
machen die Anfänger heute bis drei Uhr?“, fragte er knapp, und Alexander
überschlug kurz die Zeiten im Kopf.
„Ja, drei
Uhr. Sprechen Sie sich mit Leonard wegen des Hallenwechsels ab, ja? Und lassen
Sie mir die Pläne zukommen!“, rief er, ehe er sich abwandte.
„Werden wir
tun, bis später, Herr von Rothenberg.“
~*~
Sie hatte
den Zug verlassen. Und ihre Augen suchten den Bahnsteig nach dem blonden
Mädchen ab. Sie war schon weiter vorne bei den Rolltreppen. Kaya nahm die Beine
in die Hand und hievte sich die schwere Tasche über die Schulter, als sie dem
Mädchen eilig folgte.
Die Halle
unten war ausgeschildert mit Wandelhalle und bildete über ihrem Kopf eine
halbrunde Glaskuppel, die sich bestimmt fünfhundert Meter zog. Die Sonne
brannte durch das Glas auf sie alle hinab, wie in einem Treibhaus. Es war
unglaublich heiß geworden.
Sie lief
jetzt praktisch hinter dem Mädchen her.
Sie spürte
ihr Handy in der Hosentasche vibrieren, aber sie achtete darauf jetzt nicht.
Sie wusste
nicht, warum sie hinter dem Mädchen herlief. Vielleicht weil sie hier in
Hamburg die einzige war, von der sie wusste, dass sie dasselbe Ziel hatte.
Das Mädchen
verließ den Bahnhof und Kaya folgte ihr. Sie überblickte draußen in strahlender
Helligkeit den Platz. Busse standen hier im Übermaß, sowie Zuhause auch. Die
Taxen warteten beharrlich, aber sie wusste, sie konnte sich ein Taxi nicht
leisten. Sie würde es nicht riskieren. Aber das Mädchen hatte sich bereits ein
Taxi ausgesucht und sprach schon mit dem Fahrer, der ihr Gepäck in den
Kofferraum lud.
Sie könnte
ihr vorschlagen, sich das Taxi zu teilen.
„Hey!“,
rief sie plötzlich und fing wieder an zu rennen. „Hey, warte, ich-“
Aber
plötzlich kam sie nicht mehr voran. Überrascht verstummte sie, spürte, wie ihre
Füße wie zusammengebunden waren. Als sie fiel, sah sie noch, wie das Mädchen
einstieg, und der Fahrer die Türen schloss.
Mist, dachte Kaya noch, ehe sie auf den Boden schlug.
Ihre Füße
hatten sich in einem Taschengurt verfangen, und sie plumpste der Länge nach auf
den asphaltierten Gehweg. Ein dumpfer Schmerz schoss durch ihre Kniescheibe.
Sie biss die Zähne fest zusammen. Auch ihre Ellbogen gaben kurz unter dem
Aufprall nach.
„Au!“,
fluchte sie, als sie endlich lag, ihre Tasche ein Meter vor sich, der Rucksack
noch auf ihrem Rücken. Immerhin war so der Cam von Bastian nichts passiert. Und
ihrem Handy anscheinend auch nicht, denn es vibrierte bereits erneut in ihrer
Hosentasche. Fluchend strampelte sie die Beine aus der Tasche des Jungen, der
tatsächlich grinste.
„Lass dein
Zeug hier nicht liegen!“, fuhr sie ihn schmerzverzogen an. Ihr Knie ziepte
unangenehm und sie zog ihr Handy ächzend aus der Hosentasche. Aber sie blieb
auf dem Boden sitzen. Die Haut ihrer rechten Handfläche war etwas abgeschürft.
Sie nahm das Handy in die linke Hand und fuhr über das Display.
„Ja?“,
sagte sie grimmig, und hörte laute Hintergrundgeräusche.
„Nach
meinem Zeitplan müsstest du angekommen sein“, erklärte Alina fröhlich.
„Ja, bin
angekommen“, bestätigte sie schlecht gelaunt.
„Alles
ok?“, erkundigte sich Alina sofort skeptisch. „Wurdest du doch beklaut?“,
wollte sie hastig wissen, aber Kaya pustete sich die Haare aus der Stirn.
„Nein. Ich
bin nur hingefallen“, gestand sie ein.
„Autsch.
Schlimm?“, wollte Alina wissen, aber Kaya ruckte mit dem Kopf.
„Nein,
nichts lebensbedrohliches“, murmelte sie, während sie fluchend wieder auf die
Beine kam. Missmutig entdeckte sie den rötlichen Fleck auf dem Stoff über ihrem
Knie. Also hatte sie sich auch noch ihr Knie aufgeschlagen. Sie würde erst mal
eine öffentliche Toilette suchen müssen, um den Fleck wegzukriegen, dachte sie.
„Ok, hör
zu. Der Bus, den du nehmen kannst hat die Nummer 276 nach Duvenstedt, ok? Die
Haltestelle ist die Rothenberger Allee. Und wenn du dich beeilst, müsstest du
noch einen erwischen! Er fährt vom Heidi-Kabel-Platz“, sagte Alina aufgeregt.
Grimmig hob Kaya den Blick. So wie es aussah, hatte sie keine Zeit mehr, ihre
Wunden zu säubern.
Sie griff
eilig nach ihrer Tasche, schlang sie erneut über die Schulter und begann in
Richtung Bus zu humpeln.
„Ok, ich
sehe ihn!“, sagte sie keuchend. „Wie viele Haltestellen sind das?“, wollte sie
von Alina wissen. Diese machte ein unverbindliches Geräusch.
„Keine
Ahnung. Du fährst ungefähr eine Stunde“, sagte sie jedoch entschuldigend.
„Mir egal,
solange ich nicht laufen muss“, entgegnete Kaya. Sie erreichte den Einstieg.
Sie hievte die Tasche hinein. „Alina, ich muss auflegen. Muss bezahlen“,
ergänzte sie.
„Ok, ruf
mich an, wenn du angekommen bist!“, sagte Alina aufgeregt.
„Ja“,
versprach Kaya und legte auf. Sie schob das Handy zurück in die Hosentasche und
holte ihr Portemonnaie aus dem Rucksack. „Einmal nach Duvenstedt, Rothenberger
Allee“, sagte sie außer Atem.
„Schülerausweis oder Semesterticket?“, fragte der Busfahrer mit charmantem
Hamburgerakzent, und grinsend schüttelte sie den Kopf. „Dann wären das 4,50“,
ergänzte er unfreundlich, aber Kaya hatte das Gefühl, mit so einem Dialekt
konnte man überhaupt nicht unfreundlich klingen. Sie zahlte die Unsumme und
schleppte ihre Tasche bis hin zur letzten Reihe. Sie setzte sich an ein
verschmiertes Fenster und begriff, der Bus besaß keine Klimaanlage.
So ein
Mist. Ihr Wundspray war tief vergaben in ihrer Tasche. Die Wunden würden noch
eine Stunde warten müssen, nahm sie bitter an. Aber schmutzig sahen sie nicht
aus. Sie bewegte kurz ihr Knie in der Hose. Es ziepte, denn das Blut war am
Stoff der Hose getrocknet und durch die Bewegung löste sie die Haut vom Stoff.
Sie zog zischend die Luft ein.
Super. Sie
holte die Wasserflasche aus dem Rucksack und machte ein Tempo nass, mit dem sie
ihre Hände säuberte und anschließend versuchte, ihre Hose sauber zu tupfen.
Erst jetzt merkte sie, dass sie ihre Ellbogen ebenfalls aufgeschürft hatte.
Seufzend verdrehte sie die Augen. Hätte sie doch einfach wieder ihre dünne
Jacke übergezogen. Sie sah aus, als hätte sie sich geprügelt oder so. Das würde
kein guter erster Eindruck werden, da war sie sich sicher. Der Bus fuhr an, und
der uralt-Motor im Inneren war ohrenbetäubend laut.
Sie lehnte
den Kopf zurück und blickte aus dem Fenster als der Bus den Bahnhofsplatz
verließ. Sie fuhren erst nach Uhlenhorst über Hohenfelde. Schon nach zehn
Minuten hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und plattes Land erstreckte
sich kilometerweit. Sofort vermisste sie das städtische Treiben, die hohen
Häuser, die vollen Plätze voller Eiscafés und Menschen.
Feld an
Feld reihte sich nun aneinander, Landwirt an Landwirt glitt am Fenster vorbei,
auf hohen Traktoren oder Scheunendreschern oder was auch immer. Beängstigt
wartete sie darauf, dass sich die Landschaft wieder ändern würde, aber auch
nach einer halben Stunde kam keine Großstadt mehr in Sicht.
Seufzend
schloss sie die Augen. Die Ansage im Bus war auch nicht hilfreich. Fuhls-,
Hummels- und Poppenbüttel klangen alle nicht besonders vielversprechend. Es klangen wie Ortschaften aus einem Erich Kästner Roman. Nach
fünfundvierzig Minuten griff sie sich ihren Mp3-Player und drehte die laute
Musik auf, denn es vermittelte ihr immerhin ein wenig an Heimat. Und es passte
hier ganz und gar nicht hin, stellte sie überrascht fest. Sie verband Musik
eigentlich nicht mit Orten, aber Katy Perry schien nicht aufs Land zu gehören.
Sie klickte die Lieder weiter.
Ihr war
aufgefallen, dass die wenigen Leute im Bus auch nicht ausstiegen. Ob sie alle
an ihrer Haltestelle ausstiegen? Oder hatten sie nichts zu tun und fuhren
einfach nur so mit dem Bus?
Eine Stunde
war vergangen, und langsam wurde sie unruhiger. Die Haltestellen hatten
mittlerweile alle das Wort Duvenstedt im Namen, aber noch war ihre nicht
erschienen. Und sie hörte noch zwei weitere Lieder von irgendeinem ihr unbekannten Countrysänger, der wohl den Weg über den
Musikordner ihrer Mutter versehentlich auf ihren Player gefunden hatte. Aber es
gefiel ihr nicht schlecht, während sie sich sicher war, dass sie die Lieder in
der Ringbahn bestimmt weggeklickt hätte.
Das
Anzeigenschild wechselte. Duvenstedt, Rothenberger Allee. Wie gestochen sprang
sie auf, verzog noch einmal den Mund, als sich ihr Knie wieder zu Wort meldete
und drückte auf den Halteknopf. Es wunderte sie gar nicht, dass wieder keiner
ausstieg als der Bus wenige Meter weiter hielt.
Und so
etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie humpelte die Stiegen hinab, und kaum
berührte sie den Boden, schlossen sich die Türen hinter ihr und der laute Bus
fuhr weiter. Ein Bushäuschen stand unter einer – Linde? Hieß der Baum so? Sie
war sich nicht sicher. So viel Natur auf einmal überforderte ihr Wissen aus
Bäume- und Sträucherkunde aus der sechsten Klasse. Hinter dem altertümlichen
Bushäuschen lag eine Weide. Ponys standen dort und grasten träge. Sie stapfte
durch das hohe saftige Gras zum Drahtzaun und musterte die Ponys misstrauisch.
Was für
eine bescheuerte Idee es gewesen war, ausgerechnet Pferde zu wählen. Aber sie
setzte den Rucksack ab und holte die Cam aus ihrer gepolsterten kleinen Tasche.
Sie lag zylinderförmig in ihrer Hand. Sie schaltete sie an. Sie war voll
aufgeladen, und sie hatte noch zwölf Stunden freie Aufnahmezeit. Das würde
reichen, um auch noch ihren gesamten Krankenhausaufenthalt hier zu filmen,
sollte sie vom Pferd stürzen und sich das Bein brechen, ging ihr dumpf auf.
Sie drückte
auf Record und filmte die grasenden Ponys. Sie schwenkte die Kamera auf die
unbefahrene Straße. Allein das wäre in Berlin undenkbar! Von der Weide, den
Ponys und dem Bushäuschen ganz abgesehen. Es kam ihr fast vor wie in einem
Museum, aber sie begriff, es lag wohl daran, dass das Bushäuschen nicht mit
Graffiti bedeckt war. Es war so seltsam, überhaupt irgendein Gebilde mit vier
Wänden ohne Graffiti zu sehen, fiel ihr auf.
Das war das
Land. Keine Sprayer.
Sie stand
einer T-Kreuzung. Ihr gegenüber begann die Rothenberger Allee. Allerdings gab
es keine Hausnummern, denn was sie sah war einfach nur eine endlose
Weidelandschaft. Die Vögel sangen hier lauter als in der Stadt. Alles grünte
und blühte um sie herum, und sie stellte die Kamera wieder aus, als sie die
Umgebung gefilmt hatte. Sie steckte sie zurück in die Polsterung und wieder in
den Rucksack. Sie schulterte ihn voller Tatendrang und griff wieder nach der
schweren Tasche.
Sie
überquerte die Straße, ohne das ein Auto in Sicht gekommen war. Sie konnte auch
auf keinem Bürgersteig gehen, die Straße besaß weder Bürgerstieg noch
Markierungen.
Sie hielt
sich möglichst weit rechts, aber hohe Büsche zwangen sie praktisch, mitten auf
der Straße zu gehen, wenn sie neben ihren Schürfwunden nicht auch noch Kratzer
von Rosenbüschen haben wollte.
Und sie
begriff erst jetzt, wie lang die Straße sein musste. Sie erstreckte sich
nämlich so weit, wie Kaya gucken konnte. Es gab keine Abzweigungen, nur Fort-
und Landwirtschaftswege, wie kleine Schilder die Auffahrten auf die Felder
kennzeichneten. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie betrachtete die Landschaft
skeptisch, in städtischer Manie.
Niemand.
Absolut niemand war hier draußen. Und sie hoffte, dass hinter der Erhöhung der
Straße endlich das Gestüt lag. Wie groß konnten hier die Landflächen bitteschön
sein? Ihr Handy vibrierte wieder. Sie kramte es aus der Tasche.
„Ja?“
„Hey, hier
ist Bastian.“
Sie hatte
gar nicht auf das Display geachtet, und kurz sprang ihr Herz in ihren Mund. Nie
wurde sie von einem Jungen angerufen, und in den letzten Tagen dafür schon
zweimal.
„Kaya?“,
sagte er jetzt, und sie schüttelte perplex den Kopf, während sie den Schweiß
auf der Stirn spürte.
„Hi“,
begrüßte sie ihn.
„Du bist
angekommen?“, fragte er jetzt.
„Das klingt
nicht wie eine Frage“, erwiderte sie überrascht.
„Nein, ich…
habe gerade schon mit Alina telefoniert“, gestand er ein.
„Aha“,
sagte sie lächelnd. Er klang ziemlich happy, fand sie. Sie schleppte sich mit
ihrem Gepäck weiter. „Ich bin vorhin aus dem Bus gestiegen, aber es ist ein
endloser Weg.“ Sie war sich nicht sicher, was Alina ihm erzählte hatte.
„Dein
Großvater wird mächtig überrascht sein“, entfuhr es ihm nachdenklich. Ah gut.
Anscheinend hatte Alina ihrem neuen Typen schlichtweg alles erzählt. Sie
seufzte auf.
„Du weißt
jetzt alles, nehme ich an?“, entfuhr es ihr bitter, aber sie hörte ihn lachen.
„Oh, tut
mir leid. Ja, so ziemlich. Und Alina hat mir gesagt, ich soll nichts verraten.
Sorry“, räumte er lachend ein.
„Ach, ist
egal. Das wird alles sowieso nicht funktionieren“, murmelte sie verzweifelt.
„Hier ist nichts außer Landstraßen. Am besten mache ich kehrt und fahr nach
haue und filme mich dabei, wie ich das blöde Theater streiche“, murrte sie.
„Komm
schon, Kaya. Jetzt bist du schon mal da“, munterte sie anscheinend auf. Sie
hörte ihn tippen. „Außerdem…“, sagte er langsam, „geht die Landstraße nur zwei
Kilometer. Du müsstest das Gestüt doch sehen können, oder?“
Er hatte
leicht reden! „Hier ist ein riesen Berg, Bastian!“, beschwerte sie sich. „Und
mein Knie tut weh, meine Tasche ist schwer – und hier ist nichts! Nicht mal
eine Tankstelle, wo man sich eine Cola kaufen kann oder so!“
„Na ja, mit
Tankstellen hat man das da nicht so“, sagte er. „Aber auf der Homepage sieht
das Gestüt riesig aus“, bemerkte er abwesend.
„Hast du
eigentlich nichts zu tun?“, fragte sie ächzend, als sie den höchsten Punkt der
endlosen Anhöhe erreicht hatte und zurück über die Schulter blickte. Die
Bushaltestelle konnte sie schon nicht mehr erkennen. Sie lag verborgen um eine
Kurve, verdeckt durch hohe Bäume.
„Hm“,
machte er nachdenklich. „Habe gleich Tennis, aber sonst… - nö“, gab er zu.
„Tennis“,
wiederholte sie. „Das wäre etwas, wobei ich mich hätte filmen können“, murmelte
sie bitter.
„Sicher,
wenn du aber nicht gerade Wimbledon spielst, ist das wohl nichts, was die
Lehrer unserer Schule reizen wird, um dich gut zu benoten“, sagte er lächelnd.
Sie hörte das Grinsen praktisch.
„Und das
ist alles? Du rufst mich einfach an?“, vergewisserte sie sich ernsthaft und
hörte ihn seufzen.
„Hey, wenn
ich dich nerve, können wir auch auflegen“, erklärte er eine Spur beleidigt.
Aber sie war schon dankbar, wenn sie überhaupt einen Anruf bekam. Egal, von
wem. Sei es auch von dem Typen, den sie mal gemocht hatte und der jetzt auf
ihre Freundin stand.
Es war
alles ungerecht. Manchmal fragte sie sich, ob es eben so sein müsste. Bastians
Eltern waren reich und erfolgreich und Bastians Weg lag klar vor ihm. Alinas
Eltern waren reich und genauso erfolgreich, und Alina würde bestimmt
irgendeinen guten Job finden später.
Aber sie
würde erst mal hundert Jahre studieren gehen.
Ihre Mutter
arbeitete jeden Tag so lange, dass Kaya sie nie zu Gesicht bekam. Ihr Vater
hatte sie und ihre Mutter verlassen, und ihre Großeltern sprachen kein Wort mit
ihnen.
Und
ausgerechnet sie war jetzt auf dem Weg zu einer Person, die sich eigentlich
nicht für sie interessierte.
„Bist du
noch dran?“, fragte er gereizt, und sie schüttelte verwirrt den Kopf. Die Hitze
war einfach zu viel, sagte sie sich.
„Ich – ja.
Nein, tut mir leid, du… nervst mich nicht“, sagte sie zerknirscht. Kurz
herrschte Stille. Sie sollte gar nicht mit Bastian oder Alina zu tun haben. Sie
würde nicht studieren gehen. Sie hatte keine intakte Familie und dumm war sie
noch dazu. Und bei ihrem Glück würde ihr Großvater sie von seinem Hof jagen,
nahm sie an. Immerhin hatte es ein Gutes. Dann könnte sie schon heute wieder
nach Hause fahren, überlegte sie dumpf.
„Du hast
Angst, oder?“, unterbrach er plötzlich ihre Gedanken. Sie atmete unschlüssig in
das Mikrophon des Handys.
„Ich hab
keine Angst“, log sie schwer atmend.
„Es ist nur
´ne Nachprüfung“, erwiderte er ruhiger. Ja, sie verstand. Er dachte, sie hätte
Angst wegen der Prüfung, nicht, weil sie ihren Großvater noch nie gesehen hatte
und jetzt praktisch vor seine Füße fiel, mit Sack und Pack. Aber sie ging auf
seine Worte ein, ohne ihn zu korrigieren.
„Das ist
leicht für dich zu sagen. Ich… bin einfach zu dumm“, sagte sie leichthin, was
auch nicht gelogen war. Sie dachte an ihre angenehme Realschule zurück, bei der
sie bestimmt nicht solche Längen hätte auf sich nehmen müssen, um versetzt zu
werden.
Er sagte
nichts darauf. Vielleicht stimmte er ihr ja stumm zu. Wahrscheinlich.
Wahrscheinlich hielt der Oberprimus sie tatsächlich für dumm.
„Ach,
Blödsinn“, sagte er schließlich. „Vielleicht läuft ja alles gut“, fuhr er fort.
„Jaah,
vielleicht“, entgegnete sie unwillig. Und sie blieb plötzlich stehen. „Ich kann
es sehen“, flüsterte sie plötzlich.
„Ja? Und?“
Er klang ebenfalls neugierig. Langsam schritt sie näher. Ein brauner Zaun hatte
plötzlich begonnen. Hinter ihm wuchsen hohe Hecken und Sträucher. Ein großes
lackiertes Holzschild kündigte schwarz auf weiß das Gestüt Rothenberg in
fünfhundert Metern an.
Ihr Herz
schlug sehr schnell. Und sie sah schon von weitem ein mächtiges Problem. Ein
unüberwindbares Problem!
„Mist!“,
entfuhr es ihr und sie wich nahe an die Hecken und Sträucher zurück, als sie
näher kam.
„Was?“,
erwiderte Bastian schnell.
„Da ist
eine Schranke. Da ist sogar ein Wachhäuschen!“, sagte sie verzweifelt.
„Oh“,
entgegnete Bastian bloß. „Ok, dann gehst du dann hin, zeigst deinen Ausweis,
und sagst, du willst deinen Großvater besuchen“, schloss er leichtfertig. Sie
entdeckte zähneknirschend mehrere Überwachungskameras, die auf die Einfahrt
gerichtet waren. Was war das hier? Ein Hochsicherheitspferdegefängnis?
„Das kann
ich nicht“, murmelte sie. „Ich muss Alina anrufen“, ergänzte sie plötzlich.
Alina wusste bestimmt weiter. Der Gedanke an Alina hatte etwas Tröstliches,
fand sie.
„Ok?“,
erwiderte er eine Spur beleidigt.
„Ja, mach’s
gut!“, verabschiedete sie sich unglücklich. „Danke, für den Anruf“, fügte sie
schnell hinzu, ehe sie das Gespräch beendete und Alinas Nummer wählte. Sie ließ
anklingeln und legte dann auf. Und sie wartete im Schutz der Hecke.
Aber Alina
rief nicht zurück. Sie wartete noch eine halbe Minute und wählte die Nummer
erneut. Das Freizeichen ertönte. Hastig legte sie wieder auf, denn sie wusste,
selbst, wenn sie nur klingeln ließ, kostete es sie Guthaben. Und ihr fiel
wieder ein, dass Alina ja die letzten Anrufe vom Handy ihres Vaters getätigt
hatte. Eilig durchsuchte sie die Anruferliste.
Sie fand die
Nummer und kurz zögerte sie.
Was, wenn
Alinas Vater ranging? Was, wenn Alina ihm sonst was für eine Geschichte erzählt
hatte? Seufzend schob sie das Handy
zurück in ihre Hosentasche.
Und jetzt?
Sie konnte unmöglich tun, was Bastian gesagt hatte! Wieso musste da
ausgerechnet eine Schranke sein? Was war das hier denn bitteschön? Der
Reichstag?!
Sie schlich
sich langsam näher und achtete darauf außerhalb der Kameralinsen zu bleiben.
Und sie
hörte ein Auto aus nächster Nähe. Bevor sie zurückweichen konnte, hob sich die
Schranke. Ein schwarzer Wagen fuhr aus der breiten Einfahrt und bog nach
rechts, direkt auf sie zu. Sie versuchte, möglichst unauffällig am Straßenrand
zu stehen, aber der Wagen hielt neben ihr. Das Beifahrerfenster wurde
elektrisch runter gelassen.
„Haben Sie
sich verlaufen, junge Dame?“, fragte eine freundlich dreinblickende Dame,
wahrscheinlich über sechzig, schätzte Kaya, und auch sie sprach den angenehmen
Dialekt.
„Äh…“,
entfuhr es ihr unschlüssig. Dann schüttelte sie zaghaft den Kopf.
„Gehören
Sie zu den Schülerinnen?“, fragte die Frau weiter.
„Ich… ich
wollte jemanden besuchen“, sagte Kaya schließlich, die von ihrer Mutter stets
beigebracht bekommen hatte, vor Leuten keine Angst zu haben, und in ganzen
Sätzen zu antworten. Sie versuchte, freundlich zu schauen, aber sie könnte sich
bereits erschlagen für ihre Blödheit. Wen wollte sie bitteschön besuchen?!
„Sie wollen
einen der Schüler besuchen? Am ersten Trainingstag?“, wiederholte die Frau im
Auto die Frage. Kaya nickte nur. „Sie haben viel Gepäck dabei, nur um jemanden
zu besuchen“, bemerkte die Frau jetzt. Sie hatte die Haare zu einem Dutt
hochgebunden, aber vereinzelt fielen ihr wirre helle
Haare an den Seiten heraus.
„Wohnen Sie
auf dem Gestüt?“, fragte Kaya jetzt neugierig, denn vielleicht war die Frau ja
ihre Großmutter. Aber sie meinte sich schnell wieder zu erinnern, dass ihre
Großmutter bereits gestorben war.
„Na, wen
wollen Sie denn besuchen? Erna, fahr mal rechts ran“, wandte sie sich an die
jüngere Frau, die hinterm Steuer saß. Der schwarze Mercedes fuhr neben Kaya
rechts an den Rand der engen Landstraße. Sie schluckte schwer und glaubte,
gleich ohnmächtig zu werden. Sie brauchte bestimmt einen Pass oder einen Ausweis,
um da rein zu kommen! Die Frauen stiegen aus. Die Dame, die mit ihr gesprochen
hatte, trug eine streng zugeknöpfte Bluse und einen langen blauen Rock. Sie sah
sehr schick und sehr streng aus, befand Kaya plötzlich.
„So, mein
Name ist Frau Fiets. Und Sie scheinen eine weite Reise hierhin gemacht zu
haben“, stellte sie mit Blick auf ihr Gepäck fest.
„Ich… bin
nur auf der Durchreise“, log Kaya hastig. „Und… eine Schülerin ist meine…
Schwester, und sie hat ein paar Sachen vergessen, die… ich ihr bringen sollte.“
Oh Gott. Wäre Lügen ein Schulfach, müsste sie wohl auch darin eine Nachprüfung
machen müssen.
„Ihre
Schwester?“ Und Kaya fiel der Name ein, den das Mädchen am Bahnhof in Berlin
genannt hatte.
„Tina“,
sagte sie hastig.
„Tina? So
viele Namen, war eine Tina dabei? Meinen Sie… Tina von Bergen?“, vergewisserte
sich die Frau verblüfft, und Kaya beschloss, zu nicken, und dankbar zu sein,
sich keinen Nachnamen ausdenken zu müssen, der wahrscheinlich auch noch falsch
wäre. „Die arme. Ist sowieso schon ganz fertig mit den Nerven“, bemerkte Frau
Fiets anscheinend an ihre Begleitung gewandt. Dann musterte sie Kaya wieder.
„Na, dann
bringen wir Sie mal rein. Wo wollen Sie denn danach noch hin?“ Kaya überlegte
angestrengt. Himmel, die Frau ließ ihr auch keine Pause.
„Nach
Berlin…“, schloss sie eilig, mit gewisser Resignation. „Meine Eltern sind…
schon abgereist, ich… besuche wen in Berlin, und sie haben mich hier abgesetzt.
Wir wohnen… in Hamburg und… von hier aus fährt ja der Bus direkt bis zum
Bahnhof. Und…“ Kaya unterbrach sich verzweifelt.
„Na, das
ist aber nicht gerade nett von Ihren Eltern“, bemerkte Frau Fiets
missbilligend. „Du solltest die Eltern der Schüler hier mal kennenlernen, Erna.
Sich selber zu schade, einen Schritt zu Fuß zu gehen, aber die Kinder in der
Wildnis aussetzen…“ Aber sie unterbrach sich. Sie passierten die Schranke, und
Frau Fiets nickte dem Mann in dem Häuschen lediglich zu. Kayas Augen wurden
größer. Sie hatte die Kameras längst vergessen.
Das war
doch nicht alles das Gestüt, oder?!
Sie sah
sich um. Das wirkliche Schlimme war, dass sie kein Ende erkennen konnte. Die
lange Auffahrt führte hoch zu einem Platz, vielleicht ein Parkplatz? Dahinter
erstreckte sich eine riesige Koppel, oder wie man es nannte. Sie war rund und
groß, mit einem höheren Zaun als der hinter der Bushaltestelle. Dahinter waren
Stallungen, nahm sie an. So groß wie ihr Gebäudekomplex in Prenzlau, wenn nicht
größer. Riesige Bäume standen dahinter, so hoch wie… höher als die Bäume im
Friedrichshainer Park zuhause! Und in der Ferne war ein Haus. Nein, kein Haus.
Es war… wie ein riesiges Hotel, dachte sie benommen.
Es war…
größer als auf dem Bild im Internet und… anders.
„Ist das…
das ist das Gestüt?“, entfuhr es ihr ungläubig und sie deutete auf die weite
Fläche. Frau Fiets betrachtete sie verstört.
„Ja?
Sicher. Warst du noch nie mit deiner Schwester hier?“, fragte sie jetzt
verwundert. Kaya hörte gar nicht hin und schüttelte nur den Kopf. Sie merkte,
wie ihre Schritte schneller wurden, wie sie weiter ausschritt, wie die Frauen
ihr folgten.
„Was… was
ist das alles?“, wollte sie erschüttert wissen. „Das gehört alles… Herrn
Rothenberg?“, entfuhr es ihr fassungslos.
„Kind, ist
alles in Ordnung?“, wollte die Frau jetzt wissen. „Du blutest ja!“, ergänzte
sie überrascht. Kaya konnte nur wieder den Kopf schütteln. Ein Auto fuhr an
ihnen vorbei. Es war ein Sportwagen mit nur zwei Sitzen. Er parkte auf dem
Parkplatz vor ihnen. Ein großer dünner Mann stieg aus. Er trug einen passenden
dunklen Anzug. „Ach, Herr Hansen!“, rief Frau Fiets überrascht. „Dass Sie am
Sonntag den Weg hieraus gemacht haben“, sagte sie kopfschüttelnd. „Der gnädige
Herr kann doch unmögliche so wichtige Geschäfte haben“, sagte sie nur.
Der Mann
tupfte sich mit einem Taschentuch die nasse Stirn ab. Er musste ziemlich
schwitzen in seinem Anzug, aber Kayas Blick war schon wieder über das
Grundstück gewandert. Vor allem konnte sie hinter der runden Koppel nur noch
Wiesen erblicken. In der Ferne vielleicht eine Art Springbock oder zwei. Wie
groß war es wohl? Sie hatte es doch auf Wikipedia gelesen. Sie wollte den
Artikel nicht rausholen. Es war unglaublich. Das Gespräch ging an ihr vorbei.
Aber ihr Blick löste sich von den weiten Wiesen, denn aus den Augenwinkeln
erkannte sie eine Gestalt, die von den Stallungen herkam.
Die
Reiterstiefel machten laute Geräusche auf dem Kies. Die Gestalt näherte sich
eilig.
„Ach, Herr
Kiergarten, wären Sie wohl so freundlich?“ Kaya spürte, wie Frau Fiets sie mit
der Hand auf ihrem Rücken vorwärts schob. „Die junge Dame wollte ihrer
Schwester ein paar Sachen bringen? Die kleine Tina von Bergen?“, ergänzte sie.
Kaya hob den Blick zum jungen Mann, dem ebenfalls der Schweiß auf der Stirn
stand.
„Schwester?“,
wiederholte er. Seine Augen ruhten auf ihrem Gesicht. Für einen Moment dachte
sie, dass sie noch nie einen so hübschen Jungen gesehen hatte. Und im nächsten
Moment wurde ihr klar, dass der junge Mann sie misstrauisch beäugte. Ihr Mund
öffnete sich überfordert, und sie suchte krampfhaft nach einer guten Ausrede,
aber… so plötzlich wie das Misstrauen gekommen war, so schnell verschwand es
von seinen Zügen.
„Komm mit“,
sagte er schließlich, und er sah sie unverhohlen an, bis hinab zu dem blutigen
Fleck auf ihrer Jeans.
„Junge
Frau, wenn Sie wollen, können Sie sich noch sauber machen, ehe Sie gehen. Sagen
sie Magda, der Küchenhilfe, ich hätte Sie geschickt, ja?“ Kaya sagte darauf
nichts und folgte dem fremden Jungen, der vielleicht zwei drei Jahre älter war
als sie. Diese Frau Fiets schien sehr nett zu sein und trug einen mitleidigen
Ausdruck für sie auf ihren gutmütigen Zügen.
„Wo gehen
wir hin?“, fragte Kaya, als sie zielstrebig an den Stallungen vorbeigegangen
waren. Sie zogen sich schier endlos neben ihnen her.
„Zu deiner
Schwester“, erklärte er nur. Kaya konnte nicht sagen, ob er wusste, dass sie
log, oder ob er ihr die halbherzige Lüge abgekauft hatte. So langsam wurde die
Zeit knapp, denn der Junge steuerte eine Halle an, weiter hinten, hinter den
Stallungen, wo das Grundstück anscheinend noch mal eine Wende nahm. Sie
schüttelte den Kopf. Hier könnten tausend Leute wohnen, überlegte sie dumpf.
„Wie groß
ist das hier?“, fragte sie, bevor sie sich halten konnte. Er stutzte kurz neben
ihr.
„Keine
Ahnung“, erwiderte er ernsthaft überrascht. „20, 30 Hektar?“, sagte er jetzt.
Ja, ihre fünf in Mathe zahlte sich auch jetzt aus.
„Ja? Ein
Hektar ist noch mal…?“, wollte sie unverfänglich wissen, und kurz lächelte er
tatsächlich und hielt inne.
„1 Hektar
sind 10.000m².“ Sie war ebenfalls stehen geblieben.
„Ah…“,
sagte sie langsam. Das waren dann 10 Quadratkilometer. Mal 30… - oh. Das war
eine Menge, nahm sie an, denn vorstellen konnte sie es sich nicht. „Wow“,
entfuhr es ihr tonlos, ohne jede Begeisterung, denn sie war einfach nur
schockiert.
„Was hat
deine Schwester denn vergessen?“, fragte er jetzt, als sie wieder weitergingen.
„Ein paar…
Kleinigkeiten“, sagte sie vage. Sie hatte keine Ahnung. Ihre Kunst, zu lügen,
ging bis hierhin und keinen Schritt weiter, dachte sie verzweifelt.
„So wie…?“
Er ließ nicht locker, und sie sah scheu zu ihm auf. Er sah gut aus. Ja,
wirklich. Gutaussehende Jungs ließen sie immer vollkommen dämlich werden. Es
war zum Verrücktwerden mit ihr.
„Kiergarten“,
wiederholte sie plötzlich. „Tom Kiergarten?“, sagte sie, als ihr der Name
wieder einfiel. Er musterte sie.
„Ja, du
kennst mich?“
„Nur von…“
Ja, wovon eigentlich?! „Von den Siegerlisten vom…“ Oh Mist, wie hieß das noch
mal? Aber er tat ihr den Gefallen.
„Von den
VR-Classics?“, half er ihr aus, und sie nickte heftig. Seine Stirn kräuselte
sich kurz, als er sie näher betrachtete. „Wie alt bist du?“
„Was?“ Mit
der Frage hatte sie nicht wirklich gerechnet. „Warum?“, fragte sie abwehrend.
„Ist das ein Staatsgeheimnis?“ Ihr fiel auf, dass er ohne Akzent sprach. Er
sprach Hochdeutsch.
„Du kommst
nicht aus Hamburg, oder? Du sprichst nicht so wie die Leute hier.“
„Du kommst
auch nicht aus Hamburg“, stellte er lächelnd fest. Seine Antworten waren glatt.
„Und wieso willst du mir nicht sagen, wie alt du bist?“
„Siebzehn“,
sagte sie schließlich. Er musterte sie weiterhin. Dann blieb er stehen. Aus der
Halle vor ihnen drang Musik durch die verschlossenen Türen. „Was ist da drin?
Irgendeine Scheunenparty?“, wollte sie verwirrt wissen, und er schüttelte
lächelnd den Kopf, als er die Türen aufzog.
„Deine
Schwester hat gerade Dressur-Training. Aber wenn du wichtige Kleinigkeiten für sie hast, dann komm“,
sagte er einladend und hielt ihr die Tür auf. Vielleicht bildete sie es sich
ein, aber leiser Spott funkelte in seinen Augen. Sie schüttelte abwehrend den
Kopf, denn was sollte sie –
„-dann
müssen sie dran arbeiten. Die Kandare ist kein Spielzeug. Der Umgang muss
perfekt beherrscht werden, oder es ist kostbare Zeitverschwendung!“, sagte der
Mann streng. Ihr Mund hatte sich geöffnet. Wie von selbst machte sie ein paar
Schritte vorwärts in die kühlere Halle. Künstliches Licht erhellte die
rechteckige, riesige Halle. Die Decke war matt und undurchsichtig, aber das
Licht fiel gedimmt auf den Sand der Halle.
In der
Mitte standen einige Reiterinnen auf Pferden, am Rand stand….
Unsicher
machte sie weitere Schritte voran. Es war der Mann auf dem Bild im Internet.
Sein Haar war dunkel nach hinten gekämmt über seinen Kopf, aber es war… - so
dicht, wie das Haar ihres Vaters, so wie sie es in Erinnerung hatte.
Er trug
eine dunkle Hose, die um die Oberschenkel ein wenig ausgebeult war. Wohl eine
Art Reithose. Darunter Stiefel. Glatt und glänzend. Darüber ein dunkles Hemd.
Er wirkte so… jung. Nicht wie ein Großvater wirken sollte. Und sein Gesicht….
Das war… doch unfassbar! Das Gefühl, das sie erfasste war… seltsam. Es fühlte
sich… bitter an, in ihr drin. Bitter und… irgendwie schmerzhaft. Denn sie war
ein Mensch, der Dinge schnell vergaß. Herr Steiner sagte, es gab nasse und
trockene Schwämme unter den Schülern. Die nassen begriffen schnell, die
trocknen brauchten länger dafür. Und sie fand, sie war wohl eher einer dieser
trockenen Schwämme. Leider. Und sie vergaß viel. Zahlen waren immer ein
Problem. Und natürlich Gesichter. Vom Theater her sollte sie eigentlich langsam
das Ensemble kennen, was sie zwangsläufig immer wieder sehen musste, aber jedes
Mal war es peinlich für sie, denn sobald die Freundinnen ihrer Mutter eine
andere Frisur oder andere Haarfarben hatten, war es mit dem
Wiedererkennungswert vorbei.
Und so war
es auch mit ihrem Vater. Sicher, sie konnte sich ins Gedächtnis rufen, welche
Augenfarbe er hatte, oder wie lang seine Haare waren, aber wenn sie ihn dann
sah, dann sah er doch vollkommen anders aus, als sie es geglaubt hatte, zu
wissen.
Und jetzt
wusste sie plötzlich wieder, wie ihr Vater aussah. Und das schmerzte. Nur das.
„Sicher,
das ist es ja, was ich ihnen sage, aber wer es nicht beherrscht, der fliegt
sowieso aus diesem Programm“, vernahm sie die laute überhebliche Stimme des
fremden jungen Mannes, der neben ihrem Großvater stand.
„Tom, ich
dachte, es wäre Ihre Pause?“, erkundigte sich der Mann, der Tom Kiergarten
neben ihr erkannt hatte, wirkte aber nicht wirklich überrascht. Und Kaya hielt
automatisch die Luft an, als der Mann sie nun näher ins Auge fasste. „Eine
weitere Schülerin?“, fragte er milde interessiert.
„Wieso ist
sie nicht umgezogen?“, wollte der blonde Mann schroff wissen. Seine Haare waren
länger als die von Tom Kiergarten neben ihr. Und sie wellten sich seinen Nacken
hinab. Und sein Gesicht war… nicht freundlich. Ganz und gar nicht. Kaya wandte
den Blick von dem blonden Mann ab, denn er war ihr unangenehm.
„Tom?“,
wiederholte der Mann. Er kam näher. Das Gewicht der Tasche schnitt Kaya in die
Schulter, aber sie spürte es kaum. Sie konnte nur den Mann betrachten. Stumm
betrachten. Der Mann, der den gleichen Namen trug wie sie. Ihr kam eine
lächerliche Erinnerung an die dritte Klasse ins Gedächtnis. Sie hatten alle
Bilder von ihrer Familie malen müssen. Die Großeltern der anderen Kinder waren
alle alt gewesen, grauhaarig und haben auf den Bildern alle gutmütig gelächelt.
Die
Großmütter hatten alle graue runde Haarknoten auf dem
Kopf gehabt.
Als die
Lehrerin zu ihr gekommen war, hatte Kaya sich und ihre Mutter fertig gemalt.
Frau Kirschner hatte sie erwartend angesehen, und Kaya hatte zögerlich
weitergemalt. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie ihr Vater oder ihre Großeltern
aussahen. Das hatte sie der Lehrerin aber nicht gesagt, sondern einfach gemalt.
Ihren Vater, ihren Großvater, ihre Großeltern, Cousins und Cousinen, die sie
gar nicht hatte. Das Bild war am Ende aus allen Nähten geplatzt. Und Frau
Kirschner war zufrieden gewesen.
Daran
musste sie gerade denken und kam sich plötzlich wesentlich jünger vor, als sie
gerade war. Sie wusste nicht, ob man spüren konnte, wenn Familie anwesend war,
aber so etwas Ähnliches dachte sie gerade. So ein Gefühl erfüllte sie gerade.
Sie wusste nicht, ob sie das auch denken würde, wenn sie diesen Mann einfach
nur auf irgendeiner Straße in Prenzlau getroffen hätte, ohne zu wissen, wer er
war. Aber… je näher sie ihn betrachtete – umso mehr konnte sie sich an ihren
Vater erinnern. Das Gefühl war… - es tat weh. Und sie glaubte auch nebenbei
nicht, dass so jemand wie er in Prenzlau rumlaufen würde.
„Name?“,
fragte der Mann, der plötzlich vor ihr stand. Ihr Großvater. Sie hatte gar
nicht registriert, dass er sie erreicht hatte. Seine Augen waren blau. Blau,
einfach tief blau. In seinem Gesicht lag keine Wiedererkennung, aber natürlich
tat es das nicht. Er hatte sie ja noch nie in seinem Leben gesehen. Sie
schluckte schwer, denn plötzlich lag ihre Zunge wie taub in ihrem Mund.
„Kaya“, entfuhr
es ihr heiser, obwohl sie nicht hatte sprechen wollen. Kaya merkte nicht mal,
wie egal ihr die Ausreden waren. Wahrscheinlich würde sie gleich verhaftet
werden, wegen Hausfriedensbruch oder wegen was Jugendliche so in der Großstadt
verhaftet wurden. Sie hatte es oft genug im Fernsehen gesehen. Vielleicht würde
sie jemand packen und tatsächlich rauswerfen. Das war mal auf dem Gymnasium
passiert, als irgendwelche fremden die Wände mit Graffiti angesprüht hatten.
Aber es war
ihr egal. Das war ihr Großvater. Sie fühlte sich für eine Sekunde wie das
Mädchen aus dem Märchen. Das, mit den Schwefelhölzern. Zwar war es nicht
Winter, und sie litt an keinem Fieber in der Weihnachtsnacht. Sie war nicht
mittellos und würde nicht gleich sterben, aber es kam ihr dennoch wie eine
Erscheinung vor, die sie vor sich hatte.
Und
plötzlich war es auch nicht mehr so unvorstellbar, dass auch sie mehr Familie
besitzen konnte, als nur ihre Mutter. Ihr Herz schlug lächerlich schnell,
während er sie betrachtete.
„Kaya?“,
wiederholte er verständnislos. „Sind Sie eine Schülerin hier?“, fragte er
erneut Sie hörte, der Mann war ungeduldig. Wahrscheinlich hielt er sie für
minderbemittelt, weil sie einfach nicht sprechen konnte.
Anscheinend
schien der junge Mann neben ihr auch auf ihr Geständnis zu warten. Sie atmete
die angehaltene Luft aus. Kurz ließ sie den Blick über die verdutzten
Reiterinnen wandern, die sie abfällig betrachteten.
Und kurz
zuckten ihre Mundwinkel, als sie die Lächerlichkeit begriff. Als sie einsah wie
dumm ihre Idee wirklich gewesen war. Und ihre Augen brannten plötzlich. Heiß
und stechend.
Kurz
verschwamm seine Gestalt vor ihrem glasigen Blick. Dann senkte sie hastig den
Blick. „Verzeihung“, sagte sie leise, als sie sich an Tom Kiergarten
vorbeischob, dessen Namen sie auch nur von einer Internetseite kannte.
Sie trat
wieder in die Hitze der prallen Sonne. Sie wärmte ihre kalt gewordenen
Oberarme. Sie erkannte den Mann namens Hansen auf die Halle zukommen. Er
bedachte sie argwöhnisch, schien auch ihre abgeschürften Ellenbogen zu
bemerken. Sie schritt langsam weiter.
„Dr.
Hansen, warten Sie kurz“, hörte sie die Stimme ihres Großvaters. Und sie
merkte, dass er ihr folgte. „Einen Moment, junge Frau!“, hielt er sie auf. Ihr
Herz klopfte verräterisch laut. „Sie können hier nicht einfach reinspazieren.
Das hier ist Privatbesitz, und wenn Sie nicht angemeldet sind, haben Sie hier
nichts zu suchen!“, informierte er streng, wie ein Lehrer. Herrn Steiner hätte
er bestimmt täuschen können, überlegte sie knapp.
Er sah sie nicht
an wie ein Kind, fiel ihr auf. Er siezte sie sogar. Nur in der Schule passierte
ihr das. Noch nirgendwo außerhalb. Er sah sie an, wie… einen Erwachsenen. Einen
Eindringling. „Wenn Sie hier nichts verloren haben, verlassen Sie
augenblicklich meinen Hof“, informierte er sie. Fast wertfrei. Nicht übermäßig
zornig, nicht besonders interessiert. Als wäre sie eine lästige Kleinigkeit,
die beseitigt werden müsste. Alinas Großvater schickte Alina jeden Monat eine
Karte aus der Schweiz, manchmal mit Geld drin. Da wohnte er nämlich. Und sie
nickte. Und manchmal hatte sie immer mal wieder klare Momente. Momente, in
denen sie begriff, dass sie am besten auf ihre Mutter hören sollte.
Sie
vermisste ihre kleine Wohnung, in der sie nichts von diesem Mann geahnt hatte,
oder seinem unendlich großen Besitz, in den die Wohnung ihrer Mutter bestimmt
einhunderttausendmal Platz gefunden hätte.
Und sie
nickte ihm zu. Und sie wusste, das hier… hätte niemals
ihr Großvater sein können.
Sie war
immer überzeugt, Großväter liebten ihre Enkel. Dieser Mann… wirkte nicht
besonders liebenswürdig. Er hatte seinem Sohn bestimmt nicht zum Geburtstag
gratuliert, dachte sie plötzlich dumpf. Wieder schmerzte irgendetwas in ihrem
Innern. Sie wusste nicht, was, aber ergründen wollte sie es nicht tiefer.
Und dann
ging sie.
Sie ließ
den Mann hinter sich zurück. Sie ging den Weg wieder runter, den sie gekommen
war. Die Auffahrt lag frei. Die beiden Frauen waren nicht mehr da. Ihr Blick glitt
über das weite Land. Sie erkannte Pferde auf einer weiteren Weide.
Was war das
nur für eine blöde Idee gewesen, dachte sie bitter.
Sie verließ
die Auffahrt, passierte die Schranke und schenkte dem skeptischen Wächter ein
Lächeln zum Abschied.
– Irgendwo hinter den Sternen –
„Was? Und
wo bist du jetzt?“ Alina war völlig aufgelöst. Sie schien nicht damit gerechnet
zu haben, dass der Plan tatsächlich nicht funktionieren würde. Und Kaya hatte
nicht mit einer gottverlassenen Einöde an einem Sonntag gerechnet, aber… es
fuhren keine Busse mehr in die Stadt. Sie lief, so gut sie ihre Füße tragen
konnten, während Alina verzweifelt nach Herbergen in der Nähe suchte. Denn
Kayas Rückfahrtticket war erst ab morgen gültig. Nicht für denselben Tag. Zwar
hätte sie auch das Ticket bezahlen können, aber davon wollte Alina erst recht
nichts wissen, denn selbst, wenn Kaya den Weg zum Bahnhof laufen würde – was
laut Google Maps zu Fuß fast vier Stunden waren – würde die Zugfahrt
unglaublich teuer und unglaublich lang werden.
„Keine
Ahnung? Vor irgendeinem Moor“, rief sich Kaya den letzten Wegweiser ins
Gedächtnis. Sie erinnerte sich nicht, ob der Bus hier langgefahren war.
„Hm“,
machte Alina. „Wenn du zurückgehst, an der Bushaltestelle vorbei, kämst du im
nächsten Dorf zu einer Herberge. Die empfängt auch sonntags Besucher“, sagte
sie.
„Was? Ich
bin schon eine halbe Stunde entfernt davon!“, beschwerte sie sich gereizt.
„Du
befindest dich jetzt in einem Naturschutzgebiet, Kaya!“, erwiderte Alina nicht
minder schlecht gelaunt. „Mit Pech verirrst du dich und wirst von Wölfen
gefressen“, murrte sie böse. Kaya atmete zornig aus.
Dann musste
sie den ganzen Weg wieder zurück. Toll, wirklich toll.
„Ich ruf
dich an, wenn ich da bin“, brach sie abrupt das Gespräch ab, ohne Alina noch
mal zu Wort kommen zu lassen. Es war so ein blöder Plan gewesen. So eine
kreuzdumme Idee. Und sie wusste, würde ihre Mutter das erfahren, dann wäre was
los!
Sie war
stehen geblieben und trat den Rückweg an. Langsamer als vorher, während sie die
verfluchte Tasche neu schulterte. Kein Auto war vorbeigekommen. Absolut niemand
war hier! Niemand!
Jeder
Schritt war bitter und erinnerte sie nur an ihre eigene Dummheit, ohne
irgendeinen Ersatzplan in eine fremde Stadt gefahren zu sein. Aber sie weinte
nicht. Deswegen würde sie nicht weinen. Dann blieb sie eben eine Nacht und fuhr
wieder zurück. Sie hatte nichts weiter verloren. Nur einen Tag. Und sie war
jetzt auch klüger und wusste, dass auf Familie niemals Verlass war. Das kannte
sie ja von ihrem Vater schon!
Ihre
Schritte wurden zorniger, wurden schneller. Schweiß rann ihren Rücken hinab.
Sie lief
stumm, ohne anzuhalten. Sie hörte keine Musik, filmte keine Natur und wanderte
einfach stur weiter.
Sie
passierte die Bushaltestelle wieder, blickte nicht nach links zurück in die
verdammte Rothenberger Allee und lief weiter gerade aus.
Und schon
nach fünfzehn Minuten machte die Straße in der Einöde eine Biegung, und sie sah
vor sich eine Dorfstraße. Das Dorf hatte sich gewunden um die Landstraße
entwickelt, stellte sie fest. In der Kurve war ein Bäcker mit einer
altertümlichen Brezel als Eingangsschild. Daneben war eine Sparkasse,
tatsächlich!
Ein kleiner
Einkaufsladen weiter hinten und vereinzelt sammelten sich Wohnhäuser zwischen
den spärlichen Geschäften.
Es wirkte
alles… dörflich. Nicht urban, sondern wirklich beschaulich. Einige Boutiquen,
die heute geschlossen waren, säumten die kurvige Straße. Wer kaufte denn in so
einer Einöde Markenklamotten? Sie konnte es sich kaum vorstellen. Und ganz am
Ende der Straße, mit Blick über einen runden See mit Aussichtsplattformen lag
eine Herberge. Lütte Seebank hieß
sie, und Kaya atmete fast erleichtert auf.
Sie war so
froh, dass die Türen nicht verschlossen waren. Aber es war auch erst vier Uhr.
Sie erwartete nicht viel, aber das Türen um vier Uhr noch geöffnet waren, das
war schon – wie sagte man es in der Mathematik? Eine notwendige Bedingung? Sie
wusste nicht, warum sie keine vier bekommen hatte. Dann wäre jedes Problem
gelöst gewesen. Sie betrat das Haus. Es war urig eingerichtet. Maritime
Devotionalien häuften sich an den Wänden. Fischernetze, ausgestopfte Möwen,
Angelrouten, riesige Anker, eine Sammlung winziger Leuchttürme, und am leeren
Tresen waren unzählig viele Teeproben ausgelegt.
Kurz
zögerte sie, aber niemand war hier unten. Also betätigte sie kurz die goldene
Klingel auf dem glatten Tresen. Der Ton hallte hell durch den unteren großen
Raum. An der Wand hingen Wanderrouten, weitere Reiseziele und eine große Karte
von dem See, der hinter dem Haus lag. Es roch… nach Fisch in der Luft. Ihr
Magen knurrte unwillkürlich. Sie hatte tatsächlich Hunger.
Eine Tür
hinter dem Tresen öffnete sich, und eine rundliche Frau kam kauend zu ihr.
„Ja, Mädchen?“,
fragte sie, wohl ein wenig verwirrt.
„Hallo“,
begann Kaya, „ich… bräuchte ein Zimmer für eine Nacht“, erklärte sie, und ihr
fiel auf, dass sie noch nie alleine nach einem Zimmer gefragt hatte.
„Wie alt
bist du, wenn ich denn fragen darf?“, erkundigte sich die Frau freundlich, und
sah sie durch die eckigen Brillengläser wachsam an. Sie hatte eine dunkelblonde
Dauerwelle. Und sie wirkte nett. Ihre Haut war wohl von der Sonne hier
gebräunt. Die See bräunte gut, sagte ihre Mutter immer wieder, wenn sie ihre
und Kayas arme Hautfarbe betrachtete. Aber sie hatten kein Geld für Urlaub an
der See, das war dann immer das nächste, was ihre Mutter sagte. Und jetzt
verstand Kaya. Die Frau vor ihr sah genauso gesund aus wie Tom Kiergarten. Sie
hatte unwillkürlich an ihn gedacht, ging ihr beschämt auf.
„Siebzehn“,
sagte sie wahrheitsgemäß, denn sie müsste gleich bestimmt ihren Personalausweis
zeigen. Bedauernd deutete die Frau auf ein Schild hinter sich, was Kaya gar
nicht aufgefallen war. Keine
Zimmervermietung an Minderjährige, stand dort. Kayas Herz sank erschrocken
in ihren Bauch.
„Oh“,
erwiderte Kaya sprachlos. „Dann… können Sie mir sagen, wo ich hin kann? Ein
Hotel vielleicht?“, fragte sie erschöpft. Sie hatte ganz vergessen, dass sie
minderjährig war. Sie kam sich gar nicht minderjährig vor. Nicht in ihrem Kopf.
„Das
nächste Hotel ist eine Weile entfernt“, erwiderte die Frau kopfschüttelnd. „Mit
wem bist du hier?“, wollte sie jetzt wissen, und ihre Stirn runzelte sich.
„Ich… mit niemandem,
ich… wollte jemanden besuchen, aber das hat nicht… geklappt“, fasste sie ihr
persönliches Fiasko sehr kurz zusammen.
„Hm…“,
machte die Frau jetzt. „Wo sind deine Eltern?“, fragte sie, und Kaya atmete
aus.
„Ich komme
aus Berlin“, erklärte sie vage. „Aber meine Mutter ist zurzeit in London am
Theater. Deswegen… sollte ich herkommen, jemanden besuchen, aber…“
„Das hat
nicht geklappt“, wiederholte die Frau wissend Kayas Worte. Resignierend atmete
die Frau aus. „Eine Nacht?“
Kayas Miene
hellte sich wieder auf. „Ja, bitte! Ich bitte Sie. Nur eine Nacht, ich… habe
Geld genug dabei. Und ich… bin morgen wieder verschwunden, ich verspreche es!“,
schwor sie eifrig. Die Frau verdrehte die Augen.
„Na, schon
gut. Den Ausweis, bitte“, sagte sie, so zuvorkommen wie vorher, als hätte das
Gespräch über Kayas Alter nicht stattgefunden. Kaya zog ihren Personalausweis
aus dem Portemonnaie und schob ihn über den Tresen. „Das Zimmer kostet pro
Nacht vierzig Euro, Frühstück mitinbegriffen“, erklärte sie. „Falls du… heute
Abend etwas essen möchtest, komm einfach in den Essenssaal, das Menü kostet
zusätzlich acht Euro, die kannst du mir auch direkt bezahlen, wenn du möchtest.
Mein Name ist Monika Ohlkamp, willkommen in der Lütten Seebank, Kaya…
Rothenberg“, begrüßte sie Kaya, aber ihre Augen verweilten kurz auf dem Namen.
„Verwandt mit… Herrn von Rothenberg?“, fragte sie jetzt verblüfft, und Kaya
beschloss, den Kopf zu schütteln und zu lächeln.
„Nein, muss
Zufall sein.“
„Ziemlich
großer Zufall“, bemerkte die Frau, ohne erneut aufzublicken. Sie schob Kaya den
Ausweis wieder zurück und Kaya bezahlte ihr bar achtundvierzig Euro für
Übernachtung, Abendessen und Frühstück. Die Frau nahm das Geld entgegen und
holte einen Schlüssel vom Haken. Der Anhänger war eine rote Boje. „Zimmer 7,
die Treppe rauf, letzte Tür links. Einen schönen Aufenthalt. Und Abendessen
gibt es um sieben, Kaya“, ergänzte sie beinahe mahnend, aber ein Zwinkern trat
in ihre freundlichen Augen. Kaya nahm lächelnd den Schlüssel entgegen und
freute sich auf eine kühle Dusche.
„Ja, Frau
Ohlkamp, vielen Dank“, sagte sie und hievte die Tasche mit letzter Kraft die
Treppe hoch.
~*~
Sie lag
flach ausgestreckt auf dem weichen Bett. Im Badezimmer in der Duschtasse
dümpelte ihre schmutzige Jeans vor sich hin und Kaya trug nur noch ein weites
T-Shirt. Es war von ihrer Mutter. Es war ein Werbegeschenk des Theaters
gewesen, rot und mit den weißen Buchstaben: Deutsches Theater, Berlin – auf der
Rückseite.
Es roch
nach Zuhause. Das Bett war weich und das einzige Fenster im Zimmer überblickte
den funkelnden See hinterm Haus.
Sie hörte
wie unten Teller verteilt wurden, wie es lauter wurde im Gästehaus. Die Sonne
senkte sich langsam über die Bäume und spiegelte sich in der glatten Oberfläche
des Sees wieder. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, und beschloss, eine
Runde um den See zu wandern. Ohne ihre schwere Tasche.
Sie hatte
geduscht und ihre Haare waren noch feucht, aber es war noch immer warm draußen.
Und sie könnte Alina noch einmal anklingeln, denn ihr tat es mittlerweile leid,
dass sie sie so angefahren hatte. Alina konnte nichts dafür, nahm Kaya an.
Letztendlich war es ihre eigene Schuld.
Sie erhob
sich träge. Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte. Sie zog sich eine andere
Jeans über. Diese war zerschlissen und verwaschen, aber sie liebte sie einfach.
Ihre Mutter hatte ihr verboten sie in der Schule anzuziehen, obwohl sie sich in
nichts von den Designer-Jeans mit den Löchern unterschied, die alle anderen
Mädchen der Schule zu tragen pflegte, dachte Kaya.
Sie schob
den Schlüssel in ihre Tasche und steckte ihr Handy ein.
Die Stufen
der Holztreppe knarzten laut unter ihren Füßen, aber sie hatte kein schlechtes
Gefühl in diesem Haus. Die Wände hingen voller Bilder, Postkarten, kleinen
Gegenständen, wie Glocken, getrockneten Kränze und bemalten Kacheln.
Der
Teppich, der unten auf dem dunklen Holzboden lag, war schon ganz ausgetreten
und zeigte ein verschlungenes Muster. Auf leisen Sohlen ihrer Turnschuhe ging
sie am Saal vorbei, wo Frau Ohlkamp und ein paar weitere Frauen den Tisch
deckten.
Die Tür war
noch immer offen und sie sprang die wenigen Stufen nach unten auf den Kies und
umrundete das Haus. Kurz schmerzte ihr Knie, aber sie hatte die Wunde sauber
gemacht und desinfiziert. Jeder hatte doch im Sommer Sommerknie, oder? Das
gehörte wohl oder übel immer dazu.
Hinterm
Haus saßen zwei Herren auf einer Bank, stellte sie fest. Einer rauchte eine
Pfeife. Das kannte sie nur aus Büchern oder aus dem Fernsehen. Die Männer
bemerkten sie.
„Moin, ein
neuer Gast in unserem Haus?“, erkundigte sich der Pfeifenraucher mit breitem
Akzent, und Kaya musste unwillkürlich grinsen. Sie nickte und kam auf die
Herren zu. Es waren wohl Herren, denn
sie wirkten älter als Herr von Ende. Der andere hatte graue unordentliche
Locken und trug alte Gummistiefel. Er rauchte nicht.
Sie
entdeckte einen Hund neben dem Pfeifenraucher, und ging mitleidig auf die Knie,
denn der Hund hatte sein rechtes Vorderbein in einem weißen Verband. Es war
wohl eine Art Sennenhund, denn seine Nase war weiß, umrandet mit hellbraun,
während der Rest des Fells schwarz war, durchzogen mit einigen grauen Strähnen.
Er war wohl schon älter, nahm sie an.
„Der arme“, sagte sie mitfühlend und hob die Hand über seinen Kopf. „Darf ich
ihn streicheln?“, fragte sie und sah zu dem Pfeifenraucher auf, der freundlich
lächelte.
„Sicher,
Mädchen. Balu beißt nicht. Der bricht sich nur das Bein“, bemerkte er
kopfschüttelnd.
„Aua“,
sagte sie mitfühlend. „Hab mir auch schon das Bein gebrochen. Das dauert
lange“, sagte sie, dem Hund zugewandt.
„Ach, der erholt sich“, sagte der andere Mann mit wegwerfender Handbewegung.
„Das ist schon der Heilungsverband. Den Gips ist Balu schon los“, erklärte er
ihr zwinkernd. „Wie heißt du, wenn ich fragen darf?“, erkundigte er sich, ohne
so breiten Akzent wie sein Nachbar.
„Kaya“, erwiderte sie.
„Oh, das klingt kompliziert“, meinte er. „Nicht von hier?“, warf er ein und
musterte sie kurz, aber sie war blond und sehr weiß, also glaubte sie nicht,
dass er irgendeine andere Herkunft erkennen konnte. Sie lächelte, wie immer,
und schüttelte den Kopf.
„Nein,
meine Mutter ist Theaterschauspielerin, also… kann ich froh sein, wenn ich
nicht Isolde heiße“, entgegnete sie achselzuckend, während sie den weichen Kopf
des Hundes kraulte. In ihrer Wohnung waren Hunde verboten, und sehen tat sie
Hunde nur, wenn sie auf der Straße einem begegnete. Sie hätte gerne einen
eigenen Hund. Der Hund atmete gemächlich aus und schloss unter den Berührungen
genießerisch die Augen. „Na? Gefällt dir das?“, fragte sie grinsend, und der
Pfeifenraucher lachte rau auf.
„Wem würd
das nicht gefallen, von einer hübschen jungen Dame Aufmerksamkeit zu
bekommen?“, rief er aus und hustete erneut.
„Rauchen
kann tödlich sein, Herr Ohlkamp“, bemerkte der lockige Mann knapp.
„Ihnen
gehört das Gästehaus!“, rief Kaya aus. Der Pfeifenraucher nickte und wie zur
Antwort auf die Worte des grauhaarigen Mannes paffte er erneut an seiner
Pfeife.
„Wissen Sie,
Doktor, in meinem Alter ist Pfeife rauchen genauso schädlich, wie im Dunkeln
Auto zu fahren“, sagte er leichthin und lächelte versonnen. Kaya war
überrascht, denn der Arzt hier sah nicht so aus wie Dr. Kaminsky, dachte sie.
Aber dann begriff sie, als sie wieder den Hund betrachtete.
„Sie sind Tierarzt“, stellte sie nickend fest.
„Entschuldige
meine Manieren“, erklärte er ruppig und lächelte. „Mein Name ist Dr. Schmidt“,
stellte er sich nickend vor.
„Der beste
Tierarzt in Hamburg“, bemerkte der Pfeifenraucher bestätigend.
„Das soll dahingestellt bleiben“, erwiderte Dr. Schmidt mit erhobener Braue.
„Kaya, wenn du willst, kannst du Balu um den See führen. Die Bewegung tut der
alten Schlafmütze ganz gut. Sein Verband kommt morgen ab.“ Kaya war vollkommen
überrascht. „Du bist doch hier Gast, oder?“, erkundigte sich Dr. Schmidt
anschließend, und sie nickte perplex.
„Bleiben Sie zum Essen, Doktor?“, fragte Herr Ohlkamp, ohne überhaupt in Frage
zu stellen, dass Kaya den Hund mitnehmen sollte.
„Wenn Sie
mich so drum bitten“, sagte der Arzt mit einem knappen Lächeln auf angenehm
schnippische Weise, und Herr Ohlkamp erhob sich ächzend von der Bank.
„Sicher,
sicher“, bestätigte er. „Na gut, nimm den Hund mit. Aber komm pünktlich zum
Abendessen wieder. Meine Frau kann nicht leiden, wenn man zu spät kommt“,
ergänzte er, zwinkerte ihr aber zu, als würde er selber täglich zu spät kommen.
Sie musste lächeln und erhob sich. Sie nahm die Leine von der Ecke der Bank.
Noch nie hatte sie einen Hund ausgeführt.
„Komm, Balu“,
sagte sie und zog kurz an der Leine. Der Hund sah missmutig zu ihr auf. „Du
brauchst mich gar nicht so anzugucken. Weißt du, ich kann sportliche Betätigung
auch nicht leiden, aber ich habe auch keine Wahl. Außerdem“, fuhr sie fort und
bemerkte den belustigen Blick von Dr. Schmidt gar nicht, „brauchst du dich
nicht anstellen, wo du so schön wohnen darfst!“, schloss sie strenger und
deutete auf den See. Mit einem müden Jaulen kam der Hund schließlich
widerwillig auf die Beine.
„Na, das
nenn ich gut zu reden“, sagte Herr Ohlkamp. „Hör auf die junge Dame, Balu.“
Kaya wandte
sich lächelnd um und begann mit dem Hund durch die kurze Wiese zu laufen. Er
humpelte kaum noch, und sie stellte sich vor, es wäre ihr Hund. Als würde sie
hier wohnen und der See gehörte ihrer Familie. Sie seufzte auf und atmete den
Duft von Jasmin und blühenden Kirschen ein. Ihr Handy vibrierte und sie zog es
aus der Tasche.
„Hey,
Alina. Es tut mir leid, ich war… blöd vorhin“, sagte sie zerknirscht. Kurz
herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.
„Hm“,
vernahm sie Alinas beleidigte Stimme. Kaya musste lächeln.
„Hab ich
dir überhaupt schon dafür gedankt, dass du alles geplant hast? Und dass du dir
die ganze Mühe von einem Schiff aus gemacht hast? Dass du alles bezahlt hast,
was ich dir natürlich wiedergeben werde, egal, wie viele Prospekte ich
austragen muss?“, ergänzte sie jetzt und hörte Alina seufzen.
„Ja, ja.
Schon gut“, gab sie nach.
„Weißt du,
wo ich gerade bin?“, sagte Kaya und blieb stehen. Die Luft hier war anders als in
Berlin. Die Vögel sangen und alles roch… frisch. Sauber. Nach Sommer und…
Glück.
„Im Dorf in
der Herberge?“, riet sie, ein wenig besorgt, falls Kaya sich wohl doch
entschieden hatte, durch das Moor zu laufen.
„Jaah“,
bestätigte Kaya lächelnd. „Und ich gehe gerade mit dem Haushund um den See. Er
hat ein gebrochenes Bein, weißt du?“, erklärte sie und hörte Alina ausatmen.
„Ich
verstehe echt nicht, wie du es immer schaffst solche Kontakte zu knüpfen, Kaya!
Es muss an deiner Mutter liegen“, fügte Alina hinzu. Kaya runzelte die Stirn.
Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, immer nur, wenn Alina sie darauf
ansprach. Weshalb sie mit Frank, dem Kioskmann, befreundet war und er ihr einen
Job gegeben hatte? Sie wusste es gar nicht mehr. Sie glaubte, sie hatte ihm an
einem heißen Tag ein Eis gekauft, als sie wieder einmal einen Comic bei ihm
gekauft hatte.
Aber sonst?
Das mit dem Hund war Zufall gewesen. Ihre Mutter war immer gastfreundlich,
offen und lustig. Es sei denn, es ging um Kayas Schule. Dann war sie meistens
besorgt.
Alina sagte
immer, ihre eigene Mutter wäre spießig und mochte keine Gäste in ihrem Haus.
Das kannte
Kaya nicht. Am Wochenende waren ständig Gäste bei ihnen, es sei denn, es war
ein Premierenwochenende.
Und Bastian? Er interessierte sich nur für Alina, nicht für sie. Sie war nur…
sein Mittel zum Zweck, quasi….
„Bist du
enttäuscht?“, fragte Alina plötzlich, und Kaya dachte darüber nach. Sie
schüttelte schließlich den Kopf.
„Nein.
Schade um das Geld, aber ich zahl es dir zurück“, versprach sie.
„Keine Sorge. Das eilt nicht“, wiegelte Alina ab. „Tut mir leid, Kaya“, sagte
sie dann.
„Muss es
nicht“, erwiderte Kaya schnell, denn es war ihr sehr unangenehm, dass Alina so
sprach. „Es war nur ein Versuch“, sagte sie gleichmütig. „Und Balu und ich müssen
die Runde zu Ende drehen. Gleich gibt es Abendbrot“, ergänzte sie lächelnd,
während sie das weiche Leder der Leine in ihrer Hand fester umschloss. „Wie ist
das Meer?“, fragte sie abschließend gespannt.
„Ach, wie
soll es sein?“, entgegnete Alina etwas mürrisch. „Nass und weit. Na ja, es ist
ganz schön“, gab sie nach. „Aber ich… kann es kaum erwarten, zurückzukommen!“,
ergänzte sie versonnen. Kaya wusste ziemlich genau, warum, nahm sie an. Wie das
wohl wäre? Aus dem perfekten Urlaub nach Hause zu kommen, wo dann der perfekte
Junge auf einen wartete? Mental verpasste sie sich eine Ohrfeige, denn Bastian
war bestimmt nicht der perfekte Junge. Sie atmete ruhiger aus.
„Ja, ich
verstehe“, sagte sie also grinsend. „Rufst du morgen wieder an?“, wollte sie wissen.
„Natürlich
rufe ich morgen wieder an!“, versprach Alina. „Morgen Abend bist du schon
wieder Zuhause“, fuhr sie seufzend fort. „Was für eine Zeitverschwendung“,
ergänzte sie grimmig. Kaya musste immer noch lächeln.
„Genieß das
Meer, wir hören uns morgen!“ Sie verabschiedeten sich und Kaya legte auf. Die
Sonne sank noch tiefer, so dass der Himmel in tiefes Rot getaucht wurde.
„Ob meine
Mama das jetzt auch sehen kann?“, fragte sie den Hund, der neben ihr humpelte
und an dieser und jener Blume roch. Als sie auf der Hälfte des Sees war hielt
sie an und ging auf die Knie, um den Hund wieder zu streicheln. Dankbar ließ er
sich auf die Hinterbeine nieder und hechelte ihr entgegen. Sie kraulte erneut
seinen Kopf, bis er genüsslich die Augen schloss.
~*~
Sie hatte
nicht wirklich Hunger gehabt. Sie war wohl aufgeregt, nahm sie an. Kurz befiel
sie eine Art Schüttelfrost. Sie saß zwar in der Nähe des Kamins, der auch
brannte, aber sie glaubte, die Müdigkeit kroch langsam in Form von Kälte ihre
Arme hinauf.
Sie saß an
einem der rustikalen Tische und hörte mittlerweile beinahe schlaftrunken Dr.
Schmidt zu, wie er über die Kühe vom Bauern Koller berichtete. Ihre Augen
fielen immer wieder zu. Langsam verstand sie, dass sich hier wohl am Abend alle
Leute vom Dorf sammelten. Zwar gab es jetzt nichts mehr zu essen, aber die
Kerzen und der Kamin brannte noch freundlich, und Herr und Frau Ohlkamp saßen
mit den Gästen und Einheimischen an den Tischen und tranken und plauderten über
alles Mögliche. Kaya störte es nicht, nein. Es… vermittelte ihr ein bisschen
das Gefühl von Heimat.
Es war ein
bisschen wie Zuhause, wenn ihre Mutter am Wochenende Besuch von ihren
Theaterfreunden hatte, die bis spät in die Nacht blieben, während Kaya in ihrem
Schlafzimmer den Gesprächen lauschten, ehe sie in den Schlaf fand.
Zwar kannte
sie hier keinen der Leute, aber Zuhause kannte sie auch die meisten nicht.
Sie dachte
an ihre Mutter. Wehmütig mit einem schlechten Gewissen. Aber am meisten dachte
sie daran, wie sehr sie sie vermisste.
„Hey,
Mädchen!“, wurde sie aus den schläfrigen Gedanken gerissen. „Können wir dich
für ein Bier begeistern?“, fragte Herr Ohlkamp, aber seine Frau schürzte die
Lippen.
„Nein, ich
glaube, Kaya möchte gleich ins Bett, oder?“ Es lag ein mütterlicher, wenn auch
strenger Ton in Frau Ohlkamps Stimme. Kaya gähnte herzhaft.
„Jaah“,
sagte sie nur. Sie hatte schon öfters Bier getrunken, aber sie glaubte nicht,
dass heute noch nach oben finden würde, wenn sie jetzt noch trank. Dabei war es
erst halb elf, fiel ihr mit Schrecken auf. Balu lag vor dem Feuer und schlief
seit Stunden schon.
„Na, ich
glaube auch, dass sie-“, begann Dr. Schmidt, unterbrach sich jedoch. Kaya
spürte den kalten Luftzug um ihre Knöchel, als die vordere Tür aufgegangen war.
Sie erhob sich schließlich. Es kamen noch mehr Leute, und bevor sie auf dem
Tisch einschlief, würde sie lieber in das bequeme Bett oben verschwinden.
„Frühstück morgen um halb acht!“ rief ihr Frau Ohlkamp noch hinterher. Kaya
nickte gähnend und schlurfte raus aus dem gemütlichen Saal in den
Eingangsbereich. Sie hörte, wie sich zwei Männer um die Ecke unterhielten und
ihre Jacken auf hingen. Sie begann die Treppe nach oben zu steigen.
„Wenn das
weiter so geht, kündige ich noch zum Ende der Woche!“, versprach der eine jetzt
dem anderen. Oben auf dem Treppenabsatz wandte sich Kaya um. „Ich glaube,
Mädchen können allesamt nicht reiten“, fuhr der blonde junge Mann fort, der ihr
bekannt vorkam.
Aber sie
blinzelte müde, als sie Tom Kiergarten erkannte. Instinktiv kauerte sie sich zu
Boden und linste durch die Holzstäbe des Treppengeländers hinab auf den
Eingangsbereich. Frau Ohlkamp kam ebenfalls nach draußen.
„Na,
schönen guten Abend euch beiden! Ich hab mich schon gefragt, wann ich euch zu
Gesicht bekomme“, begrüßte sie die beiden. Tom umarmte sie sogar. Der blonde
Mann sah sich mit einem gleichmütigen Ausdruck um, ehe er in den Saal
verschwand.
„Was kann
ich euch bringen?“, fragte Frau Ohlkamp Tom, dem sie sogar die Hand auf den
Rücken legte. Kaya lehnte sich weiter vor.
„Bier wäre
großartig, Monika, aber ich muss noch fahren. Also nur eins“, sagte Tom mit
müdem Lächeln.
„Kommt
deine Mutter die Woche mal vorbei?“, erkundigte sie sich still. Tom ruckte mit dem
Kopf. „Weißt du, ich kann immer wen brauchen, der spült, die Betten macht, die
Wäsche“, bot sie ihm anscheinend an, und müde runzelte Kaya die Stirn.
„Ich danke
Ihnen. Ich sage es ihr. Vielleicht lässt sich da was einrichten“, erwiderte er.
„Na, komm
erst mal rein“, kürzte Frau Ohlkamp das Gespräch ab und führte Tom ebenfalls
aus dem Eingangsbereich fort. Kaya saß am Treppenabsatz und starrte durch die
Stäbe auf den dämmrigen Eingang. Fast erwartete sie, dass ihr Großvater auch
noch durch die Tür kam, aber das passierte nicht. Nach einem kleinen Moment
erhob sie sich seufzend und schlenderte in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür von
ihnen ab.
Es war
Gewohnheit.
Dann
stürzte sie praktisch ins Bett. Zähneputzen kam ihr
unnötig und so anstrengend vor.
Bevor sie
den Gedanken abgeschlossen hatte, fielen ihre Augen zu.
„Nacht,
Mama“, murmelte sie in ihr Kopfkissen, ehe sie in einen traumlosen Schlaf fiel.
–
Hinter der Maske –
Ihr Handy
weckte sie nicht. Sie hatte auch keinen Wecker gestellt gehabt, fiel ihr mit
Schrecken ein, als sie aus dem weichen Kissen schreckte.
Die Sonne
stand bereits am Himmel. Noch nicht hoch, aber es war hell. Heller als halb
acht, nahm sie schlaftrunken an.
Sie schwang
die Beine aus dem Bett und berührte den kalten Boden mit den Füßen. Sie
streckte sich. Ihre Haare fielen zottelig ihren Rücken hinab. Sie griff sich
blind das Handy vom Nachttisch, um zu sehen, dass es immerhin erst acht Uhr
war. Sie stand mit Mühe auf, rieb sich ihren Rücken und streckte sich. Ihr Knie
schmerzte etwas, so auch ihre Ellenbogen, aber ansonsten war sie unversehrt.
Sie huschte
ins Bad, spritzte sich Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und erledigte
die restliche Morgentoilette. Sie kämmte sich eilig die Haare und stieg in ihre
Jeans vom Vortag.
Aus ihrer
Tasche zerrte sie ein hellblaues Shirt. Auch dies war ein Shirt vom Theater
Berlin. Sie runzelte die Stirn. Sie hatte gar nicht gewusst, so viele davon zu
besitzen. Aber es war sauber, und wahrscheinlich war das im Moment die Priorität.
Ihre klatschnasse Jeans hing sie über den Fenstersims aus dem offenen Fenster,
damit sie schnell trocknen würde. Das Blut war nicht ganz rausgegangen, stellte
sie missmutig fest.
Den
Schlüssel steckte sie in ihre Tasche und flog fast die Treppen hinab, so
schnell lief sie. Die Gäste saßen bereits im Saal. Es waren weniger als noch
letzte Nacht, stellte sie fest. Frau Ohlkamp lief bereits durch den Saal.
„Moin“,
begrüßte sie Kaya freundlich und Kaya erwiderte den Gruß mit einem Lächeln.
„Die Brötchen sind nun schon kalt“, informierte sie Kaya und führte sie zu
einem leeren Doppeltisch am Fenster. Aus einer Ecke kam Balu auf sie zu
gehumpelt. „Sieht so aus, als hättest du einen Freund gefunden?“, zwinkerte ihr
Frau Ohlkamp zu. Kaya kraulte den Hund am Kopf, und er ließ sich neben ihrem
Stuhl zu Boden sinken, als sich Kaya gesetzt hatte. „Was kann ich dir bringen?“
„Kaffee?“,
fragte Kaya müde, und Frau Ohlkamp nickte.
„In Ordnung,
kommt sofort. Ich bring dir dazu Brötchen und etwas Aufschnitt, Konfitüre?“,
sagte sie munter und eilte wieder davon, als Kaya zufrieden genickt hatte. Sie
hätte es schlimmer treffen können. Zwar konnte sie sich diesen Luxus nicht noch
einmal leisten, aber für dieses eine Mal war es wirklich schön gewesen.
Kaya sah
nach draußen. Die Sonne beschien den schönen beschaulichen See. Sie würde
gleich noch eine Runde um den See drehen. Vielleicht durfte sie ihren
Pflegehund ja mitnehmen, überlegte sie, während ihre Hand wie von selbst wieder
den Weg nach unten auf Balus Kopf fand. Sie gähnte herzhaft und recht
ungeniert.
„Du musst
aufpassen“, bemerkte eine Stimme vor ihr spöttisch und sie schreckte praktisch
zusammen. „Sonst fliegen dir noch die Käfer in den Mund“, schloss Tom
Kiergarten und sie sah zu ihm auf. Was tat er denn schon wieder hier?!
Frau
Ohlkamp kam mit einem Tablett zurück.
„Hast du
was dagegen?“, fragte er freundlich und deutete auf ihren Stuhl.
„Ihr kennt
euch?“, erkundigte sich Frau Ohlkamp etwas argwöhnisch und verblüfft, und bevor
Kaya den Kopf schütteln konnte, hatte Tom genickt.
„Ja, wir
haben uns gestern kurz auf dem Gestüt gesehen“, antwortete er ohne Zögern und
setzte sich ihr gegenüber. Wie selbstverständlich er das tat! Er war doch älter
als sie, aber das schien ihm nichts auszumachen.
„Du
reitest?“, wollte Frau Ohlkamp jetzt interessiert von ihr wissen. Etwas schwang
in ihrem Blick mit, was Kaya nicht recht einzuordnen wusste.
„Ich…
nein“, sagte Kaya kopfschüttelnd. Kurz blieb Frau Ohlkamps Blick an ihr hängen,
dann wandte sie sich an Tom.
„Tee, wie
immer?“, fragte sie knapp und Tom nickte. Dann verschwand sie wieder.
„Was… was
tust du hier?“, wollte Kaya müde von ihm wissen. Vielleicht kam er im Auftrag.
Vielleicht kam er, um sie zu stellen oder etwas ähnliches?
„Frühstücken“,
erklärte er ohne Umstände, und sie musste kurz verdauen, dass er an ihrem Tisch
saß. Sie sagte gar nichts darauf. Sollte er doch. Er musterte sie allerdings
fast unverhohlen, und es war ihr unangenehm, vor allem, weil sie keinen
weiteren Blick mehr in den Spiegel geworfen hatte. „Du bist seltsam, weiß du
das?“, ergänzte er etwas unzufrieden, dafür aber sehr offen, und sie sah ihn
schockiert wieder an.
„Was?“,
entfuhr es ihr überrascht, und er deutete auf den Hund.
„Balu kennt
dich anscheinend“, bemerkte er mit gerunzelter Stirn. „Und Tina hat keine
Schwester, aber… ich nehme an, das weißt du?“, fuhr er fort, dann stellte Frau
Ohlkamp seinen Tee und einen Teller mit belegten Brötchen vor ihn auf den
Tisch. Erst jetzt sah Kaya, dass ihr Frühstück auch bereits vor ihr stand.
„Guten
Appetit, ihr zwei“, sagte Frau Ohlkamp und lächelnd hatte sie sich abgewandt.
Kaya antwortete nicht.
„Also?“, fragte
er, und sein Blick lag immer noch auf ihrem Gesicht, eine Spur zu
selbstgerecht, als dass sie sein Erscheinen als zufällig bewerten konnte.
„Also?“,
wiederholte sie langsam, und er trank von seinem Tee. Seine dunklen Haare
fingen das Sonnenlicht auf.
„Wer bist
du?“ Kaya griff nach ihrer Kaffeetasse und wandte den Blick aus dem Fenster. Er
beschämte sie. Sie fühlte sich unwohl, von ihm so durchleuchtet zu werden. Wenn
er all das gewusst hatte, wieso hatte er sie dann überhaupt zu dieser Halle
führt? Sie trank fast ärgerlich ihren Kaffee, denn sie glaubte, rot geworden zu
sein. „Du sprichst nicht viel, oder?“, fuhr er nachdenklich fort. Seine Zähne
waren nicht völlig ebenmäßig, aber wenn er lächelte hatte er Grübchen um die
Mundwinkel. Sie hatte ihn wieder angesehen, obwohl sie es nicht gewollt hatte.
Er trug
Reiterstiefel. Sie erkannte sie neben dem schmalen Tisch stehen. Arbeitete er
auf dem Gestüt? Als… als was? Als Knecht oder so? Er sah zu fein aus dafür,
entschied sie. Er trug einen dunklen Blazer. Ein goldenes Wappen war auf seiner
linken Brust eingestickt.
„Hast du
hier geschlafen?“, fragte er unverwandt, trotz ihres Schweigens. Sie nickte.
Darin war sie sich sicher genug. Er schien sich keinen Reim auf sie machen zu
können. „Es tut mir leid, wenn ich dich… ausfrage“, entschied er sich wohl
schließlich zu sagen, und sein Ausdruck wurde freundlicher, auch wenn sie ihm
seine Entschuldigung nicht abkaufte. „Aber… ich habe nicht verstanden, wieso du
dich als die Schwester von jemandem ausgibst“, fuhr er fort. „Nur um einmal das
Gestüt zu sehen?“, endete er ungläubig, und ihr Mund öffnete sich.
„Nein“, sagte sie tatsächlich fest und war fast überrascht über seine Meinung.
Er lächelte, als würde er ihr nicht glauben.
„Haben
schon einige gemacht, aber keine ist bisher bis in die Halle gekommen“, fuhr er
fort, als hätte sie nichts gesagt. Sie sah ihn ungläubig an. Als ob sie sich
einschleichen wollte!
„Wieso…
wieso sollte ich so was tun?“, entfuhr es ihr entrüstet. Denn das ließ sie
nicht auf sich sitzen! Als ob sie es nötig hätte, dieses dämliche Gestüt zu
sehen!
„Na ja“,
begann er betont gleichmütig, „welchen Grund sollte jemand wie du sonst
haben?“, fragte er unverblümt. Jemand wie sie? Was sollte das bitte heißen? War
er besser als sie, wollte er das damit sagen?!
„Ich weiß
ja nicht, was du dort treibst, aber ich habe es bestimmt nicht nötig, mich
irgendwo einzuschleichen!“, fuhr sie ihn an, und er schien kurz überrascht zu
sein, dass sie doch sprechen konnte.
„Na dann“,
sagte er abschließend, leerte in einem Zug seinen Tee und erhob sich. Kaya biss
sich auf die Lippe und bereute ihren Ausbruch sofort. „Ich muss los, die Arbeit
ruft“, erklärte er und biss lediglich einmal in sein
Brötchen. „Vielleicht sieht man sich“, sagte er zum Abschied noch, aber sie
gönnte ihm keine weitere Antwort. Wer weiß, wer er war und was er mit ihren
Informationen anfangen wollte. Kurz zuckten seine Mundwinkel.
Er nickte
ihr zu, ehe er elegant den Saal verließ und sich draußen von Frau Ohlkamp
verabschiedete.
Sie wusste,
ihr Aufenthalt endete hier in zwei Stunden. Auf ihrem Zimmer lag ein Zettel
aus, der verkündete, dass die Zimmer um zehn Uhr zu räumen waren. Aber so viel
los war hier nicht, stellte sie mit einem knappen Blick fest. Vielleicht sieben
Leute aßen hier heute Morgen.
Vielleicht
wäre ihre Hose bis dahin getrocknet.
Ansonsten
würde sie sie nass einpacken.
Sie aß zu
Ende, kraulte den Hund noch eine Weile und erhob sich dann.
Niemand
hatte sie mehr angesprochen, und sie sah aus dem Fenster, wie Herr Ohlkamp am
See den Rasen mähte. Langsam ging sie aus dem Saal. Draußen am Eingang
herrschte eine rege Unterhaltung.
Oh, Mist!
Das war die
Frau von gestern, stellte sie mit Schrecken fest. Fiets oder wie sie hieß!
Unauffällig versuchte Kaya zur Treppe zu verschwinden.
„-du
würdest mir wirklich aus der Klemme helfen. Und das neue Mädchen kann nicht mal
was dafür. Ich meine, es kann ja passieren und Scherben bringen Glück, aber auf
die Schnelle finde ich nicht genügend Teller bis zum Mittagessen. Bis ich in
der Stadt bin und – oh. Hier bist du also abgeblieben“, stellte Frau Fiets
überrascht, wenn auch freundlich fest, als sie Kaya aus den Augenwinkeln gewahr
wurde. Frau Ohlkamp schenkte ihr auch einen Blick.
„Kaya war unser Gast für eine Nacht“, erklärte
Frau Ohlkamp, und Kaya wusste, das passte nun ganz und gar nicht mit der
Geschichte zusammen, die sie Frau Fiets gestern erzählt hatte. Vielleicht
wusste die Frau ja nichts mehr davon. Frau Ohlkamp hatte jedoch gespannt die
Arme vor der Brust verschränkt, während Kaya ein Lächeln auf ihre Lippen zwang.
Frau Fiets
runzelte dementsprechend die Stirn. „Hm, ach so?“, sagte sie also langsam.
„Deine Ellenbogen sehen schon besser aus“, bemerkte Frau Fiets mit einem Blick
auf ihre Arme. „Ich dachte, du wolltest gestern weiter?“, fuhr sie fort.
„Ich bin…
fast weg“, sagte Kaya, erleichtert, dass sie eine Frage neutral beantworten
konnte. Und Schweigen fiel über die Frauen. Ehe es aber die Grenze des
Unangenehmen berühren konnte, nickte Frau Fiets. Sie wandte sich wieder an Frau
Ohlkamp.
„Ich hole
Erna aus dem Wagen und wir borgen uns deine Teller. Du bist eine
Lebensretterin, Monika!“, rief sie erleichtert aus und hatte sich abgewandt.
Kaya wusste nicht, weshalb ihr Herz so schnell schlug. Aber sie hatte das
Gefühl, gerade eben hundert Meter gerannt zu sein. Frau Ohlkamp betrachtete sie
weiterhin.
„Ich… werde
meine Sachen aus dem Zimmer holen“, fühlte sich Kaya gehalten zu versprechen.
„Weißt du,
du kannst gerne noch bleiben“, bot ihr Frau Ohlkamp freundlich an.
„Nein, ich…
muss wirklich los“, wandte Kaya ein. Sie wollte nach Hause. So schön es hier
auch war, alleine war sie eben einfach nur alleine in einer fremden Stadt. Aber
anscheinend war ihre Minderjährigkeit bei Frau Ohlkamp kein Problem mehr.
Kaya
schüttelte freundlich den Kopf und eilte nach oben.
Ihre Sachen
waren schnell gepackt, und sie freute sich schon, dass Alina anrufen würde, um
ihr die nächsten Reisemöglichkeiten mitzuteilen. Sie warf einen Blick zurück
ins Zimmer, aber sie hatte nichts vergessen. Die Tasche hing ihr wieder schwer
über der Schulter und seufzend ging sie die gewundene Holztreppe zurück nach
unten.
Sie legte
den Schlüssel auf den Tresen, wo Frau Ohlkamp immer noch lächelnd wartete.
„Ich hoffe,
du hattest einen schönen Aufenthalt und hast eine gute Heimreise, Kaya“, sagt
sie aufrichtig.
„Das Wetter
ist gut, und es ist ja nicht weit“, gab sie zurück. „Danke für die
Gastfreundschaft“, ergänzte sie eilig und stellte sich vor, wie sie ihrer
Mutter hiervon berichten würde, aber… dann fiel ihr ein, dass sie das ja gerade
nicht vorhatte. Etwas Schweres lag wieder in ihrem Magen. Gemischt mit
Enttäuschung. Aber Glück hatte sie eben nie.
Sie verließ
das gemütliche Gästehaus und trat in die Wärme des neuen Tages hinaus. Die
Wärme war angenehm, aber sie wusste, in ein paar Stunden wäre es unerträglich.
Frau Fiets
und die junge Frau von gestern luden gerade Kartons in den Kofferraum.
„Brauchen
Sie Hilfe?“, bot Kaya eilig an, stellte die Tasche auf den Boden und näherte
sich dem Auto.
„Ach, schon
gut. Wir schaffen das schon, Kleine“, erwiderte die Frau gutmütig, während sie
den letzten Karton hochhob. Die junge Frau setzte sich wieder hinter das
Lenkrad. „Aber danke dir. Wie war dein Name? Kaya?“, wiederholte sie amüsiert,
so wie die meisten Menschen es taten. Und wieder gefror etwas in dem gutmütigen
Gesicht vor ihr. Ihre Augen nahmen plötzlich einen eigenartigen Ausdruck an.
Kaya öffnete verwirrt den Mund, aber Frau Fiets Augen wanderten über ihre Gestalt,
bis sie die Luft hörbar einatmete.
„Ach du
liebe Güte! Da hol mich doch der…!“
Der Karton
war ihren Händen entglitten, und auch Kaya konnte ihn nicht auffangen, als er
mit einem lauten Scheppern zu Boden ging. Kaya nahm an, die Teller im Innern
waren nicht mal mehr zu kleben. Beinahe ertappt hob sie den Blick zum Gesicht
der Frau, die sie entgeistert betrachtete. Die Hände der Frau zitterten
unwillkürlich.
„Dein… dein
Name ist Rothenberg, nicht wahr? Olivers Tochter…“, entfuhr es Frau Fiets
heiser, als wäre es eine grauenhafte Neuigkeit. Die junge Dame war hastig
wieder ausgestiegen.
„Frau
Fiets! Ist alles in Ordnung? Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte sie besorgt
und hatte Frau Fiets an den Schultern ergriffen. Aber Frau Fiets behielt Kaya
mit großen Augen immer noch in ihrem Blick.
~*~
Sie wusste
nicht, wie alles so gekommen war, aber jetzt saß sie auf der Rückbank des
Mercedes. Die Sitze waren aus dunklem Leder, die Scheiben waren getönt, und sie
blickte hinaus. Sie fuhren die Auffahrt hoch, die sie bereits gestern
hochgelaufen war. Die Stallungen schwammen an ihr vorüber. Mehrere Koppeln, auf
einer von ihnen ritten Mädchen langsam im Kreis, während Tom Kiergarten sie zu
unterrichten schien. Er war also Reitlehrer, überlegte sie während sie unbewusst
weiter in den Sitz zurücksank. Ein langer Weg führte nach oben zum Anwesen.
Abwesend
rieb sie ihren schmerzenden Ellenbogen, der über Nacht nun blau angelaufen war.
Ihre Augen folgten einem Taubenpärchen, das sich in den hohen Linden
niederließ. Das Auto fuhr um eine leichte Kurve, und ihr Mund öffnete sich
unwillkürlich, als sich das Anwesen in seiner gesamten Läge und Größe
offenbarte. Sie fuhren in einer aus Kies angelegten Runde und hielten vor dem
Eingang.
„Das ist
das Haus deines Großvaters“, erklärte Frau Fiets und unterbrach Kayas Gedanken.
Kaya blickte an den Stockwerken empor. Es hatte so viele Fenster, dass sie sie
mit einem Blick gar nicht erfassen konnte. Wie viele Zimmer es wohl waren? Aber
sie war verstummt. „Komm“, ergänzte Frau Fiets. Die junge Frau sagte nichts und
ließ den Motor laufen, als sie ausstiegen.
Kaya
klammerte sich an ihre Tasche, als würde sie ertrinken. Sie sah sich um, aber
niemand sonst war draußen vor dem Anwesen. Eine halbrunde Treppe führte hinaus
zur Tür. So altmodisch und herrschaftlich war das Haus nun doch nicht, denn
Kaya erkannte unzählige Sicherheitskameras, sowie eingelassene Plastikquadrate
mit Ziffern, wohl um einen Türcode einzugeben.
Frau Fiets
ging geschäftig vor ihr die Stufen nach oben, während die junge Frau
weiterfuhr. Kaya fragte nicht, wohin sie fuhr. Sie konzentrierte sich darauf,
nicht direkt in die Sicherheitskameras zu blicken.
„Hast du
Hunger?“, fragte Frau Fiets mit einem Blick auf sie, aber Kaya schüttelte den
Kopf. Sie blickte zur Seite, als Frau Fiets den Code für die Tür eingab, die
keine Sekunde später aufschwang, als eine Kontrolllampe grün blinkte. Kaya sah
es aus den Augenwinkeln. Sie folgte Frau Fiets ins Innere des Hauses. Hier war
es kühl.
Es war
unglaublich groß. Allein die Halle hier war zehnmal so groß wie das Gästehaus
von Frau Ohlkamp. Es war auch viel größer als Bastians Haus. Sie sah sich immer
wieder um. Riesige Bilder hingen an den Wänden, und sie waren alle selbst
gemalt. Wie nannte man es? Originale. Nicht, dass Kaya wüsste, wer die
Landschaft mit den Hirschen gemalt hätte, oder die unzähligen Portraits von
Pferden, Wiesen und Heideland.
Es war
beeindruckend. Es gestaltete eine ruhige Stimmung. Die Wände waren teilweise
mit Holz vertäfelt. Zur anderen Hälfte sah es aus, als wäre es keine Tapete,
sondern… Stoff? Seide? Es schimmerte im Licht, das durch die langen
Sprossenfenster fiel. Frau Fiets führte sie durch die lange Halle, vorbei an
Treppen, an Räumen, zu denen die weißen Flügeltüren teilweise offen, teilweise
verschlossen waren. In einem anderen Flur wirkte alles
etwas persönlicher.
Glasvitrinen
mit Pokalen säumten sich an den Wänden, mit alten Reiterstiefeln, wie es
schien, und dann gelangten sie zu einer weiteren verschlossenen Tür, wo Frau
Fiets abermals einen Code auf ein Ziffernfeld eingab.
Auch diese
Tür öffnete sich, aber nur zu einem weiteren Flur. Kaya wusste langsam nicht
mehr, wie weit sie gegangen waren, in welche Himmelrichtung, und ob sie ihren
Weg noch zurückfinden würde, aber Frau Fiets ging stetig weiter geradeaus. Kaya
bemerkte die Bilder an den Wänden. Es waren nun persönliche Fotos in schweren
Rahmen.
Eine Frau,
die sie nicht kannte. Familienbilder von einer Familie, die ihr unbekannt war.
Sie kannte
keinen der Menschen auf den teilweise schwarz weißen Bildern. Niemand sah ihr
ähnlich, oder dem Mann, der ihr Großvater war oder ihrem Vater.
Sie folgte
Frau Fiets schweigend, bis sie zu einer schmaleren, wenig verzierten Tür kamen.
„Hier ist
die Küche. Ich koche uns erst mal einen Tee. Oder magst du lieber Kaffee?“,
fragte sie plötzlich. Kaya ruckte mit dem Kopf. Sie war noch zu überwältigt.
Sie würde alles trinken, nahm sie an.
Frau Fiets
öffnete die schmucklose Tür und sie betraten einen riesigen Raum. Mehrere Herde
reihten sich unter einer blaugekachelten Wand entlang. Bestimmt zehn Stück,
wenn Kaya richtig zählte. Eine Insel stand in der Mitte, an der bereits mehrere
Frauen Gemüse schnitten, Kartoffeln schälten und Fleisch panierten.
„Für wen
ist das alles?“, entfuhr es ihr ehrfürchtig, und ihr Magen knurrte nun doch
unwillkürlich.
„Für die
Schülerinnen“, erklärte Frau Fiets nachsichtig. Ach ja, richtig. Das war ja ein
Gestüt. Die Schülerinnen blieben ja hier. Genug Platz schien hier ja zu sein.
„Sie
schlafen alle hier?“, vergewisserte sich Kaya dennoch.
„Ja, die
Schülerinnen schlafen im ersten Stock. Der zweite Stock ist privat. Den dürfen
sie nicht betreten“, erklärte sie bereitwillig, während sie zu einem langen
Tresen schritt, wo bereits Tee auf einem Stövchen stand. „Vanille?“, erkundigte
sich Frau Fiets jetzt, und Kaya nickte nur.
Sie brachte
die gefüllte Tasse zu einem Tisch in einer Nische, wo zwei Stühle standen. Sie
verließen den direkten Kochbereich durch einen oval abgerundeten Durchbruch in
der Wand.
Es war urig
hier. Die moderne Technik der Küche verlieh dem riesigen Saal einen
interessanten Touch.
Kaya setzte
sich. Frau Fiets selber trank keinen Tee. Kaya bemerkte jetzt erst die Blicke,
die manche Frauen ihr zuwarfen. Nicht wenige waren ungefähr in ihrem Alter,
nahm sie an.
Kaya nippte
an der dampfenden Tasse. Sie war weiß mit einem blau geringelten Muster. Alinas
Eltern besaßen auch Geschirr, was so aussah, erinnerte sie sich. Sie dachte an
Alina. Ihr musste sie erzählen, dass sie nun doch hier gelandet war!
„Wie… wie
alt bist du, Kaya?“, fragte Frau Fiets sie schließlich, aber sie klang bereits
so, als wüsste sie es. Sie hatte Frau Fiets schon erzählen müssen, dass ihre
Mutter nicht wusste, dass sie hier war, und dass sie selber gar nicht großartig
darüber nachgedacht hatte, wie sie es ihrem Großvater eigentlich erklären
wollte. Am besten gar nicht, dachte sie mittlerweile verzweifelt.
„Siebzehn“,
erwiderte Kaya fast automatisch. „Ich bin siebzehn Jahre alt.“
„Siebzehn
Jahre…“, wiederholte Frau Fiets kopfschüttelnd. „Du warst… winzig, als ich dich
auf dem Arm hatte.“
„Sie…-
wirklich? Sie hatten mich… auf dem Arm?“, flüsterte Kaya überrascht, und Frau
Fiets nickte mit einem schmalen Lächeln.
„Ich hatte dich
auf dem Arm, da warst du keine Woche alt“, erwiderte sie tonlos, während ihre
Augen plötzlich glänzten. „Wie groß du geworden bist“, bemerkte sie schließlich
mit einem prüfenden Blick. Kaya senkte unschlüssig den Blick.
„Und was
machen wir jetzt mit dir?“ Sie schien eher sich selbst zu fragen, als Kaya.
„Ich… weiß
es nicht. Ich kann mir nicht leisten, hierzubleiben, ich-“
„-papperlapapp!
Natürlich bleibst du hier! Du bist Familie!“, erklärte sie, als würde das alles
regeln. „Wir haben genügend Gästezimmer hier im Haus. Nicht, dass der gnädige
Herr jemals private Gäste empfängt, aber… wir haben genug Platz, Kaya“, schloss
sie freundlich. „Und ich denke, heute Abend kann er dich kennenlernen.“ Und
Kaya glaubte, so etwas wie Furcht in Frau Fiets‘ Stimme zu hören. Sie schluckte
schwer.
„Glauben
Sie, das ist eine gute Idee?“
„Willst du
ihn nicht kennenlernen?“
„Ich will
ihn nicht unbedingt abends in seinem Haus überfallen“, räumte sie ein. Gerade, wo
er ihr bereits gestern verboten hatte, jemals wiederzukommen. Ihr Blick
wanderte ratlos nach draußen aus dem Fenster, aber Frau Fiets lächelte wieder.
„Ich bin sicher, es wird keine schlechte Überraschung für ihn werden“,
versprach sie verschwörerisch. „Jetzt bringe ich dir etwas zu essen. Du kannst
hier in der Küche essen. Die Reitschüler will ich dir jetzt noch nicht antun.
Verzogene Gören sind das. Allesamt“, erklärte sie mit wegwerfender
Handbewegung, als sie sich erhob.
Ihr Herz
schlug laut in ihrer Brust.
Sie war da.
Sie war im Haus ihres Großvaters.
–
Ende der Ballonfahrt –
Sie drehte
sich eine lange Strähne um ihren Finger, während sie nervös durch das Zimmer
schritt. Sie wagte nicht, sich irgendwo hinzusetzen. Sie fühlte sich nicht wie
zuhause hier.
„Oh Kaya!
Das ist so aufregend!“, plapperte Alina, und Kayas Ohr war schon ganz warm
geworden, vom Telefonat. „Warst du schon draußen?“
„Nein, ich
halte mich hier versteckt, wie ein Flüchtling!“, beschwerte sich Kaya mit
klopfendem Herzen. „Ich meine, was, wenn er hier einfach reinkommt?“
„Und was?
Dich rauswirft?“, wollte Alina ungläubig wissen, während Kaya hörte, wie die
Wellen rauschten. Es war guter Empfang, wirklich.
„So wie gestern, ja?“, erwiderte Kaya spöttisch.
„Oh, er
wusste doch gar nicht, wer du bist“, räumte Alina ein, klang aber nicht mehr
vollkommen euphorisch. „Sag mal, hat dich Bastian noch mal angerufen?“,
wechselte sie abrupt das Thema, dass Kaya mitten im geräumigen Gästezimmer, mit
Kommode und Waschkrug und Balkon stehen blieb.
„Was?“, entfuhr es ihr ungeduldig. „Echt? Darüber willst du jetzt reden? Mein
Leben ändert sich gleich, ich lerne meinen Großvater kennen, werde
wahrscheinlich vom Sicherheitsdienst rausgeworfen, und du fragst mich, ob dein
Freund mich angerufen hat?“, konnte Kaya sich nicht verkneifen zu fragen, und
Alina stöhnte auf.
„Ich frage
doch nur!“, motzte sie gereizt. „Ich meine, er hat gesagt, er…. hätte mit dir
gesprochen. Einige Male…“, ergänzte sie fast zu locker. Kaya dachte kurz nach.
„Er… hat mich nur ein paar Mal angerufen“, sagte sie also, und versuchte Ruhe
in ihre Stimme zu bringen.
„Ein paar
Mal oft, oder ein paar Mal nicht oft?“, hakte Alina nach, und Kaya schüttelte
verständnislos den Kopf.
„Weißt du, wie
egal mir Bastian Kaminsky gerade ist, Alina?“, zischte sie aufgebracht, und
Alina schwieg. Kaya atmete wieder aus, zwang sich, ruhiger zu werden, aber es
half nicht. „Du bist doch nicht eifersüchtig, oder?“, ergänzte Kaya tonlos,
denn sie wusste, wenn sie jetzt einen Streit mit Alina anfing, blieb ihr
niemand übrig, mit dem sie noch würde reden können.
„Nein!“,
widersprach Alina sofort heftig. „Ich… ich finde es nur komisch, dass… dass er
dich so häufig anruft, das ist alles.“ Und eigentlich hätte Kaya gerne
widersprochen, gerne hätte sie gefragt, was daran so verwerflich, so komisch sein sollte, dass sonst noch
jemand auf dieser Welt mit ihr telefonieren wollte, außer Alina, aber sie
brachte all ihre Vernunft auf, um es nicht zu tun.
„Aha“,
entfuhr es Kaya kühler als beabsichtigt. Sie konnte sich mit diesem Problem
jetzt nicht befassen. Sie wusste es selber. Sie waren siebzehn, und alles in
ihrem Leben sollte sich um Schminke und Jungs und Zungenküsse drehen, aber das
tat es verdammt noch mal nicht! Sie war dabei, sitzen zu bleiben. Sie war
gerade in einer wildfremden Stadt, auf einem Anwesen, bei einem Mann, der für
sie eigentlich mehr sein sollte, als nur ein Name, den sie bei Wikipedia
gelesen hatte! Sie sollte eine Familie haben, aber auch das hatte sie nicht.
Sie hatte
nur ihre Mama, aber die war in England, für Monate, und Kaya war allein.
Und ihre
einzige beste Freundin dachte nur an sich selbst, dachte nur daran, ob mehr an
der Tatsache dran sein könnte, dass Bastian Kaminsky sie viermal angerufen
hatte! Ja, sie hatte mitgezählt! Na und? Na und?! Es war doch vollkommen egal,
denn er wollte Alina und nicht sie!
Sie könnte
sich gleich mitten am Abend erneut auf den Rückweg machen, weil ihr Großvater
sie auch nicht wollte.
„Weißt du,
ich muss jetzt auflegen, Alina“, sagte Kaya, beinahe sanft.
„Gut. Ich
muss auch auflegen“, erwiderte Alina kalt.
Und Kaya
hört die Leitung klicken. Das Gespräch war vorbei, und magischerweise war Alina
sauer auf sie! Auf sie! Was hatte sie zur Hölle noch mal gemacht?! Gar nichts!
Nur weil sie Alina nicht konstant zu ihrer neuen, langweiligen Beziehung
beglückwünschte, war Alina jetzt stinksauer? Ok! Fein! Sollte sie doch sauer
sein. Sie sollte mal sehen, ob es ihr etwas ausmachte. Tat es nämlich nicht!
Sie warf
ihr Handy zornig auf das große Gästebett. Dunkelblaue Bettwäsche schimmerte im
orangenen Licht des Kronleuchters an der Decke. Das Zimmer war antiquiert, und
sie hatte sich noch nie so fehl am Platze gefühlt wie jetzt gerade.
Sie zuckte
zusammen, als das Handy vibrierte, und ihr Herz schlug schnell, weil sie
dachte, dass Alina doch noch eine Entschuldigung loswerden wollte, ehe Kaya
ihre Würde opfern ging.
Sie spähte
auf das gesprungene Display.
Sie hatte
die Nummer noch nicht eingespeichert, aber ihr Herz sank in ihrer Brust.
Bastian
rief sie an.
Ok…
vielleicht telefonierte sie auch jeden Tag mit ihm. Aber was war schlimm daran,
dass sie mehr als eine Kontaktperson hatte?
Und sie
wusste, was schlimm daran war.
Und deshalb
bewegte sie sich nicht. Bis die Mailbox dranging und das Vibrieren abrupt
verstarb. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Es war ein seltsames Gefühl.
Es war das erste Mal, dass Alina so etwas wie Eifersucht ihr gegenüber empfand,
fiel Kaya auf.
Auch das
verschlechterte ihre Laune merklich. Nie, nicht einmal in dem ganzen Jahr,
hatte Alina Kaya um irgendetwas beneidet. Es war immer umgekehrt gewesen. Und
selbst jetzt, wo Alina gemütlich auf der Südsee schipperte mit ihrer Familie,
die immer für sie da war, und Alina selbst aus dieser Distanz den
Klassenschwarm abbekam und sauer auf sie war, war Alinas Leben immer noch das,
was Kaya gerne haben wollte.
Es klopfte
verhalten an die Tür. Kaya schrak zusammen, als Frau Fiets öffnete.
„Kaya?
Möchtest du mit mir kommen?“
Ihre
ehrliche Antwort wäre Nein gewesen. Aber Kaya sagte gar nichts. Ihre Hände
waren klamm. Sie fühlte sich unwohl in der weiten Jeans, dem alten Shirt, den
Turnschuhen, die auch schon bessere Tage gesehen hatten. Ihre Haare hingen ihr
einfach nur über die Schultern hinab. Sie war nicht geschminkt, sie sah nicht
anders aus als sonst.
Sie folgte
der Frau, die so nett zu ihr gewesen war. Sie dachte an ihre Mutter, an ihre
beste Freundin, an ihr Zuhause, wo sie niemand rauswerfen würde.
Sie wünschte
sich plötzlich, niemals hergekommen zu sein, und sie spürte, wie ihre Hände
anfingen zu zittern.
Sie hatte
Angst. Sie hatte einfach Angst.
Die Flure
waren angsteinflößend, schienen immer enger zu werden, aber stoisch ruhig und
leise folgte sie Frau Fiets. Sie hörte Mädchenlachen auf einem anderen Flur.
Wie klang
es? Sorglos, das war das Wort.
Kaya kannte
das Wort schon gar nicht mehr. Sie wusste nicht, wie sie nach Hause kommen
sollte, heute Nacht. Sie wusste nicht, wie sie die Nachprüfung bestehen könnte,
aber das wollte Alina schon bestimmt nicht mehr, damit sie nicht noch mehr mit
Bastian sprechen würde.
Als ob er
nach den Ferien überhaupt noch ein einziges Wort mit ihr sprechen würde! Als ob
Alina das noch tun würde.
Sie folgte
der Frau um die nächste Kurve, durch den nächsten Flur, den nächsten Gang, das
nächste Zimmer mit Kamin. Das Gelächter der Mädchen hier im Haus verebbte, als
sie durch eine Tür in einen kleineren Saal trat.
Abrupt
blieb sie stehen. Das war es jetzt.
Sie
erkannte seine Silhouette vor dem Kamin. Er saß in einem Sessel, las ein Buch,
eine Zeitschrift oder etwas Ähnliches, und sie stand wie angewurzelt hinter
Frau Fiets, versuchte, sich hinter ihrer leicht rundlichen Gestalt zu
verbergen, und sie merkte, wie auch die Frau vor ihr angespannter wirkte.
Aber nur
für eine Sekunde. Dann schien die Frau den Rücken durchzustrecken.
„Gnädiger Herr?“, sagte sie ohne Scheu, und Kaya fand die Worte sehr seltsam. War
ihr Großvater das? Ein gnädiger Herr? Das blieb wohl zu hoffen, oder nicht?
Gestern war er ihr nicht besonders gnädig vorgekommen. Ihr Herzschlag
verdoppelte sich sofort, als er den Blick hob, eine Lesebrille auf der geraden
Nase.
Sie ballte
die Hände zu Fäusten, die Augen weit geöffnet, um keine Reaktion zu verpassen.
Sie dachte
an ihre Zeit bisher hier in Hamburg. Sie versuchte, sich abzulenken.
Ob Balu
schon den Verband abgenommen bekommen hatte? Ob er schon wieder laufen konnte?
Aber die
Sekunden wollten nicht innehalten, nicht stehen bleiben, und erbarmungslos
tickte die Zeit weiter.
„Gibt es
ein Problem, Frau Fiets?“, vernahm sie seine Stimme. Gereizt. Ungnädig.
„Ich
möchte, dass Sie jemanden kennenlernen, Herr von Rothenberg“, sagte Frau Fiets,
wich zur Seite, und nun stand Kaya auf dem Präsentierteller. Frau Fiets schob
ihr die Hand sanft in den Rücken, und Kaya machte einige unsichere Schritte
nach vorn.
Oh, hätte
sie doch ihren Rucksack schon mitgenommen! Hätte sie ihre Tasche schon über der
Schulter, dann müsste sie nicht erst den endlosen Weg zurückfinden, um ihre
Sachen zu holen, nachdem sie vom Gestüt gejagt worden war. Denn sie spürte es
praktisch in ihren Knochen. Es war ein unumstößliches Gefühl, dass das hier
nicht gut ausgehen würde, wie in einem kitschigen Film, in dem sich alle am
Ende in die Arme fielen. Kaya spürte es einfach.
Kurz trat
eine Stille ein, in der er sie nur musterte.
Frau Fiets
schob sie noch ein Stück weiter vor, bis der Feuerschein Kayas Schuhspitzen
erreichte. Das Feuer knisterte fast gemütlich in der angespannten Stimmung.
Seine Haare
lagen nicht mehr vollkommen ordentlich. Er trug keine Reithose mehr, aber
dennoch war alles, was er trug das absolute Gegenteil von ihr.
Er nahm die
Brille langsam ab und sein ungebrochener Blick traf sie schließlich gänzlich.
„Das Mädchen von gestern?“, wandte er sich an Frau Fiets mit schwindender
Geduld.
„Ja“, sagte
Frau Fiets schließlich, als Kaya immer noch nicht sprach. „Ihr Name ist Kaya“,
erklärte sie dann, rauer als zuvor. „Sie wollte Sie gerne kennenlernen“,
schloss Frau Fiets. Kaya rechnete damit, dass Frau Fiets jetzt sagte, wie sie
mit Nachnamen hieß, dass sie erklärte, dass sie seine Enkeltochter war, dass
sie irgendwas sagte, was ihn wissen ließ, warum er sie gleich rauswerfen würde.
Aber Kaya
begriff, Frau Fiets tat ihr diesen Gefallen nicht. Ob sie auch entlassen werden
würde, fragte sie sich plötzlich panisch.
„Frau Fiets
kann nichts dafür!“, entfuhr es Kaya plötzlich hastig. Sie sprach tatsächlich.
Sie hätte gedacht, ihre Stimme hätte sie längst aufgegeben. „Ich bin
hierhergekommen, und sie… sie war nur so nett, mich… mitzunehmen, denn… - ich
kann meine Sachen sofort holen! Ich… mache Ihnen keine Umstände, Herr… Herr
von… Rothenberg“, sprach sie zögerlich ihren eigenen Namen aus.
Er war
langsam aus dem Sessel aufgestanden. Er war näher gekommen, geschäftig, wenig
interessiert, und jetzt sah er sie an. Sie konnte seinen Ausdruck überhaupt
nicht einschätzen, sie wusste nicht, was die blauen Augen ihr sagten.
Dann,
vollkommen ausdruckslos, verließ sein prüfender Blick ihr Gesicht und ruhte auf
Frau Fiets‘ Gesicht.
„Ich glaube
nicht, dass ich verstehe, was Sie von mir möchten, Frau Fiets.“ Seine Stimme
nicht freundlich. „Alle Probleme mit Schülerinnen oder zukünftigen
Schülerinnen, oder Schülerinnen, die gerne einen Platz bekommen hätten, sich
aber nicht qualifiziert haben, sind Frau Kramers Sorge. In diesen Räumen hat
niemand etwas zu suchen“, maßregelte er die Frau neben ihr.
„Gnädiger
Herr, sie ist-“
„-ich
möchte gehen! Bitte! Bitte, Frau Fiets, bitte – ich-“, flüsterte Kaya
eindringlich, verzweifelt, denn sie wusste – nichts Gutes würde heute noch
passieren! „Ich kann nicht“, schloss sie kopfschüttelnd, so leise, dass nur
Frau Fiets sie hören konnte.
Frau Fiets
unterbrach sich, sah sie an, und atmete aus.
„Was soll
dieser Unsinn?“, fuhr der Mann sie barsch an, und Kaya zuckte zusammen. Hastig
senkte sich ihr Blick auf den Perserteppich zu ihren Füßen. Sie schloss die
Augen, denn sie hatte Angst, gleich zu weinen, egal, wie lächerlich das auch
wäre. „Frau Fiets!“, donnerte seine Stimme jetzt ungehalten. „Wer ist dieses
Mädchen?“, knurrte er. „Wieso ist sie-“
„-ich bin
Kaya. Kaya Rothenberg.“
Sie öffnete
die Augen, sah aber immer noch auf den Teppich hinab, als würde sich dort die
Lösung zu all ihren Problemen zeigen, als würde er irgendetwas besser machen.
Das Feuer knisterte immer noch, die Uhr an der Wand tickte laut, und es kam
Kaya wie eine Ewigkeit vor, dass niemand etwas sagte.
Und dann
hob sich ihr Blick. Der Mann sah sie an. Sie versuchte, nicht auf ihrer
Unterlippe zu kauen und seinen Blick zu erwidern. Und die Stille dauerte an,
bis es Kaya zu unangenehm wurde. „Ich… wollte Sie nicht stören. Ich… wusste
nicht, wohin ich sollte.“
„Und du
hast gedacht, Hamburg wäre die geeignete Adresse?“, fragte er plötzlich kühl.
Sie schüttelte nahezu augenblicklich den Kopf. Aber sein Ausdruck blieb ernst.
„Hat dein Vater dich angestiftet?“, fuhr er nach einer Weile fort. „Was soll
das werden? Eine Art familiäre Erpressung?“, erkundigte er sich seelenruhig.
„Ich lasse mich bestimmt nicht von einem Mädchen erpressen, das bei Nacht und
Nebel beschließt, mich in meinem eigenen Haus, heimzusuchen“, erklärte er. Kurz
musste sie seine Worte erst verdauen, begreifen, was er meinte.
„Erpressung?“,
wiederholte sie fassungslos. „Wieso Erpressung?“ Wie sollte sie diesen Mann
erpressen können?!
Seine
Mundwinkel zuckten freudlos. „Eine gute Erbschaft ist eine Sache, für die sogar
der stolzeste Mann seine Prioritäten aufgibt, wie mir scheint.“
Kayas Mund
öffnete sich. „Erbschaft?“, wiederholte sie kopfschüttelnd. Niemand war tot,
oder? Ihr Herz klopfte schnell. „Eltern vererben an ihre Kinder, oder nicht?“,
fragte sie plötzlich. „Das heißt, Sie vererben an Ihren Sohn. Wir haben damit
gar nichts zu tun“, sagte sie mit gerunzelter Stirn. Er blickte verächtlich an
ihr hinab.
„Gnädiger
Herr-“, begann Frau Fiets, aber er hob die Hand.
„Ist mein Sohn mitgekommen? Oder… deine Mutter?“, entfuhr es ihm abschätzend.
„Warten sie draußen? Bist du die Vorhut?“ Kayas Augen weiteten sich. Was dachte
er? Dass ihre Mutter das erlaubt hätte?
„Herr von Rothenberg-!“, begann Frau Fiets erneut voller Entrüstung, aber Kaya
antwortete statt ihrer.
„Meine Mutter
ist in England!“, erwiderte sie böse, und gleichzeitig erfasste sie die Trauer
und die Wut, dass ihre Mutter sie nicht mitgenommen hatte. „Und Ihr Sohn wohnt
irgendwo in München. Ich weiß nicht mal, wo!“, entfuhr es ihr mit zittriger
Stimme, denn sie spürte die Tränen. „Niemand weiß, dass ich hier bin!“, fuhr
sie ihn zornig an. „Niemand! Nur meine beste Freundin, aber die ist weit weg
auf einem Schiff und spricht nicht mehr mit mir! Meine Mutter denkt, ich wäre
in Berlin, also, nein. Niemand ist mit mir gekommen, niemand wartet draußen, um
-… keine Ahnung, was Sie denken!“
Sie atmete
heftiger, versuchte, das Stechen in ihren Augen zu ignorieren und echte
Verblüffung war sehr kurz in sein Gesicht getreten.
„Sie hat
die letzte Nacht bei den Ohlkamps im Dorf übernachtet“, erklärte Frau Fiets
still. „Sie kam gestern mit dem Zug aus Berlin“, schloss sie noch leiser.
„Heimlich“, fasste Frau Fiets schließlich Kayas Reise zusammen. Kaya nickte
abwesend, als sie wieder auf den Teppich starrte, um nicht doch noch zu weinen.
„Ja, und es bleibt auch ein Geheimnis, denn… meine Mutter würde… im Dreieck
springen, wenn sie wüsste, wo ich bin“, murmelte sie, ohne eine Beleidigung
wirklich aussprechen zu wollen, aber sie begriff, was sie gesagt hatte, und ihr
Blick hatte sich ertappt gehoben.
Seine
Augenbrauen waren eindeutig nach oben gewandert und einige feine Falten traten
auf seine Stirn.
„Wenn du…
nicht wegen Geld gekommen bist…“, begann er schließlich und schien ihrem
Ausbruch wenig Bedeutung beizumessen, „weshalb bist du dann hier?“, fragte er
gedehnt.
Und sie
holte tief Luft, um auszuatmen. Ganz klar würde sie jetzt nicht mehr lügen und
sagen, dass sie ihn unbedingt hatte kennenlernen wollen. Ganz bestimmt nicht!
Jetzt war es auch egal! „Ich… ich wollte… reiten lernen“, gestand sie ihre
Halbwahrheit ein. Und kurz dachte sie, er würde ihr nun den Weg nach draußen in
die Nacht zeigen, aber sein Mund öffnete sich einen Spalt weit.
„Du…?“ Er
schien kurz über ihre Worte nachzudenken, ehe er den Kopf eine Winzigkeit
schräg legte und sie musterte. „Du willst reiten lernen? Tatsächlich?“,
bemerkte er knapp. Er rieb sich unschlüssig die Hände. „Und… bei deinen Genen
kann ich es dir wohl kaum verdenken“, schloss er knapp und hob den Blick wieder
zu Frau Fiets.
„Das war…
töricht von Ihnen, Frau Fiets“, sagte er jetzt.
„Gnädiger
Herr, bitte verzeihen Sie, aber sie hat einen weiten Weg hinter sich und-“
„-und es
war auch töricht von dir, Mädchen“, fuhr er unbeirrt fort. „Du willst also bei
mir reiten lernen und deiner Mutter nichts davon sagen?“, schloss er eine Spur
ungläubig. Aber Kaya nickte nur.
„Ja, ich…
das habe ich geplant“, flüsterte sie. Und jetzt zuckten seine Mundwinkel sehr
kurz. Er atmete aus und rieb sich mit Daumen und Zeigfinger über seine
Schläfen.
„Nun gut“,
sagte er schließlich. „Da ich weiter nichts für deine Familie tun werde, darfst
du zeigen, was du kannst. Ich werde mir morgen ansehen, ob du die richtigen
Aussichten dafür hast, zu reiten. Aber wenn dies hoffnungslos aussieht, schicke
ich dich wieder zurück. Ich nehme an, du finanzierst dich selber? Du hast ein
Zimmer im Dorf?“, erkundigte er sich lächelnd, und ehe Kaya widersprechen
konnte, mischte sich Frau Fiets wieder ein.
„Herr von
Rothenberg!“, wandte Frau Fiets jetzt ein. „Das Mädchen kann sich doch nicht
leisten, im Dorf zu wohnen!“
„Ich bin
sicher, Sie haben Sie bereits in Ihrer Güte im Haus untergebracht, nicht wahr,
Frau Fiets? Aber das Mädchen sagte mir, sie wäre nicht hier aufgetaucht, um bei
mir um Almosen für ihre Familie zu betteln“, erwiderte er kalt. Und nicht mal,
wenn er sie gebeten hätte, hierzubleiben, wäre sie geblieben! Almosen! Wie das
Wort schon klang! Sie wusste nicht, ob sie Stolz besaß, aber sie fühlte, dass
sie ihn niemals – niemals – um irgendetwas bitten würde! Und hinge sie auch an
einer steilen Klippe, und seine Hand wäre die einzige, die sie hochziehen
würde. Niemals!
Aber Kaya
war auch nicht mehr allzu besorgt. Wie es aussah, blieb sie nur noch einen Tag.
Sie sollte ihm zeigen, was sie konnte? Auf einem Pferd? Da konnte sie besser
lieber doch Einradfahren auf der Zugspitze in Angriff nehmen.
„Ich will
kein Geld von Ihnen“, sagte sie fest.
„Gut“,
entgegnete er kühl. „Zeigen Sie ihr den Weg nach draußen. Ich erwarte dich
morgen Früh, neun Uhr“, schloss er knapp.
Ehe Frau
Fiets erneut protestieren konnte, hatte sich Kaya abgewandt und schritt, so
schnell ihre weichen Knie sie tragen konnten zur Tür.
Am besten
blieb sie noch eine Nacht im Dorf und reiste einfach morgen Früh ab. Sie hörte,
wie Frau Fiets ihr folgte und die Tür hinter sich schloss.
„Kaya“,
rief sie, und Kaya wurde widerwillig langsamer. „Der gnädige Herr ist
schwierig. Ich lasse den Wagen holen und dich ins Dorf bringen. Ich bin sicher,
er lässt dich morgen hier-“
„-schon
gut“, erwiderte Kaya und konnte nicht verhindern, verletzt zu klingen. „Und ich
finde den Weg. Ich brauche wirklich kein Auto, das mich ins Dorf bringt.“
„Es ist
dunkel draußen! Natürlich-“
„-nein,
danke. Bringen Sie mich bitte einfach nur zu meinen Sachen und beschreiben Sie
mir den Weg zur Tür. Den Rest schaffe ich allein“, sagte sie kurz angebunden.
Es war ihr peinlich, hier zu sein. Sie glaubte nicht, dass es hätte schlimmer
laufen können. Außerdem wusste sie, dass sie gleich weinen würde.
„Kaya-“
„-nein.
Bitte, ich möchte einfach nur gehen!“ Ihre Höflichkeit hatte sie unterwegs
verloren, stellte sie mit klopfendem Herzen fest. Frau Fiets betrachtete sie
seufzend. Kaya hatte sich den Weg zu dem Gästezimmer fast schon gemerkt,
stellte sie fest, als sie wieder da waren. Das Licht brannte dort noch immer.
Sie griff sich hastig ihren Rucksack und schulterte ihre schwere Tasche.
Immerhin hatte sie heute ausreichend gegessen. Sie würde es schon schaffen.
„Es ist zu
gefährlich. Das Auto kann-“ Aber Kaya sah sie schließlich an.
„Ich finde
den Weg allein, danke“, sagte sie tonlos. Sie stürmte an Frau Fiets vorbei,
nahm die nächste Treppe nach unten und das Geplapper von Stimmen wurde wieder
lauter.
Und sie
nahm die nächste Treppe, lief quer durch den Flur, so schnell ihre Füße sie
tragen konnten.
Und dann
erreichte sie eine Art Halle.
Sie wurde
langsamer, als sie die Menschen dort erkannte. Eine Handvoll Mädchen standen um
den blonden Reitlehrer, den sie gestern in der Reithalle schon gesehen hatte.
Und sie
erkannte tatsächlich das Mädchen vom Bahnhof in Berlin. Sie trug die Haare
mittlerweile offen, aber ihr Ausdruck war noch immer widerlich arrogant.
Die Mädchen
schwiegen allesamt, als sie an der kleinen Gruppe vorbeimarschierte. Der blonde
Reitlehrer bedachte sie mit einem ekelhaft überheblichen Blick.
Tränen
nahmen ihr kurz die Sicht und Scham kroch in ihre Glieder. Sie hasste es, wie
sie angestarrt wurde. Die Blicke dieser Mädchen unterschieden sich in nichts
von denen, die sie von Carolina Berg und ihren Freundinnen ständig verpasst
bekam.
Endlich sah
sie die Haustüren vor sich. Ein Mann stand daneben. Er trug einen unauffälligen
Anzug.
„Kann… kann
ich gehen?“, wagte sie scheu zu fragen, und der Mann zog mit erhobener
Augenbraue die Tür auf, um sie rauszulassen. Sie atmete die frische Nachtluft
ein und lief schneller über den Kiesweg.
Es war so
weit bis nach unten. Sie erkannte die Silhouetten von Pferden auf der Weide,
die im Stehen zu schlafen schienen. Sie wischte sich über die feuchten Augen,
während sie dunkle Stallungen und Hallen hinter sich ließ.
Sie rannte,
bis sie das Wärterhäuschen sehen konnte. Es leuchtete als einziger Fleck auf
dem sonst dunklen Gestüt, abgesehen von ein paar Notlampen an den Gebäuden.
Der Mann
hob irritiert den Blick, als sie auf der Höhe des Häuschens war.
Und zum
zweiten Mal hatte sie mehr als eilig dieses Grundstück verlassen.
Und obwohl
es pechschwarze Nacht hier draußen war, fühlte sie sich hier unendlich wohler
als in diesem blöden Haus! Hier draußen beleidigte sie niemand. Und niemand
warf ihr vor, eine Erbschleicherin zu sein!
Sie lief
die menschenleere Straße entlang. Sie sah das Bushaltestellenhäuschen auf sich
zukommen und sie lief schneller. Sie hörte ein Käuzchen über sich und tausende
von Grillen um sich herum. Aber niemand lief mehr auf der Straße, kein Geschäft
gab es weit und breit. Sie vermisste die Großstadt! Noch nie hatte sie die
Stadt so sehr vermisst wie jetzt!
Und ihr
Handy vibrierte ein einziges Mal in der Tasche ihrer Jeans, in welche sie es in
aller Eile gestopft hatte. Sie zog es schniefend hervor und hielt inne.
Erste Generalprobe war so ein Reinfall J
kannst du dir ja vorstellen…!
Ich vermisse dich so sehr und denke die
ganze Zeit an dich! Grüß die Wagners von mir, ich rufe die Tage mal durch. In
aller Liebe, Mama <3
Tränen der
Wut und der Verzweiflung nahmen Kaya die Sicht. Sie schämte sich so sehr,
hergekommen zu sein. Kurz überlegte sie, im Bushäuschen zu warten, bis es
Morgen werden würde, aber beim nächsten Kauz, der über sie hinweg rauschte und
dem Gefiepse – was wohl entweder von Fledermäusen oder anderen Mäusen kam –
hatte sie es sich schnell anders überlegt und hastete hinab ins Dorf.
Sie hatte keine
halbe Stunde gebraucht, bei dem Tempo, das sie vorgelegt hatte, und war
dankbar, dass die Tür noch nicht verschlossen war.
Sie hörte
Stimmen aus dem Essenssaal und fand es hier wesentlich einladender als in
diesem blöden Haus ihres Großvaters.
Erschöpft
ließ sie die Tasche von ihrer Schulter auf den Boden fallen.
Frau
Ohlkamp kam wohl wegen des Geräuschs schließlich nach draußen.
„Kaya!“,
entfuhr es ihr verblüfft. Dann änderte sich ihr Ausdruck. „Kind, was ist denn
passiert? Du weinst ja!“ Sofort war sie zu ihr gekommen, und Kaya wollte sich
gar nicht mehr beherrschen und schluchzte auf.
„Ich… ich
w…würde g…gerne noch… eine N…nacht bleiben, Frau O…ohlkamp“, brachte sie so
ruhig wie möglich über die Lippen. Aber eigentlich schniefte und schluchzte sie
die ganze Zeit. Frau Ohlkamp strich ihr beruhigend die langen Haare zurück und
streichelte ihren Kopf.
„Na, na….
Natürlich kannst du bleiben! Möchtest du gerne über deinen Abend reden? Wie ist
es gelaufen?“ Kaya schluchzte wieder auf und Herr Ohlkamp kam verwunderte in
den Eingang.
„Was haben
wir denn hier? Wer wird denn da weinen?“ Er schien etwas unsicher zu sein.
„Magst du
dich zu uns setzen?“, fragte Frau Ohlkamp lächelnd und streichelte Kaya
beruhigend den Rücken. „Ein Bier zur Beruhigung?“ Und Kaya nickte, während sie
sich die Tränen von der Wange wischte. Herr Ohlkamp drehte seine Mütze
unschlüssig in den Händen.
„Mit Bier
kann ich dienen, Kleine“, versprach er erleichtert. „Vielleicht können wir
alten Herren dich auch für eine Runde Doppelkopf begeistern, hm?“, versuchte er
sie aufzumuntern, und sie musste fast lächeln. Sie hatte keine Ahnung von
Kartenspielen, aber die Wärme des Kamins lockte sie in den Saal. Und Balu kam
ohne Verband auf sie zu gelaufen. Langsam, aber er lief.
„Hey, du
kannst ja laufen!“, murmelte sie heiser und kraulte den Hund, während sie die
letzte Träne fortwischte. Und sie war dankbar, dass die Leute hier nett zu ihr
waren. Wenigstens irgendwer in dieser fremden Stadt, diesem gefühlt fremden
Land… es kam ihr vor wie eine fremde Welt, soweit weg fühlte sie sich gerade
von Zuhause. Endlos weit fort….
~*~
Ihr Dutt
wirkte strenger heute. Ihre ganze Körpersprache wirkte strenger als sonst. Und
Frau Fiets war immer eine imposante Erscheinung, fand er. Sie ließ sich nie
gehen, war immer um spätestens sechs Uhr auf den Beinen und hatte das gesamte
Küchenpersonal mit wenig Aufwand im Griff. Und das seit dreißig Jahren.
Er ließ die
Hamburger Allgemeine ein Stück weit
sinken, als sie geschäftig seine Teetasse neu füllte und blickte über den Wirtschaftsteil gespannt hinweg.
„Sie sind
nicht wütend, oder Frau Fiets?“, erkundigte er sich beinahe ungläubig, aber es
war sowieso nur eine rhetorische Fangfrage. Und sie sah nicht mal auf, als sie
antwortete, und sich wieder durch den Raum bewegte.
„Natürlich
nicht, gnädiger Herr.“ Und jedes ihrer Worte klang wütend, stellte er amüsiert
fest. Er faltete seufzend die Zeitung.
„Sie sind
wütend wegen des Mädchens?“, schloss er kopfschüttelnd. Und bevor sie sich halten
konnte, hatte sie sich steif zu ihm herumgedreht, den Korb mit Brötchen zornig
in ihren Händen. Er hoffte nur, sie würden auf dem Weg zum Tisch nicht noch
über Bord gehen.
„Es war
mitten in der Nacht, Herr von Rothenberg! Mitten in der Nacht!“, fuhr sie ihn
tatsächlich an. Er atmete ruhiger aus.
„Ja, Frau
Fiets. Und wir befinden uns hier in Duvenstedt. Nicht auf der Reeperbahn“,
entgegnete er glatt.
„Sie ist
keine Fremde!“, entfuhr es ihr tonlos. „Es ist ihre Enkeltochter, Herr von
Rothenberg!“ Er hatte sie tatsächlich noch nie so neben sich erlebt. Es schien
sie mitzunehmen. Dass dieses Mädchen hier war, schien sie wirklich zu berühren.
Wusste der Himmel, weswegen!
„Haben Sie
sie nach dem Ausweis gefragt?“, erkundigte er sich schließlich, und der Mund
der Frau öffnete sich. Ihre Augen verengten sich kurz. Sie schien wohl nicht zu
wissen, ob er sich einen Scherz erlaubte. „Wissen Sie, ich bin mir nicht völlig
im Klaren darüber, was ein geeignetes Verhalten meinerseits qualifiziert hätte,
geehrte Frau Fiets“, fuhr er jetzt fort, und angelte sich ein Brötchen aus dem
vor Wut zitternden Korb in ihren Händen.
„Es war
mitten in der Nacht!“, wiederholte sie wieder dieselben Worte. Vielleicht war
dies das Äußerste, was sie sich an Kritik ihm gegenüber zugestand. Und er fand,
das war auch schon ausreichend viel Kritik.
„Mal ganz
abgesehen davon“, erwiderte er trocken. „Und es war nicht einmal halb neun“,
wand er mit erhobenen Augenbrauen ein. „Ich möchte mich auch nicht besonders
lange mit diesem Thema aufhalten, verstehen Sie?“, rang er sich noch ein paar
Worte mehr ab. „Das Wort Enkeltochter
hat in meinen Ohren sicherlich nicht den gleichen Klang wie in den Ihren“,
klärte er sie mit gewisser Nachsicht auf. „Ich habe keine Enkelkinder“, fuhr er
achselzuckend fort. „Niemand hat sich je dafür interessiert, eine solche
Verbindung aufrechtzuerhalten. Und offen gesagt, liegt mir daran auch nicht
viel.“
Frau Fiets‘
Mund öffnete sich langsam, als überlege sie, ob es ihr zustand, zu antworten.
„Ich sage
Ihnen, was sie ist: Sie ist die Tochter einer Frau ohne Anstand, ohne Manieren!
Die Mutter dieses Mädchens hat dieser Familie ihre Zukunft genommen und
zerstört. Und das wissen Sie auch. Sie hat sich mit glatter Absicht schwängern
lassen, aber all ihre bösen Vorsätze haben sich zerschlagen! Jetzt hat sie
nichts mehr. Nicht mal einen Mann“, schloss er fast bitter. „Also unterschätzen
Sie mich bitte nicht“, ergänzte er warnend. „Und nehmen Sie nicht an, ich würde
tatsächlich eines meiner Zimmer in meinem Haus für die Tochter dieser Person
opfern! Was soll als nächstes passieren? Dass dieses Gör es vollbringt, mir
mein Haus streitig zu machen – mit weiß Gott welchen Mitteln?“
Frau Fiets
sah ihn nun offen an.
„Ich weiß
nicht, wie dieses Kind erzogen wurde, wahrscheinlich überhaupt nicht, nach
allem, was ich bisher gesehen habe. Aber hier aufzutauchen, ohne Nachricht oder
Warnung und zu verlangen reiten zu
lernen-! Sie können froh sein, dass ich nicht die Polizei gerufen habe,
aber…“, er schmunzelte kurz, während er das Brötchen aufschnitt, „es war ja
bereits mitten in der Nacht hier in
Duvenstedt, um es mit Ihren Worten auszudrücken. Es wäre ohnehin niemand mehr
aufgetaucht“, schloss er kühl. Die Polizei war auf dem Land ähnlich effektiv
wie ein schlafender, tauber Hund.
Er sah,
dass sie stumm die Hände zu Fäusten geballt hatte. „Ich möchte kein Gerede
hören, haben wir uns verstanden, Frau Fiets?“, kürzte er seine gesamte
Ansprache nun auf den wesentlichsten aller Punkte ab.
Und sie
schien wohl tausend andere Worte für ihn auf Lager zu haben, zumindest nahm er
das an. Aber sie sagte keines davon. „Jawohl, gnädiger Herr“, war alles, was
sie sagte. Sie hatte sich von ihm abgewandt und den Saal anschließend
verlassen.
Er
schüttelte seufzend den Kopf und entfaltete die Zeitung wieder. Seine Augen
konnten sich nur schwer auf die Zeilen konzentrieren. Er hatte nicht vorgehabt,
so viele Worte zu sagen. Zumindest nicht laut. Noch glaubte er nicht, dass die
Mutter des Kindes nicht Bescheid wusste.
Noch glaubte er nicht, dass dieses Mädchen einfach so hierhergekommen war.
Vielleicht war es ein großartiger Plan, ihm sein Geld abzuluchsen. Aber wie
sollte das eine mittellose ungebildete Frau bewerkstelligen?
Er hatte keine
Ahnung gehabt, dass es Frau Fiets so sehr belastete. Man sollte meinen, er
spräche ständig mit seinen Verwandten, hatte eine große intakte Familie, so wie
es Frau Fiets belastete! Lächerlich!
Eine junge
Frau betrat den Saal nun mit gesenktem Blick, aber sie lächelte leicht. Er
kannte sie. Es war ihm schon öfters so vorgekommen, als senke diese Frau
keusch, beschämt den Blick vor ihm. Seine Stirn runzelte sich noch so leicht,
aber die Frau hob den Blick. Ihr Name lag ihm fast auf der Zunge. Alexander tat
sich seit jeher schwer mit Namen, aber er war noch nicht so alt, um nicht zu
merken, dass an diesem Blick aus diesen braunen Augen nicht etwas anderes
mitschwang als aus den halbzornigen Blicken, die ihm seine Köchin zuteilwerden
ließ.
Er stutzte
fast, als er den Blick der jungen Frau analysierte. Wie alt konnte sie sein?
Dreißig? Höchstens, nahm er an.
„Ich bringe
Ihnen frischen Tee, Herr von Rothenberg“, erklärte sie sanft, als sie zu ihm
kam. Ihre Bluse war gebügelt, hellblau und warf keine Falten, abgesehen von den
offensichtlichen über ihrem Brustkorb. Sie war nicht ganz zugeknöpft, und die
Frau trug einen schwarzen kurzen Rock unter ihrer weißen gestärkten Schürze,
die sie umgebunden hatte. Sie arbeitete also in der Küche. Ihre Schuhe waren
hoch. Ihre Beine waren lang. Die Bräune fiel ihm nur am Rande auf. Die Haare
waren dunkel, kurz und lockig und sie hatte sie in einem Zopf zurückgebunden.
Sie war geschminkt, nicht übermäßig, würde er sagen, aber er hatte auch
wirklich keine Ahnung von allen Tricks, die man mit Makeup veranstalten konnte.
Er sah die
jungen Reiterinnen täglich und bemerkte all den Aufwand, den sie mit
Körperpflege und regelrechter Clowns-Schminke betrieben.
Ihre
silbernen Ohrringe glitzerten in der Sonne.
Seine
verstorbene Frau hatte selten Makeup getragen. Sie war natürlich schön gewesen,
hatte sich nie wirklich um Schönheitspflege bemüht, oder Diäten als etwas ins
Auge gefasst, was sinnvoll oder hilfreich wäre.
Ihm kam es
so vor, als würde dieses Exemplar vor ihm, es darauf anlegen, dass er sie
bemerkte.
„Vielen
Dank-“
„-Julia“,
nannte sie ihm zuvorkommend ihren Namen, ehe er in die Verlegenheit hätte
kommen können, ihr zu sagen, dass er ihren Namen nicht kannte.
„Vielen
Dank, Julia“, griff er ihre Worte
gedehnt auf. „Leider kann ich mir einen weiteren Tee nicht mehr leisten. Die
Arbeit ruft“, fuhr er interessiert fort. Es war wie ein seltsames Experiment.
Die Mundwinkel der jungen Frau hoben sich lächelnd, und sie entblößte weiße
schöne Zähne.
„Ich
verstehe, wirklich zu schade. Aber vielleicht kann ich Sie später für einen Tee
begeistern?“, schlug sie kokett vor, und sein Mund öffnete sich knapp, während
er ihr einen fragenden Blick schenkte. Sie ließ sich nicht anmerken, dass ihr
irgendetwas an dieser Unterhaltung komisch vorkam.
„Ich bin
mir sicher, dass dies der Fall sein wird“, wich er ihrem auffordernden Blick
nun mit vagen Worten aus. „Sagen Sie, seit wann sind Sie hier beschäftigt?“,
erkundigte er sich nonchalant, während er sich erhob und das
Brötchen nicht mehr anrührte.
„Seit zwei
Monaten“, klärte sie ihn lächelnd auf. „Und Sie können mich gerne duzen, Herr
von Rothenberg“, ergänzte sie rauer und zwinkerte ihm zu.
Ach, war das so? Er verharrte vor ihr und verwarf aber
alle möglichen Gedanken, die sich unpassenderweise in seinem Kopf formten, wie
dunkle, verhängnisvolle Rauchwolken. Er schüttelte etwas abwesend den Kopf. Das
hatte er hinter sich.
„Wenn Sie
mich entschuldigen“, verabschiedete er sich mit einem feinen Lächeln und verschob
somit ihr Angebot, sie zu duzen. Sie nickte höflich und räumte immer noch
lächelnd den Tisch ab. Kopfschüttelnd verließ er den Saal. Seine Reitstiefel
knarrten mit jedem Schritt. Anscheinend war er immer noch begehrt, nahm er an.
Abwesend
fiel sein Blick auf die verschiedenen Portraits seiner Frau, die den Weg
säumten. Unwillkürlich hielt er mitten auf dem Flur inne, um eines zu
betrachten, was nur sie zeigte. Sie lächelte. Sie hatte immer auf Bildern
gelächelt. Er war immer der Meinung gewesen, sie hatte auch nie einen Grund
gehabt, nicht zu lächeln, aber sie war von Trauer gezeichnet gewesen. Das
wusste er auch.
Er dehnte
seine Finger unschlüssig. Den Ring hatte lange abgelegt. Er trat näher an das
Bildnis im breiten bronzenen Rahmen.
Katharina
war schön gewesen. Es hatte sie immer etwas umgeben, was er nie recht
verstanden hatte. Und er hatte sie nie dazu bewegen können, auf dem Rücken
eines Pferdes zu sitzen. Er hatte sie zu nichts überreden können, was sie nicht
gewollt hatte.
Und er war
sich ziemlich sicher, was seine Frau gesagt hätte, hätte das unsägliche Mädchen
gestern vor ihr gestanden. Sie hätte sie nicht fortgeschickt. Sie hätte hinter
einem Menschen niemals etwas Schlechtes vermutet. Seine Frau war vor sechs
Jahren gestorben. Katharina war nicht mehr hier, und manchmal glaubte er, das
Haus konnte es spüren. Es war stiller, kälter geworden. Oder vielleicht war nur
er stiller und kälter geworden.
Der Krebs
war schleichend gekommen, so schleichend, wie der Herbst den Sommer ablöste, so
unauffällig hatte der Krebs sie geholt. Alexander hatte keine Angst vor dem
Tod. Aber es war erschreckend gewesen, zuzusehen. Zuzusehen, wie jemand starb.
Er
erinnerte sich gut an ihr letztes Gespräch.
Sie sagte
zu ihm, sie wisse von der Affäre, und falls er sein Gewissen jetzt erleichtern
wolle, wäre sie gerne bereit, ihm zu vergeben. Er hatte es nicht getan. Er
hatte es ihr nicht gesagt. Er bereute es allerdings nicht. Wozu sollten
unnötige Schmerzen gut sein? Er hatte jedoch das Dienstmädchen entlassen, am
Tag der Beerdigung.
Und
manchmal war er wütend auf Katharina. Ihre dunklen Augen blickten fast gutmütig
auf ihn hinab, so kam es ihm vor. Als Oliver ausgezogen war, hatte sie sich
mehr und mehr von ihm zurückgezogen. Sie hatte ihre Nächte im Gästetrakt
verbracht.
Sie hatte
ihm nie verziehen. Sie hatte ihm viele Dinge wohl nie verzeihen können, nahm er
bitter an. Sie hatte nie überwunden, dass er ausgezogen war. Er hatte alle
Bilder von Oliver vernichten lassen, aber er glaubte, irgendwo im Haus hatte
sie ein Versteck gehabt, wo sie alle Bilder aufbewahrt hatte, denen sie noch
hatte habhaft werden können, und wenn Frau Fiets von diesem Versteck wissen
sollte, dann war sich Alexander sicher, würde sie es ihm niemals verraten.
Sie hatte
mit Oliver versucht, Kontakt zu halten, nachdem er mit der Familienzerstörerin
nach Berlin gezogen war. Aber Oliver hatte es nicht gewollt, hatte sie ihm
erzählt. Alexander hatte es nicht mehr interessiert, was Oliver wollte oder
nicht. Er erfuhr nur durch Katharina von der Trennung. Erfuhr nur durch sie von
Olivers Veränderung, von seinen neuen
Vorlieben. Seine Mundwinkel sanken tiefer. Er wusste nicht, welchen Fehler er
begangen hatte, aber die größte Schuld gab er dem Mädchen, das damals
hierhergekommen war, erklärte, sie wäre von Oliver schwanger und würde ihn
heiraten wollen.
Sie war
fünfzehn gewesen! Beide waren sie fünfzehn gewesen!
Oliver und
das Mädchen. Er erinnerte sich noch an die Mutter des Mädchens, die nicht
minder zornig gewesen war, erinnerte sich noch an Olivers heiliges Versprechen,
dieses Mädchen niemals zu verlassen, ein guter Vater und Ehemann zu sein –
Alexander erinnerte sich noch lebhaft an den Skandal im Dorf, an den Tratsch
der Leute!
Er
erinnerte sich. Und jetzt, seit gestern, nur umso besser! Denn die Tochter sah
aus wie sie. Wie ihre Mutter. Er betrachtete Katharina, als hätte sie eine
allwissende Antwort für ihn parat, aber wenn es so war, sprach sie sie nicht
aus.
Und er
erinnerte sich an den Tag, als Oliver mit dem Mädchen auf den Hof gekommen war.
Sie war winzig gewesen. Sie war zu früh geboren worden, hatte ihm Katharina
erzählt, denn er selber war nicht ins das große Wohnzimmer gekommen. Er hatte
aus einem der Fenster gesehen, als Oliver wieder gegangen war. Er war nicht
lange da gewesen, schien das Mädchen ungern gezeigt zu haben, und Katharina hat
die ganze Nacht nicht mehr aufgehört, zu weinen.
Und fast
hätte er es Oliver abgekauft. Die große Liebe, das Familienglück.
Und dann… war
es zu Ende. Kurz war die Schock-Nachricht des homosexuellen Rothenberg-Erben
wie ein böser Schatten durch das Haus gewandert, alle hatten darüber
gesprochen, wenn nicht offen, dann zumindest heimlich – und ausgiebig.
Und dann,
nach einigen Monaten, war es vorbei gewesen. Der Name Oliver geriet in
Vergessenheit. Unter den Angestellten, die neu kamen, wusste keiner mehr, dass
er einen Sohn namens Oliver gehabt hatte. Und irgendwann hörte Katharina auf,
aus dem Fenster zu sehen, als würde ihr Sohn überraschend jeden Tag nach Hause
kommen können. Sie schrieb keine Briefe mehr, versuchte nicht, ihn anzurufen.
Irgendwann
stellte sie zu Olivers Geburtstag keine Kerze mehr auf den Tisch, den Alexander
jedes Mal ohne Kommentar verlassen hatte, wenn sie ihn wieder daran erinnerte,
dass sein Sohn Geburtstag hatte.
Er hatte
mit seinem Sohn seit fast siebzehn Jahren kein Wort mehr gesprochen.
Es kam ihm
plötzlich endlos vor. Es war, als wäre Oliver vor siebzehn Jahren gestorben.
Und er war
ein so guter Reiter gewesen. Er war ein so hübscher Junge gewesen.
Und
Katharina hatte ihn gebeten, sich mit seinem Sohn zu versöhnen. Aber er sah
sich außerstande dazu. Es war nicht möglich. Er konnte sich nicht mehr ändern.
Und er wollte es nicht. Er würde Olivers Entscheidungen niemals akzeptieren
können. Niemals.
Alexander
war von ihm so enttäuscht wie von seinem Zuchthengst.
Er senkte
den Blick auf den Boden.
Er nahm an,
dass Mädchen würde nicht noch einmal wagen, auf seinen Hof zurückzukehren. Es
wäre besser so. Er wollte nichts von ihrer Existenz wissen. Er wollte sie nicht
zu lange sehen, bis er selber glaubte, Ähnlichkeiten feststellen zu können.
Alexander
war kein Menschenfreund. Er sah sich rechtlich schon außerstande, seinem Sohn
das Erbe zu verweigern, denn der Pflichtteil stand ihm zu. Aber die Frau und
das Kind würden nichts bekommen. Keinen Cent. Und das sollte dieses Kind besser
früher als später begreifen.
In der
Halle unten angekommen standen bereits einige Mädchen neben der Sitzecke im
Erker und verstummten als sie ihn erkannten. Sie schienen sich alle aufrechter
hinzustellen. Manchmal vergaß er, dass er sein Haus mit fremden Menschen
teilte. Es war absurd, dachte er manchmal. Jemand wie er öffnete seine Türen
Kindern reicher Kunden. Die Ausrüstung dieser Damen schien der neuesten Mode zu
entsprechen, die Helme unter ihren Armen schimmerten purpurn im Licht. Violett
war die neue Reiter-Farbe des Jahres, wie ihn Frau Kramer auf sein Fragen hin
aufgeklärt hatte. Anscheinend wussten das diese Damen vor ihm ebenfalls.
„Sie warten auf Herrn König?“, erkundigte er sich, als er auf sie zukam. Auf
wen sollten sie sonst warten? Auf ihn wohl kaum.
„Ja, Herr
von Rothenberg“, sagte die hübscheste von ihnen. Sein Blick ruhte auf ihrer
Gestalt. Sie war sicher so alt wie das Mädchen.
Und Leonard
König enttäuschte ihn nicht. Er kam mit strengen Schritten durch die Halle
gelaufen.
„Dann
fangen wir an! Ich will nicht wieder länger machen müssen, weil ihr die Pferde
nicht rechtzeitig in die Halle bekommt, also am besten bewegt ihr euch“, sagte
er, ohne Charme, ohne jede Geduld in der Stimme, und die Damen liefen wie
aufgeschreckte Hühner murrend in Richtung Ausgang.
„Alles in
Ordnung?“, fragte Alexander mehr der Form halber.
„Talent sehe ich bei keiner wirklich, aber es mag noch kommen.“ Er klang nicht
überzeugt, aber er war noch jung. Und Leonard war überheblich. Aber er ritt
hervorragend. Kurz überlegte Alexander tatsächlich Leonard, nach seiner Mutter
zu fragen, sah aber davon ab. Er mochte die oberflächliche Beziehung, die er
mit seinem Personal führte. Er wusste ohnehin zu viel. Das war bei Tom so, das
war Leonard genauso. Und es interessierte ihn nicht. Von Frau Fiets abgesehen.
Aber seine verstorbene Frau würde ihn wahrscheinlich heimsuchen, würde er Frau
Fiets durch ein jüngeres, besseres Exemplar ersetzen.
„Gut,
fangen Sie an“, erwiderte Alexander stattdessen, und unwillkürlich glitt sein
Blick zu einer der Uhren in der Halle. Halb neun.
Er würde zu
Tom gehen, einen Blick auf die Einsteiger werfen, und dann mit dem Hufschmied
die Tiere abgehen, bei denen ein Eisenwechsel nötig war. Seine Welt blieb nicht
stehen, nur weil ihm Dämonen aus der Vergangenheit einen Besuch abstatteten.
–
Ein Guter Sitz –
„Dein
Großvater ist ein sturer, uneinsichtiger Geizkragen!“, entfuhr es Frau Ohlkamp
offen, während sie zornig die Tische putzte und Kaya die trockenen Tücher für
sie hielt. Und sie hatte auch keine hohe Meinung von diesem Mann. „Wir betreiben
den Gasthof hier seit dreißig Jahren als seine Pächter, und er ist noch kein
einziges Mal hier gewesen“, beteuerte sie aufgebracht. „Aber die Pacht alle
halbe Jahre erhöhen, damit hat er kein Problem!“, schloss sie grimmig.
„Das tut
mir leid“, sagte Kaya ehrlich.
„Das muss
es nicht!“, erwiderte sie sofort kopfschüttelnd. „Ich meine – sieh dich an!
Dich behandelt er nicht mal besser, und ihr seid blutverwandt!“, beschwerte sie
sich und wischte mit mehr zorniger Kraft. „Dann sollst du auch noch auftauchen,
nachdem er dich rauswirft und ihm etwas vorreiten!“ sie schnaubte auf. „Was
denkt er sich eigentlich? Dass alles und jeder hier nach seiner Pfeife tanzt?“
Kaya wusste darauf nichts zu sagen, und es verging ein kurzer Moment in Stille.
Frau Ohlkamp sah sie an und ihr Blick bekam eine weichere Note. „Herr Ohlkamp
und ich, wir… haben keine Kinder, Kaya“, erklärte sie plötzlich. „Und ich würde
dir gerne behilflich sein.“ Kaya lächelte dann. „Aber reiten kann ich dir
leider nicht beibringen“, ergänzte sie, fast entschuldigend.
Kaya hätte
keine Worte dafür finden können, wie egal ihr Reitenlernen war. Aber sie
schwieg.
Herr
Ohlkamp kam durch die Tür, eine Mütze ins Gesicht gezogen, um sich vor der
Sonne abzuschirmen.
„Mädchen,
sag mal, hast du Lust, uns zur Hand zu gehen?“, fragte er direkt. Kayas Mund
öffnete sich ratlos. Sie hatte eigentlich abreisen wollen, wollte sich auf
keinen Fall auf dem Gestüt demütigen gehen, und bestimmt wusste ihr böser
Großvater nichts mehr von der Abmachung.
„Was soll
ich machen?“, fragte sie also, denn ohne Alina war sie ziemlich aufgeschmissen,
was die Reiseplanung anging. Sie würde sie anrufen müssen. Sie würde sich
entschuldigen müssen, nahm Kaya
missmutig an. Sie war schlecht, was Entschuldigungen anging. Aber sie würde sich
darum wohl erst später kümmern.
„Aber
Bernd!“, sagte Frau Ohlkamp, aber Herr Ohlkamp winkte ab.
„Wenn sie helfen will?“, sagte er, und Kaya ruckte mit dem Kopf. „Wir rechen
das Gras zusammen“, erklärte er. „Kannst uns helfen“, schloss er ruppig und war
schon wieder auf dem Weg nach draußen. Kaya folgte ihm. Dann hatte sie was zu
tun, während sie überlegen konnte, was sie Alina sagen würde.
Sie
erkannte einige junge Männer, die um den See herum mit Rechen das Gras zusammen
fegten. „Wofür machen sie das?“, wollte sie wissen und kam sich schon beim
Fragen vor wie ein dummes Stadtkind. Herr Ohlkamp stopfte bereits seine Pfeife.
„Heu. Wir
trocknen es in der Scheune vom Bauern Voss. Herr von Rothenberg kauft es
anschließend ab“, erklärte er, während er sich ächzend auf die Bank hinterm
Haus niederließ. Schweiß stand ihm auf der Stirn. „Geh einfach zu Konstantin
und Heiko, die beiden beim Anhänger“, fuhr er mit einem Nicken fort.
Sie
erreichte die jungen Männer eher unschlüssig. Sie trugen keine teure Reiteruniform,
stellte sie allerdings fast erleichtert fest. Einer hatte eine alte Kappe tief
ins Gesicht gezogen, der andere hatte unordentliche dunkelblonde Locken auf dem
Kopf. Er blinzelte in die Sonne, als sie kam.
„Hey, ich
bin Kaya. Ich soll euch helfen“, sagte sie unsicher. Der Blonde nickte.
„Super!
Komm rüber, kannst hier mit anpacken. Ich bin Konstantin, das ist Heiko“,
stellte er sich und seinen Helfer vor. Heiko nickte nur stumm. „Fass unter dem
Gras an, damit es dir nicht aus den Fingern fällt – und vielleicht solltest du
Handschuhe anziehen“, sagte er jetzt. „Manche Halme können stechen“, klärte er
sie auf.
Er zog sich
seine einfach aus und reichte sie ihr. Sie nahm sie dankbar entgegen, während
er sich wieder den Rechen griff. Vor ihr stand ein Ballen Gras. Er war fertig
zusammengebunden und schien bombenfest zu halten. Sie griff mit beiden Armen um
den unteren Teil des Ballens, und er war erstaunlich schwer. Ächzend hob sie
ihn über den Rand des Anhängers, wo Heiko ihn kaugummikauend zurecht schob.
„Kommst du
von hier?“, wollte Konstantin wissen, als er einen neuen Haufen Gras zusammen
gerecht hatte. Kaya schüttelte den Kopf, als sie das dicke Band entgegennahm,
was ihr Konstatin reichte, und mit ihr zusammen um den Ballen schnürte.
„Nein, ich
komme aus Berlin“, erwiderte sie wahrheitsgetreu.
„Aha“,
entgegnete er, während er dieses Mal den Ballen in die Luft stemmte, um ihn
alleine über den Hänger zu werfen, während Heiko das Gras wieder stumm in die
richtige Position schob. „Gehörst du dann zum Gestüt? Machst du Urlaub da?“,
wollte er etwas abfälliger wissen, aber sie schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, ich
kann nicht reiten“, bemerkte sie, und glaubte, dass es mittlerweile nach neun
sein musste. Und sie würde nicht da sein. Garantiert nicht!
„Komisch“,
erwiderte Konstantin mit einem schiefen Grinsen. „Die meisten Mädchen sind
verrückt nach Pferden“, sagte er achselzuckend, während er sich den Schweiß von
der Stirn wischte. „Bist du verwandt mit den Ohlkamps?“, fragte er weiter, und
rechte schon den nächsten Ballen zusammen. Kaya fiel auf, dass die Jungen sehr
schnell arbeiteten.
„Nein, ich…
wollte wen besuchen, aber… das hat nicht geklappt, und ich habe jetzt zwei
Nächte hier geschlafen und werde bald wieder abreisen“, erklärte sie so nichtssagend
wie möglich.
„Hm, klingt
verwirrend“ gab er zurück. „Na los, keine Müdigkeit! Wir werden pro Ballen
bezahlt!“, rief er ihr jetzt zu, und sie erwachte wieder zum Leben, half ihm
das Gras zu sammeln, aufzustellen und festzubinden. Sie kam sich vor wie in
einem Kinderbuch.
„Wie viel
bekommt ihr pro Ballen?“, wollte sie grinsend wissen. Vielleicht wäre das ein
Ferienjob, der lukrativ genug wäre, damit sie Alina ein wenig Geld zurückzahlen
konnte, wenn sie wiederkäme. – Vorausgesetzt Alina würde noch mit ihr
sprechen….
„Für jeden
Ballen zwei Euro“, sagte Konstantin ächzend, während er einen festen Knoten
band. Kayas Mundwinkel sanken. Na, da war Zeitungen austragen weniger
anstrengend, überlegte sie dumpf.
„Spricht er
nicht?“, fragte sie leiser, als Heiko nach vorne zum Hänger ging, um ihn ein
Stück weiter rollen zu lassen, damit sie nicht so weit zurücklaufen mussten.
Konstantin lachte auf.
„Nicht
jeder redet hier so viel wie ich“, erwiderte er zwinkernd. Sie konnte sein Alter
nur schätzen, aber sie vermutete, er war jünger als sie.
„Wie alt
seid ihr?“, fragte sie schließlich.
„Don Silencio hier ist vierzehn, ich bin
fünfzehn“, klärte er sie auf. Kaya nahm an, es lag an der gesunden Hautfarbe,
dass sie älter wirkten. Sie musste lächeln, als sie erkannte, dass Heiko unter
seiner Kappe rot geworden war.
„Und das
macht ihr als Ferienjob?“, fragte sie weiter, während sie spüren konnte, wie
der Schweiß ihr den Rücken hinab lief.
„Ja,
definitiv der beste Job. Beim alten Rothenberg will ich nicht mal für hundert
Euro die Minute den Stall ausmisten gehen“, erwiderte er schaudernd. Kaya
horchte auf, nickte aber langsam.
„Kein guter
Job?“, erkundigte sie sich bei ihm, und Konstantin ruckte mit dem Kopf.
„Der Job
ist ok, aber die Leute sind…“ Er machte eine Pause, verzog aber in eindeutiger
Geste den Mund. Kaya nickte langsam. Ja, von dem, was sie bisher gesehen hatte,
hatte ihr auch nichts gefallen. Vielleicht Frau Fiets. Der wollte sie wirklich
keine bösen Hintergedanken unterstellen.
Sie
arbeitete mit den Jungen weiter, und in den nächsten zwanzig Minuten sprach sie
genauso wenig wie Heiko und schwitzte dafür einfach mehr. Sie hatte keine
Ahnung, wie die Jungen diese Arbeit den ganzen Tag machen konnten. Sie konnte
es sich nicht vorstellen. Aber sie war überrascht, dass doch junge Leute im
Dorf lebten.
„Ok! Kurze
Pause!“, rief Konstantin schließlich, während er sich den Schweiß von der Stirn
wischte, und um den See herum den anderen Jungen zusah, die teilweise auch
Pause machten, teilweise weiterarbeiteten.
„Kommt ihr
alle aus dem Dorf hier?“, fragte Kaya erschöpft. Sie hatte unglaublichen Durst,
stellte sie fest. Konstantin stützte die Hände auf den Knien ab.
„Ich komme
hierher und mein Bruder Christian auch.“ Er deutete auf einen größeren Jungen
weiter hinten, aber Kaya glaubte ihn an seinen blonden Locken ausmachen zu
können.
„Heiko hier
kommt vom nächsten Dorf, aber die liegen ja alle ziemlich nah beieinander“,
schloss er achselzuckend. „Wir lagern das Heu bei uns ein“, ergänzte er und
legte den Kopf in den Nacken und schien die Sonne zu genießen.
Kaya
schloss gerade aus dieser Information, dass er und sein Bruder dann Voss mit
Nachnamen heißen mussten, als etwas um ihre Beine lief.
„Hey!“,
rief sie aus, als sie Balu erkannte. „Na, du kannst aber schon gut rennen, hm?“
Sie kraulte den Hund am Kopf und hob den Blick gegen die Sonne, als sie eine
Gestalt ausmachen konnte.
„Einen
schönen guten Morgen, Fräulein Rothenberg“, begrüßte sie der Tierarzt mit einem
freundlichen Blick. Anscheinend kannte auch er nun ihren Nachnamen. „Jungs“,
richtete er jetzt ein Nicken an die beiden anderen.
„Hallo, Dr.
Schmidt“, erwiderte sie unschlüssig. Sie bemerkte Konstantins fragenden Blick,
aber er sagte nichts.
„Ich bin hier,
um nach dem Rechten zu sehen, und mir ist zu Ohren gekommen, du hattest heute
einen Termin?“ Der Hund strich jetzt dem Tierarzt um die Beine, und Kaya verzog
den Mund und blickte wieder über den dunkelblauen See.
„Jaah,
wissen Sie, Dr. Schmidt, ich bin viel lieber hier“, räumte sie achselzuckend
ein.
„Körperliche
Arbeit bei dieser Hitze?“, erkundigte er sich, aber sein Blick wirkte
verständnisvoll. „Ich fahre jetzt rauf zum Gestüt und würde dich gerne
mitnehmen“, schloss er auffordernd.
„Ich glaube nicht, dass ich da noch mal hin möchte“, erklärte sie.
„Hm…“,
machte Dr. Schmidt nur. „Ich denke, du solltest diese Möglichkeit nicht
verstreichen lassen, Kaya. Wer weiß wozu es gut ist? Vielleicht gefällt es dir
sogar“, erwiderte er mit offenen Armen.
„Ich kann
nicht reiten, also-“
„-ich
glaube, das erwartet man von dir auch nicht“, sagte er ruhig. Kaya kaute auf
ihrer Lippe.
„Ich
glaube, Sie verstehen nicht, Dr. Schmidt“, versuchte sie es erneut. „Es war
nicht gerade ein… glückliches Zusammentreffen“, beschrieb sie ihre gestrige
Erfahrung. Und das war eine ziemliche Untertreibung.
„Das kann
ich mir denken. Wirklich, Kaya“, beteuerte Dr. Schmidt. „Aber weißt du, ich
denke, man sollte alle Gelegenheiten nutzen, die sich einem offenbaren, findest
du nicht?“ Sie vermochte seine Worte nicht zu deuten, aber sie verschränkte die
Arme vor der Brust.
„Ich hatte
einen Termin um neun“, sagte sie schließlich. „Der ist vorbei“, ergänzte sie
kleinlaut.
„Oh, ich
bin mir sicher, das ist nicht schlimm.“
„Wie können
Sie sich da sicher sein?“
„Mach dir
einfach keine Sorgen, Kaya“, erklärte er wieder, und sie wusste nicht, woher er
die Zuversicht nahm.
„Und ich
bin nass geschwitzt. Ich habe keine Ausrüstung, kein Pferd – ich habe gar
nichts“, sagte sie jetzt lauter.
„Ich denke,
an einer Ausrüstung und einem Pferd sollte es auf einem Gestüt nicht mangeln,
oder meinst du nicht?“ Seine gutmütige Art machte ihr wirklich zu schaffen. Sie
legte die Stirn in Falten. Dann seufzte sie auf.
„Schön. Ich
gehe dort hin. Aber wenn es furchtbar ist, gehe ich nach Hause, Dr. Schmidt“,
sagte sie fest, und er lachte auf.
„Natürlich,
das steht dir frei“, erwiderte er. „Zieh dich um, ich warte solange.“ Er
bedeutete ihr, ihm zu folgen.
„Tja, tut mir leid, ich… muss wohl doch los“, entschuldigte sich Kaya bei
Konstantin. Dieser musterte sie ausdruckslos.
„Komm,
Heiko“, sagte er nur, ließ Kaya stehen und begann mit Heiko weiter Gras
zusammenzurechen. Verdutzt sah ihm Kaya zu, folgte dann aber Dr. Schmidt zum
Haus zurück.
„Du kommst
hier viel rum, hm?“, erkundigte sich Dr. Schmidt, ohne sie anzusehen, und Balu
tänzelte hechelnd neben ihr her.
„Ja, sieht
so aus“, bemerkte sie. „Wissen jetzt alle hier, wer ich bin?“, wagte sie zu
fragen, und Dr. Schmidt lachte auf.
„Das Dorf
ist klein, Kaya. Und ja, ich denke, mittlerweile ist es den Leuten hier
bekannt, aber keine Sorge. Das kann für dich nur von Vorteil sein“, sagte er,
aber Kaya verstand nicht, was er damit meinte. Schweigend gingen sie zurück.
„Na? Spaß
gehabt?“, fragte nun Herr Ohlkamp als sie das Gästehaus wieder erreicht hatten.
„Den Jungen die Köpfe verdreht?“, lachte er, und Kaya wurde rot bis zum
Haaransatz.
„Nein, hab
ich nicht!“, widersprach sie kopfschüttelnd. „Und ich glaube, ich war auch
keine gute Hilfe“, räumte sie ein. Aber Herr Ohlkamp paffte seelenruhig seine
Pfeife weiter und richtete seinen Blick lächelnd über den See.
„Ich werde
mir noch einen Tee genehmigen, während du dich umziehst“, sagte Dr. Schmidt und
Kaya nickte. Sie verschwand ins Innere und beschloss, wenigstens zu duschen.
Wenn sie
sich schon blamierte, dann wenigstens geduscht und in sauberen Klamotten.
~*~
Sie hatte
sich kaum entscheiden können, dabei war es sowieso egal, was sie anzog. Sie
entschied sich schließlich für die zerschlissene Jeans – und bemerkte, wie sie
diese mit beinahe trotziger Überheblichkeit anzog – sowie das blaue Theater
Berlin Shirt, das sie an ihre Mutter erinnerte. Und sie rief sich ins
Gedächtnis, dass sie zumindest versuchen musste, irgendetwas zu erreichen, wenn
sie schon hier war.
Ihre Haare
hatte sie gewaschen, und sie waren schon fast wieder getrocknet. Zumindest zur
Hälfte. Aber es war so warm, sie nahm an, sie würden in zehn Minuten trocken
sein, wenn der Wind nur mittelmäßig stark wehen würde. Sie fielen wie immer
langweilig glatt und blond ihren Rücken hinab, aber wenn sie sie nicht föhnte
konnte sie sich eine leichte Naturwelle einbilden, überlegte sie, während sie
sich mit verengten Augen musterte.
Aber nein. Köpfe
verdrehen konnte sie bei niemandem. Noch keinem Junge hatte sie jemals den Kopf
verdrehte. Herr Ohlkamp war gemein. Wieder wurde sie rot bei dem Gedanken
daran. Sie war lächerlich, wirklich.
Sie atmete
ein, aber irgendwie wollte nicht wirklich viel Luft in ihre Lungen kommen, und
sie war kurzatmig. Sie kämmte sich noch einmal die nassen Strähnen durch, legte
die Bürste auf die Kommode vor sich unter den Spiegel und zuckte zusammen, als
das Handy auf dem Nachttisch vibrierte.
Ob es
endlich Alina war, die sie vorhin schon versuchte hatte anzurufen, die aber
nicht rangegangen war?
Sie blickte
hinab auf das gesprungene Display und ging so hastig ran, dass ihr das Handy
fast aus der Hand geglitten wäre.
„Mama!“,
sagte sie dankbar und hörte Musik und laute Stimmen im Hintergrund.
„Kaya?“, rief die Stimme ihrer Mutter. „Hörst du mich?“
„Ja, ich
hör dich! Alles ok?“, fragte Kaya, ehe ihre Mutter fragen konnte.
„Ja, alles
bestens hier! Wirklich stressig, aber kannst du dir ja vorstellen! Die Bühne
ist dreimal so groß als beim Theater in Berlin, kannst du dir das vorstellen?“,
rief ihre Mutter, und allein ihre Stimme zu hören, trieb Kaya die Tränen in die
Augen. „Und bei dir?“, fragte ihre Mutter jetzt. „Alles klar bei euch? Wie sind
die Wagners?“
Kurz runzelte
Kaya die Stirn. Aber… richtig! Ihre Mutter dachte ja, sie wäre bei Alina
zuhause!
„Oh, die
Wagners sind super, Mama, wirklich“, murmelte Kaya verlegen.
„Gut zu
hören. Endlich bekommst du mal gesundes Essen“, sagte ihre Mutter fast
entschuldigend.
„Ich mag
unser Essen, Mama“, entgegnete Kaya leise.
„Wie sieht
es aus mit der Nachprüfung?“ Natürlich fragte ihre Mutter danach. Kayas
Schuldgefühle brodelten in ihrem Bauch.
„Ich… also
wir – Alina und ich – haben da eine Idee…“, sagte sie vage. „Mal sehen, ob das
klappt. Ich… kann dir die Tage mehr berichten“, wich Kaya ihr aus.
„Na gut.“
Ihre Mutter wirkte nicht zufrieden. „Aber vergiss es nicht, ok?“
„Ok“,
versprach Kaya tonlos. „Und?“, lenkte sie schließlich vom unangenehmen Thema
ab. „Hast du jetzt gerade Rollschuhe an?“, fragte sie ihre Mutter und konnte
nicht verhindern, zu grinsen.
„Kurze, ich
lebe nur noch auf Rollschuhen. Und bei meiner körperlichen Selbstbeherrschung
und Koordination kannst du dir ja vorstellen, wie wunderbar das
funktioniert…!“, jammerte sie. Kaya musste lachen.
„Oh, ich würde es so gerne sehen!“, sagte Kaya jetzt enttäuscht.
„Ich werde
die Kollegen mal bei Gelegenheit beauftragen ein Video von mir zu filmen, dann
schicke ich dir das“, versprach ihre Mutter besorgt. „Wenn ich es denn
überleben sollte…“, bemerkte sie bitter.
„Ach komm
schon! Können denn alle anderen reiten?“, fragte sie ihre Mutter und biss sich
sofort auf die Zunge nach ihren Worten. „Rollschuhfahren, meine ich!“,
verbesserte sie sich hastig.
„Wie kommst
du denn auf reiten?“, fragte ihre Mutter amüsiert. „Und nein, Gott sei Dank
können es die anderen auch nicht gut“, beantwortete ihre Mutter ihre Frage und
ging nicht weiter auf ihren Versprecher ein. Kaya hörte in nächster Nähe zwei
Männer irgendetwas auf Englisch brüllen. „Das sind die Bühnenbildner“, erklärte
ihre Mutter leiser. „Ich hab hier nicht viel Ruhe, Kurze. Kann ich dich heute
Abend noch mal anrufen?“, fragte ihre Mutter und Kaya hätte das Handy am
liebsten nicht mehr weggelegt.
„Ja, Mama“,
erwiderte Kaya schließlich seufzend.
„Vielleicht
kann ich dann auch kurz mit Frau Wagner sprechen? Um mich zu bedanken?“,
ergänzte ihre Mutter, und Kaya glaubte nicht, dass das möglich sein würde. Sie
wusste nur noch nicht genau, wie sie das ihrer Mutter klarmachen würde.
„Äh… ja,
ok“, sagte sie nur. „Mama, ich hab dich lieb!“, fügte sie schnell hinzu.
„Ich dich
auch, Kurze. Bis später, ja? Mach dir einen schönen Tag!“
Dann war
das Gespräch auch schon vorbei. Einen schönen Tag? Kaya glaubte nicht daran,
aber… sie würde das Beste draus machen.
Sie legte
das Handy zurück auf den Nachttisch und schnürte ihre Turnschuhe. Sie hatte
Angst. Und sie wusste nicht, weshalb Dr. Schmidt so viel Vertrauen hatte, dass
es nicht schlimm werden würde.
Denn Kaya
war vom Gegenteil mehr als überzeugt.
Dr. Schmidt
wartete unten bereits auf sie, hatte aber an ihrer Garderobe scheinbar nichts
auszusetzen. Ihre Mutter hätte sie diese Hose niemals anziehen lassen. Aber
Kaya machte sich nichts aus Reiterklamotten, denn sie hatte ohnehin keine. Wozu
dann schick aussehen?
„Dann
wollen wir mal. Ich hoffe, du hast keine Allergien?“, erkundigte sich Dr.
Schmidt, als er ihr die Tür seines dunklen Jeeps öffnete. Er trug immer noch
Gummistiefel – oder schon wieder – erkannte Kaya. Ob er nie etwas anderes
anzog?
„Nein,
nicht das ist wüsste. Außer gegen Nüsse“, räumte sie ein.
„Na gut,
Nüsse haben kein Fell und sollten sich auf den Autositzen auch nicht finden
lassen“, erwiderte er zwinkernd.
Sie fuhren los.
Kaya fiel auf, dass sie Frau Ohlkamp gar nicht auf Wiedersehen gesagt hatte,
aber Frau Ohlkamp würde sie ja später wiedersehen, wenn sie in Einzelteilen
zurück zum Gasthof kommen würde. Sie
hatte sich noch keine Gedanken über das Geld gemacht, fiel ihr auf. Eigentlich
konnte sie sich weitere Übernachtungen nicht leisten. Zwar hatte Frau Ohlkamp
ihr gesagt, sie könne auch erst mal umsonst auf dem Hof wohnen, aber das war
Kaya unangenehm. Wie konnte ihr reicher Großvater ihr nicht gönnen in einem
seiner Millionen Zimmer zu schlafen, und Frau Ohlkamp, die hohe Pachtsummen zu
zahlen hatte, ließ sie umsonst im Gasthof schlafen?
Kaya
begriff reiche Leute nicht – und wollte sie auch gar nicht erst!
„Können Sie
reiten, Dr. Schmidt?“, fragte sie den Tierarzt unwillkürlich, und dieser
lächelte jetzt.
„Nicht
wirklich“, gestand er ein. „Ich mag Pferde gerne, aber auch Kühe und Schweine.
Man kann das Tier an sich mögen, ohne auf ihm Kunststücke vollführen zu müssen,
verstehst du, was ich meine? Ich mag auch Düsenjets, aber… Pilot möchte ich
trotzdem nicht sein“, erklärte er.
Kaya dachte
darüber nach. „Na ja, Sie können das Pferd vielleicht nicht reiten, aber… sie
können es reparieren, wenn es kaputt geht, umgangssprachlich gesagt“, erwiderte
sie nachdenklich. „Ich denke, das ist wichtiger als Kunststücke auf einem Pferd
zu können, oder? Ich meine, wenn es kaputt geht, dann hilft es auch nichts,
dass man einbeinig Saltos auf seinem Rücken schlagen kann“, murrte sie. Sie
wäre lieber Tierarzt als Reiter.
Dr. Schmidt
lachte neben ihr. „Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Wenn du auch nur im
Entferntesten die Reitergene deines Vaters oder Großvaters geerbt hast, dann
sehe ich keine Schwierigkeiten, Kaya.“ Und Kaya stutzte. Sie sah den
graugelockten Mann neben sich an, den Mode auch nicht zu kümmern schien. Kaya
mochte es an ihm.
„Sie kennen
meinen Vater?“, fragte sie scheu. Dr. Schmidt schien kurz abzuwägen.
„Nein, ich…
kannte ihn oberflächlich. Als er ein Junge war. Er war kaum von den Pferden
runterzubekommen“, schien er sich lächelnd zu erinnern. „Immer wenn ich zum
Gestüt kam saß er auf einem Pferd. Egal, zu welcher Tageszeit“, lachte er.
„Aha“,
sagte Kaya, die es sich nicht vorstellen konnte.
„Er hat
viele Turniere gewonnen“, bemerkte der Tierarzt nickend. „Dein Großvater hatte
ein ganzes Zimmer voll nur mit Pokalen und Trophäen deines Vaters.“ Kurz sah er
Kaya an, um seine Worte zu bestätigen. „Damals hat er es jedem gezeigt, der
einen Schritt ins Haus gemacht hat“, erinnerte er sich kopfschüttelnd.
„Dann muss er meinen Vater ja gemocht haben“, nahm Kaya zweifelnd an. Dr.
Schmidt blickte wieder nach vorne auf die Straße.
„Ja, das
hat er“, bestätigte der Tierarzt. „Aber was weiß ich schon, nicht wahr? Bin nur
ein Viehdoktor“, ergänzte er lächelnd, und Kaya musste grinsen. Aber schon fiel
der letzte Rest Ruhe von ihr ab, als der Wärter an der Schranke Dr. Schmidt
durchwinkte. „Keine Sorge, Kaya. Du weißt doch, Hunde, die bellen beißen
nicht“, erklärte er.
„Ich
glaube, Hunde, die bellen, beißen erst Recht, Dr. Schmidt“, murmelte sie
ängstlich. Dr. Schmidt schien darüber nachzudenken.
„Na gut,
vielleicht. Aber dann nur aus Angst“, räumte er lächelnd ein, als er den Wagen
an einigen Stallungen vorbeifuhr und auf dem Parkplatz parkte. Einige andere Autos
standen dort auch, alles Marken, die Kaya von den Eltern ihrer Mitschüler her
kannte.
Nervös
stieg sie aus. Ach, hätte sie doch nicht die zerrissene Hose angezogen!
Sie
erkannte eine Koppel von weitem, auf der eine Gruppe Reiter anscheinend trainierte.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Dr. Schmidt kam um den Jeep herum und stellte
sich abwartend neben sie.
„Jetzt bin
ich zum dritten Mal hier, in drei Tagen“, flüsterte sie heiser. „Ich hoffe,
ich… bin heute das letzte Mal hier.“ Der Tierarzt musterte sie, und hastig
schüttelte sie den Kopf, um die Angst zu verscheuchen.
„Na komm“,
sagte er gutmütig, und gemeinsam beschritten sie den Weg aus Steinplatten.
Erde, Kies und Stroh waren hier und da auf dem Weg verteilt und knirschten
unter ihren Turnschuhen. Sie erreichten die Koppel. Heute stand eine junge Frau
dort, mit einer langen Peitschte in der Hand. Sie hielt inne, als sie Dr.
Schmidt wohl zu erkennen schien.
„Herr
Doktor, Herr Doktor!“, rief das Mädchen lachend. „Sie haben sich nicht
verändert! Reitet weiter im Kreis und versucht, einfach ein einziges Mal nicht
auszubrechen“, bemerkte sie spöttisch an die Reiterinnen gewandt. Sie hatte
lange schwarze Haare in einen Zopf gebunden, oder sie waren so dunkelbraun,
dass sie schwarz wirkten. Sie hatte ein freundliches Gesicht, aber ihre Züge
waren scharf geschnitten. In ihrem linken Nasenflügel glitzerte ein weißer
Stein.
„Neue
Schülerin? Reichlich spät. Da wird der gnädige
Herr nicht erfreut sein!“, sagte sie in Richtung Kaya, und so wie sie
sprach klangen die Worte eher ironisch, stellte Kaya fast erleichtert fest.
„Frau
Werdelmeier, ich dachte schon, Sie kämen dieses Jahr nicht mehr“, begrüßte sie
der Tierarzt. „Und das hier ist keine Schülerin im traditionellen Sinne“, fuhr
er fast geheimnisvoll fort. „Das hier ist Kaya, und sie hat einen Termin“,
erklärte er verschwörerisch. Das Mädchen hob eine akkurat gezupfte Augenbraue.
Ihr
Oberteil war eng, aber auch sie trug das eingestickte Zeichen des Gestüts,
stellte Kaya fest. Ihre Reitstiefel waren dreckverschmiert, und auch die
schwarze Reiterhose schien bereits bessere Tage gesehen zu haben. Kaya erkannte
auch ein Tattoo auf dem Oberarm des Mädchens, aber der Ärmel des Shirts verbarg
die Hälfte davon.
„Aha, einen
Termin? Wie edel“, bemerkte das Mädchen, und sie schien immer spöttisch zu
lächeln. „Ich bin Vanessa, und vielleicht interessierst du dich ja für
Rennsport?“ Und Kaya klang das Wort viel zu gefährlich in Verbindung mit einem
Pferd, aber dieses Mädchen schien wenigstens nicht vollkommen furchtbar zu
sein.
„Ich kann
nicht reiten“, stellte Kaya also sofort resignierend fest, ohne dem Mädchen
Hoffnungen zu machen. Diese zeigte nun lachend ihre weißen Zähne.
„Und was
willst du dann hier, wenn ich fragen darf?“
„Reiten
lernen“, antwortete Kaya hoffnungslos.
„Ja? Bist
du reich?“ Das Mädchen schien sich nicht um Höflichkeiten zu kümmern.
„Kann man so sagen“, bemerkte der Tierarzt plötzlich neben ihr. „Wo ist der
Herr des Hauses?“
„Der schreit
gerade Paul den Hufschmied in den Paddocks an“, bemerkte die schwarzhaarige
Reitlehrerin trocken.
„Das trifft
sich gut. Dorthin führt mich mein Weg ebenfalls“, verabschiedete sich Dr.
Schmidt lächelnd, mit angedeuteter Verbeugung. „Sie waren wie immer eine
Augenweide, Frau Werdelmeier.“
„Sie sind
ein alter Schleimer, Dr. Schmidt. Und Kaya, wenn du überlebst, besuch uns hier
mal wieder!“, rief die junge Frau und wandte sich dann mit einem leisen
Peitschenknall wieder ihren Schülerinnen zu. „Das soll hier kein Paarreiten
werden, meine Damen. Reißt euch mal ein bisschen zusammen, wir sind nicht auf
dem Scheunenball!“
Kaya fand
sie nett. Wirklich nett. Und lustig. Und sie war gepierct und tätowiert. Gerne
hätte sie das Tattoo gesehen! Sie wollte schon so lange eins haben, aber… ihre
Mutter sah das leider etwas anders.
Sie ging
neben Dr. Schmidt, bis sie zu einem weiteren Stall kamen, mit besonders hoher
Decke, und er ihr bedeutete, vorzugehen. Sie sah ihn gequält an, aber er
lächelte wieder.
„Na los.“
Kaya
seufzte und fragte sich, mit wie viel Jahren man eigentlich keine Angst mehr
haben durfte. Denn sie hatte immer noch Angst. Und jetzt gerade hatte sie Angst
vor dem Mann, der im Inneren dieses Gebäudes wartete.
Aber sie
betrat das Gebäude und fühlte sich wie in einem Horrorfilm, wo sie vorher genau
wusste, dass sie gleich umgebracht werden würde.
„Also, alle
acht?“, fragte ein rothaariger Mann etwas ratlos und eingeschüchtert. Sie nahm
an, es handelte sich um Paul, den Hufschmied.
„Ja, alle
acht Hengste. Die beiden Stuten will ich noch nicht neu beschlagen lassen,
wegen des bevorstehenden Turniers. Kendra tut sich schwer mit neuen
Beschlägen“, schien er dem Hufschmied ein weiteres Mal zu erklären.
„Aber die
Lipizzaner-Stute bräuchte auch neue Beschläge, oder irre ich mich?“, mischte
sich Dr. Schmidt schließlich ein, und beide Männer wandten den Blick.
Kaya war
stehen geblieben. Ob aus Furcht oder aus Ratlosigkeit wusste sie nicht genau.
Ihr Großvater trug heute eine hellere Reithose, dazu ein dunkles Hemd. Wieder
kam er ihr überhaupt nicht wie ein Großvater vor. Eher wie ein strenger Lehrer.
Er
betrachtete ihre Erscheinung missbilligend, wie ihr schien.
„Du bist zu
spät“, sagte er nur. „Und das letzte, was die verdammte Stute braucht sind neue
Beschläge, Dr. Schmidt. Was verschafft mir überhaupt die Ehre Ihres Besuchs?
Ich dachte, sie kämen erst in einer Woche wieder?“ Immerhin hatte er Kayas
Erscheinen kurz und knapp abgehandelt. Vielleicht konnte sie jetzt schon gehen?
„In erster
Linie bin ich gekommen, um Kaya abzusetzen, Dr. Rothenberg. Und dann habe ich
mir gedacht, dass ich mir die Stute heute noch einmal ansehen werde.“
„Sie
scheinen zu viel Freizeit zu haben, Dr. Schmidt“, bemerkte ihr Großvater
scharf.
„Nun“, begann
Dr. Schmidt lächelnd, „manchmal muss man sich für die wichtigen Dinge im Leben
eben die Zeit nehmen, nicht wahr?“ Dr. Schmidt lächelte wieder. Kaya konnte
nicht begreifen, dass er keine Angst vor ihrem Großvater hatte.
Kurz
kräuselte sich die Oberlippe ihres Großvaters in völliger Ablehnung.
„Ich habe
jetzt keine Zeit mehr, mir deine nichtvorhandenen Reitkünste anzusehen,
Mädchen“, erklärte er mit einem Blick auf sie.
„Aber ich
denke, Sie haben mit Paul alles besprochen, oder nicht?“, mischte sich Dr.
Schmidt wieder ein.
„Im
Gegensatz zu Ihnen, erstreckt sich mein Zeitplan nicht nur auf die
Bauernhoftiere der Umgebung, Dr. Schmidt“, erwiderte er kühl.
„Ich bin
sicher, Sie können zehn Minuten Zeit einschieben. Ich habe noch keinen Ihrer
Prachtberater an Ihrem Rockzipfel hängen sehen“, bemerkte er lächelnd. Ihr
Großvater atmete langsam aus.
„Ihre Augen
sind noch erstaunlich gut“, schloss er knapp. Kurz herrschte Stille. „Die
Koppeln sind belegt“, ergänzte er schließlich. „Ich wüsste nicht, wo sie würde
reiten können. Ich sehe nicht ein, für Verspätungen-“
„-ich
denke, um einen guten Sitz zu erkennen, braucht sie keine ganze Koppel, oder
irre ich mich?“ Kaya glaubte, gleich würde der Mann vor ihr explodieren.
„Was sind Sie? Der Anwalt des Mädchens?“
„Nein. Das
dürften Sie wohl eher werden“, schloss Dr. Schmidt belustigt.
Ihr
Großvater schien die Fäuste zu ballen.
„Sie
sollten sich mit Frau Fiets zusammentun, Doktor“, knurrte er praktisch als er
an ihnen beiden vorbeischritt. Kaya sah ihm ratlos nach. Dann schoss sein Kopf
zu ihr zurück.
„Am besten
bewegst du dich, Mädchen. Noch eine Extraeinladung wirst du nicht bekommen!“
Kayas
stolperte hinter ihm her. Hunde, die
bellen… - angespannt folgte sie ihrem bissigen Großvater.
„Am besten
nehmen wir ein bereits gesatteltes Pferd“, sagte er knapp, ohne wirklich mit
ihr zu reden. „Würdest du zu mir aufschließen? Es macht mich nervös, verfolgt
zu werden“, bemerkte er jetzt, und widerwillig schloss sie zu ihm auf. Er ging
schnell. So schnell, dass sie schon bald außer Atem war. „Wo ist deine
Ausrüstung?“, fragte er anschließend, und sein Blick glitt erneut an ihr hinab.
Sie sah zu ihm auf, aber er hielt ihrem Blick nicht stand und blickte wieder
missbilligend nach vorne. „Du hast keine Ausrüstung. Aber um deinen Sitz zu
beurteilen brauchst du das wohl auch nicht“, sagte er, wohl wieder mehr zu sich
selbst.
Kaya sagte
gar nichts. Sie erreichten die Halle, in der sie ihn das erste Mal gesehen hatte.
Er betrat die offenen Türen, und Kaya vernahm ein Lied, dass sie aus dem Radio
her kannte. Aber sie konnte gerade nicht sagen, was es war. Es war schnell und
sehr elektro-lastig.
„Leonard!“,
rief ihr Großvater über die Musik hinweg, aber der gemeine, blonde Reitlehrer
hatte ihn schon erkannt. Und wieder fiel sein Blick auf sie. Und es war kein
netter Blick. Die Musik wurde angehalten. Anscheinend hatte der Reitlehrer eine
Fernbedienung. „Ich brauche ein Pferd für einige Minuten“, erklärte er kurz angebunden.
Kurz schien
der Reitlehrer nicht zu reagieren, dann wandte er sich ohne eine weitere Frage
an die versammelten Mädchen auf ihren Pferden. Er schien zu überlegen und
deutete auf ein Mädchen am Ende. „Nummer Zwölf, absteigen“, rief er, ohne jeden
Funken Höflichkeit. Kaya hätte am liebsten die Augen verdreht. Das Mädchen
stieg unsicher ab. „Bring das Pferd nach vorne.
Kayas Herz
raste. Das war kein Pferd! Das war ein Elefant! Das war viel zu hoch! Viel zu,
viel zu hoch! Sie hätte sich praktisch unter die Schnauze von diesem Tier
stellen können!
„Aufsitzen“,
sagte der Mann neben ihr jetzt. Sie hob langsam den Blick zu seinem Gesicht.
Meinte er das jetzt wirklich ernst?! „Worauf wartest du?“, fragte er
tatsächlich gereizt. „Hier wird gerade eine sehr teure Dressurstunde gehalten,
also schlage ich dir vor, du sitzt auf!“ Er betonte jedes Wort.
Die Mädchen
sahen sie alle an. Keine sagte etwas, keine lachte, aber Kaya sah, dass sie sie
wohl allesamt nicht leiden konnten. Am wenigstens wohl Nummer Zwölf, die ihr
Pferd hatte hergeben müssen.
Wie ging
das? Linkes Bein, rechter Steigbügel? Oder so?
„Herr von
Rothenberg?“, mischte sich der junge Mann jetzt ein und kam näher. „Warum soll
das Mädchen reiten?“
Das war
eine sehr gute Frage. Weil Herr Steiner sie dazu zwingen wollte, wäre ihre
ehrliche Antwort gewesen. Weil sie eine Nachprüfung in Sport machen musste.
Weil sie einfach mehr Pech als Verstand hatte.
„Sie soll
nicht reiten. Ich will mir ihren Sitz ansehen“, erwiderte ihr Großvater streng.
„Meine Güte, steig endlich auf das Pferd!“, knurrte er sie an. Sie trat hastig
an das Tier heran. Es war zu groß! Viel zu groß! Der Steigbügel hing auf
Brusthöhe. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie da rein kommen sollte.
Sie wandte sich etwas ratlos zu den entnervten Männern um.
„Gibt es…
einen Stuhl hier, oder so?“ Sie klang genauso unfreundlich. Ihr Großvater
verdrehte zornig die Augen.
„Leonard?“,
wandte er sich ungeduldig an den Reitlehrer, und Kayas Augen weiteten sich
panisch, als der junge Mann auf sie zuschritt. Er stellte sich jetzt neben sie
und Kaya blickte hoch in sein Gesicht. Sie spürte schon jetzt, wie sie rot
wurde. Sein Gesicht war sehr kantig, und sie erkannte viele Bartstoppeln auf
seiner unteren Gesichtspartie. Seine Nase war sehr gerade und er kämmte sich
mit den Fingern die blonden Wellen zurück.
Er sah gut
aus, aber freundlich war er bei weitem nicht.
„Ja?“,
wagte sie zu fragen, als er langsam eine Augenbraue verständnislos in die Höhe
zog.
„Ich gebe
dir jetzt Hilfestellung?!“, informierte er sie ungläubig.
„Aha?
Inwiefern?“, entfuhr es ihr tonlos und sie hätte jetzt im Boden versinken
können. Sein Mund öffnete sich einen Spalt, als würde er sie nicht verstehen.
Dann atmete er langsam aus.
„Heb dein
linkes Bein an!“, befahl er jetzt. Er hatte die Handfläche ausgestreckt und
neigte sich vor. Sie konnte auf seinen Kopf gucken. Seine Haare waren sehr
dicht, stellte sie fest. Er machte ihr wohl einer Art Räuberleiter. Bevor er
noch schreien würde, hob sie ihr Bein, er knickte es ohne weiteres an der
Kniebeuge, legte die Hand unter ihr linkes Scheinbein, und hastig sprang sie
mit rechts ab, um seinen gebotenen Schwung zu nutzen. Dann wurde sie in die
Höhe gehoben. Panisch hielt sie sich nun am Pferderücken fest, als er mit
geschicktem Griff auch ihr rechtes Bein mit Schwung auf die andere Seite
beförderte.
Mit
angehaltener Luft saß sie nun hoch oben. Der Sattel war weich unter ihren
Fingern. „Die Steigbügel sind lang genug, und ich habe nicht den ganzen Tag
Zeit“, sagte der Reitlehrer schließlich, als sie fahrig versuchte, ihren linken
Fuß in die Steigbügel zu bekommen. Gar nicht so einfach. Hoffentlich bewegte
sich das Vieh nicht auch noch.
Endlich
hatte sie es geschafft. Oh, wie vermisste sie das Ballen stemmen bei den
Ohlkamps! Lieber das, als zu versuchen, auf ein Elefanten-Pferd zu kommen!
Ihr rechter
Fuß fand ebenfalls richtigen Halt. Alle Mädchen starrten sie mit riesigen Augen
und spöttischen Blicken an. Sie stellte besorgt fest, dass sie hier nie wieder
runter kommen würde.
Was für
eine Scheiße! Ihr rechter Fuß suchte nun verzweifelt nach dem nächsten
Steigbügel. Ihre Hände klammerten sich an den Sattelrand. Aber das Tier bewegte
sich nicht. Gott sei Dank nicht!
„Rühr nicht
die Zügel an“, sagte der Reitlehrer drohend zu ihr. Ihr Großvater kam näher.
Kaya war leicht nach vorn gebeugt. Panisch bemerkte sie, wie weit der Boden
entfernt war. Es war wie im Schwimmbad auf dem Dreimeterbrett zu stehen. Von
unten sah es aus wie nichts, und wenn man erst mal oben war, sah die Welt ganz
anders aus.
Sie
schluckte schwer. Sie wollte einfach nur noch nach Hause. Gut, dass sie keine
Kamera mitgenommen hatte, denn diesen glorreichen Moment wollte sie nicht auf
Video haben!
„Setz dich
gerade hin, meine Güte noch mal“, fuhr ihr Großvater sie an. Kaya atmete
abgehackt. Und langsam, sehr langsam, richtete sie sich auf. Ihr Großvater
betrachtete sie eine Sekunde lang. „Das ist deine entspannte Haltung?“,
erkundigte er sich abfällig. Kaya sah ihn mittlerweile wütend an.
„Nein!“,
zischte sie ebenfalls gereizt. „Das ist meine Panik-Haltung auf einem
Elefanten!“ In luftigen Höhen wurde sie also reizbar. Gut zu wissen, nahm sie
an. Ihr Großvater hob eine Augenbraue.
„Dann nimm
einen entspannten Sitz ein. Du musst auf dem Rücken des Pferdes balancieren
können. Und nimm nicht die Zügel in die Hand!“, wiederholte auch er.
„Ja, ja! Keine Zügel!“, murrte sie, während sie versuchte, irgendein
Gleichgewicht zu finden. Es fühlte sich so seltsam an. Es war als würde sie
breitbeinig auf einer Tonne sitzen. Nicht nach unten sehen. Du kannst das.
Einfach nicht nach unten sehen! Deine Mama fährt Rollschuh auf einer Bühne vor
hunderten von Leuten im Glitzerkostüm. Da wirst du wohl auf einem blöden Pferd
sitzen können, ohne albern auszusehen.
Es ging
nicht, also schloss sie die Augen. Sie stellte sich vor, sie würde wirklich auf
dem Boden auf einem breiten Fass sitzen. Und sie durfte nicht runterfallen. Das
war schon alles.
Es war
relativ unbequem. Aber sobald sich ihre Augen geschlossen hatten, war die
Höhenangst verschwunden.
Ihr Vater
soll ein guter Reiter gewesen sein? Sie hatte ihn noch nie davon sprechen
gehört. Aber am Telefon sprachen sie auch für gewöhnlich nur über das Wetter,
die Gesundheit – und das war’s. Alles war still, und sie spürte, wie sie sich
entspannte, wie sie einfach ausatmete. Ihre Hände lagen ruhig auf dem Leder.
Sie nahm erst jetzt den Geruch der Tiere wirklich war. Sie rochen… nach Fell,
nach Erde, nach Pferd. Und es roch nach Leder. Es war nicht unangenehm.
„Führen Sie
sie ein Stück“, hörte sie die Stimme ihres Großvaters. Sie öffnete blinzelnd
die Augen. Schon sah sie, wie der Reitlehrer das Pferd an den Zügeln gegriffen
hatte und sich das riesige Tier bewegte! Panisch klammerte sie sich an den
Sattel. „Locker sitzen bleiben und tief einsitzen, Mädchen!“, dröhnte die
Stimme ihres Großvaters durch die Halle. Sie sah den blonden Mann vor sich den
Kopf schütteln. Zum Trotz setzte sie sich wieder aufrechter hin, versuchte sich
wieder vorzustellen, sie säße auf ihrem Fass und spürte plötzlich, wie sie
wieder ruhiger wurde. Sie ließ die Augen diesmal geöffnet und sah sich in der
Halle um.
Die Welt
wirkte anders von hier oben. Sie wurde von dem Reitlehrer fast eine ganze Runde
geführt. Der Pferdekörper schwang von rechts nach links, wann immer die
Hinterbeine nach vorne kamen. Wenn sie locker blieb, wiegte sich auch ihr
Körper und passte sich den Bewegungen an. Der Reitlehrer kürzte die Runde etwas
ab, und ihr Großvater kam wieder in ihr Sichtfeld. Sie konnte seinen Ausdruck
nicht völlig deuten.
„Nimm die
Zügel“, begann ihr Großvater langsam, als denke er noch darüber nach. „Aber
nicht daran ziehen. Das Pferd trägt eine Kandare im Mund. Nimm die Zügel in die
Hand, nicht zu locker“, fuhr er tatsächlich ruhiger fort.
Kaya
ergriff die vielen Zügel. Sofort kam der Reitlehrer zu ihr und ergriff ihre
Hand. Sie zuckte vor Schreck zusammen, aber er stellte lediglich mit
geschickten Griffen ihre Hände auf, führte die Zügel an ihren kleinen Fingern
vorbei. Das eine Paar Zügel legte er vor ihr ab. Seine Finger waren warm,
stellte sie unpassenderweise fest, während ihre kalt und starr vor Angst waren.
Er sah sie nicht an. Sie roch sein Parfüm oder eben seinen Duft, oder was es
war. Anscheinend trug nicht nur Bastian irgendeinen Duft, dachte sie
unwillkürlich.
„Gut,
führen Sie sie noch mal“, vernahm sie die gespannte Stimme ihres Großvaters.
Sie wurde wieder geführt. „Nicht am Zügel festhalten, hörst du?“, ermahnte er
sie erneut, dabei hatte sie ihre Hände nicht bewegt. „Hm“, machte er
abschließend tatsächlich eine Spur verblüfft. Sie verblieb weiterhin in der
Bewegung des Pferdes, während sich ihre Daumen auf die Zügel legten, damit sie
nicht rutschen würden. Sie gab automatisch nach, wenn das Tier den Kopf in
nickender Bewegung neigte und ruhig folgten ihre Schenkel den
Vorwärtsbewegungen des Tieres. „Seltsam. Der Sitz ist gut“, räumte er
schließlich ein, und sie wandte den Kopf in seine Richtung. „Machst du Sport?
Gymnastik? Irgendwas?“, wollte er jetzt von ihr wissen, während der Reitlehrer
das Pferd zum Stehen brachte, und sie die Zügel wieder losließ, um bloß nichts
falsch zu machen. Sie wusste auch nicht, was eine Kandare war, aber es klang
kompliziert und nicht sehr nett.
Ja, würde
sie sportlich irgendwie begabt sein, müsste sie keine Nachprüfung machen, also
schüttelte sie wahrheitsgemäß den Kopf.
„Nein,
ich…- nein“, fasste sie ihre Sportlichkeit in drei Worten zusammen und
schüttelte den Kopf. Fast gereizt atmete ihr Großvater aus.
„Du kannst
absitzen“, sagte er nur.
Resignierend
atmete sie aus. Könnte das Tier sich nicht hinsetzen dafür? Elefanten setzten
sich hin, dachte sie verzweifelt. Sie strampelte ihren Fuß aus dem Steigbügel.
Schon war der Reitlehrer zur Stelle.
„Ich halte
dich“, sagte er nur, als sie das Bein wieder über den Pferderücken schwang. Er
hielt sie? Wie das?! Ihr Herz klopfte wieder laut, und schon spürte sie seine
Hände um ihrer Hüfte, spürte, wie er ihr Gewicht trug. Schon glitt ihr zweiter
Fuß aus dem Steigbügel und sanft setzte er sie auf dem Hallenboden ab. Kurz
lagen seine Hände noch auf ihrer Hüfte, dann war der Druck verschwunden.
Hochrot
wandte sie sich um und mied jeden Blick in sein Gesicht. Sie konzentrierte sich
auf ihren Großvater, der zu überlegen schien.
„Ich halte
mich an mein Wort“, erklärte er schließlich, mehr als unschlüssig. „Welche
Helmgröße hast du?“, fuhr er fort, als er sich bereits abwandte. Kaya stand auf
wackligen Beinen in der Halle, wurde von den übrigen Mädchen angestarrte und
hatte keine Ahnung, was er meinte. „Mädchen?“ Er hatte inne gehalten und sich
ungeduldig umgewandt. „Ich habe dich vorhin schon gebeten, nicht hinter mir
herzulaufen!“
Ihre Füße
setzten sich in Bewegung, um aufzuholen. Hastig wandte sie sich um zu Nummer
Zwölf, die ihr Pferd wieder abholte.
„Danke“,
murmelte sie dem Mädchen zu, welches sie entgeistert anstarrte. Dann beeilte
sie sich, ihrem Großvater zu folgen.
–
Das weiße Pferd –
„Fertig für
heute?“, hörte Leonard die Stimme des anderen Reitlehrers hinter sich. Er
vergewisserte sich, dass auch die letzte Box fest verschlossen war, ehe er sich
umwandte.
„Ja“,
erwiderte er kurz angebunden. Er hatte genug von Smalltalk, von Unterhaltungen,
die man nur führte, um zu reden. Er konnte nicht sagen, dass er mit Tom
befreundet war. Er wollte es auch gar nicht. Er kannte ihn. Sie waren zusammen
Turniere geritten, und der Mann konnte gut springen, aber von Dressur hatte er
keine Ahnung.
Vorgestern
war er mit ihm im Dorf gewesen, hatte den ersten Feierabend mit Bier besiegelt,
und damit war die Tradition, die sie vielleicht hatten, auch schon vorüber
gewesen. Leonard wischte sich die Hände an der dunkelbraunen Reithose ab. Der
Gürtel saß immer noch fest, und das olivgrüne Poloshirt steckte fest im Bund.
Es war heute wieder unglaublich heiß gewesen, und es hatte ihn alles an Kraft
gekostet, die Pferde davon abzuhalten, sich im Sand der Halle zu wälzen.
Zwar war es
nicht seine Aufgabe, die Tiere sauber zu bekommen, dafür war das Stallpersonal
schließlich da, aber es war schon ein Akt, die Pferde wieder zum Aufstehen zu
bewegen, nachdem sie sich erst mal in den Sand fallen gelassen hatten.
„Anstrengender
Tag“, fuhr Tom nickend fort und hing anscheinend ein letztes Zaumzeug neben
eine Paddock-Box.
„Hm“,
erwiderte Leonard unkommunikativ. Er wusste nicht, ob Tom noch auf irgendeine
Antwort seinerseits wartete.
„Das neue
Mädchen“, begann Tom schließlich, als Leonard bereits auf dem Weg nach draußen
war, und er hielt widerwillig inne. „Ist sie die Enkeltochter?“, fragte er, und
Leonard hob den Blick.
„Wessen?“,
fragte er doch, denn er konnte sich kaum vorstellen, dass Herr von Rothenberg
eine Enkeltochter hatte. Er selber ritt seit zehn Jahren hier auf dem Gestüt
und wusste nichts von der Existenz einer Enkeltochter.
„Von Herrn
von Rothenberg“, bestätigte Tom seine Vermutung. Aber Leonard kürzte das Raten
ab.
„Wohnt sie
auf dem Gestüt?“
„Nein, sie
ist wieder ins Dorf zurück“, erwiderte Tom und kratzte sich am Kopf.
„Dann nehme
ich an, sie ist die Tochter von irgendwem“, schloss Leonard gereizt. Er wandte
sich wieder ab. Er hatte die Stallungen verlassen, ehe Tom noch irgendetwas
sagen konnte. Er war froh, auf dem Gestüt schlafen zu können. Zumindest zum
Teil, denn er wusste, Tom wohnte in der Stadt mit seiner Mutter. War es nicht
demütigend bei seinen Eltern zu wohnen, überlegte er bitter und schritt mit
langen Schritten über den Kiesweg hoch zum Anwesen, das hell erleuchtet war.
Er kam zu
spät zum Essen, aber dann war vielleicht ein Großteil der Mädchen schon auf
ihren Zimmern, hoffte er. Er kam sich vor wie ein Hahn inmitten eines Stalls
voller unbegabter Hühner. Wäre die Bezahlung nicht so lukrativ würde er von
diesem Job Abstand nehmen. Er hatte während der Semesterferien genug zu tun.
„Hey“,
begrüßte ihn Jessica Weber. Sie stand vor dem Anwesen an der Wand gelehnt. Ihr
Handy leuchtete noch in ihrer Hand. Glühwürmchen schwirrten ziellos durch die Rosenbeete,
und Jessica lächelte zu ihm auf, als er auf ihrer Höhe war. „Hast du noch
Hunger?“, fragte sie rau, und er ruckte mit dem Kopf.
„Werde
schon noch was bekommen“, sagte er nur. Sie folgte ihm nach drinnen, als sie
bemerkte, dass er nicht stehen blieb, um sich mit ihr zu unterhalten.
„Das war
vielleicht peinlich heute mit dem Mädchen, oder?“, bemerkte sie abfällig und
strich sich den langen blonden Zopf über die Schulter. „Also ich fand es
einfach nur schlimm von dem Mädchen, sich hier reinzumogeln.“ Leonard ließ zu,
dass Jessica zu ihm aufschloss.
„Mir ist es
egal. In meinem Kurs ist sie nicht“, entgegnete er, genauso desinteressiert,
wie er es schon bei Tom gewesen war.
„Ja, klar. Ich meine, ich bin auch froh, dass Herr von Rothenberg sie nicht zu
uns steckt. Was soll sie da auch? Kann nicht mal ein Pferd besteigen“,
beschwerte sich Jessica lachend. „Hey, lauf nicht so schnell“, ergänzte sie,
holte weiter aus und kam vor ihm zum Stehen. Leonard hob sofort den Blick, und
spähte in die Flure. „Wir sind allein“, deutete Jessica sein Verhalten richtig.
„Ich habe
dir schon gesagt, ich kann nicht-“
„-ja, ich
weiß“, unterbrach sie ihn stiller. „Aber niemand ist hier. Keiner sieht uns…“,
flüsterte sie verschwörerisch, als sie näher zu ihm kam und den Kopf in den
Nacken legte.
„Wir sind mitten auf dem Flur!“, knurrte er und
schob sie ein Stück von sich. Ja, er hatte sie geküsst. Letztes Jahr. Und
vielleicht hatte er ihre Nummer eingespeichert und reagierte ab und zu auf ihre
Nachrichten, aber…-
„Ich glaube
nicht, dass es irgendwen interessiert“, schnurrte sie leise, griff in sein
Shirt und zog in zu sich hinab.
„Chrm chrm…“, vernahm er eine Frauenstimme, und sofort richtete er sich auf.
Vanessa lächelte ihnen zu. Aber es war kein freundliches Lächeln. Das war es
nie. „Vielleicht solltest du in dein Zimmer verschwinden. Kleine Schülerinnen
haben im Bett zu sein, oder nicht?“, schlug sie Jessica mit zuckersüßer Stimme
vor. Jessica warf ihr noch einen giftigen Blick zu, ehe sie davon stolzierte.
Ja, sie sah gut aus von hinten. Und sie warf sich ihm praktisch an den Hals.
Und er war schwach geworden.
„Du wirst
so dermaßen hier rausfliegen. Ich hoffe wirklich, das passiert früher als
später.“
Sie biss in
einen grünen Apfel, den sie wohl vom Abendessen mitgenommen hatte. „Und glaub
mir, ich werde den Tag so abfeiern, wenn er endlich kommt!“, versprach sie ihm
mit einem kalten Lächeln.
„Keine
Ahnung, wovon du redest, Vanessa, aber das weiß ja niemand so wirklich, oder?“,
gab er trocken zurück.
„Pass
lieber auf, wo du deine Finger hast, Leo. Magst du auch noch der schicke Vorzeigejunge vom alten Rothenberg sein – ich
versichere dir, damit ist Schluss, wenn er mitbekommt, dass du seinen
Schülerinnen Privatunterricht gibst…“
„Halt
deinen Mund und verschon mich mit deiner Scheiße, ok?“, knurrte er und ließ sie
stehen. Er hasste Vanessa. Sie war eine verdammte Schlange! Und sie würde schon
beim leisesten Verdacht zum Boss gehen. Ohne zu zögern. Und er war sich sicher,
Herr von Rothenberg würde kein Auge zudrücken.
Würde sich
Vanessa doch einfach in Luft auflösen!
~*~
Müde sank
sie bereits im Schlafshirt auf ihr Bett. Es war nach neun. Letztlich war sie
nicht mehr dazu gekommen, mit ihrem Großvater ihre Helmgröße herauszufinden, denn
er war von seinen Beratern abgefangen worden. Aber es war nicht weiter schlimm.
Sie hatte in den Tagesablauf nicht hinein gepasst, aber das hatte ihr die
Möglichkeit gegeben, Frau Ohlkamp zur Hand zu gehen. Sie hatte bereits das
Geschirr im Essenssaal abgeräumt und machte jetzt eine Art Ferienjob. Morgen
früh würde sie die Betten beziehen, die Tische decken und gerne weitere
Arbeiten machen, die Frau Ohlkamp für sie fand. Ihre Mutter sagte stets, man
solle nichts umsonst annehmen.
Und Kaya
war ziemlich aufgeregt. Es war ein aufregender Tag gewesen. Sie würde den
Reitunterricht bekommen, weswegen sie hier war. Sie arbeitete sogar für ihren
Aufenthalt.
Und
eigentlich wollte sie nichts lieber, als Alina davon erzählen.
Und sie
beäugte ihr Handy misstrauisch, denn würde ihre Mutter anrufen, wusste sie noch
nicht, wie sie Frau Wagner wieder einmal verleugnen sollte. Aber das musste
sie. Genauso, wie sie sich mit Alina vertragen musste.
Sie atmete
aus, und scheinbar hatte sie das Handy zu lange angesehen, denn es vibrierte
auf dem Nachttisch. Sie lehnte sich über die Matratze und angelte es vom
Nachttisch. Ruhig lag es in ihrer Hand und summte leise.
Bastian.
Einen
Moment lang schlug ihr Herz schnell. Sie starrte auf seine Nummer hinab, biss
sich auf die Lippe und in Windeseile bewertete ihr Gewissen die Situation. Sie
könnte klingeln lassen, bis die Mailbox dranging. Aber zurzeit stritt sie sich
ja sowieso mit Alina. Schlimmer konnte es also nicht werden. Außerdem schlug
ihr Herz viel zu schnell, und sie musste mit irgendwem über die neue Situation
reden. Vielleicht nicht gerade mit ihm, aber… er war gerade der einzige, der
sie anrief!
Hastig nahm
sie das Gespräch entgegen, bevor es doch noch auf die Mailbox ging.
„Hey“,
sagte sie ein wenig atemlos.
„Hey, lange
nichts gehört“, vernahm sie seine Stimme, die sie mittlerweile schon blind
erkannte. Sie wusste nicht, wie sie die Worte deuten sollte. Gestern war sie
nicht ans Handy gegangen, als er angerufen hatte. „Bist du noch dort?“, fragte
er. Und sie wusste nicht, ob er einfach so fragte, oder im Auftrag von Alina.
Sie hoffte, letzteres.
„Ja, bin
ich“, antwortete sie also.
„Und?“
„Ich werde
Reitunterricht bekommen“, räumte sie schließlich ein. Sie hörte ihn überrascht
einatmen.
„Wirklich? Das
ist gut! Ich dachte schon, es hätte alles nicht geklappt. Dann hast du meine
Cam ja nicht umsonst mitgenommen!“ Er wirkte ehrlich erfreut.
„Jaah“,
sagte sie gedehnt.
„Und? Wie
ist dein Großvater?“, fragte er schließlich gespannt. Und sie überlegte, was
sie sagen sollte. Er hatte sie als Erbschleicherin bezeichnet, wollte ihr keine
Almosen schenken, und eigentlich wollte er sie überhaupt nicht dort haben.
„Ok“, sagte
sie also, denn wenn man nichts Nettes über jemanden sagen konnte, sollte man
besser nichts sagen, sagte ihre Mutter. „Hast du mit Alina gesprochen?“,
wechselte sie sofort das Thema, und kurz zögerte er.
„Heute noch
nicht“, sagte er tatsächlich. Sie schwieg verblüfft. „Warum?“, ergänzte er. Und
sie sprach, ohne nachzudenken.
„Also hast
du eher mich angerufen als sie?“, entfuhr es ihr verwundert. Sie schloss die
Augen, als er daraufhin schwieg.
„Ich dachte
mir, deine Situation ist ungewisser als ihre auf einem Kreuzfahrtschiff.
Außerdem kann ich nur auf das Handy ihres Vaters anrufen, und das ist etwas
peinlich. Und ich war bis vorhin arbeiten“, schloss er seine Rechtfertigung
hastig. Richtig, heute war sein erster Praktikumstag gewesen, fiel Kaya wieder
ein.
„Und? Wie
war die Sklavenarbeit?“, fragte sie, ein wenig neugierig.
„Papierkram
und Kaffee kochen“, schloss er resignierend. „Morgen gibt’s ´ne Knie-OP“,
ergänzte er trocken. Ihre Mundwinkel hoben sich bei seinem Sarkasmus.
„Du darfst
zusehen?“, flüsterte sie ehrfürchtig und hörte ihn ein unverbindliches Geräusch
machen.
„Klar, mein
Vater operiert“, erwiderte er nur. Und Kaya begriff, Bastian würde
wahrscheinlich Arzt werden, oder? Sein Vater schien es darauf anzulegen. Ob er
es dann auch einfach tat? War es manchmal so, dass aus den Kindern genau das
wurde, was die Eltern wollten? Wie häufig kam das wohl vor?
Und dann
sprach er weiter. „Alina hat gestern Abend noch angerufen“, sagte er leichthin.
„Alles ok bei euch?“, fragte er dann. Sie zögerte kurz.
„Was hat
sie denn gesagt?“, wollte Kaya verschlossen wissen, und Bastian räusperte sich.
„Nicht
viel“, erwiderte er. „Aber… es klang irgendwie… durch, dass ihr streitet?“,
schien er nach den richtigen Worten zu suchen. Und sie seufzte auf und steckte
sich eine glatte, blonde Strähne hinter ihr Ohr, nur um sie dann um ihren Finger
zu wickeln.
„Ja, ich
glaube, wir haben uns gestritten. Und ich glaube, ich müsste mich
entschuldigen“, räumte Kaya zerknirscht ein.
„Echt?
Worüber?“ Er fragte, als könne er es sich gar nicht vorstellen. Sie verdrehte die
Augen, denn schließlich ging es um ihn. Und dann beschloss sie, das einzig
richtige zu machen, wenn sie es sich mit ihrer besten Freundin nicht versauen
wollte. Und sie hasste es, das richtige zu tun. Jetzt gerade hasste sie das.
„Weißt du,
vielleicht… sollten wir nicht mehr telefonieren“, sagte sie behutsam. Kurz
herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.
„Was?“,
fragte er, ehrlich verwundert, und sie presste kurz die Lippen aufeinander, und
bereute die Worte, die sie sagte. Aber anders ging es doch nicht, oder?
„Ruf mich…
einfach nicht mehr an, ok?“
Und es
dauerte noch einen kleinen Moment länger, ehe er wohl begriffen hatte und seine
Stimme verschlossen klang.
„Oh“,
entfuhr es ihm knapp. „Hast du ihr gesagt, dass wir telefonieren?“, wollte er
plötzlich wissen, und sie öffnete entrüstet den Mund. Als ob!
„Nein“,
erwiderte sie ein wenig angriffslustiger, „sie hat mir gesagt, dass du es ihr
erzählt hast!“ Kurz schwieg er, dann sprach er in ätzendem Tonfall weiter.
„Keine
Ahnung, was sie denkt, aber ich rede mit dir bestimmt nicht, wie ich mit ihr
rede! Was denkt sie denn bitteschön?“ Und Kaya wusste nicht, warum, aber etwas
in seinen Worten versetzte ihr einen Stich.
„Na ja“,
sagte sie kühl, „vielleicht wäre es besser, wenn wir nicht mehr… reden. Ich
will Alina nicht deshalb verlieren, weil du ständig anrufst.“ Und sie begriff,
sie stritt sich schon nach zwei Tagen mit Bastian.
„Sorry,
wenn du ihr irgendetwas erzählst, was absolut nicht stimmt, dann ist das echt
nicht mein Problem.“
„Schön“,
sagte sie wütend.
„Schön“,
erwiderte er ebenfalls eine Spur zorniger.
Sie legte
nicht auf. Er legte auch nicht auf, denn sie hörte seinen Atem am anderen Ende
der Leitung. Sie sollte jetzt wirklich auflegen. Was hatte sie dem Freund ihrer
besten Freundin schon zu sagen? Sie sollte gar nicht privat mit ihm reden.
Alina hatte Recht. Es war schon schlimm genug, dass sie Herzklopfen bekam, wenn
er anrief.
Und sie
wollte nicht mit ihm streiten. Vor zwei Tagen hatte sie noch gehofft, er wäre
zu ihrer Wohnung gekommen, weil er sie insgeheim mögen würde. Sie schloss die
Augen, als sie sprach.
„Hör zu,
ich – danke, dass du dein Wort gehalten hast und bei mir vorbeigekommen bist,
und… danke für die Cam, ich bringe sie dir heile zurück, und… ich will nicht
auch noch mit dir streiten über irgendetwas, was überhaupt nicht stimmt, und…
ich mag dich, Bastian, und deshalb kann ich nicht mehr mit dir telefonieren!“,
schloss sie beschämt, mit hochrotem Kopf und legte auf, bevor sie hören konnte,
dass er etwas erwiderte.
Ihr Herz
schlug schnell, und hoffentlich verstand er das nicht alles vollkommen falsch.
Sie mochte
ihn?! War sie verrückt geworden, ihm das zu sagen?
Eilig
ergriff sie ihr Handy und rief Alinas Vater an. Sie ließ es klingeln und wartete.
Und sie wusste, es würde sie all ihr Guthaben kosten.
„Wagner?“,
meldete sich Alinas Vater mit Baritonstimme, und Kaya räusperte sich.
„Hallo,
Herr Wagner, entschuldigen Sie die Störung. Hier ist Kaya Rothenberg, ist Alina
da?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Kaya?“,
wiederholte Alinas Vater verwundert, aber sie hörte Alinas Stimme, und schon
schien sich Alina das Handy gegriffen zu haben.
„Kaya?“,
wiederholte sie ungläubig, und Kaya nickte.
„Ja, hey,
ich wollte mich melden, weil-“
„-das ist
viel zu teuer, wenn du anrufst!“, maßregelte Alina sie sofort.
„Alina, ich
wollte mich entschuldigen!“, wandte Kaya ein. Kurz schwieg Alina. Dann hörte
sie, wie Alina nachgab. Ihre Stimme klang gepresst.
„Hör zu,
wie sind auf so einem dämlichen Schiffsball. Ich rufe dich morgen an,
versprochen!“, flüsterte sie, und Kaya hörte, Alina war nicht mehr halb so böse
mit ihr.
„Ich kriege
den Reitunterricht“, sagte Kaya schnell. „Ich bleibe in Hamburg.“
„Was?“,
flüsterte Alina. „Super!“ Sie hörte die Stimme von Alinas Vater im Hintergrund.
„Morgen
früh! Ich rufe dich morgen früh an!“, versprach ihre beste Freundin
zuversichtlich. Dann war das Gespräch vorbei.
Sie legte
auf und bekam direkt eine SMS. Ein Anruf in Abwesenheit von Bastian K. teilte
ihr Handy ihr mit. Und noch eine SMS. Mit zittrigen Fingern öffnete sie die
Nachricht von Bastian.
Wir können telefonieren, ohne dass was
zwischen uns läuft, Kaya.
Ich mag dich auch. Rufe dich morgen
wieder an.
Bastian :>
Sie schloss
resignierend die Augen. Er hatte es also nicht verstanden. Sie mochte-mochte
ihn. So richtig. Sie würde einfach nicht abnehmen, wenn er anrief, versprach
sie sich. Alina war wichtiger! Kurz verfing sich ihr Blick fast ein bisschen
sehnsüchtig an den Worten ‚Ich mag dich auch‘, und dann löschte sie die
SMS.
Trotzdem
schlug ihr Herz noch immer schnell.
Sie würde
schlafen, denn morgen früh musste sie noch viel tun, ehe sie aufs Gestüt
konnte, um Reiten zu lernen. Sie bezweifelte, dass sie es lernen würde, wenn
sie ehrlich war. Aber vielleicht reichte es ja, sich auf einem Pferd zu filmen,
überlegte sie dumpf, als sie sich auf dem Bett ausstreckte.
Sie hatte
keine Zeit, sich irgendwelche Hoffnungen in Bezug auf Bastian zu machen. Es war
dumm von ihr, überhaupt über ihn nachzudenken und Herzklopfen zu bekommen. Sie
wollte nicht so ein Mädchen sein, was hinter dem Rücken ihrer besten Freundin
heimlich deren Freund anschmachtete. Und deshalb würde sie nicht mehr mit ihm
sprechen. Nicht allein zumindest. Er würde in einem Jahr Medizin studieren. Er
passte ohnehin nicht zu ihr.
Er passte
zu Alina. Und Alina war das Mädchen, was er mochte. Es half also nichts. Sie
vermisste ihre Mutter. Mit ihr hätte sie vielleicht sogar darüber gesprochen.
Ihre Mutter wusste bestimmt, was zu tun war!
Und mit
diesem Gedanken schloss sie die Augen. Sie träumte von ihrer Mutter und einem
riesigen Rollschuh.
~*~
Sie war zu
spät. Und sie war gähnend von dem klapprigen Fahrrad gesprungen, was Herr
Ohlkamp ihr aus dem Schuppen geholt hatte. Sie lehnte es an den niedrigen Zaun,
der den Parkplatz umgab und eilte den Weg empor zu der Koppel. Ihre
Umhängetasche schlug gegen ihre Beine. Sie war alt und aus buntem Leinen. Ein
Einzelstück, was sie und ihre Mutter im Humana Second-Hand-Laden gefunden
hatten. Nicht zu groß, aber mit einem Riemen, der lang genug war, um praktisch
zu sein.
Sie wusste
nur nicht genau, wo Tom und die anderen waren. Hastig suchte ihr Blick das
Gelände ab. Aber niemand führte das Pferd, niemand war mehr außerhalb der
Koppel.
Als sie
ankam, schwitzte sie bereits. Sie pustete sich die Strähnen aus der Stirn.
„Du bist zu
spät“, klärte Tom sie auf. Sie nickte nur und kletterte über das Gatter. „Und
du hast keine Ausrüstung und kein Pferd“, stellte er mit einem knappen Blick
das Offensichtliche fest.
„Wo… wo
sind die Pferde?“, fragte sie außer Atem.
„Die Pferde
sind da, wo sie immer sind. Und das wüsstest du, wärst du zeitig hier gewesen,
damit ich es dir hätte zeigen können, damit du das Pferd hättest satteln
können. Aber jetzt… bist du zu spät“, wiederholte er knapp und deutete um sich.
„Alle anderen sind fertig“, schloss er.
„Ich habe
nur ein Fahrrad, Tom. Und ich brauche zwanzig Minuten hierhin.“
„Dann wirst
du morgens eher aufstehen müssen, oder nicht?“ Alle Freundlichkeit schien von
ihm abgefallen zu sein. Kaya verdrehte die Augen. Sie hatte heute duschen müssen und endlich etwas Richtiges
gegessen. Außerdem hatte sie noch die Betten machen müssen. Sie fühlte sich in
ihrem Gewissen beruhigter, wenn sie für das, was sie bekam auch eine Arbeit
leisten konnte. Deshalb hatte sie heute Morgen noch die Tische gedeckt, weil
sie sich so immerhin nicht wie ein ungebetener Gast fühlte und war eben zu spät
gekommen.
Und sie
könnte Alina schon etwas Geld zurückzahlen. Aber Alina hatte sie nicht wie
versprochen angerufen. Vielleicht war es eine andere Uhrzeit, wo sie war. Oder
Alina war doch noch sauer. Und sie wusste auch nicht, was sie aus der
Bastian-Situation machen sollte. Denn mit ihm wollte sie auch nicht mehr reden.
Aber dann sprach keiner mehr mit ihr.
Und bei
diesen tristen Gedanken hatte sie wirklich keine Lust, sich vor Tom zu
rechtfertigen.
„Und
jetzt?“, fragte sie trotzig, und er atmete aus.
„Tja, jetzt wirst du eine Stunde gar nichts machen, während ich die anderen
unterrichte, bis zur Pause.“ Er wirkte viel zu streng. Zornig kletterte sie
wieder über das Gatter zurück. Dann hätte sie auch noch weiter bei Frau Ohlkamp
arbeiten können, um sich ihr Zimmer zu verdienen, dachte sie trotzig.
Schon flog
die Tür zu den Paddocks auf. Sie hörte ein schrilles Wiehern.
„Halt sie
doch fest, Mensch!“, rief ein Mann laut. Kaya betrachtete das weiße Pferd. Es
bockte, dann stieg es mit den Vorderbeinen in die Höhe. Das geflochtetene Band,
was es um das Maul trug, flog lose durch die Luft. Langsam kam sie auf das
Pferd zu.
„Mädchen,
bleib weg da! Das Biest ist gemeingefährlich!“, rief der andere Mann laut, aber
Kaya runzelte die Stirn. Das Pferd schnaubte auf, tänzelte nervös auf der
Stelle, und Kaya streckte die Hand aus, als sie wenige Meter vom Tier entfernt
war. Das Tier war nicht gefährlich, es hatte einfach Angst. Und Kaya konnte das
sehr gut verstehen. Sie hatte hier nichts anderes auf dem Hof als Angst!
„Hey! Die wird
auf dich losgehen!“, wiederholte der erste Mann wütend und kam näher gelaufen.
Das Pferd fuhr herum und stieg erneut in die Höhe.
„Bleiben
Sie einfach ruhig!“, befahl Kaya verzweifelt. „Das Pferd hat Angst!“ Die Männer
hielten verblüfft inne. Sie schienen nicht genau zu wissen, was sie tun
sollten. Wieder hob Kaya die Hand. Das Tier war schön. Das Fell war teilweise
schmutzig, aber Kaya sah, dass es kein Apfelschimmel oder so etwas war. Nein,
das Tier war einfach wunderschön weiß.
Und langsam
hörte die Stute auf zu tänzeln. Ihre Nasenflügel blähten sich nervös, als sie
den Kopf wieder und wieder in die Höhe reckte.
„Schon
gut“, murmelte Kaya nur. „Ich tu dir nichts“, versprach sie, obwohl sie wusste,
dass das Tier sie nicht verstand. Tom stand plötzlich neben ihr.
„Am besten
gehst du hier weg, Kaya. Das Tier ist krank. Es ist unberechenbar“, erklärte er
still, während er das Pferd misstrauisch beäugte. Kaya schüttelte ungläubig den
Kopf.
„Mein Gott,
sind alle krank, die Angst haben?“, wollte sie zornig wissen, und machte einen
Schritt vor. Ohne Zögern griff sie nach dem geflochtenen Band.
„Nein!“,
entfuhr es den Männern vor ihr, und beide wichen zurück. Aber das Tier tat gar
nichts. Es stieß noch ein paar Mal die Luft aus, aber es ließ sich von Kaya
halten.
„Tom!“ Ihr
Großvater kam vom Parkplatz mit einigen Männern in schwarzen Anzügen. „Was geht
hier vor?“ Er erfasste die Situation sehr schnell und seine Augen weiteten
sich. „Was tust du?“, fuhr er sie an und entriss ihr nahezu augenblicklich den
Strick. Kaya sah, wie einige Muskeln nervös unter dem Fell des Tieres zuckten.
„Sie hat
Angst!“, sagte sie wieder. „Wieso könnt ihr nicht-?“
„-das Tier
ist verdammt noch mal gefährlich!“, unterbrach ihr Großvater sie zornig. Die Stute bockte wieder, aber er zog hart am
Strick. „Pferde sind keine Kuscheltiere, verstehst du das? Du hast nicht die
geringste Ahnung von Pferden, also halte dich gefälligst von ihnen fern, hast
du das verstanden?“
Kaya
verstummte und ihr Herz schlug laut. Ihr Großvater reichte den Männern barsch
den Strick. „Hier! Und passt besser auf!“, setzte er wütend hinzu, und die
Männer nickten hastig mit den Köpfen und zerrten das wehrige Pferd mit sich.
„Was ist
mit ihm?“, wollte Kaya kleinlaut wissen.
„Es ist
eine Stute. Und sie ist krank. Und mehr musst du nicht wissen!“, schnauzte er.
„Und jetzt komm mit. Meine Berater möchten mit dir sprechen“, ergänzte er
schlecht gelaunt. Sie sah auf die ängstlichen Männer in den unbequemen Anzügen.
Heute trug ihr Großvater selber einen Anzug, stellte sie nebenbei fest. „Tom,
Sie können sie entbehren, nehme ich an?“, fragte er, also wäre Kaya ohnehin nur
eine Last.
„Sicher,
sie kam ohnehin zu spät und hat kein Pferd“, erwiderte er, und Kaya verzog den
Mund. Haute Tom sie auch noch in die Pfanne! Sie schoss ihm einen bösen Blick
zu. Aber Tom reagierte darauf gar nicht erst.
„Ist das
so?“, wollte ihr Großvater abschätzend wissen.
„Ich musste
erst aus dem Dorf kommen!“, beschwerte sie sich wieder. „Ich war so früh hier,
wie ich konnte!“ Ihr Großvater verzog den Mund.
„Gut, wir
kümmern uns darum später“, knurrte er. „Jetzt komm mit“, sagte er nur, und die
Berater setzte sich gleichzeitig mit ihm in Bewegung. Kaya hatte Mühe,
mitzuhalten. Sie traute sich nicht, zu fragen, was passierte. Sie folgte einfach
und schloss dieses Mal rechtzeitig zu ihrem Großvater auf, ehe er sie wieder
maßregeln konnte.
Aus der
Ferne hörte sie die Stute wieder wiehern und es klang wie ein lautes Wehklagen.
Und sie
verstand das Tier. Sie verstand es sehr gut….
–
Olivers Hengst –
Sie
betraten schließlich das Anwesen, gingen durch neue, fremde Flure und dann zwei
Treppen hoch, in den zweiten Stock. Die Wände waren holzgetäfelt, überall
hingen riesige Bilder in goldenen Rahmen oder es standen riesige grüne Pflanzen
in schweren Töpfen an der Wand. Vor einer hübschen Holztür blieben sie stehen.
Es waren wieder Flügeltüren, wie sie sie nur aus dem Fernsehen her kannte. Ihr
Großvater öffnete die Türen.
Sie
bemerkte erst jetzt, dass die Männer sie musterten. Den einen kannte sie vom
Sehen, fiel ihr auf.
Das Zimmer
war groß und ruhig. Eine goldene Standuhr tickte laut, und Kaya betrachtete sie
ausgiebig. Sie fragte sich, was so etwas wohl wert sein musste, denn sie war
aufwendig verziert und wirkte schon sehr antik.
Die Berater
setzten sich an den Tisch um ihren Großvater herum, der sich an das breite Ende
setzte. Er deutete auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches. Sie setzte sich
neben einen Mann, der viel zu schwitzen schien, fiel ihr auf. Ihre Tasche legte
sie nicht ab. Sie fühlte sich nicht gerade so, als wäre sie unter freundlich
gesinnten Menschen gelandet.
Sie fragte
sich, was das alles wohl sollte. Sie konnte sich nur vorstellen, dass sie schon
wieder Ärger bekommen würde. Beim Sitzen spürte sie bereits den Muskelkater vom
ungewohnten Fahrradfahren und dem Hin und Herrennen der letzten Tage, vom Heu
stapeln, vom Leben ohne öffentliche Verkehrsmittel. Sie war schrecklich bequem,
stellte sie ernüchternd fest. Absolut unsportlich. Sie hob den Blick zum
Gesicht ihres Großvaters, aber dieser bedeutete einem Berater mürrisch, zu
beginnen. Dieser räusperte sich. Es war der Mann, den sie schon gesehen hatte.
„Frau
Rothenberg“, begann dieser förmlich, und Kaya war bisher nur in der Schule
gesiezt worden. Noch nie außerhalb, stellte sie peinlich berührt fest. Sie fand
es etwas albern. „Mein Name ist Dr. Hansen und wir haben einen Vertrag
vorbereitet – nur zu Ihren Gunsten natürlich“, ergänzte er schnell, als sie
ratlos die Stirn runzelte.
„Einen
Vertrag?“, wiederholte sie unschlüssig. „Ich… ich habe kein Geld“, entfuhr es
ihr, denn ein Vertrag klang nach einer Menge Geld, fand sie. Kurz wechselten
die Berater Blicke mit ihrem Großvater, dann fuhr Dr. Hansen fort.
„Es… es
geht nicht um Geld, Frau Rothenberg“, erläuterte er. Er reichte ein Blatt
weiter, bis es vor Kaya abgelegt wurde. „Wenn Sie unterschreiben, stimmen Sie
zu, den Reitunterricht, der Ihnen hier geboten wird, als einmaliges Angebot
anzunehmen“, fuhr er fort. Kaya hob den Blick.
„Umsonst?“,
vergewisserte sie sich und sah ihren Großvater wieder an, aber er sprach nicht
mit ihr.
„Ja,
sicher. Ohne eine Gegenleistung“, erwiderte Dr. Hansen. Ein Tierarzt schien er
nicht zu sein, stellte sie nachdenklich fest.
„Muss meine
Mutter nicht über so etwas benachrichtigt werden?“, wollte sie fast ängstlich
wissen, denn sie glaubte, noch nie etwas alleine unterschrieben zu haben. Neben
ihr räusperte sich jetzt noch ein Mann.
„Frau
Rothenberg, mein Name ist Körner, Dr. Körner“, stellte er sich heiser vor, und
Kaya runzelte die Stirn. Es gab ziemliche viele Doktoren hier, und keiner
wirkte wie ein echter Arzt. Sie fragte sich, was es für Doktoren waren. „Dies
ist ein Geschäft, was für Sie lediglich rechtlich vorteilhaft ist“, erklärte er
ernst. Sie verstand nicht ganz, was er meinte. „Sie müssen keine Gegenleistung
entrichten, bekommen diese Reitstunden sozusagen als… Geschenk“, fasste er
zusammen.
„Ja“, griff
Dr. Hansen seine Worte auf, „wenn Sie unterschreiben, versichern Sie lediglich,
dass Sie keine weiteren Geschenke von Dr. Rothenberg verlangen werden“, schloss
er streng.
„Welche
weiteren Geschenke?“, wollte sie stirnrunzelnd wissen. „Geburtstagsgeschenke oder
was meinen Sie?“ Kurz wechselte Dr. Hansen mit ihrem Großvater einen fragenden
Blick.
„Keinen
Vorteil jeder Art“, schien er schließlich näher zu erläutern.
„O-k?“,
erwiderte sie unsicher, und wusste nicht, wen sie ansehen sollte. Sie wollte
nicht mal den blöden Reitunterricht haben. Und sie wollte ihn nicht mal
umsonst. Sie hob den Blick vom Vertrag, um wieder ihren Großvater anzusehen.
„Also, ich…
weiß nicht genau, um was es geht“, räumte sie langsam ein, „aber vielleicht
können wir einen Preis vereinbaren? Ich bin mir sicher, ich könnte niemals
zahlen, was der Reitunterricht hier kostet, aber ich arbeite im Dorf und…
könnte zumindest einen Teil davon bezahlen?“, schlug sie unsicher vor. Endlich
hob er den Blick. Sie wusste nicht, was er dachte, aber kurz herrschte Stille.
Er wandte
sich an Dr. Hansen und sagte sehr leise etwas, was Kaya nicht verstand.
„Also, Sie
müssen nicht für den Unterricht bezahlen, aber Sie versprechen, nach Ablauf des
Unterrichts nichts weiter von Dr. Rothenberg zu verlangen“, wiederholte er,
eine Spur verunsichert. Und Kaya glaubte, sie verstand. Ihr Großvater wollte
nicht, dass sie danach noch einmal wieder hierhin kam oder sich überhaupt noch
einmal meldete.
Ihr Blick
senkte sich beschämt wieder auf den Vertrag. Sie fragte sich, wie abstoßend sie
ihm wohl vorkommen mochte. Sie schluckte das bittere Gefühl runter. Sie las den
Text. Sie bekam für einen Monat Reitunterricht. Fünfmal die Woche. Sie musste
bestätigen, dass sie nichts weiter verlangen oder einfordern und das Gestüt
Rothenberg anschließend verlassen würde.
Sie hob den
Blick nicht mehr. „Ich… ich habe keinen Stift“, sagte sie leise, und sofort
reichte ihr der Mann neben ihr einen dunkelglänzenden Füllfederhalter.
„Bitte
sehr, Frau Rothenberg“, erwiderte er prompt.
Kaya
ergriff den Füller und schrieb ihren Namen auf die gepunktete Linie.
Er wollte
sicher gehen, dass sie wieder ging. Als ob er sich darauf nicht auch so würde
verlassen können! Sie wollte jetzt schon kaum hier sein.
Sie gab Dr.
Körner seinen Füller zurück.
„Dann wäre
das geklärt. Wir behalten den Vertrag hier, wenn es Ihnen nichts ausmacht? Sie
bekommen dann eine Kopie“, fuhr Dr. Hansen abschließend fort. Kaya ruckte mit
dem Kopf. Sie hob den Blick nicht mehr. Sie wollte genauso dringend hier weg, wie
er sie loswerden wollte.
„Frau
Kramer bringt dich raus“, sagte ihr Großvater ohne erkennbaren Ausdruck in der
Stimme. Die Tür öffnete sich und eine Frau steckte den Kopf herein. Das schien
Frau Kramer zu sein.
Kaya erhob
sich, denn anscheinend hatte sie ihre Schuldigkeit hier getan. Sie
verabschiedete sich nicht und fühlte sich seltsam als sie der Frau folgte.
Sie war
leicht rundlich, aber eher kurvig als dick. Sie sprach nicht mit Kaya, aber
ging langsam genug, als dass sie nach wenigen Schritten neben Kaya ging. Kaya
war nicht gewohnt, dass Menschen von ihr erwarteten, dass sie aufschloss oder
auf gleicher Höhe war.
Die Frau
kannte sich gut in diesem Irrgarten aus Fluren und endlosen Zimmern aus.
„Arbeiten
Sie schon lange hier?“, wollte Kaya nun unverfänglich wissen. Sie hasste die
unangenehme Stille, die sie befiel, wenn sie hier war.
„Seit
einigen Jahren, ja“, bestätigte die Frau. Kaya atmete sehr lange aus. Sie
wusste das Gefühl nicht recht einzuordnen. Sie wollte nicht irgendwo sein, wo
sie nur unter dem Vorbehalt eines Vertrags geduldet wurde. Aber sie wollte ihre
Mutter nicht enttäuschen und die Nachprüfung bestehen.
Sie waren
in der großen Halle angekommen. „Sie finden den Weg, Frau Rothenberg? Ich treffe
Sie gleich an der Koppel, dann kümmern wir uns um Ihre Ausrüstung?“,
vergewisserte sich die Frau höflich, und Kaya nickte knapp. Gut, dann musste
sie nicht selber irgendwelche Räumlichkeiten durchstöbern. Mit energischen
Schritten verschwand die Frau, und Kaya betrachtete wieder einmal die röhrenden
Hirsche und Bergaufnahmen an der Wand.
Sie schien
allein zu sein. Sie drehte sich um die eigene Achse und ging schließlich weg
von der Haustür, tiefer ins Haus. Das musste das Zimmer sein, wo die Schüler
aßen, nahm sie an. Tische reihten sich hier aneinander, und es war auch kein
Zimmer. Es war eher ein Saal.
Es war
schwer. Sie fühlte sich nicht zuhause hier. Sie fühlte sich wie ein
unwillkommener Gast.
„Kaya?“
Sie wandte
sich um. Frau Fiets sah sie an. „Ich habe schon gehört, dass du reiten lernen
wirst. Es tut mir leid, dass du… hier nicht untergebracht wirst, aber wenn du
Hunger hast, dann-“
„-nein,
nein!“, sagte Kaya eilig. Sie hatte mit Frau Fiets nicht mehr gesprochen,
nachdem sie hier abgehauen war. Es war ihr unangenehm. „Wegen letztens… - tut
mir leid, dass ich weggelaufen bin“, schloss sie kleinlaut, aber Frau Fiets
lächelte nur.
„Schon gut.
Hauptsache, du bist gut zurückgekommen. Und es ist schön, dass du hier bist,
Kaya“, sagte sie.
„Ich… sollte
wieder rausgehen. Ich bin sicher, Frau Kramer wartet schon“, sagte sie leise.
Denn sie wollte hauptsächlich raus aus diesem unfreundlichen großen Haus.
„Gut. Ich
wünsche dir ganz viel Spaß“, erwiderte Frau Fiets freundlich. Kaya wandte sich
eilig um. Ach, es war ihr alles unangenehm. Alles!
Und
vielleicht war sie es falsch angegangen, überlegte sie plötzlich. Egal, wie
dringend sie die Nachprüfung bestehen wollte, vielleicht hätte sie ihren Vater
besuchen sollen, anstatt ihren Großvater.
Sie
entfernte sich so eilig vom Haus, als wäre es giftig. So schnell sie ihre Beine
tragen konnten. Sie presste die Lippen aufeinander. Sie wusste nicht, warum sie
nicht schon längst gegangen war. Sie vermisste Alina, sie vermisste jemanden,
der ihre Entscheidungen für gut hieß. Jemand, der sie verstand.
Sie fühlte
sich nutzlos und unerwünscht. Alles hier trug ihren Namen und dennoch hatte es
nichts mit ihr zu tun. Bastians Kamera steckte in ihrer Umhängetasche und
wartete nur auf ihren ersten Einsatz, nahm sie an.
Sie schritt
zur nahe gelegenen Koppel. Sie war rund und zurzeit leer. Sie hatte noch nicht
begriffen, wofür sie gut war.
„-und beeil
dich, ja?“
Kaya wandte
den Blick. Ein Mädchen kam um die nächste Kurve hinter einer der Stallungen
gebogen. Kaya erkannte sie erst, als sie auf ihrer Höhe war. Es war Nummer
Zwölf, die ihr das Pferd geliehen hatte. Sie wirkte gehetzt. Kurz ruhte ihr
Blick auf Kayas Gesicht, aber sie lief einfach weiter, sah Kaya solange an, bis
sie den Kopf hätte drehen müssen, und lief, den Blick wieder streng nach vorne
geheftet, weiter hoch zum Haus zurück.
Kaya legte
den Kopf in den Nacken, sah den Vögeln zu, die über den Himmel kreisten, und
schloss schließlich die Augen und ließ die Sonne auf ihr Gesicht scheinen. Sie
blieb, wo sie war, bis sie hörte, wie das Mädchen zurückkam. Sie fragte sich,
wie sie wohl hieß, und ob sie das Mädchen einfach ansprechen konnte.
Wahrscheinlich nicht, nahm sie an. Wahrscheinlich unterschieden sich die
Mädchen hier nicht von den Mädchen auf ihrer Schule.
Sie fühlte
sich beobachtet und ließ ihren Blick über die fremden Mädchen gleiten, die
weiter ab, in ihrer Reituniform standen. Ihre Blicke waren eher abfällig, sie
waren auch überwiegend blond, und sie trugen alle
einheitliche Klamotten. Reithosen in lila, Shirts, Blazer, manche trugen
eine Art Schutzweste, andere hatten richtige Stiefel an, wieder andere trugen
Schuhe mit Gamaschen bis unters Knie.
„Sprich sie
nicht an, und komm endlich!“, wurde das Mädchen von der blonden Tussi
angefahren, die Kaya schon am Bahnhof gesehen hatte. Gut zu wissen, dass manche
Dinge immer gleich bleiben würden, überlegte sie dumpf. Sie stieß sich vom Zaun
ab und machte einige unschlüssige Schritte auf dem weiten Platz. Von
irgendwoher vernahm sie wieder das Wiehern, was sie der armen Stute zuordnete,
die Angst gehabt hatte. Aber sie könnte sich irren. Pferde klangen bestimmt
alle gleich.
Der Weg
nach rechts fiel abschüssiger und ihr entgegen kam plötzlich die junge Frau,
die ebenfalls Reitlehrerin hier war.
„Hey! Kaya,
richtig?“, erkundigte sich die Frau grinsend, während sie sich bückte und ihre
Zigarette auf den Steinen ausdrückte, um den Stummel anschließend in einen
metallenen Behälter zu werfen, den sie wieder in ihrer Hosentasche verschwinden
ließ. Kaya beobachtete sie stirnrunzelnd, aber die Frau zuckte die Achseln.
„Der
gnädige Herr kümmert sich um vieles, aber für die Suchtkrankheiten seiner
Angestellten hat er keinerlei Verständnis“, erläuterte sie und verdrehte die
Augen. Kaya musste ebenfalls grinsen. „Rauchst du?“, fragte die junge Frau fast
aufmunternd, wohl bereit, ihr eine Zigarette anzubieten, aber Kaya lehnte in
Ehrfurcht ab. Sie hatte nie geraucht, obwohl sie bestimmt mehr als einmal die
Möglichkeit dazu gehabt hatte. Aber Alina hielt ihr auch ständig
Moralpredigten, und auf der neuen Schule… ergab sich so etwas einfach nicht.
Sie war dem
Gruppenzwang nicht erlegen, stellte sie immer wieder fest. Ihre Mutter hatte es
ihr immer wieder eingetrichtert, dass es wichtig war, für sich selber zu denken.
Sie schüttelte also den Kopf.
„Nein, tu
ich nicht“, erwiderte sie. Die Frau nickte wissend.
„Du
glückliche“, bemerkte sie zwinkernd. „Und? Wohin des Wegs?“, fuhr sie
schließlich fort, fuhr sich durch den endlos langen Pferdeschwanz, und Kaya
fand sie ziemlich cool. Wie alt sie wohl war?
„Zu Tom“,
schloss Kaya fast resignierend. Die Frau grinste wieder.
„Muss ja
ziemlich furchtbar sein“, deutete sie ihre Worte. Kaya schüttelte hastig den
Kopf.
„Ach nein,
so ist es nicht. Ich… habe ja keine Ahnung von Pferden, vom Reiten – von
überhaupt irgendetwas hier!“, schloss sie schließlich dunkel.
„Ja… wieso
willst du es überhaupt lernen, wenn es dir keinen Spaß macht? Zwingt dich dein
reicher Vater dazu oder so was?“, wollte sie wissen, und Kaya blickte gen Boden.
„Nein. Ich
bin nicht reich“, widersprach Kaya lächelnd. Und einen Vater hatte sie auch
nicht. Nicht wirklich. Mit dieser Information schien die Frau wenig anfangen zu
können.
„Nicht?
Also, das hier ist ein ziemlich teurer Schuppen. Bist du eine Art Sozialprojekt
vom Alten?“, machte sie einen Scherz, aber Kayas Blick erhellte sich. Nach
diesem Vertrag, den sie unterschrieben hatte – und dessen Kopie sie hätte
mitnehmen sollen, wurde ihr jetzt klar – kam sie sich tatsächlich so vor! Sie
nickte also.
„Kann man
so sagen, ja. Ich habe einen Vertrag unterschrieben, und der Alte war so gütig,
mir Reitunterricht zu schenken“, griff sie die Worte der Frau jetzt lächelnd
auf, und ihr Herz schlug schneller bei diesem Ungehorsam. Aber sie konnte so
über ihn reden. Er sprach ja nicht anders mit ihr!
„Cool“,
erwiderte die Frau anerkennend. „Gib Tom eine Chance, ok? Eigentlich ist er
schwer in Ordnung. Halt dich nur von dem Arsch fern“, gab die Frau mit einem
bedeutungsschweren Blick zu bedenken. Kaya nahm an, der Arsch war der blonde
Reitlehrer. Aber sie wollte nicht aus Unwissen nachfragen und nickte also nur
wissend. Oder sie tat zumindest so.
„Gut, dann
verstehen wir uns ja!“ Die Frau schüttelte sich scheinbar vor Ekel.
Der blonde
Reitlehrer schien ohnehin die Fortgeschrittenen hier zu unterrichten. Dass Kaya
Gefahr lief und ihn noch mal sehen würde, war wohl mehr als unwahrscheinlich,
überlegte sie dumpf.
„Ich
wünsch‘ dir was“, beendete die Frau lächelnd ihr Gespräch.
„Danke –
äh…“ Kaya hatte ihren Namen wieder vergessen.
„Vanessa“,
erinnerte sie die Frau. „Einfach Vanessa. Wir sehen uns!“ Damit war sie weiter
gegangen. Kaya mochte sie. Ja, sie war ein Sozialprojekt. Und es war ihr egal.
Sie war dankbar. Es wurde langsam Zeit, ein Meistervideo zu drehen! Frau Kramer
kam ihr nun ebenfalls mit schnellen Schritten entgegen, als würde sie jeden
Schritt bezahlt bekommen. Aber das war wahrscheinlich auch so, überlegte Kaya
schließlich.
„So, ich
habe den Schlüssel für die Räumlichkeiten. Dann kann es losgehen?“, erkundigte
sich die Frau geschäftig und schritt bereits voran, so dass Kaya ihr hastig
folgen musste.
„Ja. Ich
habe aber keine Ahnung von meiner Helmgröße oder… irgendetwas anderem“,
bemerkte sie knapp.
„Da werden
wir schon etwas Passendes finden“, sagte Frau Kramer lächelnd.
„Reiten
Sie?“, fragte Kaya unverwandt, und Frau Kramer schenkte ihr ein
entschuldigendes Lächeln.
„Nein, Frau
Rothenberg, ich arbeite hier nur im Büro“, erklärte sie. Kaya zuckte die
Achseln.
„Das ist
keine Schande.“ Kaya gefiel die Aussicht auf ruhige Büroarbeit um einiges
besser als anstrengender, gefährlicher Reitunterricht. „Und nennen Sie mich
ruhig Kaya. Sonst komme ich mir vor wie in der Schule, und so möchte ich mir
gerade gar nicht vorkommen“, ergänzte sie resignierend. Frau Kramer lachte.
„Na gut,
sehr gerne, Kaya“, erwiderte sie höflich. Sie hatten ein Gebäude erreicht, was
älter wirkte, weniger modern als die schicke Reithalle, in der sie ihren nicht
vorhandenen Sitz hatte zeigen müssen. Frau Kramer schloss auf und Kaya konnte
die vielen Ständer mit maßgeschneiderten Hosen des Gestüts und Blusen an
Hängern kaum zählen. Auch Spezial-Sättel sowie Zaumzeug hingen an jeder Ecke
des riesigen Raums. Alles versehen mit dem hauseigenen Emblem. Ein
verschlungenes R, überstickt mit einem steigenden goldenen Pferd. Allerdings
führte Frau Kramer sie weiter, bis sie einen Teil mit provisorischen Kabinen
erreichten.
„Ich bin
angewiesen, dich komplett auszustatten, also beginnen wir mit der Kleidung“,
erklärte sie. Frau Kramer trug einen strengen blonden Dutt, eine schmale
Perlenkette, eine glänzende Bluse und dazu einen Rock. Ihre Schuhe wirkten auch
nicht gerade für die Stallarbeit geeignet, stellte Kaya fest. Sie sah sehr
schick aus. Kaya überlegte immer wieder, ob man als Mädchen irgendwann zur Frau
wurde und automatisch wusste, welche Art von Kleidung man tragen musste, um
besonders elegant und schick zu wirken. Bisher hatte sie noch keinen Gedanken
an elegante Kleidung verschwendet, ging ihr auf. Sie wusste nicht mal, was sie
später werden wollte – oder überhaupt konnte, wenn sie nicht einmal ihr Abitur
bestand.
Frau Kramer
schritt zu einem der vollen Kleiderhänger, wie sie Kaya vom Theater her kannte.
„Wir
bestellen immer einiges an Kleidung zusätzlich. Der Absatz ist immens, und
manche Schülerinnen wachsen sehr schnell“, fuhr sie fort, als sie an einen der
Ständer herantrat und mit den Händen nach ihrer Größe zu suchen schien. „Vielleicht
ändert sich das Gewicht der Schülerinnen auch noch kurz vorher“, ergänzte sie
und sah sie dann direkt an. „Größe?“, fragte sie schließlich, ehe Kaya sich
darüber wundern konnte, weshalb sich das Gewicht plötzlich ändern sollte, und
sah an sich herab.
„Eigentlich
trage ich immer 36?“, erwiderte sie achselzuckend, und Frau Kramer zog ein
dunkles Ensemble hervor.
„Man muss
bei Reitbekleidung immer eine Größe zuzählen“, erwiderte sie und hielt ihr die
Hose entgegen, welche hinten weiches Leder eingenäht hatte. Es folgte ein dunkles Poloshirt, mit eingesticktem Emblem, und
ein passender Blazer. Sie würde sich also tot schwitzen, nahm sie dumpf an.
„Wenn du
magst, kannst du dich hier umziehen“, erklärte ihr Frau Kramer lächelnd und
deutete auf einen der Raumtrenner in der Ecke. Kaya nickte und nahm den
Kleiderbügel entgegen.
Die Hose
stellte sich als besonders eng heraus. Sie schmiegte sich um ihre Beine und das
Leder schmiegte sich an die Innenseite ihrer Schenkel. Das Shirt passte
ebenfalls sowie der Blazer. Sie fühlte sich schon wie ein Reiter, stellte sie
fest. Und so arrogant sah sie wahrscheinlich auch aus.
Sie kam
hinter der Wand hervor, um sich zu zeigen.
„Na, das
sieht doch alles wunderbar aus!“, bemerkte Frau Kramer zufrieden. „Ich gebe dir
dasselbe Outfit noch in beige, damit es nicht zu langweilig wird. Kommen wir
zum Helm und zu den Stiefeln“, schloss sie und schritt zur anderen Wand. Dort
reihten sich einhundert Helme aneinander, ebenfalls vom Gestüt. Frau Kramer
zückte ein Maßband, was im Regal lag, trat an sie heran und legte es um ihre
Stirn. „Wahrscheinlich sollte dieser hier passen“, erläuterte sie anschließend,
als sie einen beliebigen Helm aus dem obersten Fach holte. „Und der Helm kann
auch noch verstellt werden, falls er locker sitzt“, ratterte sie herunter, als
würde sie diesen Satz mehr als nur einmal verwenden. Aber wahrscheinlich musste
sie allen Schülerinnen die Kleidung organisieren, wenn diese unbedingt welche
vom Gestüt haben wollten, überlegte Kaya mitleidig. Kaya setzte den Helm auf,
und Frau Kramer stellte ihn ihr ein. Er saß ganz gut. Nicht zu eng zumindest.
Es fühlte sich komisch an. Nicht ganz wie ein Fahrradhelm, aber so ähnlich.
Wahrscheinlich etwas komfortabler als ein Fahrradhelm. Er war samtiger.
Jetzt kamen
die Schuhe an die Reihe.
Gespannt
gingen sie zum nächsten Regal an der Wand, und erst jetzt bemerkte Kaya die
Preisschilder an den verschiedenen Kartons.
„Das ist
der Preis für die Stiefel?“, entfuhr es ihr tonlos, denn vielleicht handelte es
sich ja doch nur um eine Bestellnummer.
„Ja“,
bestätigte Frau Kramer und winkte ab. „Keine Sorge, du musst die Ausrüstung
nicht bezahlen. Du bekommst sie geliehen“, fuhr sie fort, aber Kaya schüttelte
den Kopf.
„Gibt es…
das nicht in… etwas billiger?“, flüsterte sie panisch, und Frau Kramer runzelte
die Stirn.
„Billiger?“,
wiederholte die Frau ratlos, und Kaya musste schlucken, denn das Paar Stiefel,
was Frau Kramer ihr hatte geben wollte, kostete 1.200 Euro, und Kaya wollte es
weder anfassen, noch anziehen. Das waren zwei Monatsmieten. „Hm, na ja. Es ist
Sommer, und vielleicht sind die Stiefel etwas warm“, lenkte die Frau neben ihr
verwirrt ein. „Ich könnte dir halbe Stiefel anbieten?“, schlug sie schließlich
vor. „Dazu kannst du Strümpfe oder Chaps tragen“, fuhr sie nachdenklich fort.
„Haben wir alles“, schloss sie und ging weiter. Kaya folgte ihr sehr dankbar,
weit weg von den teuren Stiefeln und dem teuren Ledergeruch, der von ihnen
ausging.
Frau Kramer
machte Halt vor halben Stiefeln. Diese kosteten auch mehrere hundert Euro, aber
wenn Kaya die Wahl zwischen zwei Monatsmieten oder billigeren Schuhen hatte,
dann nahm sie billigeren! Kaya registrierte, dass es sich auch hier um neue
Stiefel handelte, denn im Innern steckte noch Papier, was Frau Kramer aus einem
Paar entfernte.
„Größe 38,
probieren Sie einfach mal. Die fallen immer ein Stück größer aus.“
Mit
vereinten Kräften schafften sie und Frau Kramer es, die Schuhe anzuziehen.
Sie
passten. Sie waren mattschwarz und schlicht und hatten einen schmalen Absatz.
„Und? Die
Zehen kannst du bewegen?“, wollte sie wissen, und Kaya ruckte mit dem Kopf.
„Ja, alles
ok“, erwiderte sie nur.
„Wunderbar.“
Sie bückte sich. „Und hier sind schwarze Chaps, kleinste Größe.“ Kaya
betrachtete sich die schwarzen Gamaschen, die das andere Mädchen getragen
hatte. Sie hatten einen Reißverschluss, und wirkten kompliziert. „Ich helfe
dir“, sagte Frau Kramer anschließend lächelnd, und Kaya merkte sich gut, wie
man diese Dinger anzog, damit sie nicht noch einmal würde fragen müssen. Ihr
war warm.
„Was ist
mit einer Schutzweste?“, fuhr Frau Kramer fort, und Kaya hielt sie auf.
„Ich
glaube, heute brauche ich keine?“, sagte sie hoffnungsvoll, denn es war zu
heiß. Viel zu heiß dafür!
„Es wäre
sicherer?“, erwiderte Frau Kramer ernster, und Kaya gab nach.
„Ok?“,
entfuhr es ihr müde und schon hatte Frau Kramer sie stehen gelassen.
So stand
sie nun alleine da, eingeschnürt in enge Gamaschen, mit Helm auf dem Kopf,
Shirt und Blazer, und sie wollte einfach nur noch in den kühlen See der
Ohlkamps springen.
„Bitte
sehr!“ Frau Kramer half ihr in die Schutzweste, klettete die Schulterschnallen
neu, zog den Reißverschluss hoch, und nun konnte sich Kaya gar nicht mehr
bewegen.
Und dann war der Zauber schon vorbei.
Vorsintflutlich legte Frau Kramer ihre Sache zusammen. „Die werde ich mit zum
Haus nehmen“, erklärte sie. Später kannst du sie dir abholen. Genauso wie das
zweite Outfit. Sie verließen das riesige Lager, und Kaya konnte nur steif
hinter Frau Kramer hereiern, ihre Umhängetasche, ungelenk über der Schulter.
„Ich kann
deine Tasche nehmen, Kaya“, sagte sie, aber Kaya schüttelte den Kopf.
„Nein,
schon in Ordnung. Ich behalte sie lieber“, räumte sie kleinlaut ein. Nicht,
dass sie Frau Kramer nicht vertraute, aber… - sie war hier eben nicht Zuhause.
Und sie wollte schon nicht, dass ihre Sachen aus ihren Augen verschwanden.
„Gut, dann
nehmen wir dir direkt noch einen Sattel mit und Zaumzeug“, bemerkte sie suchend
und kurz vor dem Ausgang hielt sie inne. Sie legte Kayas Sachen ab und zog eine
stoffbezogene Tonne mit Rollen aus einer Ecke hervor. Staunend sah Kaya ihr zu.
Frau Kramer, die scheinbar nur für Verwaltungsaufgaben zuständig war und
dennoch über ein immenses Wissen, was Reiterbedarf anging, verfügte, kam mit
einem schicken glänzenden Sattel zurück. „Das Problem ist, dass die
Schülerinnen hier ihre eigenen Sättel für ihre eigenen Pferde haben. Es werden
keine Schulpferde gestellt“, erklärte sie, während sie den Sattel über die
dafür gemachte Tonne legte. „Deshalb gibt es für die Pferde keine Sättel.“
Nicht, dass Kaya begriff, wovon die Frau sprach, aber sie kam näher und legte
ihre Tasche ab. „Dann sitz mal auf“, forderte Frau Kramer sie auf, und Kaya
konnte kaum ihr Bein bewegen, denn die Schutzweste schnürte ihre
Bewegungsfreiheit erheblich ab.
Mühsam
schwang sie das Bein über die niedrige Tonne und setzte sich.
„Und?“,
erkundigte sich Frau Kramer, als Kaya hilflos aufblickte. „Unbequem?“ Kaya
bewegte sich, streckte den Rücken durch, aber es war nicht unbequem, nur
ungewohnt.
„Ich
glaube, der ist ok?“, erwiderte sie, und war vollkommen überfordert.
„Schön“,
bestätigte Frau Kramer, und Kaya hatte Mühe, von der Tonne wieder
runterzukommen. Sie schwitzte mittlerweile unter dem Helm und in den Schuhen.
Sie schwang sich die Tasche wieder um und nahm Frau Kramer dann den Sattel ab.
Der Sattel war ziemlich schwer, stellte sie fest. Er glänzte schwarz in ihren
Armen. Dazu gesellte sich jetzt noch ledernes Zaumzeug mit einer polierten
Trense, wie ihr Frau Kramer erklärte.
Kaya
hoffte, sie würde das Pferd nicht selber satteln müssen. Sie hatte ja nicht mal
ein Pferd! Bis jetzt hatte sie die gesamte Ausrüstung und keine Ahnung.
Schwitzend
verließ sie hinter Frau Kramer das Lager. Diese machte das Licht aus und
schloss wieder ab. „Den Weg zu Herrn Kiergarten findest du, Kaya?“, fragte sie
freundlich, und Kaya nickte ächzend. „Dann sehe ich dich später. Viel Spaß!“,
wünschte nun auch Frau Kramer, und Kaya ging seufzend den Weg runter zur ersten
Koppel.
Sie
erkannte, dass wohl gerade Pause war, denn es war niemand mehr auf der Koppel.
Die Pferde standen davor angebunden. Tom lehnte allerdings am Gatter und schien
bereits zu warten. Ein Grinsen erhellte seine Züge, als sie näher kam.
„Ein Reiter
ohne Pferd“, begrüßte er sie, nachdem er irgendetwas auf einem Klemmbrett
notiert hatte. Kaya hatte keine Kraft zu lachen, und ihr stand auch nicht der
Sinn danach, in diesen heißen Klamotten. „Den Sattel und das Zaumzeug kannst du
über das Gatter legen“, gebot er ihr. „Jetzt besorgen wir dir erst mal ein
Pferd.“ Er wirkte wieder ein wenig freundlicher. Sie sah ihn missmutig an. Sie
wäre gerne schon fertig mit ihrer ersten Reitstunde.
Dabei hatte
es noch nicht einmal angefangen.
Sie gingen
weg von der Koppel, schlugen einen anderen Weg ein, den man nicht mit dem Auto
befahren konnte.
„Wir holen
dir ein Pferd von der Weide. Oder besser gesagt, du wirst dir eins holen“,
korrigierte er sich lächelnd. Kaya starrte ihn an.
„Ich?“,
wiederholte sie ungläubig. „Wie mache ich das?“, entfuhr es ihr, und Tom
schenkte ihr einen entsprechenden Blick.
„Wie du das
machst? Du gehst auf die Weide und fängst dir ein Pferd“, erklärte er, als wäre
sie dumm. Er streckte ihr ein Band mit weiteren Schnüren entgegen. „Das ist ein
Halfter, das legst du dem Pferd an und führst es mit der Führleine von der
Weide“, eröffnete er ihr, und Kaya blieb stehen.
„Allein?“
Sie starrte ihn an.
„Ja?
Allein“, bestätigte er. Kurz verging ein panischer Moment in ihrem Kopf. Aber
Tom tat ihr keine Gefallen. Er ging weiter und panisch
folgte sie ihm, bis er vor einer großen Weide anhielt. Bestimmt zehn riesige
Pferde grasten hier.
„Und was…
soll ich jetzt tun?“, entfuhr es ihr ratlos, und er deutete auf die Weide.
„Jetzt
suchst du dir ein Pferd aus“, schloss er, als wäre es so einfach.
„Was?“ Sie
sah ihn offen an. „Ich… soll mir einfach eins aussuchen?“
Er nickte
den Pferden auf der Weide zu, und sie wandte sich ihnen langsam zu. Die waren
bestimmt drei Meter hoch! Vielleicht nicht ganz, aber sie waren enorm hoch! Wie
sollte sie jemals eines von diesen riesen Viechern an dieses Band in ihrer Hand
bekommen?!
„Und… wenn
ich es nicht schaffe?“, wagte sie hoffnungsvoll zu fragen. Aber er bot ihr
nicht seine Hilfe an.
„Dann
glaube ich nicht, dass du es in dir hast, reiten zu lernen“, erwiderte er
schroff. Er lehnte sich auf den breiten Holzzaun, stellte einen Fuß im
polierten Stiefel auf den untersten Balken und schien darauf zu warten, dass
sie die Weide betrat. Und sie war sich im Übrigen sicher, dass sie es nicht in
sich hatte, reiten zu lernen. Aber sie sagte nichts. „Du siehst aus wie eine
Reiterin“, bemerkte er fast spöttisch. Also gib mir deine seltsame Tasche und
fang an“, befahl er. Und ihr kam ein Gedanke.
„Sag mal,
würde es dir vielleicht etwas ausmachen, mich zu filmen? Dabei?“, ergänzte sie
mit einem Kopfnicken in Richtung Weide. Kurz runzelte sich seine Stirn.
„Wozu?“,
wollte er knapp wissen, aber sie lächelte einfach nur.
„Es… es ist
einfach ein besonderer Moment, den ich schon immer festhalten wollte. Der erste
Kontakt mit… einem Pferd und so“, log sie ins Blaue hinein, und die Falten auf
seiner Stirn vertieften sich. Aber ohne Umstände holte sie einfach die Kamera
aus der Tasche.
„Einfach
auf Power drücken, dann auf Aufnahme und draufhalten“, erklärte sie ihm mit
einem Lächeln, was hoffentlich überzeugend genug wirkte, damit er keine Fragen
mehr stellte.
„Keine
Ahnung, warum du das willst, aber ich bin klug genug, seltsame Vorlieben nicht
zu hinterfragen“, bemerkte er nur, nahm die Kamera und tat, was sie gesagt
hatte. Dann kletterte sie kurzerhand über den Weidezaun. Sie wollte schließlich
den Akku schonen. Sie würde es schon schaffen, sich ein Pferd auszusuchen. Aber
sie klickte den Verschluss des Helmes auf und stülpte ihn über einen der
Pfosten. Es war definitiv zu heiß dafür. Und sie kämpfte sich aus der
Schutzweste, die sie anschließend ins Gras warf. Und auch der Blazer folgte
anschließend, und sie legte ihn über den Zaun. Viel besser!
„Egal,
welches Pferd?“, fragte sie noch einmal, und Tom nickte überfreundlich hinter
der Kamera. Er hielt sie für verrückt, so viel stand fest. Sie hätte ihn gerne
gefragt, ob die Pferde austraten oder beißen würden, wenn man zu nahe kam, aber
das würde auf dem Video nicht professionell wirken. Und gerne hätte sie auch
nach der weißen Stute gefragt, aber schon ihr Großvater hatte sie deshalb so
angeschrien, also sah sie davon ab.
Sie atmet
gepresst aus, während sie durch das niedrige Gras stapfte.
Einfach das
Kleinste nehmen, entschied sie dumpf. Leider schienen
sie alle viel zu groß zu sein. Einige hatten bereits die Köpfe interessiert gehoben.
Oh nein! Hoffentlich kamen sie jetzt nicht auf sie zugestürmt, betete sie
panisch! Ein hellbraunes Pferd fiel ihr ins Auge. Es war das einzige, was sich
nicht auf sie zubewegte. Sie fasste Mut.
Sie atmete
aus, wich den schnuppernden Gesichtern der riesen Pferde aus und erreichte das
starre Tier. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um in sein Gesicht sehen
zu können. Es wirkte vollkommen desinteressiert.
„Hey“,
sagte sie schließlich fast erleichtert, als es keine Anstalten machte, sie zu
beißen oder zu treten. „Ich bin Kaya. Nett, dich kennenzulernen“, ergänzte sie
ruhig. Langsam hob sie ihre Hand. Sehr, sehr langsam, damit es nicht
erschrecken würde und sie doch noch biss!
Es hielt
still, bis sie seine weiche Nase berührte. Es war ein verrücktes Gefühl. Es
fühlte sich weicher an als Watte oder Samt. Vorsichtig fuhren ihre Finger sein
samtenes Fell hinab.
„Darf ich
dir dieses unschöne Ding umlegen?“, fragte sie, nachdem sie den hochgereckten
Arm wieder hatte sinken lassen. Aber natürlich antwortete es nicht.
Sie
betrachtete stirnrunzelnd die vielen verknoteten Seile. Wie sollte sie es um
seinen Kopf bekommen? Das war doch wirklich lächerlich! Es hatte ein oder zwei
Schnappverschlüsse, aber Kaya hatte keine Ahnung, was sie tun musste.
„Ok“, begann
sie von neuem. „Magst du einfach mit mir kommen?“, versuchte sie es mit einem
verzweifelten Lächeln und machte einen Schritt zurück. „Ok?“ Sie streckte ihm
die Hand entgegen. Das Tier musterte sie verstört. Kaya konnte es nur zu gut
verstehen.
„Komm doch
einfach mit, Kleiner“, sagte sie sanft. Klein war das Tier zwar überhaupt
nicht, aber im Moment setzte sie alles daran, es zu überzeugen.
Und
tatsächlich! Es machte einen unsicheren Schritt in ihre Richtung.
„Ja! Gut
so!“, munterte sie es auf. „Komm, noch ein bisschen weiter, ok?“ Sie bewegte
ihre Finger und mit einem leisen Schnauben reckte das Pferd den Kopf in ihre
Richtung und folgte ihr zögerlich. Kaya machte vorsichtige Schritte rückwärts,
darauf bedacht, mit keinem weiteren Pferd zusammenzustoßen und womöglich doch
noch getreten zu werden!
Ihr Arm
wurde schon langsam taub, aber das Tier folgte ihr nun mittlerweile recht zügig
und nach zehn weiteren Schritten war sie wieder am Zaun angekommen.
Das Pferd
hielt schließlich vor ihr an. Sie hörte, wie Tom die Kamera ausschaltete.
„Sehr
eindrucksvoll“, bemerkte er knapp. „Hast du Leckerlies dabei?“, erkundigte er
sich spöttisch bei ihr, aber sie wandte den Blick entgeistert in seine
Richtung.
„Nein? Wieso? Gibt es dir hier?“ Sie blickte am Zaun hinab, und der Spott
verschwand aus seinem Gesicht.
„Du hast
ihn einfach hergelockt? Mit was? Gut zureden?“, wollte er jetzt ungläubig
wissen. Kaya ruckte mit dem Kopf.
„Schätze
schon“, räumte sie ein. „Ich wusste nicht, wie ich dieses Ding aufsetzen
sollte“, erklärte sie, mit Blick auf den Halfter. „Wie… wie heißt er?“, fragte
sie schließlich, als Tom sie einfach nur gemustert hatte.
„Atreyu“,
erwiderte er, und sie sah ihn verblüfft an.
„Atreyu?
Wie… aus dem Märchen?“, vergewisserte sie sich.
„Welches Märchen?“,
wollte er verständnislos von ihr wissen.
„Egal“, erwiderte sie knapp. Wahrscheinlich war es peinlich, dass sie das
Märchen kannte. Sie wollte nicht wirken wie ein Kind. Aber sie fand den Namen
sehr schön. Wirklich schön! Vielleicht war es Schicksal, dass sie dieses Pferd
ausgesucht hatte?
„Hier“,
sagte er schließlich, ohne noch einmal nachzuhaken, nahm ihr das Halfter ab,
umarmte praktisch den Pferdekopf und zog den Kopf ein Stück hinab. Er knickte
ihm die Ohren zur Seite und schob das Halfter einfach über den Kopf, als ginge
es kinderleicht. „Das ist jetzt dein Pferd“, erklärte er lächelnd. „Er ist
fünfundzwanzig Jahre alt, gut trainiert und sollte dir keine Probleme bereiten
als Anfängerpferd“, schloss er und tätschelte Atreyu den Hals. Eigentlich hätte
er doch Artax heißen müssen, überlegte sie fast mit einem Lächeln.
„Danke“,
sagte sie schließlich und nahm die Führleine in die Hand. Das Pferd musterte
sie aus dunklen Augen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen,
dass dieses gutmütige Tier Lust darauf hatte, im Kreis zu reiten. Den ganzen
Tag lang!
„Ist
fünfundzwanzig nicht etwas alt?“, wollte sie scheu wissen, aber Tom ruckte mit
dem Kopf, so dass sich die Sonne in seinen dunklen Haaren fing.
„Nein,
überhaupt nicht. Es wird nicht mehr für Turniere genutzt. Nur noch ab und an
zum Reiten für die Lehrer“, sagte er leichthin. „Er ist praktisch in halber
Rente. Ein bisschen Reiten schadet ihm überhaupt nichts.“ Sie nickte langsam,
während sie seinen Nacken tätschelte. „Na los, wir putzen, und dann satteln wir
auf. Du musst es lernen, denn ab morgen helfe ich dir nicht mehr“, erklärte er,
wieder ganz der unfreundliche Reitlehrer. Sie folgte ihm seufzend, nachdem sie
sich die Tasche wieder umgehangen und den Helm und die Weste unter den Arm
geklemmt hatte.
Sie hielt
ein Pferd an einer Leine. Es war ein epischer Moment, befand sie.
Nur das
Pferd tat ihr leid. Sie hoffte, sie würde ihm nicht allzu viel zusetzen.
–
Hunde die bellen –
Es war ihr
vorgekommen wie eine Ewigkeit, bis Atreyu sauber genug war, alle Hufe
ausgekratzt waren, was erstaunlich schnell gegangen war, denn das Tier hatte
wie ein Hund, brav alle Hufe von selbst gehoben, bis der Sattel richtig auf dem
Pferd gelegen hatte, bis alles sicher verschnallt worden war und vor allem bis
sie es endlich geschafft hatte, das Zaumzeug anzulegen. Immer wieder hatte er
die Trense aus dem Mund geschoben, bis es ihr irgendwann zu bunt geworden war,
und sie das Zaumzeug einfach festgezogen hatte, egal, ob es ihm nun gefiel oder
nicht.
Tom hatte
mehr oder weniger belustigt zugesehen.
„Er ist an
die Messing-Trense gewöhnt“, erläuterte ihr Tom, während sich die Mädchen
wieder bei ihm einfanden. Die gesamte Pause über hatte Kaya ihr Pferd geputzt
und gesattelt. Sie schwitzte immer noch, obwohl sie schon auf Helm und Blazer
und Weste verzichtet hatte.
„Warum?“,
fragte sie halb interessiert, halb fertig mit den Nerven. „Ich dachte, die
Pferde haben hier kein eigenes Zaumzeug?“, wiederholte sie, was ihr von Frau
Kramers Ausführungen im Gedächtnis geblieben war.
„Sie
schmeckt für ihn besser. Sie ist süßer. Und manche Pferde haben eigenes
Zaumzeug sowie einen Sattel. Aber das weiß Frau Kramer ohnehin nicht.“ Wer
wusste so etwas schon, überlegte Kaya dumpf.
„Ich kann
mir nicht vorstellen, dass so etwas überhaupt schmeckt“, bemerkte Kaya
erschöpft, während sie sich gegen das Gatter lehnte, die Zügel locker in der
Hand, wie Tom es ihr gezeigt hatte, damit das Pferd nicht auch noch davon
spazieren konnte. Wenn Atreyu den Kopf senkte, dann wirkte er zumindest nicht
mehr so übermenschlich groß, fand Kaya.
„Pferde
haben die Trense nicht ungern, verstehst du? Es sind Nutz- und Lastentiere“,
fuhr Tom mit einem Lächeln fort. „Sie dienen dem Menschen gerne, wenn man sie
denn richtig behandelt“, schloss er strenger. „Und dazu gehört das richtige
Auftrensen genauso wie das Putzen!“ Diesen Satz richtete er auch an die
Mädchen, die mit fast beiläufiger Eleganz auf den riesigen Tieren aufsaßen.
„Das hier ist Kaya. Sie gehört ab heute zu unserer Gruppe, allerdings…“, kurz
machte er eine etwas ratlose Pause, „hat sie noch weniger Erfahrung als ihr,
sie fängt also langsam an.“
Kaya kam
sich vor wie ein besonders dummes, neues Kind in der Krabbelgruppe, so wie Tom
sie betrachtete.
„Führ das Pferd
auf die Koppel“, befahl er schließlich, und sie setzte sich in Bewegung. „Ähm,
Kaya?“, hielt er sie auffordernd auf, und sie wandte den Blick. Er deutete auf
den Helm, den sie auf dem Pfosten vergessen hatte. Richtig! Hastig griff sie
nach dem samtenen Helm. „Ein Pferd ist nur so gut, wie es sein Reiter ihm
erlaubt. Und wenn du keinen Helm hast, kann es sehr gefährlich enden“,
maßregelte er sie sofort. Kaya bemerkte, wie die Mädchen schnell und
unauffällig den Gurt ihrer eignen Helme überprüften. Sie entschied sich gegen
die Weste. Es war zu heiß. Und wenn sie fiel und starb – dann war es ihr nur
recht.
Aufsitzen.
Kaya hasste das. Mutig stellte sie also voller Elan den Fuß in den Steigbügel.
– Oder zumindest versuchte sie es. So leicht war er nämlich gar nicht zu
erreichen. Hüpfend konnte sie mit der Fußspitze schließlich in den Bügel.
„Möchtest
du rückwärts aufs Pferd?“, erkundigte sich Tom spöttisch, während er sich auf
dem Zaun abstützte, die Sonne im Nacken, widerlich überheblich. Kaya
betrachtete ihr Werk und stellte fest, dass sie den rechten Fuß im linken
Steigbügel hatte. Sie atmete resignierend aus, und einige Mädchen kicherten
verhalten. Ok, linker Fuß, linker Steigbügel. Es war doch ganz einfach! Kaya
wiederholte ihre mühsame Arbeit, wofür die anderen Mädchen keine Sekunde
gebraucht zu haben schienen.
„Möchtest
du eine Aufstieghilfe?“, fragte er. „Da die Mädchen ihre eigenen Pferde
mitbringen, sehen wir davon ab, denn es schadet dem Pferderücken nicht, wenn es
nur einen Reiter hat“, erklärte er, was sie nicht ganz verstand.
„Äh… ich
weiß nicht?“ Sie dachte an den blonden Reitlehrer, der ihr so nahe gekommen
war, dass sie rot geworden war, und wollte sich vor Tom nicht genauso
blamieren. Aber schon holte er ihr eine Art Trittbrett. Das gefiel ihr fiel
besser.
Eilig
kletterte sie die Stufen hoch. Tom zeigte ihr, wie sie die Zügel halten musste,
damit ihr Pferd nicht Reißaus nahm. Dann schwang sie ihr Bein über den
Pferderücken und saß! Beiläufig korrigierte Tom die Haltung ihrer Finger.
„Frau
Kramer hat dir keine Handschuhe gegeben“, kommentierte er anscheinend diesen
Zustand. „Sprich mit ihr. Handschuhe schützen deine Hände vor Schwielen und dem
Geruch des Leders.“ Aha. Ok? Sie hatte gerade andere Probleme als Ledergeruch.
Jetzt
müsste sie nur noch reiten. Ihr Vater hatte es gekonnt.
Wurde es
nicht… vielleicht vererbt? Genauso wie mathematische Unfähigkeit? Wieder einmal
ging ihr auf, dass sie auch hier die schlechteste im Kurs war. Aber Pferdesport
hatte wieder einmal etwas mit Sport zu tun, also wunderte es sie nicht.
Aber das
hier war alles, was ihr Großvater ihr zugestand. Mehr würde er nicht für sie
tun.
Und
wahrscheinlich sollte sie dieses Angebot wahrnehmen. Was blieb ihr übrig? Sie
stellte die Füße in die glänzenden, silbernen Steigbügel, die Tom für sie in
die richtige Lochlänge gebracht hatte.
Der Sattel
besaß keinen Knauf, wie sie ihn bei Jolly Jumper aus den Lucky Luke Comics
kannte. Der Sattel wirkte eher schmal und stromlinienförmig. Alles wirkte
moderner, als es Kaya sich vorgestellt hatte.
Sie musste
es versuchen. Für die Nachprüfung. Für Alinas Mühen.
Für ihre
Mutter, die sich dann erst mal weniger Sorgen machen musste, wenn Kaya mit
Biegen und Brechen ihre Nachprüfung bestand.
„Ausgezeichnet
steif“, kommentierte Tom sehr trocken ihre Haltung. Kaya war schon wieder nass
geschwitzt. „Jetzt reih dich ein, locker sitzen“, ergänzte er, und Kaya hob den
Blick. Sie und das Pferd standen erdenklich weit abseits.
Wie bewegte
man ein Pferd?
„Weißt du,
was eine halbe Parade ist?“, fragte er, mehr oder weniger ernstgemeint. Ja, sie
konnte sich vorstellen, was eine halbe Parade war. Aber sie wollte es nicht
laut sagen. Sie dachte an Karnevalsumzüge, ohne Verkleidungen. Er nickte dann
und kam wieder näher.
„Du drehst
den rechten Zügel nach außen“, erläuterte er, „dann weiß das Pferd, dass ein
Befehl folgt. Dann gibst du eine Schenkelhilfe. Du übst Druck knapp hinterm
Sattelgurt aus“, fuhr er ruhiger fort.
Zügel
drehen, Schenkeldruck. Das Pferd erwachte zum Leben, als hätte sie einen
Schlüssel gedreht. Überrascht versteiften sich ihre Hände.
„Nein, du
musst nachgeben. Wenn du die Zügel nachgibst, versteht das Pferd, dass es etwas
richtig gemacht hat. Gib der natürlichen Nickbewegung des Kopfes nach“, fuhr er
fort, und Kaya schwirrte der Kopf. „Noch mal“, befahl er, und Kaya drehte den
Zügel und drückte die Schenkel sanft in den Unterbauch des Tieres. Wieder
bewegte es sich. Allerdings geradeaus.
„Die
verwahrende Schenkelhilfe ist wichtig für den Richtungswechsel“, rief er jetzt.
„Lass dein rechtes Bein überm Sattelgurt liegen, Kaya“, rief er ihr zu, „und
treib leicht mit dem linken Schenkel, gib eine halbe Parade mit dem äußeren
Zügel und zeig ihm die Richtung an.“
Ja. Aha.
Was?! Sie wusste nicht mehr, welcher Schenkel was tun sollte, aber sanft zog
sie den Zügel nach rechts. Das Pferd tat ihr den Gefallen.
„Hände
runter, Kaya, halt die Linie zum Pferdemaul, Zügel kürzer fassen!“, rief er
jetzt. „Ganze Parade zum Stehen!“, sagte er, als Atreyu am nächsten Pferd
vorbei marschieren wollte. „Beide Zügel drehen, Kaya!“, erläutere er hastig,
und sie übte Druck auf beide Zügel aus, und ruckartig hielt das Tier. „Nicht zu
heftig. Bereite ihn vor. Er kennt die Signale. Er ist kein abgestumpftes
Schulpferd, was du treten und ziehen musst!“
Sie war
erschöpft und unbegabt. Und sie wollte nach Hause. Sie sah die anderen Mädchen
betreten zur Seite blicken, während sie sich gegenseitig anfeixten.
„Gleich
fällt sie runter“, hörte sie ein Mädchen hinter sich murmeln. Wahrscheinlich
hatte sie Recht, dachte Kaya betrübt.
Sie machte
alles falsch, nahm sie an. Sie hätte lieber ein abgestumpftes Schulpferd, was
sie treten und ziehen konnte.
„Ruhe, Mädchen!“, rief Tom wieder, die Peitschte bereit in der Hand. „Kaya!“,
ermahnte er sie erneut und kam näher.
Tom sah sie
nicht an, als er sie erreichte und gewissenhaft ihren Sitz und die Haltung der
Zügel korrigierte. Wie schon der blonde Reitlehrer zuvor, legte er die Zügel an
ihren kleinen Fingern vorbei, denn sie hatte vor Panik wieder die Zügel mit der
ganzen Hand ergriffen. Dann legte er tatsächlich seine Hand auf ihren
Oberschenkel. Sofort schoss ihr Blick zu seinem Gesicht, aber er schien in
dieser Geste nichts Schlimmes zu sehen.
Kaya
schluckte schwer. „Zieh deine Knie nicht an“, sagte er ruhiger und drückte ihre
Schenkel in eine unangenehme Position, so dass es anstrengend war, „du willst
nicht springen“, schloss er. „Deine Ferse muss der tiefste Punkt sein“,
erklärte er weiter. „Guck über die Pferdeohren hinaus, gerade sitzen, gib klare
Führungen und kontrolliere deinen Körper genau.“ Kaya spürte, wie sie sich
verkrampfte, als er einen Schritt zurückmachte.
„Wieso
sitzt sie auf diesem Pferd?“, vernahm sie plötzlich die Stimme ihres
Großvaters. Fast wäre sie zusammen gezuckt. Eine kurze Unruhe glitt über die
Schülerinnen, und Kaya schluckte schwer. Alle sahen ihren Großvater an, der am
Gatter lehnte.
„Sie sollte
sich eines von der Weide holen, oder nicht?“ Tom klang eine Spur unsicher, als
er antwortete.
„Ja“,
entgegnete ihr Großvater missmutig. Es schien ihm zu missfallen, dass sie auf
diesem Pferd saß. Oder vielleicht missfiel es ihm generell, dass sie auf einem
seiner Pferde saß. Sie nahm es an. „Sie sollte nicht mit den anderen reiten.
Sie macht die anderen Pferde nur scheu mit ihrer Unerfahrenheit.“ Super. So
fühlte man sich gleich besser.
„Noch ist
sie nicht gestürzt“, antwortete Tom vage, als würde das noch in Aussicht
stehen.
„Sie gibt
ein miserables Bild ab. Haben Sie die Zeit für Privatunterricht?“
Kaya hob
den Blick. Nein! Es wäre so demütigend, und alleine mit Tom zu sein wäre noch
schlimmer, denn sie glaubte nicht, dass sie unter seiner gesamten
Aufmerksamkeit irgendeinen Fortschritt machen würde. Ihr Großvater stand mit
zwei überforderten Beratern am Gatter, welche die Pferde beide mit Abscheu und
Unverstand betrachteten. Kaya gab es ungern zu, aber sie konnte diese Gefühle
beide nachempfinden. Tom schien abzuwägen.
„Es ist
dieses Jahr ein enger Zeitplan. Mit dem Basic-Kurs und den Springreitern“,
sagte er langsam. „Ausgelastet ist meine Zeit schon jetzt. Wenn es Ihnen ein
Anliegen ist, dann… wäre es am Wochenende möglich“, erläuterte Tom kühler. Oh
ja, das wäre super! Tom hatte ohnehin keine Lust, ihr Reiten beizubringen und
dann müsste er sein Wochenende opfern!
„Die
Wochenend-Prämien sind mir zu hoch“, sagte ihr Großvater lediglich, und Kaya
wusste nicht, ob das ein Scherz war. Wahrscheinlich nicht. „Wie sieht Leonards
Plan aus?“, wollte er wissen.
„Voll“,
erwiderte Tom sofort. „Außerdem glaube ich nicht, dass sie Reitkenntnisse
erlangen würde, wenn sie heulend auf dem Pferd sitzt“, ergänzte Tom lediglich
mit einem eindeutigen Blick. Kaya begriff nicht ganz, nahm aber sehr plötzlich
an, dass ‚der Arsch‘, wie Vanessa ihn nannte, bestimmt keine Sekunde Geduld
aufbringen würde, um ihr aus dem Staub zu helfen, würde sie fallen. Tom drehte
nachdenklich die Peitsche in der Hand. Nein, sie wollte dem blonden Reitlehrer
nicht mehr begegnen. Und bestimmt nicht allein! Dann räusperte sich Tom
verhalten. „Ich nehme an, Sie selber haben keine Zeit, Herr von Rothenberg?“,
schien er die Frage zu wagen, und ihr Großvater runzelte die Stirn.
„Ich?“,
wiederholte er freudlos. „Ich glaube, ich habe die Zeiten hinter mir, in denen
ich unbegabten Schülern meine Zeit schenken muss.“ Kaya fühlte sich noch
elender als ohnehin schon. Warum stellte sie sich nicht in die Mitte, und alle
durften sie mit Obst bewerfen?!
„Gut, es
tut mir wirklich leid, Tom, aber ich werde Sie und Leonard einteilen müssen,
nach Ihrem regulären Plan noch ein bis zwei Stunden täglich einzuschieben“,
fiel das Urteil gnadenlos.
Oh so ein
Mist, dachte Kaya nur, und war sich sicher, Tom würde sie dafür hassen. Dieser
nahm es stumm zur Kenntnis, aber Kaya glaubte, dass er ein wenig schlechtere
Laune hatte als zuvor. „Fangen Sie heute nach den Springstunden an!“, befahl
er. „Morgen übernimmt Leonard“, beschloss er dann. Sein Blick fiel schließlich
auf sie. „Und du schaffst am besten das Pferd vom Platz, bevor die anderen
Tiere ihren Reiterinnen noch ausbrechen.“
Kaya hatte
keine Ahnung, wann die Springstunden zu Ende wären. Und sie wusste nicht, wohin
mit dem Pferd. Aber nur zu gerne glitt sie aus den Steigbügeln und hievte sich
ungeschickt von Atreyus riesigem Rücken. Ihre Beine zitterten als sie endlich
wieder Sand unter den Füßen hatte. Sie griff eilig nach den Zügeln und zog das
Pferd mit sich.
Ihr Blick
senkte sich automatisch, denn der Blick ihres Großvaters war nicht gerade
freundlich.
„Gib das
her“, schimpfte er schließlich, als sie am Gatter angekommen war, und er seinen
Beratern befohlen hatte, es zu öffnen. „Du brichst ihm noch die Zähne raus,
wenn du so zerrst“, blaffte er sie an und nahm ihr die Zügel ab. Tränen stachen
bereits hinter ihren Augen.
„Es ist das
erste Mal, dass ich auf einem Pferd sitze!“, murmelte sie zornig und beschämt.
„Und es wird nicht besser funktionieren, wenn Sie mich anschreien!“
„Mädchen, du bist hier her gekommen. Ich tue dir einen Gefallen, es ist ganz bestimmt
nicht umgekehrt!“ Und er hatte kein Problem, lauter zu werden. Es schien ihn
nicht zu stören, sie vor fünfzehn Leuten anzuschreien. Und zu gerne hätte sie
erwidert, dass sie keine Gefallen von ihm wollte! Aber
sie dachte daran, dass sie ihre Nachprüfung tatsächlich bestehen könnte, würde
sie sich nur eine Stunde lang filmen, wie sie sich im Sattel hielt und
vielleicht trabte, vielleicht irgendetwas zu Stande brachte! Sie wusste nicht,
ob es das wert war, aber sie wusste, zurzeit sah es in ihrem Leben nicht gerade
gut aus.
„Es ist
nicht nötig, dass mich Ihre Leute jeden Tag unterrichten. Darauf haben die
keine Lust und ich ganz bestimmt auch nicht!“, sagte sie böse.
„Du bist
eine undankbare Göre“, entfuhr es dem Mann vor ihr kopfschüttelnd. „Du solltest
lieber-“
„-ich bin nicht undankbar!“, fuhr sie ihn an,
während sie ihre Hände in die Hüften stemmte. „Aber ich denke, ich muss mich
nicht beleidigen und demütigen lassen, weil ich ein klein wenig Reitunterricht
haben möchte! Ich will keine Turniere gewinnen, ich will kein Zimmer mit
Pokalen füllen, wie es hier vielleicht üblich war!“ Seine Augen hatten sich
merklich geweitet. „Sie hätten auch ablehnen können! Und wissen Sie was, das
können Sie auch immer noch tun. Wenn es so eine Last und so eine Qual ist, dass
ganze Dienstpläne geändert werden müssen, dann lassen wir es einfach!“, rief
sie zornig aus.
„Ich kann
nicht fassen, wie viel Unverstand mir von dir entgegen gebracht wird! Bei
deiner Erziehung wundert es mich natürlich nicht!“, ergänzte er boshaft.
„Meine
Erziehung ist vollkommen in Ordnung! Meine Mutter ist die beste Mutter der
Welt, aber woher sollten Sie das wissen?!“, rief sie, und sie glaubte schon,
weinen zu müssen, denn niemand beleidigte ihre Mutter! Niemand! Und schon gar
nicht er!
„Ich werde
darüber ganz bestimmt nicht streiten! Und ich halte mich an Vereinbarungen. Du
wirst hier heute Abend und jeden weiteren Abend der Woche um zwanzig Uhr
auftauchen. Du wirst jeden Tag eine Reitstunde bekommen, und wenn du nach einem
Monat das Pferd noch immer rückwärst besteigst ist es mir auch egal! Damit ist
der Vertrag erfüllt, damit bist du endgültig und für immer von hier
verschwunden! Mir egal, wie du deine Tage füllst, aber du wirst dich nicht auf
meinem Gestüt aufhalten, hast du das verstanden? Du wirst mir nicht mehr unter
die Augen kommen, und mein Personal wird sich darum kümmern, dass du hier nach
deinen Reitstunden direkt wieder verschwindest! Kein Putzen, kein Aufsatteln!“
Es war
unglaublich still geworden und jeder hörte ihnen zu, sogar die Stalljungen
waren aus den angrenzenden Gebäuden gekommen. Und Kaya war es egal, ob die
ganze Welt zuhören würde. Sie griff sich ihre Umhängetasche von dem Pfosten zu
ihrer Linken.
„Hast du
mich verstanden?“, vergewisserte er sich tatsächlich bei ihr, und seine Stimme
zitterte vor Zorn. Ihr Blick war trotzig und gehässig, sie verhielt sich so,
wie Alina und sie geschworen hatten, sich nie mehr zu verhalten, nachdem sie
beide einen Heulkrampf bei Alinas Eltern bekommen hatten, weil sie um halb zwölf
an Silvester nicht mehr nach draußen gedurft hatten, obwohl sie schon sechszehn
und erwachsen gewesen waren! Es war genauso demütigend gewesen, aber Kaya
verhielt sich jetzt gerade wie ein bockiges Kind, und sie hatte kein Problem
damit!
„Glauben
Sie mir, das habe ich. Ich hatte sowieso nicht vor, noch einmal mit Ihnen zu
sprechen!“, presste Kaya unter Tränen hervor.
„Gut, dann
scheinst du meine Worte ja begriffen zu haben!“, entgegnete er, und sie bohrte
ihren Blick nur zu gerne in seinen. Sie hatten scheinbar nichts mehr zu sagen.
Es wunderte sie nicht, dass ihr Vater abgehauen war! Sie glaubte nicht, dass
irgendjemand ihn mochte! Er war einfach nur grauenhaft!
Und sie war
wütend. „War’s das?“, wollte sie tatsächlich patzig von ihm wissen, und seine
Mundwinkel zuckten vor Zorn.
„Ja. Das
war’s“, bestätigte er herablassend ihre Worte in genau ihrem Tonfall, und Kaya
stürmte an allen glotzenden Zuschauern vorbei.
Mit jedem Schritt
stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht, und sie hasste ihr Temperament, von dem
ihre Mutter behauptete, sie müsse es von ihrem Vater haben, aber sie kannte die
Momente, wenn ihre Mutter wütend war, und kurzerhand Blumentöpfe aus dem
Fenster warf!
Beim Gehen
schloss sie peinlich berührt die Augen. Gott, sie hatte sich vor zwanzig Leuten
zum Affen gemacht und hatte ihren unbekannten Großvater angeschrien. Super.
Gut, dass
das niemand gefilmt hatte!
Und sie war
sich nicht völlig sicher, aber… wenn er sich nach diesem Streit immer noch an
seinen Vertrag hielt, dann… war er vernünftiger als sie. Austesten würde sie es
auf jeden Fall! Wenn er sie dann vom Gestüt warf – dann würde sie endlich nach
Hause fahren.
–
Bastians Hilfe –
Erschöpft
lag sie flach auf dem Bett und wartete, dass es halb acht sein würde.
Sie musste
nicht mal ihr Pferd satteln. Sie kam nur dorthin für die Reitstunden. Es würde
nichts Spektakuläres passieren, ging ihr auf. Kein Turnier bei dem sie sich
filmen würde, bestimmt nicht mal irgendein Bock, über den sie springen müsste.
Sie müsste
sich also tatsächlich von Tom beim Galoppieren filmen lassen, und das müsste
reichen. Sie glaubte mittlerweile nicht mehr, dass es reichen würde. Nicht,
dass sie glaubte, dass sie jemals galoppieren können würde. Unglücklich starrte
sie an die vertäfelte Decke. Ihr Handy vibrierte auf dem Nachttisch neben ihr,
und hastig rappelte sie sich aus den Kissen.
War es
Alina? Denn die hatte sich noch nicht gemeldet!
Nein,
stellte sie mit Schrecken fest. Es war ihre Mama. Sollte sie rangehen,
überlegte sie tatsächlich. Denn sie würde Frau Wagner wieder nicht ans Handy
holen können. Aber sie verwarf ihre Sorgen, denn sie wollte ihre Mutter hören!
Hastig ging
sie ran.
„Mama!“,
rief sie und hörte im Hintergrund ohrenbetäubenden Lärm.
„Hey,
Kurze!“, begrüßte ihre Mutter sie laut. „Wie geht es dir?“
„Gut,
Mama!“, log Kaya übertrieben munter. „Alina und ich sind… im Zoo“, log sie schnell.
„Allein“, ergänzte sie, falls ihre Mutter dachte, sie wären dort mit Alinas
Eltern, aber ihre Mutter schien nicht wirklich mit der Absicht angerufen zu
haben, nach Alinas Mutter zu fragen.
„Schön,
Kurze. Sag mal, kannst du mir einen Gefallen tun? Herr Puslowski hat mich
angerufen“, sagte sie, und sie sprach in der Stimme, die Kaya das Herz brach,
denn ihre Mutter klang entschuldigend und untröstlich. Herr Puslowski war ihr
Hausverwalter. Er wohnte im Erdgeschoss. „Es fehlen für den Monat noch fünfzig
Euro. Aber… ich hatte nicht genug auf dem Konto, wegen der Reparatur für die
Waschmaschine?“, erinnerte sie ihre Mutter, und Kaya nickte, ohne dass ihre
Mutter es sehen konnte. „Könntest du später nach Hause in die Wohnung gehen und
aus dem Sekretärschrank im Wohnzimmer 50 Euro nach unten bringen? Ich kann mir
denken, dass Herr Puslowski uns wegen 50 Euro sonst richtige Probleme machen
wird, der alte Erbsenzähler.“
Und Kaya
nickte wieder, während sie auf ihrer Lippe kaute.
„Kein
Problem, Mama“, sagte sie sofort. Wenn ihre Mutter mit dieser Stimme sprach,
dann tat Kaya eigentlich alles sofort!
„Ich danke
dir, Kaya! Tut mir so leid, dass ich dich damit belästigen muss, aber ich
bekomme meine Gage erst nach der Show. Dann haben wir auch erst mal keine Sorgen
mehr! Dieses Jahr zumindest“, ergänzte sie wieder entschuldigend.
„Mach dir
keine Gedanken. Ich mach das schon“, versicherte Kaya ihr, und ihre Mutter
atmete dankbar auf.
„Du bist mein liebes Mädchen. Tut mir leid, wir müssen weiter machen. Es wird
langsam was, Kaya. Ich lerne dazu. Ich werde eine wunderbare
Background-Rollschuhfahrerin sein“, versprach ihre Mutter lachend, und Kaya
fühlte sich ein wenig leichter ums Herz. Sie vermisste ihre Mutter so sehr!
„Das glaube
ich, Mama.“
„Mach’s
gut! Ich ruf wieder durch. Und Danke, Kurze!“
Damit war
das Gespräch vorbei. Kaya seufzte auf, denn sie wünschte sich wirklich, länger
mit ihrer Mutter sprechen zu können. Sie vermisste ihre Stimme so, und –
Oh großer
Gott! Was?!
Herrn
Puslowski die Miete bringen?! Sie konnte ihm die Miete gar nicht bringen! Heiß
kochte die Panik in ihr hoch. Oh nein! Sie hatte ganz vergessen, dass sie
gerade überhaupt nicht in Berlin war! Was sollte sie jetzt machen? Was sollte
sie tun? Wem sollte sie Bescheid sagen? Alina war nicht da, und selbst wenn –
sie hatte den Schlüssel hier!
Oh Gott!
Sie musste nach Hause! Dann wäre sie aber nicht hier! Und dann müsste sie
wieder zurück, wenn sie sich beim Reiten filmen wollte!
Oh Gott.
Kaya atmete schneller, begann durchs Zimmer zu laufen, während Tränen ihre
Augen füllten. Was sollte sie tun? Würden sie aus der Wohnung geworfen werden,
wenn Kaya das restliche Geld nicht brachte? Wahrscheinlich! Wieso rief Alina
nicht an? Alina würde wissen, was zu tun war, dachte Kaya unglücklich, und
schon vibrierte ihr Handy erneut.
Alina!
Hastig griff sie es sich vom Bett, aber… es war nicht Alina.
Oh nein. Es
war Bastian. Der sie tatsächlich schon wieder anrief, weil er sie auch mochte, und
weil sie nichts miteinander haben mussten, um zu telefonieren, oder so was,
wiederholte sie in Gedanken die Worte seiner SMS und wurde wieder rot.
Mist.
Resignierend ging sie ran.
„Hi“,
begrüßte sie ihn erschlagen.
„Hey, alles
ok? Du klingst… sauer? Bist du sauer wegen gestern, Kaya? Ich wollte-“
„-nein,
nein“, unterbrach sie ihn, denn sie befürchtete, dass er sich entschuldigen
wollte, oder so etwas ähnliches. „Ist alles ok“, murmelte sie abwesend. Gar
nichts war ok! Sie hatte ihren Großvater angeschrien und ihrer Mutter
versichert, die Miete nach unten zu bringen.
„Was ist
los?“ Er schien ihr ihre Worte nicht abzukaufen. Sie atmete langsam aus und
sank auf das Bett.
„Ach gar
nichts. Ich… muss wieder nach Hause“, erklärte sie also deprimiert. Anders ging
es nicht.
„Was?“,
entfuhr es ihm. „Was hast du gemacht? Das Gestüt abgebrannt?“, wollte er
ungläubig wissen, und sie verzog unglücklich den Mund.
„Nein.
Nein, ich muss einfach wieder zurück.“
„Wieso?“ Er
ließ nicht locker.
„Wieso?
Weil meine Mutter vergessen hat, die restliche Miete runter zum Verwalter zu
bringen und sie mich gerade angerufen hat, um zu fragen, ob ich es eben machen
könnte, weil ich ja sowieso in Berlin bin!“, erklärte sie ihm gereizt.
„Oh“,
bestätigte er knapp. Kaya fuhr sich durch die Haare. Sie musste morgen früh
abreisen. Dann wäre sie morgen Nachmittag in Berlin und konnte Herrn Puslowski
das Geld geben. Vielleicht sollte sie Bastian nach seiner Nummer googeln
lassen, damit er ihre Wohnung nicht zwangsräumen ließ? Aber hatte sie überhaupt
noch genug Guthaben, um mit Herrn Puslowski zu sprechen? Vielleicht gab es eine
Telefonzelle im Dorf, die – „Ich kann das machen“, unterbrach Bastian
kurzerhand ihre Gedanken.
Was? Sie
zog die Stirn in Falten. Was hatte er gesagt?
„Kaya?“,
entfuhr es ihm unsicher, und sie schüttelte knapp den Kopf. Es war unmöglich.
„Nein, kannst du nicht. Du hast keinen Schlüssel, und wenn ich ihn schicke,
dann… wäre er zu spät da. Außerdem müsstest du in unsere Wohnung, und der Verwalter
kennt dich nicht. Ich müsste Herrn Puslowski anrufen, und-“
„-Kaya, ich
kann das auslegen“, erklärte er ernst. Sie schwieg abrupt.
„Nein!“,
widersprach sie und schüttelte heftig den Kopf, ohne dass er es sehen konnte.
„Was? Warum nicht?“, entfuhr es ihm ungläubig. Weil sie schon von Alina mehr
als genug Geld bekommen hatte! Da brauchte sie nicht auch noch Geld von Alinas
Freund!
„Ganz
einfach Nein, Bastian!“, fuhr sie ihn jetzt wütend an. „Ich mach das schon!“
„Du bist in
Hamburg! Du bekommst Reitunterricht, und wenn du jetzt abreist, dann… wie
willst du dann deine Nachprüfung bestehen?“, wollte er aufgebracht von ihr
wissen.
„Dann fällt
mir eben was anderes ein. Oder ich bestehe sie einfach nicht, mein Gott! Dann
wiederhole ich. Es ist mir egal. Aber niemand zahlt mehr irgendetwas für mich.
Ich habe das nicht nötig, ok? Es ist nicht so, dass meine Mutter und ich die
Miete nicht zahlen könnten!“, empörte sie sich nur noch mehr und stellte fest,
die Worte ihres dummen Großvaters setzten ihr zu. Sie kam sich vor wie ein
schlechter Mensch, weil er ihr sagte, wie arm und nutzlos und unbegabt sie war.
Und jetzt
weinte sie nicht!
„Kaya-“,
versuchte es Bastian erneut, die Stimme ruhiger, um Vernunft bemüht, aber Kaya
widersprach.
„Danke,
Bastian, aber es ist ok. Ich brauche dein Geld nicht. Ich komme nach Hause.“
Damit legte sie auf. Hätte sie es ihm doch überhaupt nicht erzählt!
Almosen….
Das Wort klingelte in ihren Ohren. Sie brauchte keine Almosen. Von keinem.
Es wurde
Zeit, stellte sie abgelenkt fest, als sie die Zeit auf ihrem Handy bemerkte.
Sie könnte gleich los zum Gestüt. Sie nahm an, sie würde sowieso keine gute
Zugverbindung mehr erwischen heute. Sollte sie wirklich noch mal da hin?
Aber was
sollte sie sonst tun?
Sie atmete
resignierend aus.
Ja. Ihre
Reise war nun doch kurz gewesen.
Bevor sie
ging, packte sie das Nötigste bereits ein. Wenn sie wiederkam würde sie Frau
Ohlkamp direkt Bescheid geben, dass sie kein Frühstück brauchte. Für eine
Sekunde war sie sauer auf ihre vergessliche Mutter. Aber nicht länger als eine
Sekunde, denn… sie fühlte sich hier sowieso unwohl.
Mit einem
knappen Blick zurück, verließ sie ihr Zimmer. Noch eine Nacht wäre sie hier.
~*~
Sie stieg vom
alten Fahrrad und lehnte es gegen die Koppel, an der sie sich heute den
Showdown mit ihrem Großvater vor dem versammelten Gestüt geliefert hatte.
Statt eines
Fahrradhelms hatte sie den Reiterhelm getragen. Sie würde die Sachen direkt
hier lassen müssen, aber ihre normale Kleidung war ja auch immer noch hier. Sie
nahm die Umhängetasche nicht ab. Vielleicht konnte sie die Kamera irgendwie
noch mal zum Einsatz bringen.
Sie wusste
nicht, warum sie plötzlich schwermütig wurde. Die Sonne versank bereits hinter
den Bäumen. Die Luft war lau und Vögel zwitscherten an diesem heißen Tag.
„Wieder
da?“, erkundigte sich Tom bedächtig bei ihr, als er mit zwei gesattelten
Pferden hinter den Ställen abgebogen war und in ihre Richtung kam. Sie
erwartete, dass er so schlechte Laune hatte wie sie. Sie konnte sein Gesicht
nicht lesen.
„Es tut mir
leid, dass du länger arbeiten musst“, entschuldigte sie sich sofort.
„Weißt du
Kaya Rothenberg“, begann er, während er ihr seufzend die Zügel reichte, „ich
glaube, du hast es nicht viel leichter als ich“, schloss er knapp, während er
sie nicht aus den Augen ließ. Sie konnte sich einbilden, geweckte Neugierde in
seinem Blick zu erkennen, aber stellte keine weiteren Fragen mehr. Er wusste
jetzt scheinbar auch, wer sie war. Es war alles nicht mehr wirklich wichtig,
nahm sie an.
„Wer ist das?“, fragte sie schließlich, um
irgendetwas zu sagen, denn das hier war ein anderes Pferd. Es war nachtschwarz.
„Das… ist
Gusto“, stellte er ihr das Pferd vor. „Dein Großvater hat es nicht für angebracht
gehalten, dir Atreyu zu geben“, erklärte er, ohne großartig zu verschleiern,
dass er diese Entscheidung wohl nicht nachvollziehen konnte.
„Oh“, sagte
sie nur und fühlte sich schon wieder schlecht. Sie senkte den Blick auf die
Zügel in ihren Händen.
„Dieses
Pferd ist so gut wie verkauft. Also… wirst du auch ihn nicht besonders lange
reiten“, fuhr er kopfschüttelnd fort. Sie würde ohnehin nicht mehr reiten,
dachte sie gleichmütig. „Wollen wir… anfangen?“ Er sah sie auffordernd an.
„Ok.“ Sie
wollte ihm auf die Koppel folgen, aber er führte sein Pferd an der Koppel
vorbei. Jetzt erst war ihr aufgefallen, dass er zwei Pferde gebracht hatte.
Ritt er… auch? Wollte er sie demütigen?
„Was tust
du?“, rief sie ihm nach und folgte ihm mit Gusto.
„Ich habe
nicht wirklich so große Lust, auf der Koppel Unterricht zu geben“, erwiderte er
lapidar und schenkte ihr einen entsprechenden Blick, der kurz ihre Knie weich
werden ließ. Oh je. Sie mochte ihren Reitlehrer. Das ging nicht. Das ging
wirklich nicht. Sie mochte die Koppel auch nicht wirklich. „Zwar bietet sich
Longenunterricht bei dir an, aber…“ Er beendete den Satz nicht und zuckte die
Achseln. „Leonard wird dich morgen noch genug mit klassischem Reitunterricht
quälen. Da dachte ich mir… wir sind heute unkonventionell.“
Sie hatte
ein wenig Angst. Und Tom sagte nichts dazu, dass ihre Umhängetasche umließ. Er
hatte – als wäre es kinderleicht – bereits sein Pferd bestiegen. Kaya seufzte
auf und wandte sich dem Pferd zu.
„Neues Spiel,
neues Glück“, sagte sie achselzuckend. Sie blickte zum Rücken des Tieres empor.
Es war eine bedrückende Aussicht. Aber sie riss sich zusammen.
Und nach
dem zweiten Anlauf, schaffte sie es, sich in die Höhe zu ziehen. Triumphierend
lächelte sie, zog ihr Bein über den Rücken und fand die Steigbügel vielleicht
sogar eine Idee schneller als noch zuvor. Vielleicht bildete sie es auch nur
ein.
Tom hatte
einige Meter weiter vorne gewartet.
„Zügel
locker, leichter Schenkeldruck“, sagte er knapp und Kaya tat wie ihr geheißen.
Das Tier bewegte sich beim zweiten Schenkeldruck. Als sie auf Toms Höhe war,
fiel er mit ihr in einen Gleichschritt.
„Sehr gut“, lobte er sie tatsächlich, und sie stellte fest, dass er sie nun
schon mehrfach angelächelt hatte. Etwas, was sie vorher nicht bei ihm zu
Gesicht bekommen hatte. Er wirkte anders, stellte sie fest. Und es war… nett.
Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn zu lange ansah. Hastig wandte sie den
Blick nach vorne, während beide Pferde träge einen Seitenweg, weg von dem Weg
zum Parkplatz, entlang schritten.
Schon bald
lag rechts nur noch die weite Wiese und links ebenfalls eine Schneise weites
Grün, bis die hohen Büsche, die das Grundstück von der Straße trennten, in die
Höhe ragten.
„Ist das
alles, was wir tun?“, fragte sie, ein wenig enttäuscht und gleichzeitig
erleichtert. Sie sah Tom nicht direkt an, denn sie befürchtete, zu
offensichtlich zu starren.
„Ich denke,
für deine erste Reitstunde ist es nett, ein Gefühl für das Pferd zu bekommen“,
erklärte er zufrieden. „Für gewöhnlich reite ich manchmal selber alleine noch
aus, nach einem anstrengenden Tag. Heute kommst du mit. Du kannst es
gebrauchen“, sagte er nur. „Tief einsitzen, Kaya“, ergänzte er, ehe sie auf
seine Worte eingehen konnte. „Schwing mit den Bewegungen deines Pferdes mit“,
fuhr er fort.
Es war ihre
erste Stunde und gleichzeitig ihre letzte. Sie wollte nicht darüber nachdenken.
Und dann räusperte sie sich. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte sie ihn, und
bereute es direkt. Es sollte nicht so dumm klingen, wie sie es sagte.
„Wie kommst
du darauf?“ Tatsächlich klang er verblüfft. Sie wurde schon wieder rot!
„Ich… nur
so. Du hast es mich auch gefragt, als ich das erste Mal hier war!“,
rechtfertigte sie sich sofort, obwohl sie gerade tatsächlich aus einem Impuls
heraus gefragt hatte. Weil sie ihn angesehen hatte, weil sie ihn vielleicht ein
bisschen mochte. Weil sie sich fragte, ob er so alt war, dass sie ihn unmöglich
mögen durfte. Das ging durch ihren dummen Kopf, aber sie sagte etwas anderes.
„Und mich interessiert, wie alt die Reitlehrer hier sind“, setzte sie hastig
hinterher. Sein Lächeln entging ihr nicht. Und sie hatte Mühe, zwanglose
Konversation zu betreiben, während sie darauf achten musste, gerade und tief
einzusitzen, während sie keinen Druck mit den Schenkeln ausüben durfte, es sei
denn, sie wollte, dass das Tier ging, dass sie ihre Hände nicht auf dem Sattel
ausruhen durfte, und dass sie eine gerade Linie zum Pferdemaul hielt. Es war
eine Menge. Und sie meisterte es nicht schlecht, fand sie.
Wahrscheinlich
war das Tier aber auch treudoof und lammfromm, nahm sie an. Sie hoffte es
zumindest.
„Ok“, erwiderte er nickend. „Also Vanessa hast du schon kennengelernt?“,
vergewisserte er sich, und Kaya nickte. Ja, Vanessa mochte sie. „Vanessa ist 23
und ist die älteste von uns“, bemerkte er mit geduldiger Stimme, und Kaya kam
sich vor wie ein dummes, pubertierendes Kind.
„Wow. Sie
sieht nicht so alt aus“, bemerkte Kaya, um irgendetwas zu sagen.
„Pferdesport
hält jung“, antwortete Tom spöttisch. „Ich bin einundzwanzig“, fuhr er
schließlich fort. Vier Jahre Unterschied. Und sie wurde dieses Jahr noch
achtzehn. Dann nur drei Jahre, rechnete ihr dummer, dummer Kopf eilig aus. Dann
war es nicht unmöglich, dass sie ihn mochte. Sie nickte stoisch dem Pferdekopf
entgegen. „Und Leonard ist neunzehn“, schloss er knapp. Sie hob den Blick.
„Wirklich?“,
entfuhr es ihr ungläubig. „Er wirkt so…“ Unschlüssig zögerte sie.
„Was?“,
wollte Tom gespannt von ihr wissen. Böse und gemein, dachte sie. Sie schüttelte
nur den Kopf.
„Er wirkt älter“, entgegnete sie knapp. Sie hatte geglaubt, der blonde
Reitlehrer wäre der ältere von ihnen.
„Es liegt
an seiner Art“, bestätigte Tom nachdenklich und sah sie endlich nicht mehr an.
„Aber er ist nicht wirklich unfreundlich, er ist nur…“ Er schien zu überlegen,
schien aber zu keinem guten Schluss zu kommen. Dann zuckte er die Achseln.
„Oder vielleicht ist er einfach nur unfreundlich“, schloss er mit einem
schmalen Lächeln. Kaya musste ebenfalls lächeln.
Und sie
entspannte sich tatsächlich. Wenn sie nicht darauf achten musste, wann sie wo
Schenkeldruck anzuwenden hatte, wie sie zu sitzen hatte, dann kam es von ganz
alleine, stellte sie fest. Sie konnte die Bewegungen des Pferdes erahnen, sie
spürte, wie sich ihr Sitz ganz von selbst anpasste, und Tom kritisierte sie
kein einziges Mal.
„Wohnst du
hier?“, fragte sie ihn schließlich, als sie ein ganzes Stück schweigend
geritten waren. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, ich
wohne in der Stadt“, erwiderte er.
„Allein?“
Sie hatte gar nicht fragen wollen. Aber dumme Fragen verließen ihren Mund heute
wohl ständig in seiner Nähe.
„Allein?“,
wiederholte er. „Nein. Ich wohne mit meiner Mutter zusammen“, ergänzte er
schließlich, vielleicht etwas zögerlich. Für sie war das nichts Neues. Sie wohnte
auch mit ihrer Mutter zusammen. Wahrscheinlich würde sie das auch tun, wenn sie
einundzwanzig wäre, überlegte sie dumpf.
„Ok“,
erwiderte sie nickend. Sie wusste nicht, ob sie erwartet hatte, dass er mit…
seiner Freundin zusammen wohnte oder so etwas. Vielleicht. Und dann fand sie es
wohl besser, dass er mit seiner Mutter wohnte.
„Sie… sie
kann sich eine eigene Wohnung zurzeit nicht leisten“, schien er fortfahren zu
müssen. Kaya hob den Blick. „Es ist nicht so, dass wir… arm wären, es ist nur-“
„-ich
verstehe“, sagte Kaya bloß, vielleicht ein wenig verständnislos, weil er sich
wohl rechtfertigte.
„Sobald ich
arbeiten kann, werde ich meine Mutter definitiv unterstützen. Dann zahle ich
die Hälfte der Miete“, murmelte Kaya, und dachte wieder an die blöde Miete,
wegen der sie nach Hause musste. Und wieder ruhte Toms Blick auf ihr.
„Kaya“,
begann er wieder, und sie konnte nicht umhin, festzustellen, dass sie mochte,
wie er ihren Namen sagte. Gott, sie war dumm. Wirklich ein dummer Teenager.
Gerne wäre sie wie Vanessa, an der Komplimente und solche Sachen wie, wie
jemand ihren Namen aussprach, einfach abprallten.
„Ja?“,
erwiderte sie, weil er nicht weiter sprach.
„Was ich
nicht verstehe, ist…“ Aber er sprach wieder nicht weiter. Sie sah ihn langsam verwundert
an.
„Ja?“,
wiederholte sie mit mehr Nachdruck, während ihre Hände ruhig den Nickbewegungen
des Pferdes folgten. Sie machte das gut, fand sie. Die Pferde liefen gemütlich,
als würde sie nichts anderes im Leben lieber tun. Sie ritt tatsächlich aus. Mit
einem gutaussehenden Reitlehrer. Es war nett.
„Wieso…
hast du kein Geld?“, fragte er direkt. Sie blinzelte verblüfft. „Ich meine“,
ruderte er hastig zurück, „dein Großvater ist… der reichste Mann, den ich
persönlich kenne“, sagte er schließlich. Und Kaya zuckte die Achseln.
„Er mag
meine Mutter und mich nicht. Und seinen Sohn auch nicht“, erwiderte sie
achselzuckend.
„Aber…
wieso nicht?“ Tom schien es nicht zu verstehen. Und vielleicht war es nicht zu
verstehen. Und Kaya biss sich auf die Unterlippe. Und sie fragte sich, warum
sie Tom ihr Geheimnis erzählte, was sie sonst niemals öffentlich machte, was
nur Alina wusste. War sie wirklich verschossen in den Reitlehrer? Es wäre so
erbärmlich, weil er wahrscheinlich dachte, dass sie nur ein dummes kleines
Mädchen war, was Reitunterricht wollte. Aber sie sprach tatsächlich.
„Mein
Vater“, begann sie zögerlich, und fand es jedes Mal lächerlich, wenn sie von
ihm erzählte, denn sie kannte ihn überhaupt nicht. „Meine Eltern haben mich mit
sechzehn bekommen“, setzte sie anders an. „Und mein Großvater… fand das nicht
besonders gut“, vermutete sie mit einem traurigen Lächeln. „Die beiden sind
abgehauen nach Berlin. Und…“ Sie überlegte, ob ihre Mutter diese Geschichte
sonst noch ausgeschmückt hatte, aber sie glaubte nicht. „Dort haben sie ein
Jahr gewohnt, und dann… hat mein Vater festgestellt, dass er schwul ist“,
schloss sie achselzuckend. Tom sah sie an. Mit großen Augen.
„Oh“,
entfuhr es ihm peinlich berührt. Und Kaya seufzte auf.
„Ja. Meine
Eltern haben sich getrennt, und… seitdem wohne ich mit meiner Mutter in Berlin,
und meinen Großvater habe ich jetzt zum ersten Mal gesehen“, erklärte sie
gleichmütig.
„Oh“,
wiederholte Tom wieder, ein wenig aus der Bahn geworfen. „Das tut mir leid“,
sagte er sofort, aber Kaya zuckte wieder die Achseln.
„Muss es
nicht.“ Ihr fiel auf, dass das ihre Standard-Reaktion war. Schon immer. Immer,
wenn jemand Mitleid bekundete. Und tatsächlich sah Tom sie ernster an.
„Tut es
aber“, wiederholte er mit mehr Nachdruck. Sie sah ihn wieder zu lange an.
Hastig sah sie über die Pferdeohren nach vorne, wie er gesagt hatte. Dann
verzog er ungläubig die Mundwinkel. „Ich wusste gar nicht, dass Herr von
Rothenberg überhaupt einen Sohn hat“, fuhr er fort. Kaya sagte nichts dazu. Es
wunderte sie nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann es den
Leuten gerne auf die Nase band, vermutete Kaya. Wahrscheinlich war er
enttäuscht. Er mochte weder sie, noch ihre Mutter. Wahrscheinlich gab er ihnen
die Schuld daran, dass sein Sohn abgehauen war.
„Danke“,
sagte Tom plötzlich. Kaya hob irritiert den Blick.
„Wofür?“,
fragte sie entgeistert.
„Dafür, dass du mir so was anvertraust“, erwiderte er ernst. Aber für sie war
es kein wirklich schlimmes Geheimnis. Für sie war es einfach, wie es war.
Manche Familien waren eben nicht wie all die anderen. Sie zuckte lediglich die
Achseln
„Es ist
kein Staatsgeheimnis“, wiederholte sie seine Worte von ihrer ersten Begegnung
vor einigen Tagen.
„So wie dein
Alter?“, verstand er ihren Wink, und sie musste wieder lächeln.
„Ja“,
bestätigte sie. Er hatte so ein nettes Lächeln. Hastig blickte sie wieder nach
vorne.
Und sie
zuckte zusammen, als ihr Handy virbrierte. Tom sah sie entsprechend tadelnd an.
„Ich hätte
dir die Tasche doch verbieten sollen“, bemerkte er kopfschüttelnd. Sie wartete
mehrere quälend lange Sekunden. „Dann zeig mal, ob du beides kannst“, bemerkte
er auffordernd. Ihre Augen wurden groß.
„Was?“,
piepste sie verunsichert, während sich das Pferd von ihrem Vibrationsalarm
nicht stören ließ.
„Reiten und
telefonieren“, antwortete er spöttisch. Sie fiel aus ihrer Starre, hielt sie
Zügel mit einer Hand und angelte sich ihr Handy aus der Tasche. Peinlich.
Wirklich peinlich. Gut, dass Tom scheinbar gute Laune hatte, dachte sie dumpf.
Sie kannte
die Nummer nicht. Aber… sie hatte 030 als Vorwahl. Der Anruf kam aus Berlin.
Zögernd strich sie über das Display.
„Ja?“ Sie
hielt die Zügel weiter mit einer Hand und völlig unbeeindruckt schritt das Tier
unter ihr dem Sonnenuntergang entgegen, während Tom kopfschüttelnd nach vorne
blickte.
Ihre Augen
weiteten sich, als sie die Stimme erkannte.
„Kaya, hier
ist Herr Puslowski“, sagte ihr Verwalter in seinem breiten polnischen Akzent,
den sie und ihre Mutter manchmal nachahmten. Und er klang genervt. Oh nein!
„Dein Freund ist hier. Die Miete ist bezahlt. Und das soll ich dir sagen“,
schloss der Mann verständnislos.
„Mein
Freund?“, wiederholte Kaya tonlos und begriff. „Bastian? Bastian ist… bei
Ihnen?“, entfuhr es ihr fast hysterisch, und die Zügel sanken in ihrer Hand.
Das Pferd blieb stehen, ohne dass sie es merkte. „Nein! Nein, wirklich er kann
nicht-“
„-nächsten
Monat bitte pünktlich. Sag das deiner Mutter“, war alles, was Herr Puslowski
nach sagte, ehe er klanglos auflegte.
„Nein! Herr
Puslowski!“, widersprach Kaya eilig, aber die Verbindung war unterbrochen. „So
eine Scheiße“, murmelte sie unglücklich und hatte ganz vergessen, wo sie war
und was sie tat.
Tom hatte
ebenfalls angehalten und sah sie an. Sie schnappte aus ihrer Abwesenheit. Sie
wurde rot.
„Ich…
Entschuldigung“, sagte sie, ließ ihr Handy verschwinden, fasste die Zügel
kürzer und übte kurz Schenkeldruck aus. Sie bemerkte gar nicht, dass er sie von
der Seite musterte. Sie würde ihn umbringen! Sie würde Bastian vierteilen, wenn
sie ihn das nächste Mal sah. Sie hatte sein blödes Geld nicht gewollt. Und er
war nicht ihr Freund! Sie war wütend. Sie war wirklich-
„-Kaya?“,
schien Tom zu wiederholen und sie hob verstört den Blick.
„Was?“, fragte
sie hastig, und seine Stirn legte sich in Falten.
„Geradesitzen“,
befahl er ihr strenger und sie gehorchte eilig. Er sprach sie nicht auf ihr
Gespräch an. Sie bogen anschließend ab und scheinbar waren sie eine Runde
geritten. Sie kamen wieder an der Koppel an.
Sie hievte
ihren Körper aus dem Sattel, während Tom elegant abgestiegen war. Es war eine
halbe Stunde vergangen, stellte sie mit Blick auf die Uhr über dem Stall fest.
Sie merkte, dass ihre Oberschenkel ziemlich wehtaten. Es war doch anstrengend
gewesen. „Du hast eine guten Sitz“, bestätigte auch er schließlich, was ihr
überhaupt nichts sagte.
„Äh
danke?“, erwiderte sie.
„Morgen ist
Leonard dran“, schien er sich selber zu erinnern. Und scheinbar wäre sie morgen
doch noch hier, ging ihr schließlich auf. Und Tom sagte die Worte mit Bedauern.
Kaya hatte auch schon Angst vor dem blonden Reitlehrer. „War das dein Freund?“,
fragte Tom schließlich beiläufig, während er ihr die Zügel ihres Pferdes
abnahm.
„Mein…?“
Sie sah ihn verständnislos an.
„Am Handy“,
erinnerte er sie knapp. Sie wurde rot. So ziemlich übergangslos.
„Nein!
Nein, das war… nicht mein Freund. Das war der Hausverwalter von meiner Mutter
und mir aus Berlin“, sagte sie schnell. Aber auch das war keine gute Antwort.
„Ich habe keinen Freund“, stellte sie klar und kam sich noch dämlicher vor. Was
ging es ihn an? Hätte sie nicht sagen können, es wäre ihr Freund gewesen?
Wirkte sie damit nicht tausendmal interessanter? Ach, sie war ein
hoffnungsloser Fall.
„Tja,
dann…“, sagte er nur, und sie wollte weg. Sie wollte Bastian anrufen und ihn
anschreien, aber leider würde ihr Guthaben dafür nicht reichen, überlegte sie
verzweifelt.
„Ok“,
erwiderte sie nichtssagend und er nickte ihr zu.
„Wir sehen
uns übermorgen“, verabschiedete er sich. Und sie fragte, teilweise, weil sie
helfen wollte, teilweise, weil sie noch gerne länger mit ihm sprechen würde.
„Soll ich
dir wirklich nicht helfen?“ Und fast hoffte sie, dass er Ja sagen würde. Aber
er schüttelte nur knapp den Kopf.
„Ich halte
es auch für sinnvoller, wenn du es selber machst, aber… Befehl ist Befehl“,
erwiderte er achselzuckend.
„Dann
mach’s gut“, verabschiedete sie sich, mit einem dümmlichen Lächeln auf den
Zügen. Und dann war Tom verschwunden.
Und ihr
Handy vibrierte erneut.
Alina!
Wehmut
erfasste sie, und egal, was Bastian getan hatte, sie freute sich unermesslich
darüber, dass Alina anrief! Endlich!
Sie ging
eilig ran, während sie ihr Fahrrad mit einer Hand schob.
–
Leonard –
Und Kaya
hatte Alina alles berichtet. Von ihrem unfreundlichen Großvater, dem Rauswurf
in der Nacht, wie leid ihr alles mit Bastian tat, und dass sie Alina ihr Glück
bestimmt nicht streitig machen würde. Sie hatte von den Ohlkamps erzählt, von
Frau Fiets, von ihrer ersten Reitstunde und dem seltsamen Vertrag.
„Und? Ist
er süß?“, erkundigte sich Alina, während Kaya das Fahrrad um die Kurve des
Bushäuschens schob.
„Was?
Wer?“, wollte Kaya ertappt wissen.
„Der
Reitlehrer von dem du die ganze Zeit schwärmst“, spottete sie, während Kaya die
Möwen im Hintergrund schreien hören konnte. Selbst am Handy wurde sie rot.
„Ich…
schwärme nicht!“, behauptete sie verzweifelt.
„Wie alt
ist er?“, wollte Alina sofort wissen.
„21, ich
wüsste nicht, warum das wichtig ist!“, sagte Kaya sofort.
„Vier Jahre
Unterschied. Drei, nächsten Monat“, überschlug Alina nachdenklich sowie es auch
Kaya schon getan hatte. „Das ist kein Problem.“ Kaya verdrehte die Augen.
„Alina, er ist
mein Reitlehrer“, erinnerte Kaya sie streng. Und sie konnte Alinas Grinsen
praktisch durchs Handy hören.
„Ist es
nicht romantisch? Und er hat einen Führerschein und kann mit dem Auto nach
Berlin kommen!“, rief sie fröhlich aus.
„Ja, da hat
er bestimmt Lust drauf“, murrte Kaya. „Und er ist nicht mein Freund oder so
was! Und das wird er auch nicht!“, beharrte sie vehement auf ihren Worten.
„Kaya, du
sagst, dein Großvater ist scheußlich zu dir und du bleibst, weil du wenigstens
versuchen willst, deine Nachprüfung zu bestehen, also gönn dir ruhig ein
bisschen Spaß Flirte mit dem heißen Reitlehrer. Mach heimlich ein Foto, ok?“
„Er ist
überhaupt nicht mein Typ, Alina!“ Kaya bereute, Alina alles erzählt zu haben.
Und anscheinend alles überwiegend von Tom.
„Gutaussehend,
älter und sportlich ist nicht dein Typ?“, vergewisserte sich Alina spöttisch.
„Aha, gut zu wissen“, spottete sie jetzt grinsend.
Und
eigentlich wollte Kaya mit ihr über irgendetwas anderes reden. Irgendwie waren
Verliebtheiten nicht ganz so wichtig, oder? Sie schob das Fahrrad weiter
Richtung Dorf.
„Alina?“,
wagte sie zu fragen, und ihre Freundin wurde ernster.
„Ja?“
„Ich hatte
es mir anders vorgestellt“, begann sie deprimierter. Alina schwieg kurz.
„Ja, ich
auch“, räumte ihre beste Freundin zerknirscht ein. Sie schwiegen beide einen
Moment lang. „Sonst… komm nach Hause“, bat Alina sie. „Wenn es so schlimm ist,
lass es einfach.“ Kaya dachte über die Worte nach. Aber Alina hatte dann so
viel Geld umsonst ausgegeben.
„Ja-nein,
ich… ich muss das jetzt machen“, beschloss Kaya ruhig.
„Bist du
sicher?“, wollte Alina mitfühlend wissen, und Kaya nickte.
„Ja. Ja,
ich… werde das schon schaffen. Es sind nur vier Wochen.“ Sie hatte mit Frau
Ohlkamp schon darüber gesprochen. Es würde kein Problem sein, denn der Gasthof
sei selten ausgebucht, hatte Frau Ohlkamp ihr zwinkernd versichert.
Und sie
erzählte Alina nicht davon, dass Bastian den Rest ihrer Miete für sie bezahlt hatte.
Sie beschloss, Alina nichts mehr von Bastian zu erzählen. Es wäre besser so,
nahm sie an.
Bastian.
Was sollte sie wegen ihm nur machen? Jetzt stand sie in seiner Schuld. Tief in
seiner Schuld.
Und dann
sprachen sie wieder wie Freundinnen. Kaya erzählte Alina von ihren verworrenen
Träumen, die keinen Sinn ergaben, Alina erzählte, wie Timo versucht hatte, über
Bord zu springen, weil er nach Hause wollte. Sie erzählte Kaya auch, dass ihre
Mutter sich nun ausschließlich von Reisetabletten ernährte und Alinas Vater
schon gesagt hatte, dass er das nächste Mal nur noch mit Alina allein eine
Kreuzfahrt machen würde.
Das war
Alina auch recht, die weder viel mit ihrem kleinen Bruder, noch ihrer Mutter
anfangen konnte.
Kaya
erzählte ihr, dass sie ihre Mutter vermisste, was Alina nicht völlig
nachvollziehen konnte. Aber Kaya erklärte es ihr auch nicht weiter. Was gab es
da zu erklären?
Und dann
beendeten sie das Gespräch, nachdem Kaya den Gasthof erreicht hatte.
Alina
versprach, morgen anzurufen, und Frau Ohlkamp empfing sie an der Tür.
„Na,
Kaya?“, fragte sie lächelnd. „Wie war deine erste Stunde, mein Kind?“
Kaya kam es
schon so vertraut hier vor. Und sie musste lächeln, als sie das Fahrrad an die
Hauswand lehnte. Sie schloss nicht ab, denn es war nicht nötig, hatte Frau
Ohlkamp ihr versichert. Es kam ihr hier vor wie in einem Märchenland. In Berlin
wäre das Fahrrad nach drei Sekunden weg, wusste Kaya.
„Es war
gut“, bestätigte sie zufrieden. „Aber ich bin nur Schritt geritten“, ergänzte
sie, und Frau Ohlkamp ruckte mit dem Kopf.
„Natürlich,
es war ja auch deine erste Stunde. Bei Tom?“, fragte sie, und Kaya nickte, als
sie der Frau nach drinnen folgte und half, die Tische abzudecken. Das Essen war
vorbei, und Kaya sah, dass ihr Frau Ohlkamp am Fenster einen Platz freigehalten
hatte, wo ein abgedeckter Teller stand.
„Dachte
mir, du hast noch ein wenig Hunger?“, erklärte sie mütterlich, und Kayas Magen
knurrte zur Bestätigung.
„Bärenhunger“,
erwiderte sie nickend.
„Du bist
ein gutes Mädchen“, sagte Frau Ohlkamp, ohne ersichtlichen Zusammenhang. Kaya
sagte daraufhin nichts und setzte sich an den Tisch. An ihren Großvater dachte
sie schon gar nicht mehr. Sie würde sich hüten, ihm noch mal über den Weg zu
laufen.
Wenn es
sich vermeiden ließ, wollte sie ihn nie wieder sehen müssen.
Balu kam
hechelnd zu ihr und legte sich neben ihren Stuhl. Sie kraulte den Hund abwesend
und blickte über den See, hinter dem die Sonne gerade blutrot versank. Es war
ein schöner Abend. Sie hoffte, ihre Mutter hatte auch einen schönen Abend. Sie
aß die Scheiben Brot, trank den Tee und fragte sich, was die Jugendlichen im
Dorf wohl an den Ferienabenden machten. Nicht dass sie vorhatte, dabei zu sein.
Dafür war sie zu schüchtern. Und sie glaubte, dass die Jugendlichen sie nicht
mochten, wegen ihres Nachnamens.
Ihr war
nicht entgangen, wie Konstantin sie angesehen hatte. Sie seufzte leise, denn
noch nie hatte sie irgendwer danach beurteilt, wie ihr Nachname war. Zumindest
glaubte sie das.
Sie wusste nicht,
ob sie sich hier Freunde suchen musste. Sie fühlte sich nicht einsam. So
betrachtete, war sie eigentlich immer einsam. Sie kannte es kaum anders. Ohne
Alina fühlte sie sich sowieso nicht wohl unter gleichaltrigen. Kaya hatte schon
immer Probleme gehabt, sich in bestehende Gruppen einzufinden.
Aber so war
es wohl immer.
„Heute ist
ein ruhiger Abend“, begrüßte sie Herr Ohlkamp als er von draußen reinkam. „Lust
auf Doppelkopf oder Skat? Vielleicht spielt Monika mit“, fragte er sie
hoffnungsvoll, und Kaya musste lächeln.
„Ich kann
weder das eine, noch das andere“, sagte sie entschuldigend.
„Kein
Problem. Es ist so einfach, sogar Balu könnte es lernen, wenn er sich nur ein
bisschen mehr anstrengend würde“, versicherte er ihr. „Hast du Lust?“ Und Kaya
nickte, denn Herr Ohlkamp kam ihr viel eher wie ein Großvater vor.
Und voller
Elan verbrachte Herr Ohlkamp die nächste Stunde damit, ihr Skat beizubringen,
ohne dass sie wirklich spielen konnten, denn man brauchte drei Personen. Ihr
schwirrte der Kopf von all den Regeln, vom Stich, vom Trumpf, vom Schneider –
aber sie musste zugeben, es klang nicht allzu kompliziert.
Ein Gast
gesellte sich zu ihnen. „Werner, setz dich. Die Kleine spielt zum ersten Mal.
Das wird ein Spaß“, behauptete Herr Ohlkamp. „Das ist Werner Voss“, ergänzte
er, während er die Karten austeilte. Der Vater von Konstantin und Christian,
wusste sie. Sie begrüßte ihn, und dann befand sie sich mitten im Spiel.
„24“, wurde
sie von Herrn Voss recht klanglos gereizt. Sie wechselte einen Blick mit Herrn
Ohlkamp, denn sie hatte bereits wieder vergessen, was welche Karte und welche
Farbe zählte. Aber sie hatte zwei Buben. Sie glaubte, das war gut?
Aber Herr
Ohlkampf wartete gespannt.
„Ja?“,
sagte Kaya, nicht sicher, ob sie richtig lag.
„27“, reizte
sie Herr Voss weiter, und Kaya glaubte nicht, dass sie das überbieten konnte.
„Passe“,
sagte sie, und auch Herr Ohlkampg hielt sich zurück. Herr Voss wurde Solist,
und Kaya hielt sich gut im Stechen. Kreuz war Trumpf, und das kam ihr auch nur
gelegen, denn sie hatte viel Kreuz.
Mit dem
Skat in der Mitte hatte sich Herr Voss verschätzt, und die Worte Spitzen,
Schneider und Schwarz fielen dann und wann.
Ehe Kaya
sich versah, hatte sich Herr Voss überreizt und Herr Ohlkamp freute sich
diebisch, während Frau Ohlkamp ihnen drei Bier brachte.
Kaya trank
dankbar, während sie versuchte, zu rechnen, wie viele Spitzen sie am Ende auf
der Hand hatte.
Es wurde
ein langer Abend. Und Kaya hatte immer mehr als 60 Augen, als sie als Solist gespielt
hatte, was ihr von Herrn Ohlkamp mehrere Schulterklopfer einbrachte, vor allem,
weil sie damit kein ‚Spaltarsch‘ war. Kaya fragte nicht nach, was es hieß. Sie
war froh, begriffen zu haben, was man von ihr wollte, und ihre Wangen waren
gerötet, als Frau Ohlkamp ihnen bedeutete, für heute Schluss zu machen. Herr
Voss ließ zehn Euro am Tisch für die Skatkasse.
„Meine
Jungs haben mir erzählt, dass du hier wohnst“, sprach Herr Voss endlich mit
ihr, denn er schien nun aufgetaut zu sein. Und er lächelte. „Komm doch mal
rüber. Ich bin sicher, du kannst mit den Jungs mehr anfangen als mit uns alten
Bauern“, bemerkte er knapp, aber Herr Ohlkamp winkte ab, als Herr Voss sich
erhob.
„Mädchen,
du bringst uns Glück“, bemerkte Herr Ohlkamp erfreut. „Hörst du, Monika?“, rief
er lauter, während Kaya sich vor Anspannung streckte.
„Ja, ja,
Bernd“, rief Frau Ohlkamp nachsichtig.
„Die Kleine
sticht wie ein Weltmeister!“, sagte er kopfschüttelnd. „Du bist eine
Spielernatur. Häng die Pferde an den Nagel“, schlug ihr Herr Ohlkamp vor,
während Kaya sich gähnend erhob und sich von Herrn Voss verabschiedete.
„Liebend
gern“, erwiderte sie nur, denn müsste sie Skat in der Nachprüfung spielen,
würde sie haushoch gewinnen und versetzt werden. „Und ich denke, ich kann
vorbeikommen, wenn ihre Söhne daran Interesse haben, Herr Voss.“ Sie glaubte es
nicht wirklich.
„Aber
sicher“, bestätigte Herr Voss leichthin. „Am Freitag ist Scheunenfest bei uns
auf dem Hof. Sind ohnehin alle aus dem Dorf da. Da lade ich auf einen
Scheunenschnaps ein. Ich vergesse dich ganz bestimmt nicht mehr, nachdem du
mich im Skat geschlagen hast“, bemerkte er lächelnd.
„In
Ordnung“, erwiderte sie. „Dann bis Freitag“, verabschiedete sie sich von ihm
und spürte die Müdigkeit in den Knochen, als hätte sie den ganzen Tag
geschuftet. Reiten und Skatspielen waren sehr anstrengende Dinge, überlegte
sie, während sie sich oben die Zähne putzte.
Und so
spielten sich auch ihre Träume in der Nacht ab, denn sie gewann beim Stechen
gegen Herrn von Ende und Herrn Steiner.
Es war ein
guter Traum. Wirklich gut.
~*~
Sie hatte
den ganzen Tag über ein flaues Gefühl in der Magengegend. Zum einen, weil sie
keinen Unterricht bei Tom hatte, zum anderen weil sich Bastian auf ihre SMS
nicht mehr meldete. Sie hatte ihn gebeten, anzurufen. Denn sie musste mit ihm
über das Geld reden.
Sie musste
einfach.
Aber er
hatte sich erfolgreich vor dem Gespräch gedrückt.
„Lass dich
nicht unterkriegen!“, rief ihr Herr Ohlkamp zu, als sie aufs Fahrrad stieg. Er
war mit ihr sehr warm geworden, nachdem sie sich beim Skat gestern verbrüdert
hatten.
„Natürlich
nicht!“, versprach sie und radelte los. Sie hatte Frau Ohlkamp heute viel
geholfen und hatte sich ablenken müssen, denn es waren lange Stunden, bis zu
ihrem Reitunterricht. Sie hatte die Kamera dabei, und wusste, sie musste bei
Gelegenheit im Haus von ihrem Großvater ihre Sachen abholen, ehe sie jemand
entsorgen würde.
Sie kam
zehn Minuten später an, winkte dem Mann im Wachhäuschen zu, der sie passieren
ließ und stellte ihr Fahrrad am Platz ab. Sie setzte den Helm auf und sah sich
um. Sie trug bereits die Hose, die Schuhe und ihre Chaps und wartete nur noch
darauf, dass der andere Reitlehrer um eine Ecke bog.
Aber sie
war alleine vor der Koppel. Langsam ging sie den Weg nach oben. Aß er noch?
Wohnte er hier oder fuhr er abends wie Tom zurück in die Stadt? Sie wusste
nichts über ihn, und sie schaute noch einmal aufs Handy. Aber sie war
pünktlich.
Sie ging
weiter den Weg hoch, der zum Anwesend führte. Alles um sie herum war wie
ausgestorben. Sie konnte sich nicht vorstellen, sechs Wochen lang hier her zu
kommen, nur um jeden Tag zu reiten. Es musste furchtbar sein, nahm sie an.
Sie spähte
um die Ecken hinter den verschiedenen Gebäuden, bis sie kurz vor der Reithalle
ankam, in die sie an ihrem ersten Tag geführt worden war. Und scheinbar wartete
er bereits auf sie. Als er sie erkannt hatte, kam er mit zornigen Schritten
näher.
Oh nein.
Sie wappnete sich innerlich. Schlimmer als ihr Großvater konnte dieser blonde
Typ nicht sein.
„Du bist zu
spät“, begrüßte dieser sie knapp und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Er ging
schnell, und sie hatte Mühe, mitzuhalten. Seine Reithose war hell, und er trug
ein enges Poloshirt. Keiner schien hier auch nur ein Gramm Fett zu viel zu
besitzen, fiel ihr wieder auf. Und sie ertappte sich dabei, wie sie seine
Oberarme mit Toms Oberarmen verglich. Hastig blinzelte sie und blickte in eine
andere Richtung.
„Tom hat
mich an der Koppel abgeholt“, sagte sie, denn sie wusste nichts anderes zu
sagen.
„Aha“,
sagte der Reitlehrer nur. „Das ist mir egal. Ich bin nicht Herr Kiergarten, und
ich hole dich bestimmt nicht an der Koppel ab. Ich unterrichte ausschließlich
in der Halle, und ich sattel dir auch nicht das Pferd“, knurrte er praktisch,
als hätte sie das auch nur mit einem Wort angedeutet.
„Äh-?“,
begann sie überfordert, folgte ihm aber in den nächsten Stall, wo die Boxen
voller Pferde standen, die gespannt die Köpfe reckten.
„Die Namen
stehen an den Boxen, Putzzeug, das Zaumzeug und die Sättel liegen dort hinten
in der Kammer. Steht ebenfalls der Name dran“, erklärte er nur. „Nächstes Mal
kommst du eher, holst dir ein Pferd, putzt es, zäumst es auf und sattelst es,
damit wir zeitig beginnen können.“ Und damit hatte er sich abgewandt.
„Warte!“,
rief Kaya ihm panisch nach. Der blonde Reitlehrer verharrte in der Tür.
„Was?“, kam
es eisig über seine Lippen.
„Wie… äh
wie sattel ich denn ein Pferd?“, fragte sie, und er sah sie ausdruckslos an.
Dann atmete er aus und schenkte ihr einen abschätzenden Blick. Sie hatte alles
vergessen, was Tom ihr gesagt hatte.
„Du holst
es aus der Box, putzt es, machst die Hufe sauber und sattelst es“, erklärte er
mit gefährlicher Ruhe in der Stimme.
„Aha, ok“, sagte
sie nur und betrachtete sich die hohen Biester, die sie immer noch neugierig
ansahen. „Und kannst du mir einmal zeigen, wie es geht?“, erkundigte sich Kaya
so unschuldig sie konnte. Und sie hatte seine Antwort bereits erahnt, denn er
schüttelte lediglich den Kopf.
„Nein“,
antwortete er und verließ den Stall.
Sie atmete
aus. Unschlüssig schritt sie an den Boxen vorbei, ignorierte alle privaten
Pferde, bis sie Atreyu erkannte.
„Hey“,
begrüßte sie ihn scheu. „Wie geht’s dir?“, flüsterte sie, streckte die Hand
durch die Stäbe und streichelte sein weiches Maul. Vor der Tür hing das
Halfter, und sie nahm es zögernd in die Hände. „Ok, dann…“ Sie schob den Riegel
auf und ignorierte, dass ihr Großvater nicht wollte, dass sie dieses Pferd
ritt. Es blieb wenigstens ruhig, als sie das Halfter mehr schlecht als recht
anlegte. Dann klickte sie die Führleine in einen der Metallringe und führte ihn
aus der Box.
Und sie war
kurz überrascht, als sie den Reitlehrer draußen an der Wand lehnen sah. Er
wirte so gereizt, als müsse er sie umsonst unterrichten. Was er nicht mal tat!
Aber immerhin war er hier. Er deutete auf einen Balken, wo mehrere Ringe
befestigt waren. Anscheinend, um die Pferde anzubinden. Atreyu knuffte sie
leicht in die Seite. Und Kaya zog die Führleine durch einen der Ringe.
„Schlaufen“,
sagte der Lehrer bloß, und Kaya versuchte, eine Schlaufe zu machen.
„Mein
Gott“, entfuhr es ihm ungeduldig, als hätte sie anstatt Händen, zwei linke
Füße. Er nahm ihr grob die Leine aus der Hand und machte eine Vielzahl an
Schlaufen, wie ein Seemann Knoten machte.
„Ich mache
das zum ersten Mal!“, erinnerte sie ihn entnervt.
„Ich
dachte, du hättest gestern schon Unterricht gehabt?“, entgegnete er
entsprechend, und Kaya biss sich auf die Lippe. „Oder hat Herr Kiergarten dich
lediglich die Koppel fegen lassen?“, ergänzte er spöttisch, und sie schwieg.
Kaya mochte ihn nicht. Überhaupt nicht. Sie sagte gar nichts, denn sie war zu
sauer. „Putzzeug“, unterbrach er ihre bösen Gedanken, und sie fiel aus ihrer
Starre. Hastig lief sie in den Stall zurück und suchte nach dem richtigen
Putzzeug. Sie fand es, denn die Namen standen tatsächlich überall, und eilig
lief sie zurück.
„Was ist
mit dem Rest?“, wollte er sichtlich gereizt wissen.
„Der Rest?“
„Hast du
vor indianisch zu reiten?“, erkundigte er sich glatt, und sie begriff, er
sprach wohl von Zaumzeug und Sattel. Seufzend beeilte sie sich, die Sachen zu
holen und legte sie anschließend über den Balken, an dem Atreyu begonnen hatte
zu knabbern.
„Erst die
Kardätsche“, sagte der Lehrer, als sie sich wahllos eine der Bürsten gegriffen
hatte. Sie sah ihn entsprechend ratlos an. Sie sah, er hielt sich gerade so
davon ab, zu schreien, als er sich bückte, um ihr eine weiche Bürste in die
Hand zu drücken. „In langen Zügen“, sagte er, und langsam strich Kaya dem Tier
über das glänzende Fell. Es schien ihm zu gefallen. Danach musste sie seine
Flanken putzten und anschließend Hufe auskratzen. Sie hatte es bei Tom bereits
gelernt, aber Kaya war kein Schwamm, der Informationen behalten konnte. Und es
ging wieder einmal sehr schnell, denn Atreyu gab ihr die Hufe brav in die Hand.
Sie hatte
vergessen, wie der Sattel richtig lag, aber der Lehrer half ihr nicht, als sie
das Ding mit Decke über den hohen Rücken des Tiers wuchtete. Immerhin rührte
sich der arme Hengst nicht. Sie verschnallte den Gurt so gut es ging, aber der
Lehrer kritisierte sie nicht weiter, stand nur gelangweilt am Balken und schien
voller Ungeduld zu warten.
Und Atreyu
öffnete den Mund nicht für die Trense.
„Ist das
eine Messing-Trense?“, fragte sie, die Information von Tom, dass diese Trensen
süßer waren, im Hinterkopf.
„Mhm“,
machte der Lehrer nur und kam näher.
„Wieso
haben manche Pferde eigenes Zaumzeug und manche nicht?“, fiel ihr ein, was Frau
Kramer und Tom erzählt hatten.
„Ein paar
haben das, ein paar nicht“, erwiderte er uninformativ, und plötzlich stand er
nahe neben ihr. „Wenn er sie nicht nimmt, schiebst du ihm den Daumen hier in
die Mundlücke“, erklärte er, fast ruhig, und Kaya sah ihm gespannt zu, wie er
einfach so den Daumen ins Pferdemaul schob.
„Beißt er
nicht?“, entfuhr es ihr ängstlich, und dann sah der Lehrer sie an. Seine Augen
waren grün und kurz glaubte sie, seine Mundwinkel zucken zu sehen.
„Er hat
dort hinten keine Zähne“, erläuterte er, fast sanft. Sie war überrascht, dass
seine Stimmung sich so abrupt gewechselt hatte. Es verwirrt sie. „Hier“, fuhr
er fort und verschnallte einen Riemen. „Nicht zu eng. Das ist der Nasenriemen,
das hier der Kehlriemen und der letzte ist der Sperrriemen, damit er den Mund
geschlossen hält.“ Tom hatte es ihr schon beim letzten Mal erklärt, aber sie
hatte auch das wieder vergessen. Bei Tom hatte sie sich auf andere Dinge
konzentriert. Seine Grübchen, das Licht der Sonne auf seinen dunklen Haaren.
Sein Lächeln….
„Hm“,
machte sie und versuchte sich zu merken, wie man sie verschnallte.
„Fertig“,
bemerkte er und reichte ihr einen Zügel. „In der Halle kannst du nachgurten.“
Sie folgte
ihm eilig, das Pferd am Zügel. Aha. Nachgurten? Sie beschloss, nicht zu fragen.
In der
Halle brannte das künstliche Licht, und es war nicht besonders angenehm. Er
holte ihr die Aufstiegshilfe, und sie war froh, dass die Steigbügel für sie
lang genug waren, und sie nicht auch hier noch irgendetwas anders schnüren
musste. Sie konnte tatsächlich den Sattelgurt enger gurten, nachdem er ihr
knapp gesagt hatte, dass das unter Nachgurten zu verstehen war, und dass der
Lehrer sich nicht weiter bei ihr beschwerte, hieß sie für gut. Sie stieg auf
das riesige Tier.
Aber Atreyu
blieb artig und ruhig. Und bei dem blonden Lehrer entschuldigte sie sich nicht
dafür, dass sie ihn von seinem Feierabend abhielt. Dafür entschuldigte sie sich
nur bei Tom. Schade, dass Tom nicht da war.
Der Lehrer
schritt neben ihr her, während Atreyu ruhig durch die Halle schritt.
„Was tust
du?“, wollte Kaya beunruhigt wissen, und erntete den nächsten bösen Blick.
Es verging
ein qualvoller Moment, denn sein böser Blick verschaffte ihr ernsthafte
Bauchschmerzen.
„Du sitzt
zu steif“, bemerkte er knapp und hastig versuchte sie, ihre Haltung zu
korrigieren.
E kannte
ihren Namen, nahm sie an. Sie hatte gedacht, vielleicht etwas mehr Respekt von
ihm zu bekommen, aber da hatte sie sich wohl geirrt.
Und dann
griff er nach ihren Händen, so dass sie zusammenzuckte. Ungerührt stellte er
ihre Hände auf. Seine Finger waren warm, seine Handgriffe saßen wie mechanisch
programmiert.
„Gerade
sitzen“, entfuhr es ihm wieder barsch. Meine Güte, wie gerade sollte sie
sitzen? „Tiefer einsitzen“, ergänzte er. Und sie versuchte, keine Fehler zu
machen. Schweiß trat ihr langsam auf die Stirn. „Schultern zurücknehmen“,
bellte er den nächsten Befehl, und sie nahm an, das würde jetzt weiter gehen.
„Wenn ich tiefer einsitzen sage, dann sage ich das nicht für mich zum Spaß“,
sagte er nach einer kleinen Weile. Er hielt das Pferd an, lediglich mit einer
Handbewegung. Dann holte er die Aufstiegshilfe und stellte sich auf ihre Höhe.
Er drückte grob ihre Schultern zurück. „Diese Position halten!“, befahl er
vorsintflutlich, und Kaya verzog schmerzhaft das Gesicht.
„Das ist
unbequem!“, entfuhr es ihr, während er ihren Rücken aus dem Hohlkreuz gerade
bog.
„Dann ist
es richtig“, erwiderte er barsch und übte Druck auf ihre Schultern aus, so dass
sie es im Gesäß spüren konnte. „Manche Mädchen machen Pilates? Da lernt man den
Rücken korrekt zu entlasten?“, entfuhr es ihm fast vorwurfsvoll.
„Ja, manche
Mädchen haben auch einen Schaden“, murrte sie angestrengt und sah ihn nicht an,
während er die Aufstiegshilfe runterkletterte.
„Auf seinen
Körper zu achten, gehört zur Gesundheit. Regelmäßiger Sport verhindert eine
schlechte Körperhaltung.“ Er sprach wie ihre ätzenden Sportlehrer.
„Ich mag
eben keinen Sport“, entfuhr es ihr ungeduldig.
„Das ist
nicht zu übersehen“, konterte er nur. „Und es ist eine dumme Einstellung. Alle
Mädchen hier-“
„-sind
reiche, dumme, verzogene Mistkühe!“, beendete sie den Satz gereizt für ihn, und
er schwieg daraufhin. Gott, wieso war sie so sauer? Gleich würde er sie alleine
lassen, nahm sie an. Unsportlich und zickig, wie sie war.
„Das mag
stimmen“, erwiderte er irgendwann leichthin, und sie wandte überrascht den Kopf
in seine Richtung. „Aber sie können alle reiten“, schloss er abschätzend. „Und
das ist es doch, was du lernen willst?“, ergänzte er, mit einem vielsagenden
Blick.
Und gerne
wollte sie sagen, sie wollte es gar nicht lernen! Sie musste, weil es
vielleicht ein Ausweg war, mit Alina in einer Klasse zu bleiben. Und sie fragte
sich, was er von ihr halten musste, der arrogante Typ neben ihr, der nur ein
Jahr älter war als sie. Wahrscheinlich war sie für ihn ein Job, der erledigt
werden musste. Ein unsportlicher, manierloser, unbegabter Job.
Ihr Blick
senkte sich müde. Ihr Rücken schmerzte in dieser Position.
Ihre Stirn
runzelte sich plötzlich. In den Rand des Sattels war ein Name ins Leder
gestickt.
Oliver. Sie
blinzelte überrascht. War es… das Pferd ihres Vaters gewesen? Wenn es eigenes
Zaumzeug besaß? Alt genug wäre es, überlegte sie langsam.
Und dann
wusste sie auch, warum sie das Tier nicht reiten durfte.
Ihr Mund
verzog sich angespannt.
„Muss ich
die Aufstieghilfe holen, oder nimmst du deine Schultern selber zurück?“,
unterbrach seine ätzende Stimme ihre Gedanken. Hastig rückte sie die Schultern
wieder in die unangenehme Position. Er schüttelte nur den Kopf über sie.
Langsam sah sie ihn wieder an.
„Das ist
meine zweite Stunde“, erinnerte sie ihn ungläubig. „Ich bin kein Profi.“
„Und ich
bin kein Kindergärtner“, gab er kalt zurück, ohne sie anzusehen.
„Nein, du
bist Reitlehrer. Du bringst Leuten reiten bei?“, entfuhr es ihr bitter, und
sein Blick traf sie. Wow. Selten hatte sie jemand so böse angesehen. Noch nie,
wenn sie drüber nachdachte. Vielleicht ihr Großvater. Sie bekam ein
unangenehmes Gefühl in der Magengegend.
„Nimm deine
verdammten Schultern zurück und richte deinen Blick gerade aus!“, knurrte er
schließlich, nach dem sie schon dachte, er würde sie vom Pferd ziehen und
verprügeln wollen, für ihren Ungehorsam. Es war so schrecklich unbequem.
„Ich
dachte, mein Sitz wäre gut“, entkam es ihr schlecht gelaunt. Er machte ein
abwertendes Geräusch.
„Ja, wenn
das Pferd stillsteht und du nichts weiter tun musst, als sitzen zu bleiben,
ohne die Zügel zu halten“, entgegnete er. „Ich persönlich würde sagen, du
zeigst keine Begabung. Du zeigst nicht mal die Motivation, simplen Befehlen zu
folgen“, fuhr er fort, während er neben ihr herlief und sie verbissen
versuchte, gerade zu sitzen.
„Ach ja?“,
hörte sie ihren eigenen Trotz deutlich. „Und du hast keine Begabung dafür,
Lehrer zu sein!“, sagte sie nur, und aus den Augenwinkeln sah sie tatsächlich,
wie seine Mundwinkel zuckten. Was? Fand er das witzig? Sie nämlich nicht.
„Weißt du“,
begann er offen, „du kannst gerne gehen. Ich zwinge dich nicht!“
Gott, sie
mochte ihn nicht. Und gehen konnte sie nicht. Verbissen sah sie wieder nach
vorne.
„Du wirst
jetzt traben“, sagte er schließlich. Erschrocken sah sie ihn an.
„Das kann
ich nicht!“, entfuhr es ihr, und sie vergaß, dass sie nicht mehr mit ihm hatte reden
wollen.
„Ja,
deswegen lernst du es ja“, kam es überheblich über seine Lippen. „Leichttraben
ist keine Kunst“, bemerkte er. „Der Trab ist ein Dreitakt, ok? Das heißt, ein
Bein befindet sich immer in der Luft beim Trab. Wenn die äußere Schulter – die an
der Bande – vorne ist, hebst du dich aus dem Sattel.“ Er erklärte es, als wäre
es simpel. „Du brauchst keine Hilfen, ich halte es im Trab, bemerkte er,
während sie am Rand der Halle vorbeikamen, wo er sich eine Peitschte aus dem
Ständer angelte.
„Bereit?“,
fragte er, als er in die Mitte der Halle gegangen war.
„Nein?“,
entkam es ungläubig ihren Lippen, aber er knallte die Peitschte in den Sand,
und Atreyu änderte wie von selbst sein Tempo. Kaya begann unkontrolliert auf
und ab zu hüpfen.
„Sieh dir
seine Schultern an!“, rief der Lehrer ihr zu. Kaya senkte mühsam den Blick,
damit beschäftigt, nicht runterzufallen. Tatsächlich sah sie die
Schultergelenke. „Wenn die rechte vorne ist, hebst du den Oberkörper, wenn sie
zurückgeht, setzt du dich!“
Und das tat
sie. Sie spürte praktisch, wie der Schwung des Tieres sie automatisch anhob.
Bei den ersten paar Malen fiel sie ungelenk wieder zurück, aber langsam, nach
vielem Aufstehen, bekam sie ein Gefühl für die Bewegung. Sie hob den Blick
automatisch, sah nicht mehr nach unten, und es war nicht unangenehm. Es war…
unheimlich gut.
„Aus den
Knien!“, rief er ihr zu. „Oberkörper weiter zurück – ja!“, entfuhr es ihm, als
sie plötzlich verstand, was er wollte. „Ja!“, wiederholte er noch einmal, als
sie an ihm vorbeiflog. Wie von selbst nahm sie die Zügel an, und sie spürte,
wie der Trab schneller wurde, wie das Aufstehen immer besser ging.
Und ungerne
gab sie es zu. Aber… diese Stunde war besser als die erste. Weil sie den
blonden Reitlehrer nicht mochte und sich aufs Reiten konzentrieren konnte.
Nach
unzähligen Runden verringerte er den Abstand zu ihr, nahm die Peitschte zurück
und Atreyu fiel wieder in den Schritt zurück. Fast enttäuscht nahm sie die
Schultern zurück, während ihr Atem schneller ging.
„Das war…
ziemlich cool“, entfuhr es ihr.
„Es war
nichts weiter“, erwiderte er. Gott, er musste alles kaputt reden! Für sie war
es eine Menge! Tom hätte ihr gratuliert! Aber nein, der blonde Mister Ober-Cool
natürlich nicht. Sie sah ihn nicht mehr an, aber wirklich sauer war sie nicht,
denn das Gefühl war zu gut gewesen. „Es reicht für heute“, beschloss er
schlicht. Aber sie widersprach nicht, denn sie hatte genug von ihm, und
außerdem spürte sie den Muskelkater schon jetzt in den Beinen.
Und nachdem
Atreyu gehalten und sie die Füße aus den Steigbügeln genommen hatte, tat er,
was er letztes Mal getan hatte, Sie hatte es schon fast vergessen, aber als sie
mit Schwung das Bein über den Rücken nahm und nach unten glitt, fingen sie
seine Hände auf, legten sich fest um ihre Hüften, und dieses Mal war es
wirklich gut, dass er es tat, denn ihre Knie knickten weg. Anscheinend hatte
sie Muskeln beansprucht, von denen ihr Körper gar nicht mehr wusste, dass er
sie besaß.
Beschämt
wandte sie sich in seinem Griff, aber noch fand sie keinen festen Stand. Fast
wäre sie voran in ihn hineingefallen, aber sein Arm legte sich um ihre Taille.
Er blickte spöttisch auf sie hinab.
„Schwächeanfall?“,
erkundigte er sich, und ihr Herz schlug noch schneller als zuvor. Gott, wie
peinlich! Sie schob ihn von sich und taumelte hastig zurück.
„Nein!“,
brachte sie atemlos hervor. Sie wusste, hätte Tom sie gehalten, wäre sie
wahrscheinlich in seinen Armen geblieben. Und dem Lehrer schien es herzlich
egal zu sein, dass sie kaum stehen konnte.
„Du weißt, wo
alles ist. Absatteln, abzäumen, Politur steht beim Putzzeug, Putzen, in die Box
bringen, Halfter abnehmen und verschließen? Schaffst du das?“ Nein.
Wahrscheinlich würde sie alles vergessen haben, bis sie draußen wäre, aber sie
ruckte nur mit dem Kopf, zu beschämt, um zu sprechen.
„Dann bis
übermorgen“, verabschiedete er sich, und Kaya war allein.
Allein mit
dem Pferd. Und es juckte sie in den Fingern, weiterzumachen. Seltsam. Sie hatte
nicht geglaubt, dass sie tatsächlich Spaß bei etwas empfinden würde, was sie
eigentlich nie leiden konnte. Sanft legte sie ihre Hand auf Atreyus Nüstern.
„Wollen wir
noch üben?“, fragte sie ihn leise, aber er antwortete nicht, stand entspannt
vor ihr, und sie sah sich um. Niemand war mehr in der Halle. Niemand war
draußen. Alle waren im Haus. Ihre Mundwinkel hoben sich. Und seit einer Weile
hatte sie vergessen, sich Gedanken zu machen. Über ihre Mutter, ihre
Nachprüfung, Bastian, das Geld.
Jetzt
gerade wollte sie reiten.
- Kalt erwischt –
Völlig erschöpft
wachte sie auf. Sie spürte schon jetzt, dass ihre untrainierten Oberschenkel
wie Feuer brannten. Zwar hatte sie Atreyu gestern nicht mehr überzeugen können,
erneut zu traben, nachdem der schreckliche Reitlehrer gegangen war, aber sie
war noch einige Runden im Schritt geritten, ehe sie ihn mit Müh und Not
abgesattelt und geputzt hatte, in der lauen Dämmerung.
Und sie
wusste, heute Abend würde sie noch mehr Schmerzen haben, wenn sie wieder reiten
musste. Sie hatte es gewusst. Jeder Sport war Mord!
Sie lag
flach auf dem Rücken in ihrem gemütlichen Bett, und es konnte noch nicht spät
sein, denn die Sonne brach noch nicht durch die Vorhänge vor dem Fenster. Aber
die Schmerzen hatten sie doch tatsächlich geweckt. Unfassbar, was sie alles auf
sich nahm. Sitzenbleiben klang wesentlich gemütlicher, als dieser Stress.
Aber heute
sah sie Tom wieder. Ihn mochte sie. Alinas Worte schwirrten in ihrem Kopf
umher. Aber nein! Alleine daran zu denken, Tom auch nur als irgendeine Art
Freund zu sehen, ließ ihr Herz unangenehm schnell schlagen. Kaya war nicht
unbedingt eines dieser Mädchen mit Erfahrungen. Wenn sie ehrlich war, dann
hatte sie überhaupt keine Erfahrung. Sie hatte keine Ahnung, was man tun
musste, damit aus einer Bekanntschaft mit einem Jungen überhaupt so etwas wie
eine Freundschaft, geschweige denn eine Beziehung wurde.
Das eheste
was sie als Freundschaft mit einem Jungen bezeichnen konnte, war die Verbindung
zu Bastian. Und nun hatte sie geschworen, den Kontakt zu ihm, Alina zuliebe,
einzustellen. Also war dieser Vergleich auch nicht hilfreich.
Aber noch
einmal würde sie mit ihm reden müssen! Wegen des verdammten Geldes. Ächzend
versuchte sie, sich aufzurichten, aber scheiterte kläglich.
Sie fiel
zurück ins Kissen.
Sie hasste Reiten.
Definitiv. Die Pferde waren ganz nett, aber… Reiten an sich – darauf konnte sie
getrost verzichten! Wie lange dauerte so ein Muskelkater, fragte sie sich
unwillkürlich. Zu allem Überfluss knurrte ihr Magen besonders laut. Sport
machte auch noch übermäßig hungrig. Es half nichts. Irgendwann würde sie
aufstehen müssen.
Müde
schwang sie die Beine mit aller Kraft aus dem Bett, verzog den Mund und
richtete sich schmerzerfüllt auf. Wovon bekam man bitteschön solche Schmerzen?
Sie schob es auf den blöden Reitlehrer, den sie nicht leiden konnte. An ihm
musste es liegen. Arsch.
Immerhin
saß sie nun aufrecht. Sie würde heiß duschen. Vielleicht half es gegen die
Schmerzen? Schwankend erhob sie sich. Unter schmerzhaftem Gestöhne schaffte sie
es, ins Badezimmer zu gelangen und das Wasser anzustellen, während sie sich
ungeschickt von ihrem Schlafshirt befreite.
Nie mehr
würde sie traben, denn sie nahm an, davon kamen die Schmerzen! Nie mehr wieder!
Das würde sie Tom auch sagen. Für ihre Nachprüfung musste reichen, dass sie im
Schritt um das Anwesen ritt. Dass sie sich auch nur ausgemalt hatte, sie würde
vielleicht über Hürden springen! Gott, was hatte sie nur gedacht?!
Und es kam
ihr vor, als hätte sie Stunden unter der Dusche gestanden! Sie öffnete
blinzelnd die Augen unter dem Wasserstrahl, als sie das Vibrieren ihres Handys
aus dem Schlafzimmer vernahm. Wer war es? Ihre Mutter? Alina? Bastian?
Ansonsten rief sie keiner an.
Niemand
rief sie an. Sie verdrehte fast die Augen über ihre Melodramatik.
Aber ihr Herz
klopfte, denn vielleicht war es ihre Mutter. Und sie wollte ihre Stimme gerne
hören!
Hastig
stellte sie das Wasser ab, griff sich unter Schmerzen ein Handtuch, wickelte es
sich um, ohne sich abzutrocknen und humpelte aus der Duschkabine.
„Au, au,
au“, murmelte sie bei jedem nassen Schritt, zurück ins Zimmer, und mit feuchten
Fingern angelte sie sich das Handy vom Nachttisch, während ihre Haare
klatschnass ihren Rücken hinab hingen. Es war eine unbekannte Nummer. Sie
runzelte die Stirn. War es England? Und eilig nahm sie ab.
„Hallo?“,
rief sie außer Atem, und es herrschte Stille am anderen Ende.
„Kaya?“,
hörte sie die männliche Stimme, die sie sofort erkannte. Ihre Augen
fokussierten keinen bestimmten Punkt, und sie runzelte die Stirn.
„Oliver?“,
erwiderte sie die Frage, höchst ungläubig.
„Ja, hey,
ich dachte, ich rufe mal durch“, hörte sie ihren Vater unschlüssig antworten.
Dumpf fielen die Tropfen auf den Teppich, als sie verblüfft schwieg. Sie hatten
doch erst diesen Monat gesprochen?
„O-k?“,
sagte sie dann, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Wie… wie
geht es Vivian in London?“, fragte er schließlich, und Kaya nickte nur.
„Gut. Es
ist wohl alles anstrengend, aber… gut“, erwiderte sie, völlig überfordert.
„Und dir? Wie
geht es dir? Du bist bei… Mariele?“, wollte er wissen, und ihr Mund öffnete
sich ratlos. Richtig. Sie hatte ihm erzählt, dass sie zu ihrer Großmutter
gefahren war. Sie war überrascht, dass er es sich gemerkt hatte.
„Nein, das
hat nicht funktioniert. Oma Mariele hat sich das Schienbein gebrochen. Ich bin
in Hamburg.“
…- Sie war was?!
Und kaum,
dass sie die Worte gesagt hatte, wollte sie sich direkt erschlagen. Hitze stieg
in ihre Wangen. Das schlechte Gewissen kochte sofort in ihr hoch. Was tat sie denn
da?! Sie war nicht in Hamburg! Wie konnte sie so dumm sein? Wie konnte sie ihm
das sagen?
„In
Hamburg?“, griff er sofort ihre Worte auf. Ganz klar war der Muskelkater
schuld, dachte sie, böse mit sich selbst, während sie mit geschlossenen Augen
angestrengt überlegte, welche Ausrede sie hatte, in Hamburg zu sein.
„Alina und
ich sind… hier. Mit ihren Eltern!“, ergänzte sie hastig.
„Ah“,
erwiderte er, etwas unschlüssig. „Ich… dachte, sie ist auf Kreuzfahrt?“,
bemerkte er dann, und Kaya entwich die Luft aus ihren Lungen. Sie nahm an, ihr
Vater hatte keinen Schimmer, wann sie Geburtstag hatte, aber er hatte sich
gemerkt, dass Alina auf Kreuzfahrt war und sie eigentlich bei ihrer Großmutter
sein sollte?
„Ja. Nein.
Nicht mehr. Ihr Vater wurde nach Berlin zurückgerufen, wegen der Arbeit“,
reimte sie sich zusammen. Und immerhin hatte sie das auch ihrer Mutter erzählt.
Aber wie hoch standen die Chancen, dass ihr Vater ihre Mutter anrief? Wirklich
gering, nahm sie an.
„Oh, na das
ist schade“, fuhr er beinahe belanglos fort. Aber nur beinahe, und das
verwirrte sie doch. „Und was macht ihr in Hamburg? Ihr habt doch den Wannsee
direkt vor der Tür?“, schien er eine Art Scherz zu machen, aber Kaya war sich
nicht sicher, denn er klang nicht amüsiert, nein. Er klang sehr angespannt,
wenn sie das denn beurteilen konnte. Vielleicht war das auch nur, was sie
fühlte, und sie unterstellte es ihm ebenfalls. Sie war sich sowieso nicht
sicher, weshalb er anrief.
„Ähm…
Alinas Eltern dachten sich, es kann nicht schaden, wenn… wir mal was anderes
sehen würden“, begann sie sich tiefer in ihre Lügen zu verstricken.
„Ach so.
Und Alinas Vater kann mitten in der Woche nach Hamburg fahren?“, stellte er
wohl die nächste Frage, wie ein Erwachsener sie stellen würde, der einem Kind
kein Wort glaubte. Ihr Herz schlug mittlerweile doppelt so schnell. Was war
das? Ein Verhör?
„Ahem… ja.
Also…“
„Kaya?“,
begann er wieder, und jetzt war ein Ton in seine Stimme getreten, den sie nicht
kannte. Nicht von ihm zumindest. Oh, sie kannte ihn von ihrer Mutter. Aber…
nicht von ihm. Und atemloser antwortete sie.
„Ja?“
„Bist du
auf dem Gestüt?“, fragte er dann, nach einer knappen Pause, und sie hatte keine
Ahnung, wie ihr Vater ihre Gedanken lesen konnte! Es war unmöglich. Es war als hätte
ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
„Was?“,
entführ es ihr direkt abwehrend. „Nein, ich-!“Sie würde alles abstreiten! Sie
musste ihm gar nichts sagen! Und er riet ja nur! Er konnte es nicht wissen, er-
„-Frau
Fiets hat mich angerufen“, unterbrach er sie ruhiger. Und ihr Mund klappte zu.
So ein Mist! Verdammt! Sie schloss verzweifelt die Augen. Damit hatte sie kaum
gerechnet.
„Wer?“,
wagte sie einen schwachen Versuch, ihren Hintern zu retten, aber sie hörte ihn
lediglich ausatmen. Er atmete tatsächlich aus! So wie ihre Mutter, wenn sie
enttäuscht von Kaya war.
„Kaya, bist
du auf dem Gestüt?“, wiederholte er die Frage, immer noch ruhig.
„Nein“,
erwiderte sie immerhin ehrlich. Aber was half es noch, wenn die einzige Person,
der sie hier keine hinterhältigen Motive unterstellt hatte, tatsächlich so
etwas tat wie, sie zu verpetzen! „Nicht direkt“, gab sie nach, und atmete
ergeben aus.
„Nicht
direkt?“, wiederholte er, fast vorsichtig. Und sie sah keinen Grund, weshalb
sie noch lügen sollte. War es nicht sowieso zu spät? Und vielleicht stand ihr
Vater ja auf ihrer Seite? Wahrscheinlich nicht, kam sie zu dem ernüchternden
Schluss.
„Nein. Er –
also… Alexander“, benutzte sie den Vornamen ihres Großvaters, wie sie den
Vornamen ihres Vaters benutzte, weil sogar das Wort ‚Großvater‘ zu unpassend
erschien, „hat mich vom Gestüt gejagt“, schloss sie, ein wenig bitter.
„Was?“ Zum
ersten Mal klang ihr Vater aufgebracht ihr gegenüber. „Er… er hat was?“
Und sie
schluckte voller Angst.
„Also…
nein. Es war nicht… so schlimm. Ich… wir…“ Und sie sank auf die Bettkante, denn
sie konnte nicht mehr stehen, vor Anspannung und Schmerzen. Mittlerweile war
sie sogar relativ trocken, abgesehen von den Haaren. „Ich komme abends zum
Reiten dorthin.“
Und dann
war es raus. Ihr Geheimnis war kein Geheimnis mehr, stellte sie mit klopfendem
Herzen fest. Und ihr Geheimnis war nicht einmal besonders spannend, stellte sie
mit verzogenem Mund fest.
„Du tust
was?“, wiederholte Oliver völlig entgeistert.
„Ich… habe
einen Vertrag mit ihm. Dass ich sechs Wochen lang reiten lernen kann, um… um
meine Nachprüfung in Sport zu bestehen“, räumte sie zerknirscht den letzten
Rest ihres Geheimnisses ein. Und ihr Vater schwieg. „Hallo?“, wagte sie nach
einer Weil zu fragen, und sie hörte ihn ausatmen.
„Ich bin
noch dran“, schloss er still. „Ich… hatte gedacht, es wäre… ein
Missverständnis. Oder ein Witz“, sagte er dann, beinahe ungläubig. „Weiß deine
Mutter, dass-“
„-nein, sie weiß es nicht“, unterbrach Kaya ihn eilig. „Und du kannst es ihr
nicht sagen!“, ergänzte sie noch, ehe er sprechen konnte. Sie hörte ihn wieder
ausatmen. „Bitte, du kannst es ihr nicht sagen! Und ich wäre ganz bestimmt
nicht hier, wenn ich einen Ausweg gewusst hätte!“, rechtfertigte sie sich noch
schnell, obwohl sie nicht wusste, ob sie es musste. Und sie hatte geglaubt, mit
ihm diskutieren zu müssen, warum es besser wäre, ihrer Mutter alles zu
erzählen.
Aber er
sagte etwas ganz anderes.
„Was für
ein Vertrag ist das, den du hast?“, wollte er plötzlich wissen. Und er klang
nicht mehr freundlich.
„Was?“ Kurz
war Kaya verwirrt.
„Das hast
du gesagt, oder nicht?“, sagte er dann. „Ich kann mir vorstellen, dass du nach
den sechs Wochen nie mehr wieder kommen darfst?“, vermutete er gereizt, und
Kaya ruckte mit dem Kopf.
„So
ähnlich“, bestätigte sie. „Und das will ich auch nicht!“, beteuerte sie direkt
wieder. „Wirklich! Ich mache es nur, weil… weil Herr Steiner auf Pferde und
sowas steht, und ich mich dabei filmen kann, wie ich reite, und vielleicht…
vielleicht muss ich dann nicht-“
„-ich
verstehe schon, Kaya“, unterbrach ihr Vater sie gereizt. „Ich muss es Vivian
sagen“, fuhr er fort.
„Was? Nein!
Bitte, das darfst du nicht. Du kannst es ihr nicht sagen. Mama würde ausrasten
und mich einschließen und-“
„-und vielleicht wäre das auch besser!“, unterbrach er sie ärgerlich.
„Aber-“
„-du
solltest nicht dort sein“, schnappte er barsch. „Das ist kein guter Ort.
Dieser… dieser Mann hat nichts mit uns zu tun und will es auch nicht“, sagte
Oliver bitter. Was? Selbst Oliver hatte nichts mit ihnen zu tun! Und wollte es
ebenfalls nicht! Was dachte er, was sie von ihm hielt? Ungefähr genauso wenig!
„Ja, aber-“
„-und ich
weiß nicht, was ich tun soll! Ich dachte, Frau Fiets kann sich nur vertan
haben! Und weiß Gott was für ein Mädchen sei aufgetaucht! Und jetzt bist du
tatsächlich dort!“, rief er wütend, und Kaya biss sich auf die Lippe.
Und dann
sprach er weiter.
„Du wirst
nach Hause fahren.“
Und es waren
seltsame Worte, denn… sie passten nicht zu ihm. Und die Wirkung, die hinter
diesen Worten vielleicht stehen würde, würden sie sich kennen, wäre er
tatsächlich jemand, der sie sagen durfte, blieb aus.
„Nein?“,
widersprach sie ungläubig. „Ich muss das machen.“
„Kaya, du
wirst nach Hause fahren“, sagte er dann. „Ich werde Vivian anrufen.“
Und sie
spürte die Tränen in sich aufsteigen.
„Nein!“,
rief sie verzweifelt aus. „Du hast kein Recht das zu tun! Du hast überhaupt
kein Recht, irgendetwas zu tun!“ Sie hatte sich noch nie mit gestritten, hatte
ihn noch nie angeschrien, denn es hatte nie ein Gespräch gegeben, was lang
genug gewesen wäre. Denn sie hatte genügend Gründe, ihn anzuschreien! Dafür
dass er ihre Mutter verlassen hatte! Dafür dass er sie verlassen hatte!
„Kaya!“,
sagte er überfordert, aber sie war noch nicht fertig!
„Und du
kannst nicht verlangen, dass ich nach Hause fahre! Du bist nicht mein Vater! Du
bist nämlich gegangen, und es ist mir egal, was du denkst oder sagst! Ich
bleibe hier und werde versuchen, meine Mutter nicht zu enttäuschen. Und ich
werde meine Nachprüfung bestehen, auch wenn der Preis ist, bei jemandem zu
sein, der uns auch nicht wollte!“, schloss sie und konnte das Schluchzen nicht
unterdrücken. „Und ich verlange nichts von dir, ok? Ich will nichts von dir
haben! Keine Aufmerksamkeit, keine Telefonate – gar nichts! Ich will nur, dass
du es nicht Mama sagst. Das ist alles, was ich jemals von dir verlange!“
Die Hand,
die ihr Handy hielt, zitterte bereits.
Und dann
hörte sie gar nichts mehr. Es klickte und die Verbindung war unterbrochen. Und
jetzt weinte sie nur noch mehr.
~*~
Würde er es
ihrer Mutter sagen?
Das war
alles, was sie dachte. Es war alles, was sie nur noch denken konnte.
Deshalb
hatte sie auch niemanden angerufen, hatte bei niemandem angeklingelt, starrte
alle paar Minuten auf ihr Handy, während sie wartete. Wartete, dass der Name
ihrer Mutter auf dem gesprungenen Display erschien. Während sie gleichzeitig
darauf wartete, dass ihre Mutter mit dem Taxi ankam, sie anschrie und mitnahm.
Sie war
regelrecht paranoid. Denn sie zuckte bei jedem Fahrzeug, was durch die Straße
fuhr zusammen. Und es waren nicht viele Fahrzeuge.
„Lust auf
ein Spiel?“, riss Herr Ohlkamp sie aus ihren trüben Gedanken, und sie hob den
Blick verständnislos. In der Hand hielt er ein Deck Karten, und ihr Mund
öffnete sich überfordert.
„Ich… ich
habe gleich meine Reitstunde, Herr Ohlkamp“, erwiderte sie lustlos. Und dann
setzte sich der Mann neben sie auf die Holzbank, die vor dem Gasthaus stand und
begann, seine Pfeife zu stopfen. Er trug meist eine schmale Ledertasche mit
sich, in der sich sein Pfeifenequipment befand. Die Karten legte er neben sich.
„Mh mh…“,
machte er schwerfällig neben ihr. Balu lag neben ihnen auf dem warmen Boden und
döste, ließ sich von Kayas nervöser Stimmung überhaupt nicht anstecken. „Und?
Wie läuft es mit deinem Großvater?“, wollte Herr Ohlkamp schließlich wissen,
als er sich die Pfeife ansteckte. Kaya sah ihn verblüfft an.
„Ich… habe ihn
nicht mehr gesehen, seit…-“ Seit sie sich auf der Koppel angeschrien hatten.
„Mh“,
machte er Herr Ohlkamp schließlich, als sie nicht weitersprach. Er schien
nachdenklich auszuatmen. „Weißt du“, begann er dann bedächtig und sah sie an,
mit warmen braunen Augen, „Monika und ich wären dankbar… für eine Enkelin wie
dich“, schloss er, und Kaya war fast so überrascht über seine Worte, dass sie
geneigt war, erneut zu weinen.
„Oh“, sagte
sie beschämt und blickte hinab auf die Erde zu ihren Füßen. Was sollte sie
sagen? Aber sie wusste, was sie sagen wollte. Und sie blickte nicht auf, als
sie es tat. „Ich hätte auch gerne Großeltern wie Sie“, antwortete sie ehrlich,
und auch aus den Augenwinkeln sah sie, wie Herr Ohlkamp lächelte, ehe er den
Blick nach vorne richtete und neben ihr schwieg.
Kaya
vermisste ihre Mutter. Und gleichzeitig hatte sie Angst, dass Oliver sie
verpetzen würde. Und warum eigentlich war es nicht einfacher? Warum waren nicht
die Ohlkamps ihre Großeltern? Wieso konnten sich alle in ihrer Familie nicht
ausstehen?
„Bernd-?
Ach, hier bist du!“, erkannte Frau Ohlkamp, die nach draußen getreten war. „Na,
genießt ihr die Abendsonne?“, wollte sie lächelnd wissen und verschränkte die
Arme vor der Brust. Und Herr Ohlkamp nickte neben ihr.
„Ja, tun wir“,
bestätigte er paffend. Kaya gewöhnte sich an den Geruch der Pfeife. Es hatte
etwas Tröstliches an sich, etwas Altertümliches, fast. Etwas, was sie sich
vorstellen konnte, was Großväter taten. Pfeife rauchen.
„Kaya,
musst du nicht los?“, erkundigte sich Frau Ohlkamp stirnrunzelnd, und Kaya
erhob sich seufzend. Ihre Telefon-Wache endete wohl oder übel. Beim Reiten
würde sie keine Zeit dafür haben.
„Jaah“,
erwiderte sie mit einem schmalen Lächeln. „Ich würde lieber hier bleiben“,
murmelte sie ertappt. Ihre Beine schmerzten noch immer, aber immerhin schien
der Muskelkater schnell zu verschwinden, hatte sie erleichtert festgestellt.
Vielleicht war sie doch kein so unsportlicher Kloß, wie sie angenommen hatte.
„Herr Ohlkamp?“, wandte sie sich um, als sie das Rad von der Wand geholt hatte.
„Ja?“,
entgegnete er mit einem freundlichen Lächeln.
„Spielen
wir später?“, wagte sie zu fragen.
„Aber
sicher“, erwiderte er zwinkernd, und Frau Ohlkamp verdrehte kopfschüttelnd die
Augen.
„Da freust du
dich, dass du wen gefunden hast, der freiwillig mit dir spielt, hm?“, neckte
sie ihren Mann, den sie schließlich von der Bank hochscheuchte, damit er einen
der Esszimmerstühle reparierte, der heute unter dem Gewicht von Frau Grevens
zusammengebrochen war. Frau Grevens gehörte der Gemischtwarenladen weiter unten
im Dorf, und Kaya hatte sehr wohl gehört, wie Herr Ohlkamp unter seinem Atem
sein Beileid gegenüber dem armen Stuhl beteuert hatte, dem er, wie er gesagt
hatte, wirklich keinen Vorwurf hatte machen können, dass er 200 Kilo nicht mit
Leichtigkeit stemmen konnte.
Mit einem
Lächeln schwang Kaya ihr müdes Bein über das Rad und strampelte heute bedeutend
langsamer die Straße hinab, die menschenleer vor ihr lag. Ja, sie würde diesen
Ort vermissen. Es war so urig hier. Viel schöner als in der Stadt. Wie in einem
Kinderbuch. Die Sommerluft war bereits schwer und üppig gefüllt, mit dem Duft
blühender Wildrosen, und Kaya befiel ein seltsamer Schwermut, denn sie hatte
das ungute Gefühl, dass Oliver ihr bestimmt keine Gefallen tat.
Der Weg kam
ihr heute kurz vor. Schon war sie angekommen, hatte dem freundlichen Wächter im
Häuschen gewunken, der kaum etwas anderes tat, als Zeitungen zu wälzen, war ihr
aufgefallen. Er hatte einen dichten Schnauzer und es dampfte zu jeder Zeit eine
Tasse vor ihm auf dem Tresen. Sie konnte nur annehmen, dass es schwarzer Tee
war. Kaffee tranken die Leute hier nicht wirklich viel.
Und Tom
wartete auf sie am Gatter. Nicht wie der andere Lehrer, versteckt in der Halle,
ohne ein Pferd. Nein, auch Gusto wartete gesattelt neben Tom. Diesmal
allerdings hatte er kein zweites Pferd dabei.
Sie kam
näher, und ihre Laune hob sich tatsächlich, sogar ihr dummes Herz schlug wieder
schneller.
„Hey!“,
begrüßte sie ihn fast schon fröhlich, obwohl ihr überhaupt nicht nach Lächeln
zumute war. Eigentlich.
„Hi“,
erwiderte er, und er sah so süß aus, dachte sie unwillkürlich. Die dunklen
Haare, die Grübchen um die Mundwinkel, bereit, ihr Reiten beizubringen. „Wie
war deine Stunde gestern?“, wollte er gespannt wissen.
„Oh… gut“,
sagte sie dann. Aber sie sagte ihm nicht, dass sie Atreyu selber hatte satteln
müssen. Und sie sagte ihm nicht, dass sie überhaupt Atreyu genommen hatte. Sie
wusste nicht, ob es deshalb war, weil sie Angst hatte, dass er den anderen
Reitlehrer zur Rede stellte und sie dann Ärger bekam, oder weil er es
vielleicht ihrem Großvater sagen würde.
„Na dann.
Das klingt ja gar nicht mal so schlimm“, bemerkte er, als sie ihre Tasche über
den Pfosten gehangen hatte, und die Zügel entgegennahm. „Heute mal ohne Helm?“,
ergänzte er spöttisch, und ihre Augen weiteten sich. Mist. Den hatte sie
natürlich in ihrem Zimmer liegen lassen….
„Oh! Den
hab ich vergessen!“, stellte sie bestürzt fest.
„Passiert“,
bemerkte er immer noch grinsend, wandte sich ab und joggte die paar Meter zur
nächsten Sattelkammer. Sie war rot geworden. Meine Güte! Sie vergaß ihren Helm
zum Reitunterricht. Manchmal glaubte sie, würde sie tatsächlich Kopf, Arme und
Beine vergessen, wenn sie nicht angewachsen wären.
Gelassen
kam er mit Helm unter dem Arm zurück gelaufen.
„Das ist
zwar einer meiner alten, aber er wird passen“, erklärte er achselzuckend. Kaya
nahm ihn dankbar an, und Tom deutete auf die Koppel. „Wie geht es deinem
Muskelkater? Ich nehme mal nicht an, dass Leonard gnädig war, und dich nur im
Schritt hat reiten lassen?“, erkundigte er sich, und Kaya ruckte mit dem Kopf.
„Ist schon
fast wieder weg. Ich werd es schon schaffen“, beteuerte sie, mit dem schlechten
Versuch, selbstbewusst zu klingen.
„Ok, klingt
gut“, sagte er nur. „Dann zeig mir, was du kannst“, forderte er sie auf, und
gehorsam stellte sie den Fuß in den hohen Steigbügel, und ihr Oberschenkel zog
unangenehm. Tom schritt auf die andere Seite des Pferds und hielt den anderen
Steigbügel gegen. Und es ging leichter, als sie befürchtet hatte. Kaum saß sie,
ließ Tom sie auch schon alleine, schritt zum Gatter und holte sie die lange
Peitsche, die locker in seiner Hand lag.
„Unser
Ausritt war nur zum Warmwerden“, bemerkte er, und klang nicht mehr so kommunikativ
wie vor zwei Tagen. Sie schluckte schwer. Sie hatte etwas Angst. „Weißt du, wie
viele Muskeln du zum Reiten anspannst?“, wollte er schließlich wissen, ganz der
Lehrer, und Kaya zuckte die Acheln, überlegte, betrachtete kurz ihre Beine und
hob den Blick wieder.
„Vier?“,
riet sie unschlüssig, während das Tier ruhig im Schritt in der Runde lief.
„Netter
Versuch. 63 Muskeln werden beim korrekten Sitz angespannt“, erläuterte er ihr
knapp, und sie glaubte nicht, dass sie persönlich über so viele Muskeln
verfügte. Was wohl den Muskelkater nur zu gut erklärte.
„Oh“,
erwiderte sie bloß.
„Und jetzt
möchte ich, dass du dem Pferd zeigst, was es machen sollen.“ Es waren
kryptische Worte, und sie sah ihn herausfordernd an.
„Was will
ich denn, was es machen soll?“, wagte sie unschlüssig zu fragen.
„Na ja“,
begann er und kam näher, „jetzt gerade möchtest du, dass es so läuft, wie du es
willst. Leg deine Knie ans Pferd.“ Es klang einfach. Aber es sandte tausend
Schmerzen durch ihre Schenkel. Sie verzog unwillkürlich den Mund.
„Au“,
entkam es ihren Lippen, und Tom musste lächeln.
„Wenn es
weh tut, machst du es richtig. Zumindest noch wird es wehtun. Bald nicht mehr“,
versprach er lapidar. „Durch die Körperspannung hältst du das Pferd wachsam. Es
wanderte nicht einfach nur über die Koppel, sondern erwartet einen Befehl“,
fuhr er fort. „Nicht locker werden“, maßregelte er sie, als ihre Schenkel zu
zittern begannen. Verdammt, das war wirklich anstrengend. Sie hielt die Knie
geschlossen.
„Und
ausatmen“, sagte Tom schließlich. Und ja, sie hatte die Luft tatsächlich
angehalten. „Und den Rücken gerade, Kaya – genau so!“, lobte er sie, während
sie Krämpfe in Höhe des Steißbeins und ihren Waden bekam. „Spürst du die
dickste Stelle des Pferdebauchs?“
Nein. Tat
sie nicht.
„Da sollen
deine Unterschenkel liegen, dort musst du dem Pferd signalisieren, was du
willst.“ Kaya wollte nur noch liegen und gar nichts tun. Ihre Beine pochten
schon vor Schmerzen. „Bist du noch bei mir?“, erkundigte er sich lächelnd,
während sie angespannt versuchte, ihre Knie nicht locker zu lassen.
„Mhm“,
brachte sie gepresst hervor, und er lachte auf.
„Und
ausatmen, Kaya“, sagte er grinsend. Und mit einem Ächzen ließ sie die Knie
locker, sackte nach vorn, und spürte, wie das Tier wieder langsamer ging.
„Du kannst
mir glauben, dass du in zwei Wochen nicht mal mehr daran denken musst, die Knie
am Körper zu lassen. Es kommt von allein.“
Ja. Ganz
bestimmt nicht. Kaya war sich sicher. Ihr rann der Schweiß bereits den Rücken
hinab. Nein, so würde sie niemals einen guten Eindruck auf Tom machen. Oder
einen sexy Eindruck, oder was auch immer sie tun musste, damit er sie nicht
mehr auslachte. Ach, könnte sie doch schon reiten! Dann könnte sie gemütlich
mit ihm ausreiten, seinen Geschichten zuhören, lachen und mit den Wimpern
klimpern.
„Ich
möchte, dass du rechts rum reitest“, sagte er nach einer Weile, und sie
streckte den Rücken durch. Sie spürte, wie sich ihr Gewicht verlagerte, wie sie
tiefer einsaß, fast automatisch. Mit einem Seufzer legte sie die Knie wieder
eng ans Pferd, und sie spürte die komplette Veränderung des Tiers. Es war
faszinierend. „Dafür hältst du den Inneren Zügel eng, so dass er Halt findet,
aber nicht über den Hals, und am äußeren Zügel beugst du den Ringfinger lediglich
in deine Hand. Die halben Paraden machen wir später“, ergänzte er, wohl nur für
sich selbst, denn Kaya hatte keine Ahnung, was eine halbe Parade war. In ihrem
Kopf war es ein halber Karnevalszug oder so etwas.
Und sie
tat, was er sagte. Sie hielt den inneren Zügel weiter eng und gab beim äußeren
Zügel leichten Druck mit dem Ringfinger. Schon änderte das Pferd seinen Weg,
bog ab, und Tom lachte wieder auf. „Etwas abrupt, aber er tut, was du willst.
Nächstes Mal etwas sanfter, ok?“
Es war so
viel netter mit Tom, auch wenn sie schon jetzt nicht mehr konnte. „Absatz tief,
Kaya, sonst ziehst du die Knie hoch!“, warnte er sie, aber sie hatte genug
damit zu tun, ihre Knie geschlossen zu halten. „Ok, gut!“, sagte er, nachdem
sie fast wieder einen halben Krampf bekam. „Jetzt möchte ich, dass du antrabst,
alleine durch Schenkelhilfe. Keine Hacken in den Bauch hauen, ok?“, sagte er,
und Kaya hatte das Gefühl, überhaupt nichts zu tun, während sie mit aller Kraft
versuchte, dem Pferd zu signalisieren, dass sie durch Wadendruck schneller
laufen wollte.
Es war
absurd. Und Tom kam zu ihr, hielt das Pferd an, und griff nach ihrer Wade. Sie
hielt wieder die Luft an. „Hier“, sagte er, schob sie ein Stück nach hinter,
weiter hinter den Gurt. „Da muss sie liegen. Auf der anderen Seite auch. „Und
den hier“, er griff nach ihrem Fuß, und Kaya war froh, ohnehin zu schwitzen,
sonst wäre sie wieder rot geworden, „der schwebt frei“, erläuterte er. „Wenn
der Wadendruck nicht reicht, legst du den Fuß sanft an. Aber mühelos, kein Treten.
Das hier ist ein perfekt ausgebildetes Dressurpferd“, erinnerte er sie, und sie
saß hochkonzentriert auf dem hohen Rücken, presste die Knie in den unbequemen
Sattel, spannte die Wadenmuskulatur an, die sie nicht besaß, atmete aus und
legte die Füße sanft in die Seiten des Tiers.
Und sie
spürte die Schritte des Tiers, spürte, wie sie wohl eine Art Knopf gefunden
hatte, denn das Tier richtete den Kopf hoch, und alle Muskeln seines
Unterbauchs spannten sich an.
Und gerade
als Kaya glaubte, vor Anstrengung vom Pferd zu fallen, fiel es in einen
leichten Trab.
Erschöpft
lockerte sie ihren Sitz und sofort war Gusto zurück in den Schritt gefallen.
„Genauso.
Und die Körperspannung hältst du von jetzt an immer“, schloss Tom zufrieden.
„Ha ha“,
machte Kaya nur tonlos, nahm die Zügel in eine Hand und wischte sich mit der
anderen den Schweiß aus der Stirn.
„Na gut,
aber… wir werden das schon schaffen“, versprach er ihr zwinkernd. „Versuch
einfach, die Knie am Körper zu lassen und mach ein paar Handwechsel.“
„Handwechsel?“,
fragte sie schwer atmend und Tom seufzte auf, als wäre sie ein
Kindergartenkind, was nicht begriff, dass es die Farbe nicht essen sollte.
„Richtungswechsel,
wie du es nennen willst“, entgegnete er achselzuckend.
„Ah“,
machte sie, spannte die Knie an, was im Vergleich zum Rest doch schon fast
einfach war und lenkte das Pferd in wirren Schleifen über die Koppel, immer um
Tom herum, bis sie langsam ein Gefühl dafür bekam, wie sanft sie die Zügel
tatsächlich nur bewegen musste, um einen Erfolg zu erzielen.
Sie
glaubte, heute wieder hervorragend schlafen zu können. Sie hatte eher das
Gefühl, Matrose auf einem Schiff zu sein und harte Arbeit zu leisten, als
Reiterferien zu machen, dachte sie dumpf. Und noch hatte sie keine Lust irgendetwas
auf der Cam festzuhalten, denn wie sie schwitzend scheiterte, war nichts, was
sie Herrn Steiner gerne zeigen würde.
„Und?
Morgen Scheunenfest?“, fragte Tom sie irgendwann. Sie wusste nicht, ob Stunden
oder Minuten vergangen waren, in denen sie versuchte, das schnelle Schritttempo
durch genügend Körperspannung zu halten, während ihre Schultern langsam davon
wehtaten, die Zügel zu halten, aber gleichzeitig nachzugeben, während sie so
gerade saß, als wäre sie in einer Benimmschule.
„Was?“,
erwiderte sie abwesend, ehe sie ihre Konzentration ihm zuwandte.
„Das
Scheunenfest beim Bauern Voss. Gehst du hin?“
Und sie war
mehr als überrascht. „Ich…? Er hat mich eingeladen, also…- gehst du?“, entkam
es ihren Lippen schneller, als sie geplant hatte, und er ruckte mit dem Kopf.
„Wir gehen jedes Jahr“, erwiderte er.
„Wir?“,
wiederholte sie verwirrt, und er deutete um sich.
„Also
Gestüt Rothenberg geht jedes Jahr“, schloss er eindeutig.
„Alle?“,
vergewisserte sie sich, denn sie konnte sich kaum vorstellen, dass die schicke
Reiter-Elite, die hier wohnte, etwas Banales wie ein Scheunenfest besuchte.
„Oh ja. Es
gibt allen die Chance, sich besonders daneben zu benehmen“, bemerkte er, etwas
zu scharf. Kaya sah ihn verdutzt an. „Oder einigen“, korrigierte er sich ernst.
Und er schien diese Worte nicht ausführen zu wollen, schien nicht erklären zu
wollen, was er meinte, obwohl es Kaya brennend interessierte. Seine Züge
entspannten sich wieder und sie konnte die süßen Grübchen fast wieder erahnen.
„Du kommst
nicht vom Land“, stellte er schließlich fest.
„Nein?“, bestätigte sie vorsichtig, und er lächelte schließlich.
„Weißt du,
mein Leben wäre um einiges leichter, wenn die Mädchen hier auf dem Gestüt auf
dem Scheunenfest nicht trinken würden. Aber leider… ist das Bier umsonst“,
schloss er seufzend. Kaya begriff nicht wirklich, aber sie nahm an, die Mädchen
hier schossen sich genauso ab, wie in den Diskos Zuhause. Nicht, dass sie schon
mal in der Disko getrunken hatte, denn als Alina und sie versucht hatten, mit einigen
Mädchen aus der Klasse in einen Club zu gelangen, war sie als einzige nach
ihrem Ausweis gefragt worden.
Und Alina
war netterweise bei ihr geblieben, nachdem feststand, dass Kaya ohne elterliche
Begleitung, keinen Club in Berlin betreten würde. Sie hatten dann ihren Abend
bei McDonald‘s verbracht. Aber sobald Kaya achtzehn war, würde sie auch in
Diskos gehen und dann könnte sie Jungen wie Tom beeindrucken, weil sie eben
kein Kind mehr war.
„Oh“, sagte
sie nur und konzentrierte sich wieder aufs Reiten. Aber ihr Herz schlug wild,
denn… Tom wäre morgen auf dem Scheunenfest! Vielleicht würde sie versuchen,
ihre Haare in Wellen zu tragen! Sie könnte heute noch duschen und sie flechten,
dann würden sie morgen den Tag durchhalten. Aber nein! Vorher musste sie ja
noch Reitunterricht beim Arsch machen. Das würden ihre Haare nicht aushalten.
All ihre
Hoffnungen sanken, dass sie vielleicht ansatzweise verführerisch aussehen
würde. Außerdem hatte sie überhaupt nicht die Kleidung dabei. Sie würde in
Jeans und Shirt, mit langweiligen glatten Haaren auftauchen, und niemand würde
sie bemerken.
So wie
immer. Ihre Gedanken waren wieder düster.
„Knie ans
Pferd“, erinnerte Tom sie streng, und seufzend folgte sie und glaubte nicht, dass
der Muskelkater sie morgen verschonen würde.
-
Hallo Effie -
Noch vor
acht weckte sie ihr Handy. Sie hatte sich von Herrn Ohlkamp gestern Abend noch
Doppelkopf beibringen lassen, was genauso kompliziert war wie Skat, aber immerhin
hatte sie nur nicken müssen, denn man brauchte vier Personen, hatte Herr
Ohlkamp erklärt, während Kaya fast über ihrem Bier eingeschlafen war, was sie
nur getrunken hatte, um ihre Nerven zu beruhigen.
Denn
niemand hatte sie gestern angerufen. Und Alina hatte sie weggedrückt, um ja
keinen Anruf ihrer Mutter zu verpassen. Aber der war ausgeblieben.
Bis jetzt….
Sie war
müde gewesen, aber als ihre Augen das Foto ihrer Mutter auf dem Display
erkannten, als diese anrief, war sie hellwach. Oh Gott! Es konnte nichts Gutes
bedeuten, wenn ihre Mutter vor acht anrief! Es konnte nicht! Oliver hatte sie
verpetzt!
Und mit
heißen Schuldgefühlen und nagender Angst nahm sie ab.
„Ja?“,
flüsterte sie fast und hielt den Atem an.
„Kaya?“,
vergewisserte sich ihre Mutter.
„Ja?“,
wiederholte Kaya ängstlich.
„Ich hör
dich kaum! Alles in Ordnung bei dir?“, wollte sie wissen.
„Ja?“,
sagte Kaya zum dritten Mal, diesmal lauter.
„Dann ist
gut!“, rief ihre Mutter. Die Verbindung war mäßig schlecht. „Kurze, ich ruf dich
so früh an, weil ich heute den gesamten Tag in den Proben hängen werde. Es ist
furchtbar, und ich bin völlig geheilt davon, jemals wieder irgendeine Show
spielen zu wollen. Es sei denn, sie bieten mir die Hauptrolle an!“, beteuerte
sie genervt. Und Kayas Mund öffnete sich. Sie wusste nicht Bescheid! Ihre
Mutter wusste nicht Bescheid! „Wie ist das Wetter bei uns?“, wollte sie laut
wissen, und Kaya war so dankbar, dass sie erleichtert ausatmete.
„Herrlich, Mama. Einfach herrlich“, sagte sie lächelnd.
„Na, das
ist gut. Wie geht es voran mit der Nachprüfung?“, fragte sie sofort.
„Alles
bestens. Ich mache wirklich Fortschritte.“ Kaya wusste, für ihre Mutter warf
dieser Satz Rätsel auf, aber sie fragte Gott sei Dank nicht nach.
„Das freut
mich wirklich zu hören! Und wie ist es bei den Wagners? Haben sie dich schon
über, Kurze?“, wollte sie spöttisch wissen, aber Kaya schüttelte den Kopf.
„Nein, auf
keinen Fall. Vielleicht bleibe ich für immer bei Alina“, log sie munter. Und
ihre Mutter stöhnte auf.
„Nein! Tu
mir das nicht an!“, rief sie gequält. „Dann muss ich alleine Fastfood essen und
dick dabei werden, weil mein einziges Kind mich verlassen hat!“ Und Kaya musste
lachen.
„Nein,
Mama. Wenn du wiederkommst, bin ich Zuhause“, versprach sie und meinte jedes
Wort. Sie vermisste sie so sehr. Aber sie sagte es ihr nicht, denn sie wusste,
ihre Mutter tat sich schwer mit diesen Worten.
„Ich hab
dich lieb, Kaya.“
„Ich dich
auch, Mama“, sagte sie leise, denn fast wollte sie wieder weinen, obwohl sie
erleichtert war.
„Ich kann’s
kaum erwarten, nach Hause zu kommen“, sagte ihre Mutter noch, ehe es im
Hintergrund lauter wurde.
„Ich auch“,
murmelte Kaya.
„Ich muss los, Kurze! Ich denk an dich!“, versprach sie ihr und hatte
aufgelegt, ehe Kaya noch etwas erwidern konnte.
Oliver
hatte nichts gesagt. Vielleicht tat er ihr ja tatsächlich den Gefallen?
Sie konnte
es kaum glauben, aber… es wäre wirklich gut!
Und ihr
fielen die zwei Dinge ein, die sie heute unbedingt tun wollte!
Sie wollte mit
Vanessa reden. Und dann würde sie Frau Fiets suchen gehen. Denn mit ihr hatte
sie auch noch ein oder zwei Worte zu reden!
Aber vorher
musste sie Frau Ohlkamp helfen. Heute galt es die Betten zu beziehen, denn es
reisten heute neue Gäste an, und den Tisch decken musste sie auch noch. Sie
schwang ihre Beine aus dem Bett, die sich noch immer wie Pudding anfühlten,
aber sie hatte gute Laune, denn ihre Mutter wusste nicht Bescheid!
Jetzt
konnte sie auch wieder Alina anklingeln! Und sie würde versuchen, mit Bastian
zu reden! Sie musste!
Ja, sie
hatte viel vor heute. Und vor allem wollte sie versuchen, ihren Abend mit Tom
zu verbringen. Vielleicht ein Bier mit ihm zu trinken, den Sonnenuntergang zu
beobachten und vielleicht… verliebte er sich ja in sie? Passierte so etwas im
echten Leben? Kaya wusste es nicht. Es passierte in Büchern und in den
kitschigen Filmen, die ihre Mutter bei Amazon auslieh, und bei denen Kaya schon
in den ersten zwei Minuten schlecht wurde, wenn klar war, mit wem Katherine
Heigl am Ende glücklich werden wurde.
Es war
immer dasselbe. Es war immer der Typ, den sie zu Anfang nicht ausstehen konnte.
So etwas war nicht wirklich realistisch. Seufzend schlurfte Kaya ins Bad. Das
war ihr Matrosendasein. Es hatte nichts mit Ferien zu tun. Nur mit harter
Arbeit.
~*~
Sie war
schon nachmittags zum Gestüt gefahren. Und sie kam sich vor, als würde sie
einbrechen, denn sie hatte seine Worte nicht vergessen. Sie war hier nicht
willkommen. Aber so war es eben, wenn sich Leute nicht an ihre Vorstellungen
hielten. Außerdem wollte sie auch nicht zu ihm, sondern eigentlich zu Frau
Fiets. Und zu Vanessa.
Der Wächter
hatte sie einfach reingewunken. Zumindest ihn störte ihre Anwesenheit überhaupt
nicht. Und noch schien noch kein reges Treiben zu herrschen. Sie hatte
angenommen, um zwei Uhr wäre hier die Hölle los, und alle Mädchen säßen auf
ihren Pferden. Vanessa war leider nicht auf der kleineren Koppel. Die war noch
leer. Vielleicht blieb sie auch leer. Kaya wusste nicht, wie es an Freitagen
aussah, aber sie nahm an, ein Freitag war hier ein normaler Arbeitstag. Für
Mensch und Tier.
Sie lief
weiter, fast joggte sie, denn sie hatte Angst, von irgendwelchen Kameras
gefilmt zu werden, die vielleicht versteckt in den Bäumen hingen. Endlich
erreichte sie das große Haus, was ihr ein schlechtes Gefühl brachte, und leider
wusste sie den Code nicht für die Tür.
Denn die
war verschlossen. Sie blickte mit Absicht nicht in die Kamera über der Tür. Und
jetzt? Klingelte sie?
Aber die
Entscheidung wurde ihr abgenommen. Vielleicht meinte es das Schicksal
einigermaßen gut mit ihr? Ihre Beine schmerzten nach dem langen Weg, den sie im
Laufschritt zurückgelegt hatte.
„Frau
Rothenberg?“ Frau Kramer wirkte überrascht, aber nicht unfreundlich. „Wie kann
ich Ihnen helfen?“ Kaya hätte ihr gerne vorgeschlagen, sie mit Kaya anzureden,
aber sie verkniff es sich.
„Hallo Frau
Kramer, sagen Sie, wissen Sie, wo ich Frau Fiets finde?“ Kaya machte Nägel mit
Köpfen, denn sie hatte hier wohl kaum etwas zu verbergen.
„Ich bin gerade auf dem Weg ins Haus, allerdings nicht zu Frau Fiets, aber ich
kann Ihnen den Weg zeigen?“, schlug die ahnungslose Frau Kramer vor, die wohl
nicht wusste, dass sie des Hauses verwiesen worden war.
„Vielen Dank!“,
sagte Kaya, und Frau Kramer tippte unter vorgehaltener Hand den Türcode ein. Ob
die Mädchen, die hier wohnten den Code wussten, fragte sich Kaya unwillkürlich.
Wahrscheinlich nicht.
Und sie
wusste, warum draußen niemand war. Alle waren hier, stellte sie ängstlich fest.
Es
herrschte lautes Geplapper und Stühlegerücke in dem großen Saal, den sie von
der Halle aus einsehen konnte. Anscheinend aßen die Schülerinnen noch.
„Frau Fiets
ist gerade in der Küche beschäftigt. Sie können den Weg durch den Saal nehmen“,
schlug Frau Kramer ihr vor. „Immer geradeaus, bis zu den Flügeltüren, dann den
langen Gang hinab und Sie erreichen die Küche“, erklärte sie lächelnd. Das
musste dann wohl der offizielle Weg sein, und nicht der andere, den sie mit
Frau Fiets das letzte Mal gegangen war. Und leider führte dieser Weg mitten
durch den Saal, wo alle aßen.
„Ach, Frau
Kramer“, hielt Kaya die junge Frau, die sich wieder freundlich umwandte. „Sagen
Sie… mein – äh – Großvater isst nicht in dem Saal hier unten, oder?“
„Nein! Herr
von Rothenberg nimmt die Mahlzeiten in seinen privaten Räumen zu sich“,
erwiderte sie sofort. Ja, Herr von und zu saß nicht beim gemeinen Volk, nahm
sie bitter an.
„Danke,
Frau Kramer“, verabschiedete sich Kaya von der netten Frau, und sie wollte
nicht weiter gehen. Aber sie konnte nicht stehen bleiben. Vielleicht traf sie
Vanessa im Saal? Dann wären es zwei Fliegen mit einer Klappe. So ungefähr. Also
atmete sie schwer aus. Ihr Großvater war nicht unten, also war es fast
ungefährlich.
Sie hatte
sich mal wieder keine Gedanken über ihre Kleidung gemacht, ging ihr auf, als
sich ihre Beine in Bewegung setzten. Sie trug die zerrissene Jeans und ein
weißes Shirt. Ihre Haare hingen offen über ihre Schultern und sie war
ungeschminkt. Alles in allem stand sie in keiner Konkurrenz zu keinem der
Mädchen hier. Es war ein Trauerspiel, wirklich. Sie hoffte nur, Tom aß hier
nicht zu Mittag.
Und sie
betrat den Saal. Das Geplapper wurde leiser, aber es verstummte Gott sei Dank
nicht völlig. Sie kam sich ohnehin vor wie ein bunter Hund. An den Tischen, wo
nur noch Nachtischschälchen standen, saßen bestimmt einhundert Mädchen, die sie
alle anstarrten. Es war wie in der Schulcafeteria, wenn sie es mal wieder
geschafft hatte, über ihren offenen Schnürsenkel zu stolpern, und die gesamte
Tomatensuppe ihr Shirt tränkte. So fühlte sie sich.
Und sie
hatte leider nicht das Glück, dass Tom nicht da war. Er saß mit dem anderem
Lehrer und Vanessa am Rand, an einem kleineren Tisch, mit noch drei Leuten, die
Kaya nicht kannte. Aber es waren keine Schülerinnen. Sie ignorierte das
Getuschel und schritt auf Vanessa zu. Diese grinste ihr entgegen.
„Die Dame
des Hauses“, begrüßte Vanessa sie lächelnd, und Kaya fühlte sich bestimmt nicht
wohl hier und garantiert war sie nicht die Dame des Hauses.
„Hey“,
begrüßte Kaya sie etwas atemlos. „Hi Tom“, wandte sie sich auch noch an den
Reitlehrer, der wieder zum Anbeißen aussah, in seinem blauen Shirt.
„Hey Kaya“,
erwiderte er die Begrüßung. „Du kommst zum Essen?“, wollte er wissen, aber Kaya
sah über die Schulter, ob ihr Großvater auch wirklich nicht hier war.
„Nein. Ich
denke, dann jagt mich der Alte mit der Mistgabel vom Hof“, wiederholte sie die
Bezeichnung für ihren Großvater, die auch Vanessa benutzte. Tom schien ein
wenig beeindruckt von ihren kühnen Worten zu sein. Und ihr fiel jetzt auf, dass
sie den anderen Lehrer gar nicht begrüßt hatte. Dieser aß bereits seinen
Nachtisch weiter und beachtete sie nicht mehr. Besser so, sagte sie sich.
„Vanessa?“, wandte sie sich jetzt direkt an das Mädchen, mit dem dunklen
Pferdeschwanz, was sie wohlwollend anlächelte.
„Ja, Kaya?“
„Hättest du
einen Moment Zeit? Ich wollte dich etwas fragen“, druckste Kaya herum, denn sie
wollte nicht direkt vor Tom fragen. Es war ihr unangenehm. Und da Alina nicht
da war, musste nun Vanessa als eine Art Ersatz herhalten.
„Oh!“, rief
Vanessa aus. „Du hast die Schnauze voll von Tom und Leo, weil beide einfach nur
unfähig sind, und du möchtest, dass ich dir die Kunst des Rennreitens
beibringe?“, erwiderte sie und nickte nachsichtig. „Männer haben keine Ahnung
von Pferden, ich sage es immer wieder.“ Beide Männer hatten den Blick entrüstet
gehoben, aber Vanessa beachtete weder den einen, noch den anderen.
„Wäre ich
nicht so ein absoluter Versager auf dem Pferd, dann würde ich dein Angebot
gerne annehmen“, erwiderte Kaya seufzend. Aber Vanessa erhob sich bereits.
„Na komm, wir unterhalten uns privat. Ich bin sehr gespannt!“, sagte sie und
Kaya führte sie in den Flur, in den sie ohnehin gleich gehen musste. Die
Flügeltüren schwangen zu, und Kaya atmete aus. Sie war froh, aus dem Saal
entkommen zu sein, denn die Blicke der anderen hatten sie viel zu nervös
gemacht. „Was kann ich für dich tun?“ Vanessa wirkte ehrlich gespannt. Ihr
Nasenpiercing glitzerte auch hier im Flur.
„Gehst du
heute auf das Scheunenfest?“, fragte Kaya etwas beschämt, und Vanessas Mund
öffnete sich in stummem Verständnis.
„Ja, sollen
wir uns dort treffen? Du hast noch keine wirklichen Bekanntschaften gemacht?
Ich kann dir hier auch keine empfehlen“, ergänzte sie und verdrehte die Augen.
„Jedenfalls keine von den Dressur- oder Springtussis“, schloss sie spöttisch.
„Meine Rennreiter allerdings sind alle fabelhafte Personen!“, behauptete sie.
„Ja, ich…
das wäre echt nett. Und ich hätte eine Frage“, fuhr Kaya peinlich berührt fort.
„Ja?“
Gespannt wartete Vanessa.
„Ich… hatte
nicht wirklich geplant, auf ein Scheunenfest zu gehen. Und ich habe keine
Sachen für so was eingepackt, und… ich dachte, bevor ich mein Geld für
irgendetwas ausgebe, was ich mir nicht leisten kann, frage ich dich, ob du mir
vielleicht was leihen könntest?“
Jetzt war
es raus. Kaya biss sich auf die Lippe, und Vanessa musste wieder grinsen.
„Klar. Kein Problem! Du hast heute noch Reitunterricht?“, vermutete sie. „Bei
Tom oder Leo?“
„Äh… bei
Leo“, wiederholte sie den Namen des Reitlehrers, den sie niemals so anreden
würde!
„Na ja, der
lässt dich nicht eher weg. Aber komm doch danach in meinem Zimmer vorbei.“
„Wo ist
das? Und ich muss echt aufpassen, denn… wenn mich der Alte erwischt…“, fuhr sie
bedächtig fort, aber Vanessa machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Um die
Zeit ist er längst oben. Das Abendessen ist dann schon vorbei und alle anderen
Tussis hier werden Stunden brauchen, um sich fertig zu machen. Ist jedes Jahr
dasselbe. Als wäre es eine verdammte Modenschau“, echauffierte sie sich
kopfschüttelnd. „Der Code für die Tür ist 8526. Du gehst am Saal vorbei bis zum
hinteren Treppenhaus und das erste Zimmer auf der linken Seite im ersten Stock
ist meins. Mein Name steht an der Tür.“
„Du… hast
mir den Code gesagt“, wiederholte Kaya verblüfft.
„Klar. Ich
meine, was sollst du damit schon anfangen? Macht ja keinen Sinn, dass du was stiehlst.
Gehört doch ohnehin alles dir, wenn der Alte stirbt, richtig?“, wollte Vanessa
achselzuckend wissen, und Kaya blinzelte einmal. Tat es das? Nein, tat es
nicht. Aber sie hatte auch nicht vor, hier irgendetwas anzufassen. Sie prägte
sich den Code ein, denn sie war unendlich dankbar, dass Vanessa ihr half.
„Danke,
Vanessa. Ich muss weiter zu Frau Fiets“, verabschiedete sie sich.
„Wir sehen
uns später. Und Kaya?“, hielt Vanessa sie doch noch auf. „Gibt es einen
bestimmten Grund, weshalb du dich schick machen willst?“, wollte sie mit
erhobenen Augenbrauen wissen, und Kaya hoffte nur, sie wurde nicht rot.
„Nee. Ich…
will einfach nur nicht immer Jeans tragen“, wich sie Vanessas Worten aus, und
diese schenkte ihr noch ein Grinsen.
„Ok, bis
später!“, verabschiedete sich Vanessa, und Kaya lief den Flur bis zum Ende
entlang. Tatsächlich befand sich hinter der nächsten Tür die Küche. Wie
kompliziert der andere Weg doch war, dachte Kaya, als die Küchenhilfen ihr
schräge Blicke zuwarfen.
Vor einem
hübschen Mädchen mit dunklen Haaren hielt Kaya inne.
„Hallo, ich
suche Frau Fiets?“, sagte sie, und das Mädchen betrachtete sie fast
abschätzend. Dann wandte sie sich um.
„Frau
Fiets?“, rief sie, ohne Kaya weiter zu beachten. Die rundliche Frau bog um eine
Ecke.
„Ja,
Julia?“, rief sie zurück, aber dann erkannte sie Kaya. „Kaya“, ergänzte sie und
kam auf sie zu. „Ich bin so froh, dass du-“
„-haben Sie meinen Vater angerufen?“, unterbrach Kaya die Frau etwas atemlos,
und es war ihr egal, dass das Mädchen ihnen scheinbar zuhörte. Frau Fiets‘ Mund
schloss sich fast ertappt, und die Frau seufzte schließlich.
„Ja, das
habe ich, Kaya“, gestand sie ihren Verrat auch noch ein. Kaya hatte erwartet,
dass die Frau wenigstens versuchen würde, eine Ausrede zu erfinden. Aber Erwachsene
taten so etwas nicht wirklich, fiel ihr immer wieder auf. Sie gaben sich nicht
mal die Mühe.
„Wieso
haben Sie das gemacht?“
Und Frau
Fiets‘ Worte nahmen Kaya fast jede Lust, wütend zu sein.
„Ich
dachte, dank dir könnte die Familie wieder zusammenfinden“, erwiderte die Frau
resignierend. Und so dumm es von Frau Fiets gewesen war, Kaya mit auf das
Anwesen zu bringen, so dumm war es gewesen, dass sie Oliver angerufen hatte.
Und fast taten
Kaya die nächsten Worte leid. „Das wird nicht passieren. Das wissen Sie, oder?“
Und Frau Fiets wirkte wirklich traurig.
„Nein“,
räumte sie ein. „Dein Vater hatte mir nicht einmal geglaubt. Aber… anscheinend
hat er dich erreicht?“, vermutete sie jetzt mit großen Augen, und Kaya nickte.
„Ja, hat
er. Und er hat mir gesagt, ich solle sofort von hier verschwinden“, erwiderte
Kaya kopfschüttelnd. „Bitte, machen Sie das nicht mehr“, bat sie jetzt, und das
Mädchen schien das Interesse an diesem Gespräch gänzlich verloren zu haben,
denn sie hatte sich bereits abgewandt und erledigte wieder ihre Arbeit, stellte
Kaya fest. Ja, wahrscheinlich war es für jeden Außenstehenden langweilig, was
sich für Abgründe in ihrer Familie auftaten.
„Ich wollte
nur helfen“, beteuerte Frau Fiets entschuldigend. „Es tut mir leid, Kaya“,
versicherte sie heftig. „Wirklich, ich dacht bloß-“
„-es ist
nicht schlimm, aber… es ist vergeudete Zeit, Frau Fiets“, unterbrach Kaya sie.
Und das war es schon gewesen, was sie wollte. „Ich… sollte gehen“, schloss
Kaya.
„Hast du
Hunger? Möchtest du eine Tasse Tee?“, fragte Frau Fiets sofort, und Kaya tat es
leid, dass sie das Angebot nicht annehmen konnte. Es tat ihr wirklich leid.
„Nein, ich…
muss wirklich los“, wiegelte sie ab, aber sie fühlte sich hier wirklich unwohl
bei dem Gedanken, dass sie hier nicht willkommen war. Wirklich nicht. Und
traurig nickte Frau Fiets, verabschiedete sie, und als Kaya den Gang
zurückgegangen war, fand sie den Saal verlassen vor. Immerhin. Das Essen war
vorbei. Wahrscheinlich mussten die armen Mädchen jetzt alle samt wieder auf die
Pferde. Und das auch noch mehrere Stunden lang.
Kaya
beneidete sie nicht.
Sie schlich
sich durch den Saal zurück in die Halle. Niemand war hier, außer ein paar
Damen, die fegten. Die würden Kaya nicht verpetzen. Sie verließ das kühle Haus.
8526 dachte sie, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Aus der
Ferne sah sie viele Mädchen bereits ihre Pferde aus den Boxen holen. Sie fragte
sich, wie es wäre, wenn sie ihr eigenes Pferd hätte. Bestimmt wäre es völlig
anders. Es wäre ja ihr Pferd. Vielleicht würde es mehr Spaß machen?
Sie wusste
es nicht, und es lohnte sich kaum, sich darüber Gedanken zu machen. Und eilig
lief sie an den Gassen zwischen den Ställen vorbei, damit die Mädchen hier sie
nicht zu genau ansahen. Gerade als sie den Parkplatz weiter unten im Blick
hatte, erkannte sie die Anzug-Männer aus ihren schicken Sportwagen steigen. Und
sie nahm an, ihr Großvater befand sich unmittelbar unter ihnen, denn alle
wirkten gescheucht, ein wenig unsicher, und sie wedelten mit Aktenordern und
plapperten laut.
Kaya
ergriff die nächste Chance und schlüpfte in den nächsten Stall und verbarg sich
hinter den geöffneten Türen. Fast hielt sie sogar den Atem an, als die Meute an
Anzugträgern den Weg zum Anwesen hinauf marschierte, während alle durcheinander
sprachen.
„Ergreifst
du die Flucht?“, hörte sie eine Stimme, und sie zuckte zusammen. Mit hochroten
Wangen sah sie den Mann an.
„Dr.
Schmidt!“, rief sie heiser aus.
„Hallo
Kaya, schön, dich zu sehen“, erwiderte er lächelnd. Er trug ein grün-kariertes
Hemd, braune Hosen in grünen Gummistiefeln, und seine Haare lagen heute
besonders wild. Er war unrasiert, schien sich einen Bart stehen zu lassen, und
Kaya sah, dass er vor der Box des weißen Pferdes stand, vor dem selbst Tom eine
Heidenangst zu haben schien.
„Gleichfalls“,
murmelte sie. Sie kam näher. Ihr Blick fiel auf die lange Spritze in den Händen
des Tierarztes. Sie runzelte die Stirn.
„Ist sie
krank?“, fragte sie vorsichtig, mit Blick auf das scheue Tier, das den Kopf
immer mal wieder in den Nacken warf.
„Nicht…
direkt“, antwortete Dr. Schmidt ernst. Kaya stellte sich neben ihn.
„Und wofür
ist die?“, wollte sie stirnrunzelnd wissen. „Wenn ich fragen darf?“
„Sag mal,
wohnst du noch bei den Ohlkamps?“, wollte Dr. Schmidt ein wenig
gedankenverloren wissen und schien ihre Frage wohl nicht beantworten zu wollen.
Kaya nickte langsam.
„Ja?“,
antwortete sie mit gerunzelter Stirn, und Dr. Schmidt schien nachzudenken.
„Und was
macht der Reitunterricht? Kommst du voran?“, fuhr er fort, wohl nicht erpicht,
eine Unterhaltung über die Spritze zu führen.
„Na ja“,
sagte Kaya ausweichend. Er drehte die lange Spritze abwesend in den Fingern.
Und Kayas Atmung flachte ab.
„Ist das-
wollen Sie das Pferd einschläfern?“, entkam es tonlos ihren Lippen, und Dr.
Schmidt verzog die Lippen zu einer schmalen Linie.
„Das… ist der Plan, Kaya“, antwortete er tatsächlich.
„Aber wenn
sie nicht krank ist-!“, rief Kaya aus, die nicht begreifen konnte, weshalb man
ein Tier umbrachte, was gesund war!
„-sie hat
keinen Nutzen mehr für deinen Großvater. Sie ist… unberechenbar, sie kann nicht
geritten werden, sie ist sogar aggressiv“, fuhr er fort. Kaya schwieg
betroffen.
„Aber
bestimmt nicht ohne Grund!“, erwiderte Kaya stiller. „Müssen Sie sie wirklich
einschläfern?“
„Ich
persönlich glaube, dass… man diese Psychose, die die Stute hat, heilen kann.
Aber hier hat niemand Zeit dafür. Und ich habe im Moment auch keine Zeit dafür.
Und keinen Platz“, ergänzte er nachdenklich. Keinen Platz…- die Ohlkamps hatten
alte Ställe. Dort lagerte zwar lediglich der letzte Rest Stroh, wie sie bei
ihrem täglichen Gang mit Balu festgestellt hatte, aber an Platz wäre zu kommen!
„Ich könnte
die Ohlkamps fragen!“, bot Kaya sofort an. „Das Gasthaus hat Ställe!“, fuhr sie
eifrig fort.
„Nein“,
entschied Dr. Schmidt kopfschüttelnd. „Die Ohlkamps haben kaum Platz für ein
Pferd, und leisten können, werden sie es sich auch nicht“, fuhr er fort. Kaya
runzelte die Stirn.
„Leisten?
Aber sie soll doch getötet werden!“, sagte sie bitter. „Wieso sollen die
Ohlkamps dafür bezahlen müssen?“
„Wenn dein
Großvater wüsste, dass jemand bereit wäre, ihm das Tier abzunehmen, Psychose
hin oder her, würde er seinen Profit damit machen wollen.“
Oh. War das
so? Kaya wurde wütend. Und sie sah kein Problem.
„Na ja,
dann sagen Sie ihm, sie hätten sie eingeschläfert, aber wir bringen sie einfach
runter ins Dorf und verstecken sie bei den Ohlkamps.“
Dr. Schmidt
sah sie an. Ein wenig nachsichtig, ein wenig traurig.
„Ach Kaya,
leider geht das so einfach nicht. Leider“, wiederholte er seufzend. Es war
ungerecht. Nur weil jemand Angst hatte, wurde er abgeschoben. Kaya hatte die
Nase voll davon. Ihr Großvater war herzlos und böse.
„Sie sagen,
man kann sie heilen?“, wollte Kaya behutsam wissen, während sie sich gegen das
Holz lehnte, die Hände um die glänzenden Gitterstäbe gelegt, die die Stute
abschirmten.
„Theoretisch,
ja. Sie ist ein wenig unter Schock. Und depressiv, nehme ich an.“
„Pferde
können depressiv sein?“, wollte Kaya wissen, ohne den Blick abzuwenden.
„Nun, die
Stute hat ihr Fohlen getötet. Zwar aus Versehen, aber…“, erklärte er abwesend
und rieb sich die Schläfe. Kayas Augen wurden groß.
„Oh. Das…
ist ja furchtbar“, flüsterte sie.
„Mhm“,
machte der Tierarzt resignierend. „Es ist nicht aufgestanden, nach der Geburt,
und als die Stute helfen wollte, wurde sie nervös. Sie hatte Sorge, nehme ich
an, und wurde zu hektisch. Sie hat es leider totgetrampelt.“
Kaya sah
ihn fassungslos an. „Wieso hat keiner geholfen, oder war sie alleine?“
„Nein, ich
war da. Es gab Komplikationen bei der Geburt. Die Beine des Fohlens hatten eine
Fehlbildung. Wahrscheinlich durch einen Folsäuremangel aufgrund der Fütterung
oder anderen genetischen Gründen. Ich hatte keine Zeit, das näher zu
untersuchen“, fuhr er fort, sprach eher zu sich selbst. „Und es hätte keinen
Sinn gemacht, das Fohlen zu retten, Kaya“, erklärte er, schien es sich selber
von der Seele reden zu wollen. „Ein Pferd, was nicht aufstehen kann…“
„Aber es
muss ja nicht totgetrampelt werden, nur weil es nicht laufen kann!“, entrüstete
sich Kaya.
„Es war zu
gefährlich in die Box zu gehen, nachdem es geboren war. Stuten können sehr
unerschrocken sein, wenn es um die Verteidigung ihrer Fohlen geht, Kaya“, sagte
er bedächtig. „Sie hat das Fohlen noch sauber geleckt,
hat auch eine halbe Stunde später noch versucht, es zum Aufstehen zu bewegen.
Sie hat es gar nicht registriert. Und ich habe sie anschließend aus der Ferne
betäubt, damit ich das tote Tier aus der Box holen konnte.“
„Und jetzt
sucht sie ihr Fohlen“, flüsterte Kaya traurig.
„Wahrscheinlich“,
erklärte Dr. Schmidt und rieb sich die Stirn.
„Aber… man
könnte sie heilen? Wenn wir… sie also wegbringen würden, sie therapieren, oder
was auch immer, dann könnte sie ja wieder zurück?“, schlug Kaya mit großen
Augen vor, und Dr. Schmidt sah sie abwägend an.
„Das könnte
ich nicht verantworten“, erwiderte er seufzend und schüttelte den Kopf, ohne
ihre Frage wirklich zu beantworten. Immerhin fand sie es nett, dass er
zumindest nicht ohne Skrupel ein Pferd töten konnte.
„Und… wenn
Sie es nicht wüssten?“, wollte Kaya jetzt leiser wissen und streckte die Hand
einfach zwischen den Gitterstäben hindurch, hielt sie der Stute entgegen, die
zusammen gezuckt war.
„Kaya,
nicht!“, rief Dr. Schmidt sofort beunruhigt, aber Kaya hielt die Hand ruhig,
während Dr. Schmidt näher kam. „Sie ist wirklich-“
„-einen
Moment“, beruhigte Kaya ihn zuversichtlich, wartete, bis die Stute nicht mehr
stocksteif vor ihr stand, ihre Ohren nicht an ihren Kopf gelegt waren, und sie
langsam näher trat. Abwartend hielt Kaya die Hand ausgestreckt, denn sie konnte
nicht glauben, dass dieses Pferd wirklich böse oder gefährlich war.
Die Stute
schnaubte, wohl um zu testen, ob Kaya zusammenzucken würde, aber Kaya blieb
ruhig, blickte der Stute nicht direkt in die Augen, und die Stute kam noch
einen Schritt näher. Kaya spürte bereits die Wärme des Tiers. Es roch an ihrer
Handfläche, und sanft legte Kaya die Hand auf die weiche Nase des Tiers.
Angespannt atmete Dr. Schmidt neben ihr aus. Er zog sich ein Tuch aus seiner
Hosentasche und tupfte sich die Stirn ab, während Kaya die Stirn des Tieres
tätschelte. Die Stute stand ruhig und ließ sich nicht anmerken, dass sie
vielleicht nicht gerne berührt wurde.
„Du bist
ganz lieb, nicht wahr?“, flüsterte Kaya dann. „Wie… wie heißt sie?“ Sie konnte
kein Schild an der Box erkennen, die in völliger Dunkelheit lag, ohne ein
Fenster.
„Effie“,
sagte Dr. Schmidt nach einer ganzen Weile, während Kaya nicht auffiel, dass er
sie musterte.
„Hallo,
Effie“, flüsterte Kaya und kraulte den Kopf des Tieres unter der Stirnmähne.
„Bis wann… müssen Sie ihr… diese Spritze geben, Dr. Schmidt?“, wollte Kaya fast
beiläufig wissen.
„Wieso
fragst du das?“, wollte der Tierarzt ein wenig zu schnell von ihr wissen.
„Nur so“,
log Kaya ungerührt.
„Nun…
spätestens Dienstag“, schien er zu überlegen. „Kaya, du kannst aber nicht-“
„-ich werde
nichts tun“, versprach sie lediglich. „Aber dann kommen Sie erst Dienstag
wieder?“, wollte sie sicherheitshalber wissen und hob vorsichtig den Blick zu
seinem Gesicht. Und sie sah, er war nicht zufrieden, wirkte höchst besorgt.
„Ja? Versprich mir, dass du nichts tun wirst, Kaya! Nichts, was dich in Gefahr
bringt, das Pferd oder… irgendwen sonst!“, verlangte er dann. Er schien sich zu
ärgern, ihr all das erzählt zu haben. „Und bitte, fass sie nicht mehr an. Es
ist nicht sicher!“, schloss er, und sie zog gehorsam ihre Hand zurück. Das
Pferd wich ruhiger zurück in den Schatten der Box.
„Ok“,
erwiderte sie.
„Ok?“,
wiederholte er, nicht überzeugt. „Kaya, ich glaube dir nicht“, fuhr er
besorgter fort.
„Machen Sie
sich keine Sorgen!“, sagte sie mit voller Überzeugung. Und er seufzte lange,
bevor er die Spritze wieder in seiner Tasche verstaute, nachdem er eine
Plastikkappe auf die Nadel gesteckt hatte. „Ich würde nur noch einmal
versuchen, mit meinem Großvater zu reden“, log sie dreist. Auch Dr. Schmidt
schien diese Worte nicht völlig ernstzunehmen.
„Ich werde
das bereuen“, murmelte er kopfschüttelnd, und Kaya ließ sich keine Regung
anmerken. Sie würde die Ohlkamps noch heute Abend fragen, ihnen erzählen, dass
ihr Großvater ein unschuldiges Pferd töten lassen wollte, weil es keinen Nutzen
brachte, und sie würde ihnen versichern, dass sie und Dr. Schmidt das Pferd
therapieren konnten, um es zurückzubringen. Sie wusste nur noch nicht, wie sie
das Heu bezahlen sollte, was das Pferd brauchen würde, aber vielleicht fiel ihr
noch etwas ein! Sie musste es zumindest versuchen. Sie hatte vier Tage Zeit.
„Danke, Dr.
Schmidt“, flüsterte sie dann.
„Bedank
dich ja nicht, Kaya Rothenberg“, beschwerte sich der Tierarzt äußerst unwohl.
„Es gibt nichts, wofür du dich bedanken müsstest, oder? Ich verschiebe
lediglich den Termin, das ist alles!“, warnte er sie ernst. „Verstehst du?“,
ergänzte er mit Nachdruck, und sie nickte heftig. „Dass du nichts anstellst!“,
fügte er sehr besorgt hinzu.
„Ich stelle
nichts an“, versprach sie hastig. „Ich rede nur noch mal mit meinem Großvater!“
Sie wollte nur ein armes Tier retten. Ihre Mutter würde es tun! Ihre Mutter
konnte nicht einmal eine lästige Mücke erschlagen, die sie in der Nacht viermal
gestochen hatte. So war ihre Mutter nämlich. Die Mücke wurde gefangen und
rausgebracht. So lächerlich das auch war, denn garantiert fand sie den Weg am
nächsten Abend wieder in die Wohnung. Aber Kaya mochte es, dass ihre Mutter
tierlieb war. Sogar auch gegenüber Mücken!
Und Kaya
wollte auch so sein! Vor allem bei diesem armen Tier!
„Ich… muss
los, Dr. Schmidt“, verabschiedete sie sich ernst, und der Tierarzt seufzte
wieder.
„Mach’s
gut, Kaya. Bis demnächst. Und versprich mir – keine Dummheiten!“, wiederholte
er wieder mit stechendem Blick.
„Versprochen!“,
antwortete sie feierlich über die Schulter, als sie wieder aus dem Stall
schlich. Ein Tier zu retten war immerhin keine Dummheit, fand sie. Alina würde
ihr zustimmen. Ganz sicher. Sie würde mit ihr telefonieren. Vielleicht hatte
sie noch eine Idee, wegen des Heus….
–
Nicht Cinderella –
Kaya hatte
es noch nicht über sich gebracht, die Ohlkamps zu fragen. Als sie Fau Ohlkamp
geholfen hatte, den Tisch zu decken, hatte sie mehrere Anläufe gemacht, aber immer
wieder hatte sie etwas abgehalten. Sie hatte schon genug Probleme, oder?
Selbst, dass sie hier aushalf, Tische deckte, Betten machte, dass konnte ja
unmöglich dafür bezahlen, dass sie hier praktisch umsonst wohnte. Sie musste
auch darüber noch mit Frau Ohlkamp sprechen. Sie brauchte einen Geldautomaten!
Sie würde ihr Gespartes abheben und Frau Ohlkamp geben. Das musste sie dringend
tun.
Sie kam
sich tatsächlich vor wie ein Schmarotzer. Nicht nur gegenüber Bastian und ihrem
Großvater. Nein, auch gegenüber den Ohlkamps und Vanessa. Und den Reitlehrern,
die sie unterrichteten, ohne dass Kaya dafür bezahlte.
Sie fühlte
sich schlecht. Wirklich schlecht, als sie lustlos wieder zum Gestüt radelte,
nachdem die Sonne sich ebenfalls gen Horizont wagte. Sie war fast froh, noch
immer etwas Muskelkater zu haben. Es war wie eine Strafe, die sie verdiente,
dafür, dass sie mit der verrückten Idee hier her gekommen war, umsonst zu
reiten!
Ganz zu
schweigen von den Problemen, die Dr. Schmidt wegen ihr bekommen würde, wenn sie
ein Pferd stahl, was er töten sollte. Aber darum machte sie sich kaum Sorgen.
Sie glaubte nicht, dass das Pferd sie auch noch tottrampeln würde. Sie glaubte
es einfach nicht. Aber dann ging ihr Teufelskreis weiter, denn so nobel ihre
Idee auch war – sie brauchte Futter für das Pferd! Und woher nahm sie das?
Vielleicht machte sie noch irgendeinen unfairen Handel mit dem Bauern Voss! Und
die Leute waren so nett zu ihr, und sie nutzte es aus.
Wäre sie
doch reich. Ach, wäre sie doch einfach reich. Dann müsste ihre Mutter keine
Mini-Rolle in einem dämlichen Stück spielen, weswegen sie nach England fahren
musste. Dann müsste Kaya nicht hier sein, gut, vielleicht wäre sie immer noch
dumm und müsste eine Nachprüfung bestehen, aber es wäre auch egal, denn wenn
sie nicht versetzt wurde, wäre sie trotzdem noch reich.
Es waren
triste Gedanken, und sie hatte das Gefühl, das reiche Gestüt machte sich nur
über sie lustig. Sie lehnte das Fahrrad neben die Koppel, wo Tom sie sonst
holte, aber Tom war heute nicht da. Kein Pferd war gesattelt, denn heute würde
sie der böse Lehrer wieder foltern. Auch wenn Tom gestern ebenfalls nicht
wirklich gnädig gewesen war.
Sie
marschierte, mit stechenden Oberschenkeln, also geradewegs Richtung Halle, und
es war alles wie leergefegt. Wahrscheinlich machten sich alle Mädchen gerade
hübsch, nahm Kaya finster an.
Sie hatte
Alina nicht erreicht. Sie nahm an, dass war das Problem. Sie brauchte
irgendwen, der ihr sagte, dass sie kein Monster war, was sich überall dulden
und bezahlen ließ. Aber Alina rief sie nicht zurück. Seufzend kam sie vor der
Halle an.
Der Lehrer
kam tatsächlich aus dem Schatten ins Sonnenlicht getreten. Er trug noch immer
die Reithose und ein Poloshirt. Er hatte wohl den ganzen Tag unterrichtet, und
ungefähr so sah er sie auch an. Er wirkte gereizt, aber er wirkte immer
gereizt, oder nicht?
„Du weißt,
was du tun musst, also starr mich nicht so an“, knurrte er lediglich, und mit
großen Augen wandte sich Kaya von ihm ab. Kopfschüttelnd steuerte sie die
Stallungen an, wo Atreyu stand. Hier war es viel netter, als dort, wo die Stute
untergebracht war. Kurz überlegte Kaya, die Stute zu satteln, anstatt Atreyu,
aber wahrscheinlich riss ihr der Lehrer dann den Kopf ab. Ganz bestimmt sogar.
Sie war schon froh, dass er scheinbar nicht wusste, dass sie Atreyu gar nicht
reiten durfte.
Und schon
wieder dachte sie an Oliver. Denn es war ja sein Pferd gewesen. Und ihre Angst,
dass er sie verraten würde, flaute aber mit jeder Stunde weiter ab. Sie hielt
es ihm fast zugute. Und völlig stumm holte sie das Pferd aus der Box. Sie
streichelte sein weiches Fell, was im Sonnenlicht glänzte, band ihn ohne Hilfe
an, bewältigte sogar die Schlaufen, die der Lehrer gebunden hatte, putzte das
Tier, sattelte es so gut sie konnte, und das Aufzäumen klappte immerhin beim
dritten Versuch, nachdem Atreyu den Mund dankenswerterweise geschlossen ließ
und ihn nicht mehr aufriss, aus Trotz. Das Biest wollte die Trense wirklich
nicht! Und Kaya kostete es einiges an Überwindung, ihm anschießend auch noch den
Finger schutzlos in den Mund zu schieben.
Aber er
biss ihn nicht ab. Das war eine Erleichterung. Ein wenig lustlos führte sie das
Pferd zur Halle. Sie hoffte, ihre schlechte Stimmung färbte nicht zu sehr auf
Atreyu ab.
„Tut mir leid“,
murmelte sie. „Heute ist ein schlechter Tag, mein Lieber“, flüsterte sie sanft.
„Weißt du, wie blöd es ist, arm zu sein? Und es fällt einem nur dort auf, wo
die reichen Leute sind“, murrte sie, ehe sie die kühle Halle betrat und mit
einer Hand den Helm festschnallte – der ihr auch nicht gehörte. Nichts von den
Sachen gehörte ihr, abgesehen von ihrem Shirt.
Das Tor der
Halle stand offen, und müde führte sie das Pferd zur Aufstieghilfe. Ohne den
Lehrer zu beachten, kletterte sie in den Sattel, nahm die Schultern zurück, saß
tief ein, legte die Knie an den Körper, und Atreyu reagierte noch feiner als
Gusto, denn er fiel sofort in den Schritt. Der Lehrer lief neben ihr,
beobachtete sie, und sie konzentrierte sich darauf, auszuatmen, die Hände nicht
zu versteifen, die Knie nicht anzuziehen und ihre Hacken tief zu lassen.
Und völlig
still durfte sie Runde um Runde laufen. Ihre Oberschenkel schmerzten nach
kurzer Zeit, und sie ignorierte es völlig. Sie verdiente die Schmerzen. Dem
Pferd machte es bestimmt auch keinen Spaß, sie Freitagabends durch die Halle zu
tragen, wenn alle anderen Pferde Feierabend hatten. Gott, war sie deprimiert.
Es war kaum auszuhalten.
„Trab“, kam
die knappe Anweisung von dem blonden Lehrer, den sie ebenfalls nicht leiden
konnte und nicht mal ansehen wollte.
Und sie
legte die Waden enger, gab eine knappe Hilfe mit dem Fuß und das Pferd sprang
praktisch in den Trab. Ok. Das konnte sie noch nicht wirklich fließend, und mit
aller Macht, ließ sie die Beine am Pferdeleib, damit er weiterlief. Wie von
selbst hob sie sich aus dem Sattel, trabte leicht, wie er und Tom es nannten,
und fand schnell ihren Rhythmus, auch wenn der Schweiß schon bald auf ihre
Stirn trat.
Aber heute
war sie nicht in der Stimmung, ihrem schwachen Körper nachzugeben. Und so
liefen sie, Runde um Runde. Solange, bis es nicht mehr wehtat, bis Kaya nicht
mal merkte, dass sie irgendwelche Muskeln anspannte. Sie flog regelrecht,
passte sich den Bewegungen an, und es erfasste sie wieder dieses
unbeschreibliche Gefühl von Freiheit.
„Versuch,
auszusitzen“, rief der Lehrer dann, und sie konzentrierte sich auf das Pferd,
wandte nicht den Blick, während sie zuhörte. „Beine am Körper lassen und beim
Trab nicht mehr aufstehen. Geh in den Bewegungen mit“, gab er die knappe
Anweisung, und beim nächsten Takt, den das Pferd lief, blieb sie sitzen. Mehr
schlecht als recht. Sie hüpfte auf dem Rücken auf und ab und nahm an, das Pferd
konnte sie jetzt noch weniger leiden.
„Tief
einsitzen!“, sagte er nur. „Rücken gerade!“, ergänzte er, als sie ihr Gesäß mit
aller Macht tiefer in den Sattel zwang, sich praktisch mit all ihrer restlichen
Kraft um den Pferdeleib klammerte, und versuchte, die Bewegungen zu erahnen,
die das Pferd machen würde. Und es vergingen schmerzhafte Runden, bevor sie auf
einmal verstand.
Ihre Hüfte
kreiste fast auf dem Rücken, während Atreyus Bewegungen durch sie hindurch
gingen. Und sie bekam kein Lob, keine Aufmunterungen vom Lehrer. Sie bekam die
ätzende Stille zu hören, von der sie annahm, dass sie wohl ansatzweise Zustimmung
bedeuten konnte. Schweiß rann ihren Rücken hinab, während sie verzweifelt alles
dran setzte, nicht zu hüpfen. Der Atem des Tiers ging lauter und er hatte sich
wohl warm gearbeitet. Er trabte ohne Murren oder Unterlass. Langsam aber sich
bekam sie Magenschmerzen, schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, und sie
wusste, wahrscheinlich hatte sie es übertrieben.
Mit einem
erschöpften Stöhnen gab sie die Körperspannung auf, legte kein Gewicht mehr auf
den Sattel, und schon fiel Atreyu in den Schritt und Kaya lockerte die Zügel.
„Wir sind
noch nicht fertig“, rief er ihr schlecht gelaunt zu, aber Kaya musste die Augen
schließen, denn die Erschöpfung holte sie ein. Ihre Arme zitterten, und ihre
Atmung ging flacher. Als er wieder sprach, war er näher als vorher. Scheinbar
hatte er Atreyu angehalten.
„Wenn du
mehr arbeitest als dein Pferd, dann machst du etwas falsch.“ Seine Stimme klang
ätzend überheblich in ihren Ohren, aber sie öffnete die Augen nicht, sagte gar
nichts, und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Ihr Körper war zum Zerreißen
angespannt, und sie könnte weinen vor Schmerz. Sie war so dankbar, ein
Wochenende Pause machen zu können. So dringend sie die blöde Nachprüfung
bestehen wollte, umso dringender wollte sie jetzt gerade einfach nur noch sterben!
„Hey“,
sagte er wieder, und seine Hand lag plötzlich auf ihrem Unterschenkel. Sie
öffnete träge die Augen. Bei Tom hatte sie nicht das Bedürfnis, irgendwie zu
beweisen, dass sie keine dumme Anfängerin war. Natürlich wollte sie Tom
beeindrucken, aber bei dem blonden Lehrer war es etwas anderes, was sie
antrieb. Sie mochte ihn nicht, und sie mochte es nicht, von ihm korrigiert zu-
-oh. Ihr
Sichtfeld wurde erschreckend kleiner. Er schien es zu merken – was auch immer
er merkte, denn plötzlich hatte sie seine Hand in ihrem Rücken, und er
stabilisierte sie.
„Runter“,
sagte er lediglich, und mühsam nahm sie ihre Stiefel aus den Steigbügeln. Es
war zu heiß. Sie war erschöpft und ziemlich wütend, und… absolut fertig. Seine
Worte bewegten sie dazu, sich nach vorne zu lehnen, und unter größter
Anstrengungen schaffte sie es, ihr rechtes Bein über den Pferderücken zu
bewegen. Sie glitt unsanft von Atreyu, aber schon hatte er sie aufgefangen. Er
hob sie auf seine Arme, während Kaya schrecklich schwindelig wurde.
Sie
erkannte seinen Geruch wieder. Und dann spürte sie kalten Boden unter sich, als
er sie außerhalb des Sandes in der Halle abgelegt hatte. Sie öffnete wieder die
Augen. Er hatte irgendetwas unter ihren Kopf geschoben, während er von irgendwoher
eine Wasserflasche nahm und sie aufdrehte.
„Hier“,
sagte er barsch, und träge hob sie den Arm. Dankbar trank sie das kalte Wasser,
während er neben ihr kniete, sich angespannt die Haare hinters Ohr steckte und
sie beobachtete. Sie setzte die Flasche nach ein Dutzend Zügen ab.
Sie sagte nichts, und er ebenso wenig.
Sie war ein
Versager. Und sie war froh, dass sie nicht ohnmächtig geworden war. Sie hasste,
dass er ihr geholfen hatte. Wieso unterrichtete Vanessa sie nicht einfach?
Sie
vermisste sehr plötzlich ihre Mutter. Und sie fühlte sich sehr plötzlich sehr
jung, als ihre Augen sich mit Tränen füllten. Hastig wischte Kaya sie mit dem
Handrücken fort.
„Hast du
Schmerzen?“, fragte er direkt, und ihm war kein Gefühl anzumerken.
„Nein“,
murmelte sie beschämt. Sie setzte sich auf, trank noch einen Schluck Wasser, um
sich selber von ihren Tränen abzulenken, und es war ihr alles peinlich. Es war
ihr peinlich, was für eine Enttäuschung sie war. Wäre sie doch einfach jemand
anders. Sie wäre so gerne jemand anders! Irgendwer. Nur nicht sie selbst.
Ihre Atmung
hatte sich beruhigt. Sie sah ihn an. Seine grünen Augen musterten sie
skeptisch. Dann schien er auszuatmen. Er erhob sich übergangslos.
„Das
nächste Mal, wenn es dir zu viel wird, sagst du Bescheid, hast du verstanden?“,
fuhr er sie tatsächlich an, und sie kämpfte wieder mit den Tränen. Aber es war
ihr Stolz, der gekränkt den Kopf nach oben reckte, und nicht zuließ, dass noch
eine weitere Träne auf ihre Wange fiel. Sie machte ebenfalls Anstalten,
aufzustehen, aber sie war noch ein wenig wacklig auf den Beinen.
Seine Hand
griff schnell nach ihrem Oberarm, und es war ihr peinlich, dass er ihr schon
wieder half. Sie erkannte, dass Atreyu mittlerweile ruhig in der Halle stand
und den Boden beschnupperte.
„Kannst du
stehen?“, wollte er probehalber von ihr wissen, und sie ruckte vage mit dem
Kopf. Sie war sich nicht wirklich sicher. „Warte hier. Ich sattel ihn ab. Wir
machen Schluss für heute“, sagte er dann, führte sie zur Abgrenzung der Halle,
und sie griff dankbar um das Holz, um sich festzuhalten.
„Danke“,
murmelte sie, ohne dass er darauf überhaupt reagierte. Er marschierte in die
Halle, griff sich die Zügel und führte das Pferd eilig
hinaus. Als sie sich sicher war, dass sie nicht umkippen würde, folgte sie ihm
nach draußen.
Es war
angenehm warm. Ihr war doch ziemlich kalt geworden vor Schreck. Immerhin schien
es dem Pferd nichts auszumachen, dass sie praktisch von seinem Rücken gefallen
war. Und der Lehrer war wesentlich schneller als sie es war. Sie kam langsam
zum Holzbalken, wo Atreyu angebunden war, während der Lehrer ihn schon
abgesattelt und abgezäumt hatte.
Er bürstete
stoisch das Fell des Tieres, was ziemlich entspannt neben ihnen stand. Und mehr
als gereizt wandte er ihr den Blick wieder zu.
„Schaffst
du es nach Hause?“, wollte er von ihr wissen, als bestünde die grauenhafte
Möglichkeit, dass er sich womöglich darum kümmern musste. Aber sie hatte heute
vor, auf ein Scheunenfest zu gehen. Denn sonst würde sie weinend auf ihrem Bett
bei den Ohlkamps liegen und mit sich hadern, ein armes Pferd seinem Schicksal
zu überlassen.
„Ich… bin
mit Vanessa in ihrem Zimmer verabredet“, sagte sie also. Ihre Stimme klang
wieder fester. Die Erschöpfung hielt sich wieder in verträglichen Grenzen. Sie
würde definitiv noch zu Abend essen, ehe sie zum Scheunenfest ging. Und jetzt
hob er fast überrascht eine Augenbraue.
„Wieso?“,
wollte er tatsächlich wissen.
„Wir gehen
auf das Scheunenfest“, sagte sie, fast trotzig. Sie konnte sich nicht
vorstellen, dass er dorthin gehen würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass
er überhaupt irgendetwas tat, was ihm Spaß machte. Er wirkte immer nur schlecht
gelaunt. Er musterte sie kurz.
„Klingt
nach einer spitzen Idee“, entkam es ihm mehr als ironisch, während er
abschätzend den Kopf schüttelte. „Vielleicht kannst du dort beweisen, wie
fantastisch du von einem Heuballen fallen kannst?“, schlug er ihr trocken vor
und löste die Führleine vom Balken, um Atreyu in den Stall zu bringen.
Und sie
antwortete nicht. Was auch? Wahrscheinlich war es nicht klug, ok.
Wahrscheinlich war sie erschöpft, nach der anstrengendsten Woche ihres Lebens.
Aber das
würde sie ihm nicht sagen! Eher fiel sie lieber tatsächlich von einem
Heuballen.
Als er
wieder aus dem Stall kam, schritt er an ihr vorbei. Sie folgte ihm, denn sie
hatten denselben Weg. Er war ihr einige Meter voraus, aber sie wollte gar nicht
aufholen. Sie wollte gar nicht neben ihm gehen. Sollte er ruhig vorrennen. Sie
kannte schließlich den Türcode.
Das war
schon erschreckend genug. Und es schien ihm egal zu sein, dass sie das Haus
hinter ihm betrat, dass sie, wie ein Idiot, hinter ihm die Treppe hochlief, und
sich bemühte, ihn zu ignorieren. Noch nie war ihr etwas so unangenehm gewesen,
wie in seiner Nähe zu sein. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so
unausstehlich sein, fragte sie sich kopfschüttelnd, als sie den ersten Stock
hintereinander erreicht hatten.
Und
tatsächlich schien sein Zimmer das erste auf der rechten Seite zu sein, stellte
sie verblüfft fest, als er einen Schlüssel aus seiner Tasche beförderte und
aufschloss.
Und er
verschwand in seinem Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
War es
nicht seltsam, dass wildfremde Leute im Haus ihres Großvaters wohnten, und sie
war nicht einmal willkommen? Sie ignorierte die tristen Gedanken.
Schon
öffnete sich Vanessas Tür.
„Hey! Schon
hier?“, begrüßte sie sie strahlend, ehe ihr Gesicht sich verfinsterte. „Oh
Gott, du siehst furchtbar aus“, entkam es ihr schockiert. „Was ist los?“
„Anstrengende
Reitstunde“, lenkte Kaya achselzuckend ab.
„Das würde
ich meinen. Was ist passiert? Hat Leo dich gezwungen zur Abwechslung mal das
Pferd zu tragen, oder was?“, wollte sie bestürzt wissen, aber Kaya schenkte ihr
ein müdes Lächeln.
„Ich bin
ein Weichei“, sagte sie also, was definitiv stimmte.
„Komm rein.
Wir suchen dir erst mal was zum Anziehen raus“, erwiderte Vanessa
kopfschüttelnd und zog Kaya in das Zimmer.
~*~
Es war
spät, als sie das Gestüt unauffällig verließ. Vanessa allerdings hatte ihr
gesagt, dass sie selber nie vor elf Uhr eine Party besuchte. Der Spaß begann
erst später am Abend. Kaya war für gewöhnlich ab elf schon so müde, dass sie
kaum noch die Augen offenhalten konnte.
Heute
allerdings hatte sie vielleicht bessere Chancen. Heute hatte sie sogar Probleme
gehabt, sich zu lange im Spiegel anzusehen, denn Vanessa hatte nicht nur ihre
Haare gemacht, sondern sie auch noch geschminkt. Und Kaya war bisher nur Alinas
Opfer gewesen, wenn es um Makeup und Konturenzeichnen ging. Aber Vanessa schien
dieses Handwerk zu verstehen. Vielleicht beherrschte man Makeup mit 23 Jahren
einfach gut.
Und Kaya
fand, sie sah heute so alt aus, dass niemand sie nach einem Ausweis fragen
würde. Nicht einmal in Berlin. Ihre Haare dufteten, und sie sah nicht einmal
mehr erschöpft aus. Und ihr fiel auf, dass sie noch nie im Kleid Fahrrad
gefahren war. Vanessa hatte ihr ein blaues Kleid geliehen, was sie nur im
Schrank behielt, weil sie hoffte, vielleicht irgendwann noch einmal
hineinzupassen. Kaya passte es gut. Es ging kaum bis zu den Knien, hatte keine
Ärmel, war um den Oberkörper eng und fiel luftig um ihre Oberschenkel, und sie
kam sich vor wie Cinderella. Fast.
Und sie
hatte einen Bärenhunger. Wenn sie auch noch nach elf Spaß mit Vanessa haben
wollte, dann musste sie dringend essen. Und mit dem Alkohol sollte sie sich
auch zurückhalten.
Darauf
bedacht, dass der Wind ihr Kleid nicht hochwehte, erreichte sie das Gasthaus
und sprang vom Sattel und lief ins Haus. Vielleicht hatte Frau Ohlkamp noch
Reste für sie, schließlich war es nach neun. Und Vanessa hatte ihr sogar Schuhe
geliehen, aber Gott sei Dank keine hohen! Vanessa meinte, Kaya wäre ohnehin
groß genug, und sie hatten dieselbe Größe. Kaya trug weiße Ballerinas und
genoss das Gefühl, mal keine Turnschuhe und Socken tragen zu müssen. Ihre
Reitsachen hatte sie bei Vanessa gelassen, die ihr versichert hatte, alles bis
Montag frisch gewaschen zu haben. Denn das taten die armen Angestellten im Haus
ihres Großvaters auch noch. Unfassbar, fand Kaya.
Sie kam in
den Speisesaal, der heute einigermaßen leer war. Sie nahm an, alle waren beim
Bauern Voss.
„Kaya, du-
oh!“, unterbrach sich Frau Ohlkamp überrascht. „Schau dich an! Wie hübsch du
aussiehst“, ergänzte sie lächelnd. „Heute Abend geht es auf die Party?“, nahm
sie mit vielsagendem Blick an.
„Ja“,
bestätigte Kaya atemlos. „Aber… Frau Ohlkamp, hätten Sie vielleicht noch ein
paar Brote?“, wollte sie vorsichtig wissen, aber Frau Ohlkamp lächelte breit.
„Natürlich
Kind! Du bist ohnehin so dünn. Komm, setz dich, ich bring dir was“, schlug sie
vor, und dankbar fiel Kaya auf den Stuhl. Sie überlegte, ob sie von oben ihr
Handy mitnehmen sollte. Immerhin musste sie auch den Schlüssel für das
Gästehaus haben, oder? Sie musste Frau Ohlkamp fragen.
„Kaya, bist
du das?“, fragte Herr Ohlkamp sie, der gerade von draußen reingekommen war, und
Kaya musste peinlich berührt lächeln.
„Ja, Herr
Ohlkamp. Heute mal im Kleid“, erwiderte sie entschuldigend.
„Du bist ja
eine Augenweide“, sagte Herr Ohlkamp kopfschüttelnd, und Kaya wurde rot. „Da
werden die Jungs heute Schlange stehen, was?“
Frau
Ohlkamp kam Gott sei Dank zurück und stellte ihr einen Teller mit Sandwiches
vor die Nase. Kayas Magen knurrte direkt. „Bernd, du bringst sie in
Verlegenheit. Aber Kaya, du musst wirklich aufpassen. Wenn du nachts
zurückkommst, wer weiß, ob nicht irgendwer noch unterwegs ist. Und wenn du so
aussiehst, also im Kleid und-“
„-Frau
Ohlkamp“, unterbrach Kaya sie sofort, bevor es noch peinlicher wurde, „ich
komme aus Berlin“, wiegelte sie ab. „Ich musste so viele
Selbstverteidigungskurse belegen, ich glaube, ich kann mich wehren“, ergänzte
sie mit einem schmalen Lächeln. „Sagen Sie, kann ich einen Schlüssel bekommen,
oder-?“
„-ich leg
ihn dir unter die Matte. Dann musst du ihn nicht mitnehmen, Kind“, unterbrach
Frau Ohlkamp sie, immer noch besorgt. „Versprich mir, dass du auf dich
aufpasst. Vielleicht kann dich einer der Jungs aus dem Dorf begleiten?“, wandte
sie sich nun an ihren Ehemann, der sofort nickte, aber Kaya hob die Hände.
„Nein!
Nein, wirklich nicht. Ich verspreche, ich passe auf.“ Fast war sie gerührt von
der Sorge der Ohlkamps. „Ach, Frau Ohlkamp?“, fragte sie jetzt, wieder mal
beschämt.
„Ja?“
„Hätten Sie
vielleicht… eine Handtasche, die ich mir borgen könnte?“, wollte Kaya
vorsichtig wissen, denn so etwas hatte sie natürlich auch nicht mit. Frau
Ohlkamp musste so mütterlich lächeln, dass Kaya ganz warm ums Herz wurde.
„Na ganz
bestimmt. Ich schau mal, ob ich was habe, was zu deinem Kleid passt!“ Ja, Kaya
schnorrte sich durch diesen Abend wie ein Fisch im Wasser.
Sogar Herr
Ohlkamp schien sich nicht wirklich zu trauen, Kaya direkt anzusehen.
„Dann
spielen wir wohl heute nicht“, murmelte er neben ihr am Tisch, während Kaya die
Brote aß, die ihr Frau Ohlkamp gebracht hatte. Kauend musste sie grinsen.
„Nein,
heute nicht. Aber morgen, versprochen!“, sagte sie sofort. Er hob hoffnungsvoll
den Blick.
„Du musst
natürlich nicht, wenn du nicht-“
„-ich kann
mir nichts besseres für einen Samstag vorstellen!“, unterbrach Kaya ihn sofort,
und Frau Ohlkamp kam mit einer hübschen weißen Häkeltasche zurück, mit einem
langen Träger. „Oh, die ist perfekt, Frau Ohlkamp!“, rief Kaya aus, schob sich
den letzten Bissen in den Mund, und Frau Ohlkamp lächelte zufrieden.
„Die ist
ein Geschenk, Kaya.“
„Oh nein!
Das kann ich nicht annehmen. Sie geben mir ohnehin viel zu-“
„-papperlapapp!
Das machen wir gerne, Kaya.“ Und Kaya schwieg dankbar. Nein, heute konnte sie
nicht fragen, ob sie ein gestohlenes Pferd hier unterstellen durfte. Morgen. Morgen
würde sie fragen. Vielleicht. Die Zeit lief ihr davon.
„Danke“,
erwiderte sie schließlich voller Zuneigung. Still aß sie die letzten Krümel
ihrer Sandwiches auch noch auf. Ja, das sollte vorhalten, nahm sie
zuversichtlich an.
„Na, dann
los! Sonst haben alle Jungs schon wen zum Tanzen“, beendete Frau Ohlkamp den
unangenehmen Moment, und Kaya wurde wieder rot. Ja, sie konnte nicht tanzen und
hatte es auch nicht vor.
„Gute Nacht
schon mal!“, rief Kaya und beeilte sich von oben ihr Handy zu holen. Keine
Anrufe. Keine Nachrichten. Was war los? War Alina jetzt so sehr mit Bastian
beschäftigt, dass sie nicht mehr anrufen konnte? Und mied Bastian jetzt doch
den Kontakt? Und immerhin keine Nachrichten von Oliver oder ihrer Mutter.
Immerhin!
Sie war
sich noch einmal einen Blick im Spiegel zu.
Sie
erkannte sich kaum wieder. Und sie stellte etwas Faszinierendes fest. Sie trat
näher an den Spiegel heran. Sie sah fast aus wie ihre Mutter. Sonst sah sie es
nie, aber heute… da war es offensichtlicher. Und Kaya vermisste sie wieder.
„Keine
Sorge, Mama“, sagte sie zuversichtlich. „Ich schaff das alles.“
~*~
Zuerst
hatte sie Sorge gehabt, die Party nicht zu finden, wenn sie versteckt in
irgendeiner Scheune stattfand, aber es war kein Problem. Bunte Lampions und laute
Musik wiesen ihr den Weg. Am Ende der Dorfstraße lag ein großer Bauernhof,
mitten in einer Kurve. Und zur Straße hin war ein riesiger Hof, wo so viele
Menschen versammelt standen, dass Kaya Hemmungen verspürte, näher zu kommen.
Der
Bauernhof reckte sich hinter dem vollen Platz in beachtliche Höhe, und Kaya
wunderte sich nicht, dass ihr Großvater von hier Stroh bezog, denn Platz genug
für mehrere Tonnen sollte hier wohl sein.
Neben dem
Platz stand eine Reihe an restaurierten historischen Landmaschinen, deren Zweck
Kaya nur erahnen konnte, während sie langsam näher kam, und sich unsicher die
Oberarme rieb.
Es war nie
schön, alleine irgendwohin zu gehen, und Vanessa käme erst in einer Stunde.
Kayas Herz schlug schnell. Sie erkannte einige der Reitschülerinnen, die
ausgelassen lachten und scheinbar mit den Jungen des Dorfes flirteten. Kaya
hatte nicht gewusst, wie viele junge Leute hier tatsächlich lebten. Und auch
wenn sie aus einer Großstadt kam, waren doch genug Leute hier, dass sie sich
unwohl fühlte. Sie kannte niemanden.
Es war
dasselbe Gefühl, was sie gehabt hatte, als sie in die neue Klasse gekommen war.
Es war sogar sehr ähnlich, denn die Reitermädchen hier waren allesamt reicher
als sie, wie ihre neuen Klassenkameraden es auch gewesen waren. Nicht dass Kaya
wert darauf legte, wie viel jemand hatte, aber… es fiel manchmal auf.
Und dann
hatte sie selbst im Schneckentempo den Platz erreicht. Sie atmete tief ein und
wünschte sich, Alina wäre hier, ehe sie die Menge betrat. Einige Blicke folgten
ihr, und ihr Weg führte unbeirrt tiefer ins Gedränge, denn sie erkannte weiter
hinten eine provisorische Theke, wo Bier ausgeschenkt wurde. Alkohol half gegen
Nervosität, wusste sie, denn er machte müde, und man war nicht mehr so
aufgeregt.
Und
tatsächlich erkannte sie den Jungen hinter der Theke.
„Konstantin?“,
entkam es ihr, und der Junge musterte sie.
„Oh, Kaya,
richtig?“, ordnete er sie richtig ein, und sein Blick wanderte kurz über ihre
Erscheinung. „Wow, hätte dich fast nicht erkannt“, fuhr er fort.
„Ich hoffe,
du bist nicht mehr böse?“, fragte sie sofort, denn sie erinnerte sich, dass ihr
Nachname bei ihm keine Freude ausgelöst hatte.
„Quatsch,
nein“, wich er ihrem Blick ertappt aus. „Mein… mein Vater hat mir gesagt, dass…
der alte Rothenberg dich nicht mal leiden kann“, fuhr er beschämt fort. Kaya
fragte sich, ob alle im Dorf Bescheid wussten.
„Oh. Ok.
Gut, dann kannst du mir meinen Namen ja nicht mehr vorhalten!“, beschloss Kaya,
munter zu sagen. Es machte ihr nichts aus, dass ihr Großvater sie nicht mochte.
Es würde ihr keine schlaflosen Nächte bereiten.
„Nein!
Bier?“, wollte Konstantin aufmerksam wissen, und Kaya nickte und war froh,
einen Namen zu kennen. „Kennst du all die Reiter-Tussis?“, wollte er stiller
wissen, den Blick auf niemanden Bestimmtes gerichtet. Kaya schüttelte den Kopf.
„Nein.
Keine“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
„Die Jungs
sind alle so blöd“, bemerkte Konstantin, nachdem er ihr das volle Glas, mit
hoher Schaumkrone reichte. „Lassen sich beeindrucken, durch ein paar dumme
Schnepfen“, schloss er kopfschüttelnd. Kaya musste grinsen. „Obwohl, das denken
sie jetzt von mir bestimmt auch“, fuhr er unbedacht fort, ehe sich seine Augen
weiteten. „Also – nur weil du so… so aussiehst wie… eine von denen!“,
rechtfertigte er sich schnell. „Wegen…- nicht weil du dumm wärst!“ Er wurde
rot, und Kaya musste grinsen.
Ein Junge
war vor ihr noch nie rot geworden.
„Schon ok“,
sagte sie lächelnd. Aber sie bemerkte die bösen Blicke wohl. Und sie wusste
nicht, ob es Blicke von Reiterinnen oder Dorfmädchen waren. Aber eine Gruppe an
Mädchen beäugte sie misstrauisch.
Und
Konstantin sah es auch. „Du, entschuldige mich mal kurz“, sagte er hastig.
„Meine Freundin bringt mich noch um, wenn ich länger mit dir rede“, ergänzte er
leiser. Oh. Kaya war noch nie ein Mädchen gewesen, auf das andere Mädchen
eifersüchtig waren. Er ließ sie an der Theke stehen, und sein scheuer Bruder
löste ihn ab. Und der sah sie nicht mal an, so sehr schien er sich zu schämen.
Etwas
verloren sah sich Kaya um und nippte an ihrem Bier.
Und dann
hellte sich ihr Gesicht auf, denn sie erkannte Tom. Sofort setzte sie sich in
Bewegung, um nach drei Schritten stehen zu bleiben. Auf der Tanzfläche, wo
Menschen sichtlich genervt von ihr waren, denn sie stand im Weg. Aber Toms Arm
war um ein Mädchen mit braunen Locken gelegt. Und es war als fiele ein Stein in
ihren Magen.
Natürlich.
Er hatte eine Freundin. Gott, sie war so dumm! So unfassbar dumm! Hastig, bevor
er sich noch umdrehen konnte, drehte sie sich um. Ihr war
nicht danach, sich zu blamieren. All der Aufwand, das Makeup, das Kleid – und
Tom hatte schon eine Freundin. So war es doch immer.
Sie machte
einen blinden Schritt und stieß unsanft mit jemandem zusammen.
Erschrocken
hob sich ihr Blick und das bunte Licht spiegelte sich in allen Farben auf
seinem Schopf.
Sein Blick
fiel auf ihr Gesicht. Aber schlimmer war, dass sie sein Hemd in Bier getränkt
hatte.
Ihre Hand
zitterte förmlich.
„Das… tut
mir so leid“, entfuhr es ihr heiser, während die Leute um sie herum tanzten,
während der böse Reitlehrer einen angespannten Zug um die Mundwinkel bekam. Und
Kaya glaubte, es war einfach Bestimmung. Sie würde es niemals fertigbringen,
auf einer neutralen Ebene mit dem blonden Reitlehrer zu sein. Dann wiederum –
wer schaffte das schon? Tom sprach nicht nett von ihm, Vanessa nicht. Und Kaya
hatte Angst. Jetzt gerade. Vor allem fühlte sie sich ohnehin schlecht, ihm
gegenüber. Ohne ihn, wäre sie heute bestimmt vom Pferd gefallen, nahm sie an.
„Gott, du
bist so ungeschickt!“, fuhr sie ein blondes Mädchen von der Seite an und tötete
immerhin die gefährliche Spannung, die immer von ihm auszugehen schien. Die
Reiterin vom Bahnhof in Berlin, erinnerte sich Kaya. „Komm, Leo, wir machen das
sauber“, fuhr sie hochnäsig fort, aber der Blonde schüttelte schroff den Kopf.
„Trocknet
wieder“, informierte er entweder sie oder das gemeine Mädchen, was sie mit
einem besonders giftigen Blick bedachte, als sie dem Lehrer folgte, der Kaya
einfach stehen ließ. Kaya stellte das leere Glas seufzend zur Seite.
„Hey!“,
sagte eine Stimme neben ihr und sie senkte verwundert den Blick. Es war ein
kleines Mädchen. „Ich mag dein Kleid!“, rief ihr das Mädchen zu. Und Kaya
lächelte schwach.
„Danke“,
erwiderte sie resignierend. Sie bahnte sich einen Weg von der Tanzfläche zurück
zur Theke, wo Konstantins schüchterner Bruder ihr sofort ein Glas mit Bier
füllte. Kaya fragte sich unwillkürlich, wie der Bauer Voss es sich leisten
konnte, umsonst Bier zu verschenken? Und dann verschwand sie mit ihrem Bier,
entfernte sich von der lachenden Menge und setzte sich abseits auf einen, das
Grundstück begrenzenden, Strohballen.
Sie zuckte
praktisch zusammen, als das kleine Mädchen wieder neben ihr auftauchte.
„Hey!“,
rief das Mädchen wieder und mit Anlauf sprang sie auf den Heuballen und setzte
sich neben sie. Sie war ein wenig pummelig und ziemlich klein. Kaya schätzte
sie auf zehn Jahre.
„Hey“,
wiederholte Kaya nur. Sie starrte trübsinnig auf die unbekannten Leute.
„Wie heißt
du?“, wollte das Mädchen scheinbar unermüdlich wissen. Kaya wandte den Blick.
„Kaya. Und
du?“ Das Mädchen musterte sie neugierig.
„Hab ich
noch nie gehört, den Namen“, sagte das Mädchen kopfschüttelnd. „Ich bin Gitty“,
stellte sie sich vor. „Meinem Papa gehört der Hof“, ergänzte sie stolz. Kaya
runzelte die Stirn. Und den Namen Gitty hatte sie auch noch nie gehört.
„Der Bauer
Voss ist dein Papa?“, wollte sie wissen, und Gitty nickte. „Wie… wie alt bist
du?“, fuhr Kaya fort.
„Elf!“,
antwortete Gitty stolz. Kaya hatte das Alter von Herrn Voss ungefähr bei Mitte
fünfzig eingeordnet. Wo sich Herr Ohlkamp alterstechnisch wohl auch befand.
Wenn nicht beide sogar noch etwas älter waren.
„Dann… bist
du die Schwester von Konstantin und Christian?“, vermutete Kaya weiter. Gitty nickte.
Und dann ruckte sie mit dem Kopf.
„Halbschwester.
Ich hab eine andere Mama“, erklärte sie unbedarft.
„Eine
jüngere?“, vermutete Kaya, bevor sie sich halten konnte. Gitty ruckte mit dem
Kopf, konnte ihr Frage wohl nicht wirklich einordnen. „Und du darfst so lange
wach bleiben?“, wollte Kaya freundlich wissen, und Gitty grinste.
„Na ja, nur
heute. Und auch nur noch eine halbe Stunde“, fuhr Gitty traurig fort. „Du bist
auch von dem Ponyhof?“, erkundigte sich das Mädchen mit den kurzen Zöpfen
gespannt und ließ ihre Beine baumeln.
„So
ungefähr“, bestätigte Kaya.
„Du bist
aber netter als die anderen“, behauptete Gitty dann.
„Wie kommst
du darauf?“
„Du
sprichst mit mir“, stellte Gitty achselzuckend fest. „Die anderen Mädchen
gucken mich nicht mal an.“ Kaya schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln.
„Das tut
mir echt leid, Gitty.“
„Weil ich
so jung bin“, fuhr Gitty missmutig fort. Sie ließ ihre Hacken gegen den
Heuballen schlagen.
„Kannst du
reiten?“, wollte Kaya dann wissen, einfach, um irgendetwas zu fragen. GItty
zuckte die Achseln.
„Nee, kann
ich nicht“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Und Mama sagt, auf dem Ponyhof ist
es sowieso zu teuer.“ Kaya nickte, denn das stimmte.
„Hör mal“, begann
Kaya nachdenklich und nippte an ihrem Bier, „vielleicht können wir die Tage mal
zusammen reiten, denn vielleicht bringe ich ein Pferd ins Dorf.“ Und als die
Worte ihren Mund verlassen hatten, bereute Kaya bereits, sie gesagt zu haben.
Kleine Kinder konnten kein Geheimnis behalten, aber Gittys Augen leuchteten
bereits.
„Echt?“,
wollte sie mit großen Augen wissen, und Kaya ruckte unverbindlich mit dem Kopf.
„Jaah,
vielleicht“, ruderte sie zurück. „Aber sag es keinem“, setzte sie hinterher.
Dieser Plan war auch noch nicht wasserdicht.
„Brigitte!“,
hörte Kaya eine Frau rufen, und Gitty neben ihr reckte den Kopf. „Komm, es wird
Zeit!“ Und Gitty sprang vom Heuballen.
„Meine Mama
ruft. Du, ich muss schon gehen, aber… sag Bescheid, wenn du ein Pferd hast,
ja?“, bat sie gespannt, und Kaya nickte ergeben.
„Klar, hab
ich doch gesagt. Aber… kein Wort zu deiner Mama, ok?“
„Ok!“,
flüsterte Gitty und reckte den Daumen nach oben, bevor sie über den Platz
zurückrannte, auf die Frau zu, die ihren Namen gerufen hatte.
Und Kaya
war wieder allein. Ein Blick auf ihr Handy sagte ihr, dass es kurz vor elf war.
Keine Anrufe, keine Nachrichten, und sie fühlte sich
ziemlich allein. Selbst auf dieser Party.
Und nein.
Sie war nicht Cinderella, nahm sie an.
–
Falscher Prinz –
„Kaya,
hey!“
Der Duft
von Parfüm umgab sie. Sanft sprach eine Stimme auf sie ein. War es ihre Mama?
Kam sie spät von der Arbeit wieder. Kaya befiel ein wohliges Gefühl, aber für
gewöhnlich piekte ihr Bett nicht so sehr. Sie schlug blinzelnd die Augen auf.
Vanessa
hatte sich vorgelehnt, und Kaya schreckte wieder in eine sitzende Position.
„Na, du
bist eine Party-Maus, hm?“, vermutete Vanessa grinsend. Sie trug einen
schwarzen Rock, ein tiefausgeschnittenes schwarzes Oberteil, hohe Schuhe, und
ihr Zopf, der sonst ein strenger Pferdeschwanz war, war heute locker geflochten
und fiel über ihre Schulter.
An ihrer
Kette baumelte ein silbernes Schriftzeichen, wahrscheinlich chinesisch oder
anders asiatisch, nahm Kaya müde an. Sie war tatsächlich auf dem Heuballen
eingenickt.
„Wie… wie
spät ist es?“, wollte Kaya verschlafen wissen. Sie strich sich die Haare über
die Schulter.
„Halb
zwölf, Schneewittchen“, bemerkte Vanessa grinsend. „Ich hoffe, du bist nicht
schon betrunken. Weil mein toller Freund sich nämlich zu fein ist, herzukommen,
musst du heute als mein Party-Ersatz herhalten“, klärte sie Kaya zwinkernd auf.
Kaya
rutschte vom Heuballen und stand wacklig auf ihren Beinen. Die übrigens mal
wieder mehr wehtaten, denn der Muskelkater setzte mal wieder ein.
„Du hast
einen Freund?“, gähnte Kaya, und war nicht überrascht, denn alle hier schienen
Partner zu haben.
„Ja. Einen
müden, faulen Freund“, bestätigte Vanessa und Kaya folgte ihr zurück in die
Menge zur Theke, wo Kaya ein weiteres Bier in die Hand gedrückt bekam. Den
Alkohol merkte sie nicht wirklich. Sie hatte ihn schon fast wieder
ausgeschlafen. „Du hast keinen Freund?“, vermutete Vanessa laut über die Musik
hinweg, und Kaya schüttelte schlecht gelaunt den Kopf.
„Na, wenn
du es darauf anlegst, dann dürften sich heute genügend Jungen nach dir die
Finger lecken“, bemerkte Vanessa schnippisch, mit Blick auf Kayas Outfit. Und
Kaya glaubte ihr nicht.
„Ich lege
es nicht darauf an“, widersprach sie, ohne Vanessa anzusehen. Aus den
Augenwinkeln sah sie, wie Vanessa grinsen musste. „Sag mal“, fuhr Kaya fort,
denn ihr war wieder was eingefallen, „warum ist das Bier umsonst? Warum macht
der Bauer so eine Party?“ Vanessa zuckte die Achseln.
„Wahrscheinlich
weil seine kleine Frau hip sein will. Oder weil der Alte ihm jährlich so viel
Stroh abkauft, dass er sich revanchieren will und seine Reitertruppe hier
duldet“, vermutete Vanessa unschlüssig. Richtig, ihr Großvater kaufte das
Stroh. Und anscheinend wusste Vanessa von der jüngeren Frau des Bauern.
„Was ist
mit seiner ersten Frau?“, wollte Vanessa wissen, während ihr Konstantin wieder
ins Auge fiel, der sich am Rand mit seiner Freundin stritt.
„War ihm
wohl zu alt?“, erwiderte Vanessa grinsend und zuckte die Achseln. „Keine
Ahnung“, ergänzte sie. „Lass uns tanzen!“
Kaya trank
noch einige tiefe Schlucke, weil sie Durst hatte, und weil sie befürchtete,
dass sie ein zu volles Glas wieder verkippen würde. Sie konnte nicht tanzen,
aber Vanessa ließ ihr da nicht viel Spielraum. Schon standen sie zwischen den
anderen tanzenden Leuten, und Kaya musste zusehen, dass sie niemanden
anrempelte. Vanessa tippte einem Jungen von hinten auf die Schulter, und zu
Kayas Schock drehte sich Tom zu ihnen um.
„Hey!“,
rief er strahlend, und Kaya erkannte das Mädchen neben ihm wieder. Um das hatte
er seinen Arm gelegt gehabt. „Cool, dass ihr da seid!“, rief er laut. „Das ist
die andere Reitlehrerin, Vanessa Werdelmeier“, erklärte er dem Mädchen
lautstark. „Und das ist Kaya!“, ergänzte er, und Kaya mochte nicht, wie schön
er ihren Namen sagte. Sie war eifersüchtig und sauer. Und schämte sich dabei.
„Sie ist die Enkeltochter von Herrn von Rothenberg!“, schloss er heiser. Und
jetzt sah das Mädchen sie an.
Sie war kleiner
als Kaya und ziemlich hübsch. Ihre Brüste waren größer und generell war ihre
Figur auch besser als Kayas. Das war es, was Kaya als erstes wahrnahm. Dann
lächelte das Mädchen. Ihre Zähne waren schnurgerade.
„Hi, ich
bin Marie!“, stellte sie sich laut vor. Kaya und Vanessa nickten beide. „Toms
Freundin“, ergänzte sie unnötigerweise. Kaya spürte wie ihre Mundwinkel bitter
zuckten. Sie war unmöglich.
„Hi“,
erwiderte sie schließlich und zwang sich, zu lächeln. Dann glitt Toms Blick
sorgenvoll über die Menge.
„Es ist
wieder soweit“, sagte er schlecht gelaunt. Vanessas Blick wandte sich gereizt
nach hinten. Kaya reckte den Kopf höher und erkannte, dass einige Mädchen ein
anderes stützen mussten.
„Müssen wir
das klären?“, wollte Vanessa genervt wissen.
„Na ja“,
erwiderte Tom unentschlossen und sah sich um. „Wo ist Leonard?“, fügte er
gereizter hinzu.
„Ich würde
sagen, meistens ist Leonard für solche Abstürze verantwortlich, oder nicht?“,
bemerkte Vanessa schlecht gelaunt. Tom verzog nur den Mund.
„Wir sehen
mal eben nach, ok?“, rief Tom seiner Freundin zu, und Kaya beeilte sich,
Vanessa und Tom zu folgen, denn sie wollte nicht alleine bei Marie bleiben. Sie
mochte schon den Namen nicht. Sie hatte zwei Maries in ihrer Klasse, die sie
nicht leiden konnte. Sie leerte hastig ihr Bier und merkte den Alkohol langsam
aber sicher. Es war ein nettes Gefühl.
Sie schoben
sich durch die Menge, an dem Heuballen vorbei, auf dem Kaya eingeschlafen war,
bis sie um eine Ecke bogen. Tatsächlich war dort das Mädchen zehn Meter
entfernt vom Hof, im Stehen vorn über gebeugt, während zwei andere Mädchen ihre
Haare hielten. An der Scheunenwand standen der blonde Reitlehrer und das
arrogante Mädchen, was Kaya vorhin beleidigt hatte. Beide wirkten nicht
sonderlich gut gelaunt.
„Jessica
Weber?“, wollte Vanessa scharf wissen, und Jessica verdrehte genervt die Augen.
Kaya fragte sich, ob sie mit Stefanie aus ihrer Klasse verwandt war. Waren
nicht alle reichen Mädchen irgendwie verwandt? War Kaya betrunken?
Wahrscheinlich.
„Ja?“, erwiderte
sie patzig und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Habt ihr
wieder Schnaps geschmuggelt?“, wollte Vanessa direkt wissen, und Jessica hob
abwehrend die Arme.
„Ich habe
garantiert gar nichts gemacht! Ich war hier bei Leo!“, rechtfertigte sie sich,
woraufhin der Blonde gereizt ausatmete.
„Wie
charmant“, bemerkte Vanessa mit einem kühlen Blick auf den bösen Reitlehrer,
der ganz klar tausend Bände sprach, aber Kaya verstand nicht wirklich. „Wie
wäre es, wenn du dich darum kümmerst, dass deine Freundinnen nach Hause
kommen?“, wandte sich Vanessa mit gefährlicher Ruhe wieder an das Mädchen.
Jessica wirkte bestürzt.
„Was kann
ich dafür, dass Tina nichts verträgt?“, entrüstete sie sich.
„Das ist
keine offene Diskussion!“, fuhr Vanessa sie an. „Mir reicht es mit euren
Zickereien! Die Regeln waren klar und deutlich, Jessica! Ihr bleibt nüchtern
genug, dass es zu keinem Absturz kommt! Ansonsten ist die Party für euch
vorbei. Wenn ihr nicht nach Hause geht, gibt es Reitverbot für euch alle!“
Jessica
starrte Vanessa fassungslos an. „Leo!“, wandte sie sich ungläubig an ihn, als
würde er es richten können. Er sah aber nicht danach aus, als würde er für
irgendwen in die Bresche springen, musste Kaya feststellen. Er könnte nicht
gelangweilter aussehen.
„Oh, glaub
mir, Leo wird dir ganz bestimmt nicht helfen!“, versicherte ihr Vanessa bissig.
„Sobald es für unseren Goldjungen unbequem wird, zieht er den Schwanz nur zu
schnell ein, nicht wahr?“, wollte sie gepresster wissen, und der Blonde
schenkte ihr einen entsprechend eisigen Blick. Kaya war sich nicht sicher, ob
irgendetwas hinter Vanessas Worten verborgen lag, aber sie musste es annehmen,
bei Vanessas Zorn gegenüber dem anderen Lehrer.
„Du hast
kein Recht, mir das Reiten zu verbieten!“, schimpfte Jessica schließlich
haltlos und unterbrach die unangenehme Stille, die entstanden war, während sich
Vanessa und der Lehrer ein Blickduell geliefert hatten. „Es ist mein Pferd! Und
ich bezahle dafür!“ Kaya war es unangenehm, dass sie Zeuge dieser
Auseinandersetzung wurde. Aber ihr Blick fiel auf etwas, was halb verborgen im
Heuballen steckte. Vanessa reckte den Kopf in die Luft.
„Deine
Freundinnen sind fertig“, bemerkte sie knapp. „Ich will euch hier nicht mehr
sehen. Ihr verschwindet sofort oder ich sage euren Eltern heute Nacht noch
Bescheid, dass sie euch abholen können.“ Und Kaya hätte Vanessa garantiert
nicht mehr widersprochen. „Egal, wie viel Geld eure Papis dem Alten in den
Hintern blasen“, ergänzte sie düster.
Jessica
wandte sich tatsächlich an den blonden Reitlehrer. „Bringst du uns?“, wollte
sie fast kleinlaut und verzweifelt wissen, aber Kaya kam es vor, als war es nur
gespielt. Was es wahrscheinlich auch war.
„Vergiss
es, Barbie“, sagte Vanessa nur. „Ich zeige euch gern die Richtung, Mädels“,
rief sie herrisch, als die anderen Mädchen vom Feld zurückkehrten. „Euer Abend
ist vorbei“, verkündete sie bitter und murrend stolperten die Mädchen vor ihr
her. Vanessa wandte sich noch zu ihr um.
„Bin gleich
wieder da, Kaya“, versprach sie und ihr nächster Blick galt dem Blonden, der an
der Wand lehnte, als beträfe es ihn alles nicht und wäre einfach nur lästig.
„Wieso wundert es mich nicht, dass alle dummen Hühner bei dir in der Gruppe
sind?“, zischte sie, aber Tom trat vor.
„Ich regel
das“, versprach Kayas Liebling plötzlich mit dunklem Tatendrang. Vanessa
tauschte noch einen Blick mit ihm, ehe sie den Mädchen folgte.
Fast
umspielte so etwas wie höhnische Erwartung die Mundwinkel des bösen
Reitlehrers, während er Tom gespannt seine Aufmerksamkeit schenkte. Kaya
kribbelten die Fäuste schon jetzt vor Wut über sein Verhalten.
„Wieso ist
es jedes Jahr dasselbe?“, wollte Tom erschöpft und wütend wissen. „Wieso gibt
es mit dir immer nur Stress?“ Und sofort sprang der Blonde darauf an, der wohl
schon seit einer Weile unter Spannung stand. Eigentlich immer, wenn Kaya
nachdachte.
„Sag mir
einfach, was dir wieder mal nicht passt, damit ich diesen scheiß Abend beenden
kann“, knurrte der Blonde praktisch, und Toms Lippen wurden schmaler, ehe er
antwortete.
„Du
wusstest, dass sie härteren Alkohol mitbringen, oder nicht?“, fuhr Tom ihn an.
„Du bist verantwortlich für die Mädchen!“, fuhr Tom ihn haltlos an, aber der
Blonde lachte hart auf.
„Ich bin
für keine dieser Zicken verantwortlich, Kiergarten. Und nebenbei – es ist
absolut egal, wer sich hier ins Koma säuft und wer seinen Stock in seinem
Hintern behalten möchte“, ergänzte er mit einem entsprechenden Blick auf Tom.
Kaya wollte am liebsten unauffällig verschwinden. Sie wollte dem Blonden eine
reinhauen, ja. Und dann unauffällig verschwinden. Sein Blick fiel sehr
plötzlich auf sie. Kaya spürte die Hitze in ihren Wangen sofort. Und sofort
senkte sie den Kopf. „Und wieso schleppst du sie überall mit hin?“, ergänzte er
am Rande jedes Verständnisses.
„Hast du
Angst, Leo?“, vermutete Tom bitter. „Angst, dass sie dich vielleicht verpfeifen
könnte? Weil Rothenberg wahrscheinlich seiner Enkelin eher glauben würde, als
Leonard, dem Wunderhengst?“
Und Leonard
setzte sich in Bewegung, und bevor Kaya wusste, was sie tat, war sie dazwischen
gegangen. Der Blonde bremste sich noch geradeso, ehe er in Kaya gelaufen war.
„Ist sie
dein Bodyguard?“, wollte er zornig wissen, aber Tom ging darauf nicht ein und
wandte sich mit zitternden Fäusten von ihm ab.
„Du bist es
echt nicht wert, Arschloch“, sagte Tom gepresst, ehe er sich vollends umdrehte
und mit zornigen Schritten wieder in der Menge verschwand, die Gott sei Dank
nichts hiervon mitbekommen hatte.
Ihr Blick
hob sich schließlich – und tja…
Sie war
immer noch hier. Sie hatte noch nie gewusst, wann es Zeit zum Gehen war.
Ihr Herz
schlug schnell, und sie hatte wirklich Angst.
„Nett, dass
er dich die Drecksarbeit erledigen lässt“, sagte er, und sie sah, wie er wohl um
nötige Kontrolle ringen musste. Angespannt atmete Kaya aus. Sie hatte gar nicht
gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie fand es alles so schrecklich
ungerecht. Und sie war betrunken genug, tatsächlich zu antworten.
„Wieso bist
du so scheiße?“, fuhr sie ihn mit schwacher Stimme an, fast den Tränen nahe,
stellte sie ärgerlich fest. Sie konnte Auseinandersetzung noch nie gut
verarbeiten, selbst wenn sie nicht wirklich beteiligt war.
Und alles
Schöne um sie herum verlor durch diesen blöden Streit an Wert. Der Himmel war
so klar, wie sie es selten gesehen hatte. In Berlin hatte sie es noch nie
gesehen. Die Luft war hier eine völlig andere. Es wirkte, als würde selbst der
Mond hier tiefer hängen. Alles war… schöner hier.
Aber seine
Präsenz versaute den gesamten Abend!
Und sie war
sauer auf ihn, weil er Tom beleidigt hatte, weil er Probleme machte. Weil
Vanessa jetzt Wachhund spielen musste.
Und es
wirkte als lege sich ein Schatten über sein Gesicht, als sein Ausdruck dunkler
wurde.
„Was?“,
fragte er, die Stimme gefährlich ruhig. Aber sie war nicht bereit, aufzugeben.
Sie hatte eine schreckliche Woche gehabt, und er versaute ihr das einzige,
worauf sie sich gefreut hatte! Und kurzerhand wandte sich Kaya um, marschierte
zum Heuballen, bückte sich und zog die Flasche Likör aus dem Stroh hervor.
Sie hatte
das glänzende Glas der Flasche vorhin schon bemerkt. Sie hielt sie ihm unter
die Nase, und sehr kurz wirkte er tatsächlich überrascht über ihren eindeutigen
Blick. Sanfter Unglaube trat auf seine scharfen Züge, als er wohl begriff, dass
sie wollte, dass er sie nahm.
„Nicht
meine“, sagte er kalt und schritt an ihr vorbei. Er log, nahm sie an. Zutrauen
würde sie es ihm. Und selbst wenn es nicht seine war, ging sie davon aus, dass er
Bescheid wusste, dass die Mädchen die Flasche gehabt hatten.
„Arsch“,
murmelte Kaya kopfschüttelnd, aber leider nicht so leise wie sie dachte, denn
er hatte innegehalten und wandte sich um. Kayas Herz sprang förmlich in ihren
Hals. Er kam wieder auf sie zu, und sie kam in den Genuss seines vollständig
abweisenden und abschätzenden Blicks.
Sie
glaubte, er empfand Spaß dabei, Leute einzuschüchtern. Er überragte sie jetzt.
„Ich nehme
an, dir fällt bestimmt auch noch irgendetwas ein, was du mir vorwerfen möchtest,
obwohl keiner weiß, was du überhaupt hier willst?“, fuhr er sie tatsächlich an,
und so viel hatte er noch nie zu ihr gesagt. Ihr wurde wieder heiß.
Und sie
mochte ihn nicht! Gott, sie mochte ihn wirklich nicht!
„Du bist
arrogant und scheiße!“, sagte sie plötzlich, sogar ziemlich wütend. Und er sah
sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Mit seinen scheiß Haaren und seinem
scheiß überheblichen Gesichtsausdruck! „Was glaubst du eigentlich, wer du
bist?“, sprach ihre Stimme fast hysterisch weiter. „Nur weil du vielleicht
reiten kannst, hast du das Recht, Leute fertig zu machen?“ Oh wow. Sie sollte
ziemlich bald ihre Klappe halten! „Außerdem – was soll das mit dieser Jessica?
Hältst du sie hin, oder warum rennt sie dir hinterher?“, sprach sie zornig weiter.
„Typen wie du…-“ Kurz war sie außer Atem und wusste nicht recht, was sie sagen
sollte. „Typen wie du…-!“, wiederholte sie mit mehr Nachdruck, aber… sie hatte
keinen Ahnung von Typen wie ihm. Sie hatte nie die Erfahrung gemacht. Sie
wusste nur, wie es sich verdammt noch mal anfühlte, Typen zu mögen, die absolut
überhaupt nichts für einen übrig hatten! Und er gehörte nicht dazu. Tom gehörte
dazu. Bastian gehörte dazu. Und er war einfach nur…-
„Ja?“,
wollte er gespannt wissen, während sein böser Blick sie praktisch lynchte.
„Kommt da noch was, oder wirst du gleich wieder ohnmächtig?“, spottet er kalt,
und neue Wut rauschte durch ihren müden Körper.
„Ich war nicht ohnmächtig!“, fuhr sie ihn an.
„Und wärst du nur im Ansatz ein so guter Lehrer wie Tom, dann wäre es nie-“ Und
der Nerv, den sie getroffen hatte, schien über sämtliche Beleidigungen
hinauszugehen, denn er schloss den Abstand und sie machte einen panischen
Schritt zurück.
„-ich bin
ein verflucht fantastischer Reitlehrer! Tausend Mal besser als dein scheiß
Tom!“, knurrte er durch zusammen gebissene Zähne, und sie schluckte, als sie
noch einen Schritt vor ihm zurückwich. Unangenehm stach sie der hohe Heuballen
in den Rücken, als sie nicht weiter zurück konnte. „Und ich glaube nicht, dass
ein dummes Mädchen, ohne jedes Talent, beurteilen kann, ob ich gut bin oder
nicht, ob ich arrogant bin, ob ich scheiße bin, oder ein Arschloch, denn dafür
bräuchtest du meine Aufmerksamkeit“, informierte er sie eiskalt. „Und glaub
mir, die hast du nicht“, schloss er dunkel, sehr nah vor ihr, während sein Kopf
praktisch über ihrem thronte.
Sie war
atemlos, und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Ihre Hand umklammerte steif
neben ihrer Hüfte noch immer den Flaschenhals, und sie glaubte nicht, schon mal
so wütend gewesen zu sein. Noch nie war sie so wütend gewesen, und noch immer
bohrte sich sein Blick in ihren. Er schien zu warten, ging ihr abwesend auf.
Und sanft erkannte sie den getrockneten Umriss des Biers auf seinem hellblauen
Hemd, was sie über ihn verschüttet hatte. Sie nahm alles rasend schnell auf. Er
hatte die Ärmel hochgekrempelt, an seinem rechten Handgelenk trug er ein
Lederarmband, eine wellige Strähne hing vor seinem Auge, und sie antwortete ihm
tatsächlich. Denn… es stimmte nicht.
„Ach
nein?“, entkam es ihr sehr heiser, und er blinzelte fast ein wenig überrascht,
als wäre er selber abwesend und würde nicht damit rechnen, dass sie noch
sprechen würde.
„Was?“,
entgegnete er, beinahe atemlos.
„Wenn ich
deine Aufmerksamkeit nicht habe, warum bist du dann noch hier?“ Sie konnte
nicht wirklich glauben, dass sie noch immer auf zwei Beinen vor ihm stand, bei
Bewusstsein war, und dass ihr Mund noch immer Fragen stellen konnte.
Irgendetwas ging in ihrem Inneren vor, was sie nicht ganz zuordnen konnte, und
sein Mund öffnete sich einen Millimeter weit und kurz wirkte er überrumpelt.
Sein Blick flog über ihr Gesicht, und ihr Atem ging mit einem Mal flacher.
Sie spürte
sogar die Wärme seines Körpers.
Und sie
hatte keine Ahnung, woher ihr Mut kam. Sie wusste nicht, weshalb sie noch nicht
in Tränen ausgebrochen war, denn er war nicht nett. Er war wirklich einfach nur
furchtbar.
Unwillkürlich
stockte ihr Atem, als sein Blick auf ihren Mund gefallen war. Sie merkte es
alleine deshalb, weil er nicht mehr in ihre Augen sah, mit diesem unangenehm
stechenden Blick. Sie bekam schreckliche Magenschmerzen. Es musste vom Bier
kommen, nahm sie an, denn plötzlich zog es heftig in ihrer Magengegend.
Ihre
Fingerspitzen kribbelten, als sein Blick sich langsam wieder hob, wieder auf
ihren traf, und überfordert öffnete sich ihr Mund, um zu atmen, um etwas zu
sagen, aber in der nächsten Sekunde detonierte ihr Gehirn, als sein Kopf sich
senkte und sein Körper den Abstand zu ihr schloss.
Seine Lippen
verschlossen ihre, und es war als wäre alles still geworden. Sie hörte nur noch
ihren eigenen Herzschlag in ihren Ohren.
Noch immer
hielt sie den Atem an, während sich ihre Augen vor Schreck fest geschlossen
hatten, als wäre es nur ein Traum. Dann hoben sich seine Hände, und erschrocken
atmete sie durch die Nase ein, als sie spürte, wie sich seine warmen Finger, um
ihren Nacken schlangen, ihren Kopf weiter nach hinten neigten, und eine
Gänsehaut jagte ihren kompletten Körper entlang.
Erinnerungen
schossen wie Blitze durch ihren Geist. Max Schwerdtfeger war der erste – und
einzige – Junge, der sie geküsst hatte. Und das war in der siebten Klasse nach
der Schule auf dem Schulhof gewesen, weil sie eine Wette verloren hatte. Und
der Preis war ein Kuss gewesen. Und er hatte seine Augen geöffnet, hatte
unangenehm feuchte Lippen gehabt, und…-
Es war
absolut kein Vergleich hierzu!
Der
Flaschenhals entglitt ihren Händen, selbst ihre Tasche rutschte ihren Arm
hinab, und ihre Hände hoben sich automatisch, berührten seine bloßen Unterarme,
aber anstatt ihn von sich zu schieben, lagen ihre Finger nutzlos auf seiner
Haut. Sensationen jagten durch ihren Körper, und war
sie vorhin noch müde und angetrunken gewesen – so war sie jetzt hellwach!
Und
blinzelnd öffneten sich ihre Augen, als er ihre Lippen mit seinen öffnete, sie
teilte, und seine Zunge sich einfach so in ihren Mund schob.
Oh Gott!
Alina hatte
es ihr erklärt. Kaya hatte davon gehört. Aber es war völlig anders, als sie
gedacht hatte! Was sollte sie machen? Wie war es möglich, dass… er das tat?!
Seine Hände
fielen von ihrem Nacken, und schon lagen sie fest auf ihrer Hüfte, und sie
fühlte sich an den Reitunterricht erinnert, wenn er ihr beim Absitzen half,
und-
Wieder
stockte ihr Atem, denn fest zog er ihren Körper an seinen, und Kaya wurde sehr
kurz schwindelig bei dem Gefühl, was sie erfasste. Es war wie… wie in der
Achterbahn, wenn es steil nach unten ging. Ihre Augen schlossen sich
automatisch, sie schnappte nach Luft, und seine Zunge traf auf ihre, massierte
sie, zog sich wieder zurück, und bevor sie überhaupt begriff, was sie zu tun
hatte, begegnete sie seinem Kuss, und ihre Zunge reagierte, ohne dass Kayas es
beschreiben könnte. Ihre Hände ruhten mittlerweile auf seinen Schultern,
griffen fast hart in den Stoff seines Hemdes.
Er
schmeckte nach… Bier und… etwas anderem, etwas eigenem. Sein Duft war
übermächtig, und sie glaubte nicht, dass sie ihn jemals loswerden würde, und
plötzlich zog er sich zurück, und sie stürzte praktisch in die Realität zurück.
Sie hätte wahrscheinlich niemals die nüchterne Idee gehabt, einfach aufzuhören.
Ihre Sinne waren noch immer viel zu gefangen von seiner Nähe, und noch immer
spürte sie den Druck seiner warmen Lippen auf ihren.
Die
Geräusche der Party füllten wieder ihre Ohren, ihr Puls raste, und mit offenem
Mund musste sie atmen, sah ihn mit weiten Augen an und musste den Kopf
praktisch in den Nacken legen, so nah stand er noch vor ihr.
Sie hatte
das Gefühl, das Grün seiner Iris hatte sich verdunkelt. Aber es war sowieso zu
dunkel hier draußen, um das noch zu erkennen. Sie fühlte sich mit einem Mal
völlig schutzlos und absolut verwundbar. Er musste wissen, dass sie noch nie
einen Jungen geküsst hatte! Wahrscheinlich hatte sie sich grenzenlos dumm
angestellt – aber selbst wenn! Ihn hatte sie… auch gar nicht küssen wollen! Oh
je…. Sie spürte die Hitze in ihren Wangen. Ihr ganzer Körper stand in Flammen,
hatte sie das Gefühl. War das normal? War jeder erster Kuss so? Ach, was würde
sie geben, wenn doch Alina hier wäre!
Es
vergingen mehr Sekunden, als sie hätte zählen können. Mehr Sekunden als
überhaupt nötig waren, hatte sie das ungute Gefühl. Wie viele Sekunden brauchte
man, um jemanden von sich zu schieben und abzuhauen, fragte sie sich
unwillkürlich. Fünf? Vielleicht zehn? Aber fairerweise musste sie zugeben, sie
hatte sich noch keinen Millimeter bewegt.
Ihre Brust
hob und senkte sich abgehackt, und sie konnte ihn nur ansehen.
Und er war
derjenige, der sprach. Er war es schließlich auch, der den Kuss beendet hatte.
„Das…“,
begann er rau, und der Klang seiner Stimme allein, reichte, um ihren Herzschlag
zu beschleunigen, „war ein blöder Fehler“, entfuhr es ihm heiser, und seine
Hände übten keinen Druck mehr aus, verließen ihre Taille, und er fuhr sich
abwesend durch die Haare, zog sein Hemd gerade, während Kaya froh war, dass der
Heuballen in ihrem Rücken ihr Gewicht hielt.
Und was?!
Es war ein blöder Fehler? Ja, das stimmte! Aber wenn, dann müsste sie das
sagen. Ganz bestimmt nicht er! Er war es doch gewesen, der überhaupt näher
gekommen war! „Wäre super, wenn du es keinem sagen würdest“, ergänzte er, fast
schon mit neutraler Stimme, während Kayas Mund sich vor Überraschung und
Unfähigkeit schloss. Er sah sich um, wollte sich wohl vergewissern, dass sie
niemand beobachtete hatte, aber Kaya konnte sich darum gerade keine Gedanken
machen.
Sag was.
Irgendetwas Schlagfertiges. Irgendetwas, Kaya, ermahnte ihr Verstand sie, und
Kaya schluckte schwer.
„Ok“, war
alles, was sie hervorbringen konnte. Und nein! Sie sollte lieber so was sagen,
wie, dass sie sowieso nicht wollte, dass irgendjemand hiervon erfuhr! Vor allem
nicht Tom! Und auch nicht Vanessa! Aber ihr Mund sprach nicht mehr.
Er schien
sich sichtlich unwohl zu fühlen, mit ihr alleine, hinter dem Heuballen. Kayas
Herz sank immer tiefer in ihrer Brust. Und sie bekam noch ein halbherziges
Kopfrucken von ihm, ehe er mit schnellen Schritten verschwand.
Sie war so
eine dumme Gans! Der Gedanke erschlug sie in diesem Moment mit aller Macht.
Und endlich
– endlich – reagierten ihre Gliedmaßen wieder! Sie hatte keine Lust mehr, zu
warten, dass Vanessa wiederkam. Sie wollte niemanden mehr sehen und sich
einfach nur noch in Grund und Boden schämen, dafür, so dumm und wortkarg zu
sein! Sie bückte sich nach ihrer Handtasche und nach kurzem Zögern auch nach
dem halbvollen Likör.
Am besten
vergaß sie alles, so schnell sie konnte – und wenn sie eins von den
Theaterkollegen ihrer Mutter gelernt hatte, dann, dass man schlimme Dinge mit
Alkohol am besten verdrängen konnte! Sie entfernte sich mit schnellen
Schritten, lief neben dem Feld her, auf dem sich das Mädchen namens Tina
übergeben hatte und lief nur noch schneller, bis sie die Geräusche der Party
nicht mehr hören konnte.
Vor ihr lag
die weitere Dorfstraße. Alle Häuser lagen dunkel und verschlafen in völliger
Stille. Sie bog in eine Gasse ein, und nach wenigen Häusern gelangte sie hier
an das Ende der Dorfbebauung, und weites Feld erstreckte sich vor ihr.
Es rauschte
im lauen Nachtwind, und Kaya erlaubte sich endlich, stehen zu bleiben, und
auszuatmen.
Sie sank
völlig überfordert auf die letzte Bank vor dem Feld, die ‚Sonnenbank‘ hieß, wie
sie im Dunkeln erkennen konnte. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen. Noch
immer waren ihre Wangen glühend heiß, und noch immer konnte sie ihn an sich
riechen. Wie blöd sie war! Sie drehte den Deckel der Flasche ab und nahm einen
tiefen Schluck von dem lauwarmen ekligen Zeug, was auch noch in der Kehle
brannte.
Sie hatte
sich noch nie so sehr geschämt!
–
Besuch –
Alles
drehte sich.
Einfach
alles drehte sich.
Laute
Motorengeräusche vor dem Haus hatten sie aus dem unruhigen Schlaf gerissen. Die
Sonne tat weh in ihren Augen, und absolut alles drehte sich.
Ihr Handy
vibrierte in die Stille hinein, ehe wohl der Akku aufgab und das Surren
unterbrach, was Kaya nur recht war, denn… alles drehte sich!
Es war ihr
allererster Kater, und sie hatte keine Ahnung, wann sie überhaupt wieder zum
Gästehaus gegangen war?!
Sie hatte
keine Ahnung, wo oben und unten war. Sie wusste nur, ihr tat alles weh. Ihr
Kopf, ihr Magen, selbst ihre Haare taten weh, als sie den Kopf drehte,
versuchte, ihn im Kissen zu vergraben, aber sofort wurde ihr noch schlechter.
Sie konnte
nur eine wichtige Abwägung in ihrem Kopf treffen – übergeben oder nicht
übergeben?
Wenn sie
sich übergeben wollte, musste sie aufstehen, ins Bad gehen und sich vors Klo
knien. Wenn sie das nicht wollte, dann musste sie für immer hier liegen
bleiben. Liegen bleiben klang nach einer besseren Alternative. Vor allem spürte
sie den verdammten Muskelkater wieder.
Unten
wurden laute Gespräche geführt. Wie viel Zeit würde wohl vergehen, ehe Frau
Ohlkamp hochkam, um nach ihr zu sehen?
Kaya
schloss die Augen wieder, versuchte, sich davon abzulenken, wie schlecht ihr
war, und nach hundert Minuten, so kam es ihr vor, driftete sie wieder ab, in
einen sehr unruhigen Schlaf. Sie träumte von Heuballen, Likörflaschen, die
hinter ihr herrollten, und sie träumte von Händen auf ihrer Hüfte, von Lippen
auf ihrem Mund, von –
„-Kaya?
Bist du wach?“
Es hatte
sanft geklopft, und die Sonne strahlte nun vollends in ihr Zimmer, als ihre
Augen aufflogen. Die Tür hatte sich einen Spalt geöffnet. Frau Ohlkamp lehnte
im Türspalt, spähte in ihr Zimmer. „Kaya, alles in Ordnung bei dir?“,
erkundigte sich die Frau wohl ernsthaft besorgt.
Kaya
versuchte, sich zu orientieren. Sie blinzelte mehrfach, und immerhin war das
Bedürfnis verschwunden, sich direkt zu übergeben. Ein leises Klingen war in
ihren Ohren verblieben, und ihr Kopfschmerz war auf ein Mindestmaß
zurückgegangen.
„Kaya?“,
sagte Frau Ohlkamp wieder, und mit aller Macht rieb sich Kaya die Augen und
stützte sich auf die Ellenbogen.
„Morgen,
Frau Ohlkamp“, murmelte sie verkatert. Frau Ohlkamp runzelte die Stirn.
„Morgen? Es
ist nach zwölf, Kaya. Zeit, zum Aufstehen. Du hast Besuch unten“, fuhr sie fast
geheimnisvoll fort.
„Besuch?“,
entfuhr es ihr tonlos.
„Ja,
Besuch“, bestätigte Frau Ohlkamp, wieder besorgt.
Und ihr
allererster, absolut dummer, Gedanke war, dass es der Reitlehrer sein musste.
Und dieser
Gedanke stahl sich in ihren müden Geist, bevor sie sich überhaupt wieder an den
peinlichen Kuss erinnerte. Hitze stieg übergangslos in ihre Wangen, und sie
setzte sich auf. Ihr Kopf protestierte kurz, bei dieser abrupten Bewegung, aber
Frau Ohlkamp schien es auszureichen, um wieder zu verschwinden, mit einem
letzten tadelnden Blick.
War es
Leonard? Und ihr Verstand dachte zum allerersten Mal seinen Namen, schlang sich
praktisch um das neue, unbekannte Wort, und es hallte in ihrem Hinterkopf nach.
Leonard….
Wer sollte
es sonst sein? War es Vanessa? Die wissen wollte, weshalb Kaya abgehauen war?
Das war wahrscheinlicher, oder nicht?
Und das
Adrenalin verscheuchte die Schmerzen in ihrem Kopf allmählich, als sie im Bad
verschwand und feststellte, sie hatte sich nicht abgeschminkt.
Sie band
sich die wirren Haare zurück und ließ Wasser in ihre hohlen Hände laufen, um
ihr Gesicht zu waschen. Ungefähr eintausend Mal wiederholte sie die Bewegung,
und langsam aber sicher, kühlte sich ihr Gesicht wieder ab. Das kühle Nass tat
ihr gut, und irgendwann sah sie wieder normal aus. Sie band sich die Haare zu
einem hohen Zopf, denn sie waren einfach nur unordentlich und schlapp.
Sie putzte
die Zähne, genoss den frischen Duft der Zahnpasta und zog anschließend ihr
Schlafshirt aus, um Katzenwäsche zu betreiben. Die Dusche war zu kompliziert
heute Morgen. Oder heute Mittag. Und jetzt knurrte ihr Magen verhalten, wenn
auch nicht wirklich hungrig. Wieder drüben zog sie die weite Hotpants aus der
Tasche, die sie wirklich nur für gutes Wetter eingepackt hatte, aber scheinbar
gab es hier nur gutes Wetter. Ihre Beine waren noch glatt und die frische Brise
um die Haut tat ihr gut.
Sie
entschied sich für ein Trägershirt, einfach weil weniger Kleidung ihren Körper
besser kühlte. Vor allem, wenn sie gleich Vanessa Rede und Antwort stehen
musste. Geistesgegenwärtig schloss sie ihr Handy noch an den Strom, ehe sie das
Zimmer in Vanessas Ballerinas verließ.
Langsam überwand
sie die Stufen, gähnte noch einmal herzhaft, und im Saal aßen bereits Gäste zum
Mittag. Kaya sah sich um, und entdeckte Frau Ohlkamp, die mit einem Tablett
zurückkam.
„Da bist du
ja. Ich habe dir Wasser und Frühstück nach draußen gestellt. Dort wartet dein
Besuch“, sagte die Frau und klang fast ein wenig schuldbewusst.
„Danke“,
erwiderte Kaya und spähte durch die Fenster nach draußen, konnte aber Vanessa
nicht entdecken. Sie durchquerte den Saal, ehe sie durch die geöffneten Türen
nach draußen auf die Veranda trat, wo ebenfalls einige Tische gedeckt waren und
sich Leute unterhielten. Wahrscheinlich Leute aus dem Dorf.
Kaya
erkannte auf den ersten Blick niemanden. Niemand schien jünger als vierzig zu
sein.
Ihre Stirn
runzelte sich langsam. Wo war Vanessa?
Ein Mann
sah sie an. An diesem Tisch war für drei gedeckt, aber er war allein. Und er
sah sie noch immer an.
Und das
heiße Gefühl überrollte ihren Magen so schnell, dass ihr praktisch wieder
schlecht wurde. War das…? Konnte das…?!
Ihre Schultern
sanken entgeistert, und langsam öffnete sich ihr Mund.
Er sah
anders aus. Seine Haare waren kürzer als sie in Erinnerung gehabt hatte. Neben
seinem Stuhl lag ein schwarzer Motorradhelm, und er trug eine schwarze
Lederhose. Darüber ein weißes, relativ enges Shirt. Hard Rock Café New York
stand auf der Brust.
Und
vorsichtig kam sie näher. Unsicher und vollkommen überfordert. War er wirklich
hier?
„Hey,
Kaya“, begrüßte er sie, als sie vor dem Tisch stehen blieb. Seine Augen waren
blau. Seine Zähne waren weiß. Und er erinnerte sie tatsächlich an seinen Vater.
Sie erkannte seine Stimme von den Telefonaten wieder, und doch klang sie
persönlich ganz anders.
„Oliver“,
erwiderte sie kleinlaut.
„Setz
dich“, forderte er sie ruhig auf, und sie widersprach nicht, folgte den Worten
und setzte sich. Er sagte gar nichts mehr, schwieg beharrlich, während ihr
auffiel, was für einen Durst sie hatte. Das letzte Gespräch zwischen ihnen, war
nicht gut ausgegangen.
Und es war
alles andere als gut, dass er jetzt hier war.
Aber sie
kippte mit der Wasserkaraffe ihr Glas randvoll und trank es in großen Zügen
leer, nur um es noch mal aufzufüllen. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Eine
leere Tasse Kaffee stand vor ihm. Seit wann war er hier?
„Frau
Ohlkamp sagte mir, du warst gestern spät zuhause?“, begann er scheinbar ein
Gespräch, fast unverfänglich.
„Mh“,
machte sie, während sie auch das zweite Glas leerte. Dann setzte sie es ab. „Scheunenfest“, antwortete sie, ohne ihn
anzusehen.
„Du bist…
groß geworden“, schien er schließlich festzustellen. „Du siehst aus wie deine
Mutter“, schloss er, fast überrascht.
„Tu ich
nicht“, erwiderte sie direkt, denn sie fand, das tat sie nicht. „Mama hat…
Locken“, murmelte sie beschämt. „Hast du mit ihr gesprochen?“, kam ihre größte
Sorge über ihre Lippen und sie sah ihn zum ersten Mal an. Kurz hielt er ihrem
Blick stand, ehe er schließlich seufzte und den Kopf schüttelte.
„Nein, habe
ich nicht“, erwiderte er nach einer Weile. Und die angestaute Luft entwich
ihren Lungen.
„Nicht?“,
wiederholte sie tonlos.
„Nein“,
bestätigte er dann und sah sie wieder an. Und sie verschränkte unbewusst die
Arme vor der Brust.
„Und was
machst du hier?“, fragte sie anschließend, fast abwehrend. „Ich komme nicht
mit!“, ergänzte sie sofort, falls er hier war, um sie mitzunehmen.
„Ich würde
dich auch nicht drei Stunden auf dem Motorrad mit nach Berlin nehmen“,
entgegnete er mit erhobener Augenbraue.
„Nicht?“,
entkam es ihr unsicher. Er schüttelte den Kopf. „Du… kamst von München mit dem
Motorrad?“, bemerkte sie dann, und er ruckte mit dem Kopf.
„Wir machen
eine kleine Tour und bleiben ein paar Tage hier“, sagte er dann.
„Wir?“,
fragte ihr Mund schneller, als ihr Gehirn sie hätte abhalten können.
„Peter und
ich“, antwortete er fast bereitwillig. Peter. War das sein Freund? Sie nahm es
an. Musste sie fragen? Nein, musste sie nicht. Sie nickte verschlossen.
„Ok?“,
erwiderte sie, aber es verließ als Frage ihren Mund. Sie sah sich trotzdem um.
„Wo ist… Peter?“, wollte sie dann doch wissen.
„Er
vertritt sich die Beine, sieht sich um. Er kennt Hamburg nicht“, bemerkte
Oliver.
„Oh.“ Kaya
biss sich auf die Lippe. War ihr Vater hier, um ein Auge auf sie zu haben?
„Wart ihr… auf dem Gestüt?“ Und auch diese Frage bereute sie fast wieder. Sein Mund
verzog sich bitter.
„Nein. Wir
hatten mit dem ersten Anlauf hier Glück gehabt. Und ich habe auch nicht vor,
dorthin zu gehen.“
Und sie
musste fragen.
„Warum bist
du dann hier?“
Er atmete
lange aus. „Ich hatte noch Urlaubstage, die fällig waren, Kaya. Und wenn du mir
nicht erlaubst, deiner Mutter zu sagen, wo du bist, dann sehe ich es zumindest
als meine Pflicht, herzukommen und zu sehen, ob alles in Ordnung ist.“
Fast
rührten diese Worte etwas in ihr. Und sie fragte, bevor sie nachgedacht hatte.
„Wie lange
bleibst du?“
Klang es
hoffnungsvoll? Sie hoffte nicht. Sie biss sich wieder gedankenverloren auf die
Lippe.
„Ein paar
Tage“, wiederholte er vage. Sie nickte nur. Sein Blick glitt wieder in die
Ferne, und er setzte sich gerade auf. Kaya folgte seinem Blick. Ein Mann hatte
scheinbar den See umrundet. Er war groß gewachsen, trug ebenfalls eine
Lederhose, hatte etwas längere Haare als ihr Vater und eine leicht krumme Nase.
Seine Mundwinkel hoben sich, als er näher kam.
„Ist das
die junge Dame?“, wollte er wissen, und der Münchner Akzent war unschwer zu
erahnen, stellte Kaya fest.
„Das ist
Kaya. Kaya, das ist mein Freund Peter“, sagte Oliver schließlich, und Kaya
erhob sich unwillkürlich. Der Mann streckte ihr freundlich die große Hand
entgegen, und unbeholfen schüttelte Kaya die warme Hand.
„Hallo“,
erwiderte sie scheu.
„Darf
ich?“, fragte der Mann freundlich, deutete auf den Tisch, und Kaya wollte schon
sagen, dass er bestimmt mehr Recht hatte, hier zu sitzen, als sie. Aber sie
nickte nur und setzte sich, als der Mann es tat und sich streckte.
„Schön
hier!“, sagte er lächelnd. „Na, wohnst du hier?“, rief er, als Balu auf ihn
zugehechelt kam. Er streichelte den Hund, der sich neben ihn fallen ließ. „Wie
kann man hier wegziehen?“, wandte er sich ungläubig direkt an Oliver.
„Man kann“,
war alles, was er bitter antwortete, und Frau Ohlkamp unterbrach den Moment,
indem sie sich vor den Tisch stellte.
„Alles in
Ordnung hier? Kann ich den Herren noch was bringen? Kaya, bitte iss etwas!“, ermahnte
die Frau sie, und Kaya griff artig nach dem Brötchen.
„Wasser,
bitte“, sagte Peter lächelnd. „Und vielleicht eine Kleinigkeit zu essen?“
Auffordernd wandte er sich an Oliver. Dieser nickte unwirsch. „Was können Sie
empfehlen?“
Und Kaya
wusste nicht, warum, aber Peter hatte eine angenehme Art. Sie verzog unbemerkt
den Mund. Wie sollte sie so jemanden nicht leiden können? Sie würde es
versuchen müssen. Ihrer Mutter zuliebe.
Frau
Ohlkamp zählte auswendig die Tageskarte auf, und Peter entschied sich für
Omelette. Ihr Vater wollte nichts, und Kaya wurde von Frau Ohlkamp überredet,
noch eine Kleinigkeit zu essen.
Während sie
warteten trat wieder eine schreckliche Stille ein.
„Oliver
sagt, du lernst reiten hier?“, wollte Peter plötzlich mit wachem Interesse
wissen. Kaya hob schuldbewusst den Blick.
„Na ja, ich
versuche es“, räumte sie ein, versuchte, so wortkarg wie möglich zu antworten.
„Ganz der
Vater?“, vermutete er zwinkernd, während sie Oliver einen Seitenblick zuwarf.
Er schien sich an diesem Gespräch nicht beteiligen zu wollen. Und auch Peter
merkte, dass er wohl auf Granit biss. „Hör mal, Kaya, du kannst du uns
jederzeit besuchen kommen“, ergänzte er nun ernster. „Wirklich. Wir zahlen dir
die Fahrt“, fuhr er bestimmt fort, und Oliver wandte wieder den Blick.
Taten sie
das? Kaya und Oliver schienen gleichermaßen überrascht.
„Ich meine,
wann habt ihr euch überhaupt das letzte Mal gesehen? Oliver erzählt mir, ihr
telefoniert alle paar Wochen?“
Das stimmte
wohl. Kaya nickte nur. „Ja“, sagte sie dann unsicher.
„Versprich
mir bitte, dass du uns besuchen kommst, ja?“ Peter sah sie so warm an, dass es
Kaya völlig unangenehm war.
„Mhm“,
machte sie ausweichend, denn es war ihr peinlich.
„Mein Gott,
dass du schon eine richtige junge Dame als Tochter hast, konnte ich mir
überhaupt nicht vorstellen. Machst du gerade Abitur?“, fuhr er das einseitige
Gespräch fort, ohne zu merken, dass Kaya vielleicht nicht der beste
Gesprächspartner war.
„Nächstes
Jahr. Wahrscheinlich“, ergänzte sie nachdenklich.
„Und
dann?“, überging Peter ihre Unsicherheit, und Kaya hob überrascht den Blick.
„Und
dann?“, wiederholte sie etwas ratlos, aber Peter nickte.
„Ich meine,
deine Eltern sind wohl nicht die besten Beispiele, aber du könntest studieren,
wenn dir Theater und Gesang nicht liegen?“, schlug er vor, während Oliver ihm
seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte. Peter stellte Kaya Fragen, die weder ihr
Vater, noch ihre Mutter gestellt hatten.
„Ich
glaube… nicht, dass ich es mir leisten kann, studieren zu gehen“, schloss sie
achselzuckend und hielt nach Frau Ohlkamp Ausschau.
„Es gibt
Studienkredite“, sagte er lediglich. „Vielleicht eine Ausbildung?“, fuhr er
fort.
„Es gibt
nichts, worin ich gut bin“, entfuhr es Kaya fast teilnahmslos. Und Peter musste
lächeln.
„Das, meine
Liebe, glaube ich nicht.“ Er ließ die Worte im Raum stehen, ohne sie zu
erläutern, und Kaya dachte unwillkürlich nach. Worin war sie gut? Heimlich
abhauen und reiten lernen, gehörten wohl nicht zu
ihren Stärken, denn sie war eine grauenhafte Schülerin und wurde auch noch von
ihrem Vater und seinem Freund gefunden. „Wenn du machen könntest, was du
wolltest, was würdest du tun?“, hakte Peter unbeeindruckt nach, und Kaya biss
sich auf die Lippe, während sie nachdachte.
Und das
einzige, was ihr tatsächlich irgendwie Spaß machte, wenn sie darüber
nachdachte, war wohl ansatzweise das, was Dr. Schmidt machte. Er half Tieren.
Und siedend
heiß fiel ihr wieder ein, dass sie die Stute noch retten musste! Es war
Samstag. Und es wurde langsam Zeit. Sie musste mit Frau Ohlkamp sprechen! Und
zwar sofort!
„Entschuldigt
mich kurz, ja?“, verabschiedete sie sich wortkarg von den beiden und erhob
sich.
„Alles in
Ordnung?“, vergewisserte sich Peter überrascht, und Kaya nickte unwirsch.
„Ja, ich…
habe etwas vergessen! Bin… gleich wieder da“, machte sie ein vages Versprechen,
verließ den Tisch und verschwand im angenehm kühlen Gästehaus.
Und Frau
Ohlkamp war gerade an anderen Tischen beschäftigt. Sie haderte mit sich. War es
wirklich die beste Taktik, einfach mit so etwas um die Ecke zu kommen?
„Kaya!“
Herr Ohlkamp rief sie aus der Kaminecke zu sich. Und erst mal ging Kaya zu ihm.
„Hallo,
Herr Ohlkamp“, begrüßte sie ihn müde.
„Na? Wie
war dein Scheunenfest?“, wollte er mit erhobenen Augenbrauen von ihr wissen. Sie
verdrehte die Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Nicht der
Rede wert. Ich hätte hier bleiben sollen“, murmelte sie kopfschüttelnd. Und
dann lehnte er sich näher zu ihr. Sein Bart wirkte heute besonders buschig.
„Und die
Herren da draußen?“, fuhr leise fort. „Man munkelt, einer wäre dein Vater?“,
flüsterte er fast, und Kaya ruckte mit dem Kopf.
„Ja. Der…
mit den kürzeren Haaren“, erwiderte sie leise. Und Herr Ohlkamp nickte
zufrieden.
„Na, das
habe ich mir gedacht“, bemerkte er, und seine Mundwinkel zuckten, während er
die Zeitung zusammenfaltete. „Ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen,
Kaya“, ergänzte er lächelnd und schwerfällig erhob er sich aus dem Sessel. Kaya
folgte ihm, halb neugierig, halb unsicher. Herr Ohlkamp hatte sich seinen Stock
gegriffen und war draußen angekommen, stützte sich halb lehnend auf den Stock
und fasste ihren Vater prüfend ins Auge.
Kaya lehnte
in der Tür nach draußen und beobachtete Herrn Ohlkamp.
„Mein
Junge“, begann Herr Ohlkamp tadelnd, „wir müssen noch ein Gespräch führen!“,
sagte er dann. Und zuerst wirkte ihr Vater mehr als verwirrt. Dann glätteten
sich die Falten auf seiner Stirn, und er erhob sich, während die anderen Gäste
ihm zusahen. Und langsam kam ihr Vater auf Herrn Ohlkamp zu.
Und langsam
trat ein Lächeln auf das Gesicht ihres Vaters.
„Onkel
Bernd, das mit den Äpfeln war nicht meine Schuld“, beteuerte er schließlich,
mit erhobenen Armen. Und auch Herr Ohlkamp lächelte plötzlich, und Kaya sah
dieser Szene mit großen Augen zu.
„Lausejunge“,
brummte Herr Ohlkamp kopfschüttelnd, und dann zog er ihren Vater für eine kurze
Umarmung an die Brust. Ihr Vater lachte tatsächlich dabei und zog sich wieder
zurück. Herr Ohlkamp betrachtete ihn.
„Du bist
mit dem Motorrad hier? Sind Motorräder die neuen Pferde?“, wollte er spöttisch
wissen, und ihr Vater nickte wissen.
„Oh ja,
Onkel Bernd. Sauberer und viel schneller als jedes Pferd“, bestätigte er
grinsend.
„Deine
Tochter hat uns hier ziemlich überrascht“, fuhr Herr Ohlkamp fort und nickte in
ihre Richtung.
„Ja, das
glaube ich“, bemerkte ihr Vater wieder ernster. Herr Ohlkamp fasste Peter ins
Auge.
„Und wer
ist dein Begleiter?“
Peter erhob
sich direkt und kam auf Herrn Ohlkamp zu. Kaya stand noch immer im Türrahmen.
„Das ist mein
Freund, Peter Baumeister“, stellte er ihn vor. Peter schüttelte Herrn Ohlkamp
die Hand.
„Willkommen
bei uns in der Seebank“, begrüßte Herr Ohlkamp ihn ruppig, aber freundlich. Und
wieder trat Stille ein. Und Kaya nutzte ihre Chance.
„Herr
Ohlkamp?“, unterbrach sie die Stille vorsichtig, und zufrieden wandte sich der
Mann um.
„Ja, Kaya?“
„Ich… habe
ein Problem“, räumte sie ihn.
„Was für
ein Problem?“, mischte sich Oliver sofort ein, aber sie verzog den Mund.
„Eines, was
ich gerne mit Herrn Ohlkamp besprechen würde.“ Und Ihr Vater wirkte nicht
zufrieden mit dieser Antwort.
„Aber
sicher“, unterbrach Herr Ohlkamp den angespannten Moment zwischen ihr und
Oliver. „Komm, wir gehen ein Stück“, forderte er sie auf. Dankbar folgte ihm
Kaya.
Als sie
außer Hörweite waren, atmete sie aus.
„Wie kann
ich dir helfen?“, wollte er lächelnd wissen.
„Herr
Ohlkamp, mein Großvater hat ein Pferd“, begann sie zögernd.
„Ich
glaube, er hat mehrere Dutzend Pferde“, vermutete Herr Ohlkamp neutral.
„Ja“, bestätigte
sie, „aber eines davon will er töten lassen. Und…“ Und sie überlegte, wie sie
es angehen sollte. „Das nur, weil es ein klein wenig depressiv ist“, fuhr sie
unschlüssig fort. Herr Ohlkamp runzelte die Stirn. „Und… ich würde es gerne
wieder gesund machen. Mit Dr. Schmidts Hilfe“, ergänzte sie, auch wenn das ein
wenig ins Blaue geraten war. „Aber dafür bräuchten wir eine Unterkunft“,
schloss sie dann mit einem flehenden Blick. „Und sie haben doch die alten
Stallungen da hinten“, ergänzte sie eilig. „Und… ich würde für das Futter
aufkommen! Irgendwie!“, schloss sie hastig.
Herr
Ohlkamp atmete langsam aus und stützte sich gedankenverloren auf seinen Stock.
„Du willst
ein Pferd retten?“, fasste er ihre Worte zusammen. „Und du willst es hier
unterstellen?“
Kaya nickte
und biss sich erwartungsvoll auf die Lippe.
„Ich weiß
nicht, Kaya.“ Er entzog sich ihrem Blick.
„Bitte,
Herr Ohlkamp!“, flehte sie. „Es wäre nur für ein paar Wochen“, versprach sie
blind. „Und wenn Dr. Schmidt und ich es geheilt haben, dann kann es zurück auf
das Gestüt!“, beteuerte sie.
„Was sagt
meine Frau dazu?“, wollte er unentschlossen wissen.
„Ich…habe
sie noch nicht gefragt“, gestand Kaya ein. „Ich… will nur nicht, dass ein
unschuldiges Tier stirbt, weil niemand die Zeit hat, ein bisschen nett zu ihm
zu sein“, sagte sie stiller.
Herr
Ohlkamp brummte in seinen Bart und räusperte sich dann.
„Na, wenn Monika sagt, dass du es unterstellen darfst, dann… dann hol es her“,
murmelte er und wurde etwas rot unter seinem Bart. Kaya strahlte über das ganze
Gesicht.
„Oh danke,
Herr Ohlkamp! Ich frage sie sofort!“, rief sie aus, und umarmte Herrn Ohlkamp
kurz, aber dafür heftig, denn sie konnte gar nicht anders. Sie hastete zurück
zum Gasthaus, und Frau Ohlkamp kam gerade mit den Tellern zurück an ihren
Tisch.
„Frau
Ohlkamp!“, rief sie außer Atem. Die Frau sah sie besorgt an.
„Was ist, Kaya?“, wollte sie vorsichtig wissen.
Sie lehnte
sich näher zu ihr, denn sie wollte nicht, dass die Männer sie hörten.
„Frau
Ohlkamp, ich habe mit Herrn Ohlkamp gesprochen, und… er sagt, ich dürfte ein
armes, krankes Pferd retten, was mein Großvater umbringen will, und hier für
ein paar Wochen unterstellen und mit Dr. Schmidt wieder gesund machen, wenn Sie
es erlauben“, flüsterte sie, und sie wusste, es war wahrscheinlich gemein, den
einen gegen den anderen auszuspielen, aber sie wollte es wieder gut machen,
sobald sie konnte.
Frau
Ohlkamp sah sie überrumpelt an. „Für Futter werde ich sorgen! Ich suche mir
noch einen Job im Dorf, vielleicht beim Bauern, aber… ich will nicht, dass es
sterben muss! Es ist wirklich lieb!“, beteuerte Kaya. „Und in ein paar Wochen
bringe ich es meinem Großvater wieder“, versprach sie erneut. Und Frau Ohlkamp
wirkte gequält.
„Ein Pferd
unterstellen? Weiß dein Großvater davon?“, wollte sie probehalber wissen. Kaya
ruckte mit dem Kopf.
„Es ist ihm
ohnehin im Weg. Und es ist aber ein zu liebes Tier, als dass es sterben muss“,
sagte sie ernster.
Und Frau
Ohlkamp wandte den Blick zu ihrem Mann in die Ferne. Sie verzog den Mund.
„Kaya-“,
begann Frau Ohlkamp kopfschüttelnd, aber Kaya setzte einen so flehenden
Ausdruck auf, wie sonst nur, wenn sie ihrer Mutter versicherte, dass sie drei
Wochen den Hausputz übernehmen würde, wenn sie nur nicht das Wochenende bei
einem der Theaterkollegen ihrer Mutter sein müsste, wenn diese mal wieder mit
dem Wandernden Theater Werbung machen ging, um ein wenig Extrageld zu
verdienen.
„-ich
verspreche, Sie werden es überhaupt nicht bemerken, Frau Ohlkamp! Es wird
praktisch unsichtbar sein!“, versicherte sie mit großen Augen, und Frau
Ohlkamps ernster Ausdruck schmolz ein wenig.
„Ein paar
Wochen, Kaya!“, gab sie sich augenverdrehend geschlagen. „Ich werde mit Bernd
ein ernstes Wörtchen reden müssen“, murmelte sie und stellte die Teller ab.
„Danke,
Frau Ohlkamp!“, sagte Kaya glücklich und drückte auch Frau Ohlkamp an sich, die
die Umarmung seufzend erwiderte. Kaya ließ wieder von ihr ab. Frau Ohlkamp
unterdrückte das Lächeln.
„So, genug
jetzt. Jetzt wird erst mal gegessen, hörst du?“, ermahnte sie Kaya streng, und
Kaya setzte sich sofort und machte sich über das Omelette her, was Frau Ohlkamp
für sie ebenfalls gebracht hatte.
„Du willst
ein Pferd unterstellen?“, fragte ihr Vater direkt, denn er schien gelauscht zu
haben. Langsam hob sich Kayas Blick ertappt.
„Mhm“,
machte sie nur.
„Weiß er
das?“, wollte er direkt wissen, sehr ernst, mit einem Blick, der ihrer Mutter
Konkurrenz machen konnte.
„Ja“, log
sie kauend, ohne ihn anzusehen.
„Wirklich?“,
wollte ihr Vater ziemlich unbeeindruckt wissen.
„Ja?“,
wiederholte sie, mit weniger Nachdruck.
„Du bist
auf dem Gestüt nicht willkommen, aber ein Pferd lässt er dich mitnehmen und unterstellen?“,
erkundigte er sich glatt bei ihr, während Peter das Gespräch gespannt
verfolgte.
„Ja?“,
wiederholte sie kleinlaut.
„Du wirst
das Pferd stehlen?“, schloss er schließlich aus ihren Worten und trank ein
Schluck Wasser, ohne sie aus dem Blick zulassen, und sie seufzte auf.
„Ja“,
bestätigte sie zerknirscht.
„Dann
können wir direkt gucken, ob man mit dir Pferde stehlen kann, hm?“, bemerkte
Peter neben Oliver und stieß diesem prüfend in die Seite. Oliver sah ihn
schockiert an.
„Wir werden
kein Pferd stehlen“, entfuhr es ihm gepresst.
„Du musst
überhaupt gar nichts tun!“, beschwerte sich Kaya schlecht gelaunt. Und Oliver
schenkte ihr einen eindeutigen Blick.
„Weil ich
nicht dein Vater bin, meinen Mund halten soll, und Vivian darf kein Wort erfahren?“,
vermutete er bitter, wiederholte ihre Worte, und Kaya spürte, wie sie rot
wurde. „Kaya, du darfst kein Pferd stehlen“, schloss er leiser.
„Er will es
umbringen! Es ist nicht mal krank!“, erwiderte sie gepresst. „Wenn du mein
Vater wärst, dann würdest du mich unterstützen!“, entfuhr es ihr unbedacht, und
er lächelte freudlos.
„Du kannst
mich nicht erpressen, Kaya“, sagte er lediglich.
„Ich
dachte, du kannst deinen Vater nicht leiden, und wir sind hier, um zu sehen,
dass er deine Tochter gut behandelt, Oliver?“, merkte Peter gelassen an. Oliver
wirkte gereizt, als er Peter ansah. Und er wirkte ertappt. Kaya war mäßig
überrascht.
„Wenn Kaya
ein Pferd stehlen möchte, was sonst ohne Grund umgebracht wird, dann sollte man
ihr helfen, oder nicht?“, schlug er jetzt achselzuckend vor, und Oliver
schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ich werde
kein Pferd vom Gestüt meines Vaters stehlen! Bist du von allen guten Geistern
verlassen, Peter? Wir werden in unserem Urlaub noch verhaftet werden!“, knurrte
er praktisch.
„Er wird es
nicht merken. Der Tierarzt ist auf meiner Seite!“, versprach sie leise.
Ihr Vater
sah sie wieder an. „Dr. Schmidt ist auf der Seite deines Großvaters. Auf keiner
anderen, Kaya, täusch dich da nicht. Und ich verbiete dir, ein Pferd zu stehlen,
und die Gutgläubigkeit dieser Leute hier auszunutzen!“, brachte er gepresst
hervor.
„Dann
verpetz mich doch!“, erwiderte sie mutiger, als sie es war. Sie witterte sein
schlechtes Gewissen, und es gefiel ihr gut. „Ich werde es mit oder ohne deine Hilfe
tun“, ergänzte sie trotzig und schnitt betont gleichmütig ihr
Omelette. Sie sah Peters Lächeln aus den Augenwinkeln, und leider mochte sie
Peter schon jetzt. Auch Oliver musterte Peter kopfschüttelnd, der ebenfalls
unverfänglich aß.
„Unfassbar“,
murmelte Oliver mit verschränkten Armen, ohne Kaya noch einmal anzusehen.
„Stur wie
der Vater…“, murmelte Peter in sein Essen und erntete einen erneuten bösen
Blick.
–
Mädchenkram –
Kaya
lauschte Alinas Beschreibung. Alina hatte letztendlich doch Spaß an der Reise
gefunden. Sie beschrieb, wie grün das Meer war, wie warm und wie nett all die
Leute waren, die sie bisher kennengelernt hatte. Und irgendwie hatte Kaya es
nicht über sich gebracht, Alina von Leonard zu erzählen. Es war wie die Sache
mit Bastian. Als er versprochen hatte, er würde vorbei kommen. Irgendetwas
hatte Kaya davon abgehalten, es Alina zu sagen.
Sie wusste
nicht, was es war. War es die Distanz über das Telefon? Fühlte es sich falsch
an und nicht persönlich genug? Oder war es wieder etwas, was sie selber nicht
glauben konnte. Gut, bei Bastian hatte sie sich geirrt. Zwar war er zu ihr
gekommen, allerdings nur, um Alina für sich zu gewinnen. Jetzt, bei Leonard sah
es alles anders aus.
Aber…
wieder mal war es wohl eine Sache, die nicht wirklich gut für sie ausgegangen
war, oder? Sie hatte gehofft, Bastian käme zu ihr, weil er sie insgeheim
mochte, aber es hatte sich herausgestellt, alles, was er mochte, war Alina. Und
Leonard? Ihn hatte sie gar nicht auf ihrem Radar eingeordnet als jemanden, der
sie vielleicht mochte. Und tat er ja nicht mal! Ja, er hatte sie geküsst, aber
was hieß das bei Jungen schon? Sie war auch nicht Max Schwerdtfegers Freundin
geworden. Und sie wollte eigentlich auch gar nicht mehr an Leonard denken oder
an den blöden Kuss!
„Mhm“,
machte Kaya wieder einmal, als Alina sich vergewisserte, ob sie noch in der
Leitung war, ehe sie weiter schwärmte, von Delfinen und tropischen Inseln, der
Hitze und ihrer Sommerbräune.
Kaya sah
sich tatsächlich außerstande, Alina von dem Kuss zu erzählen. Sie schämte sich,
dass es passiert war. Und er hatte ihr ja auch noch gesagt, sie solle es nicht
weitererzählen. Als schäme er sich für sie, als wäre sie eine Peinlichkeit. Und
das störte sie.
Aber eine
Sache würde sie Alina erzählen müssen. Sie saß im gemähten Gras, direkt vor dem
See der Ohlkamps, während sie ab und an einige übrig gebliebene lange Halme
ausriss und ließ sie ins kühle Wasser gleiten ließ, wo sie träge auf der
Oberfläche trieben, wie winzige, grüne Boote.
„Alina?“,
sagte sie plötzlich, und Alina verstummte abrupt, denn wahrscheinlich erkannte
sie an Kayas Stimme, dass es um etwas Ernstes ging.
„Was ist
los?“, wollte Alina sofort wissen.
„Du, unsere
Geschichte ist aufgeflogen“, rückte sie nun mit der Sprache heraus. Kurz
herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.
„Was?“,
entfuhr es Alina dann schockiert. „Wie meinst du das? Gott, Kaya, sitzt du
bereits wieder im Zug nach Hause mit dem größten Hausarrest der Welt und lässt
mich hier von Palmen und Delfinen erzählen?“, wollte sie panisch wissen, aber
Kaya schüttelte den Kopf.
„Nein, ich
bin noch hier“, versicherte sie Alina dann. „Aber… mein Vater hat es
rausgefunden.“ Alina schwieg verblüfft. „Und er ist hier. Mit seinem Freund“,
fuhr Kaya leiser fort.
„Ach du
große Kacke“, flüsterte Alina völlig aufgelöst. „Und jetzt? Sagt er es deiner
Mama?“, war Alinas erste große Sorge.
„Nein, ich…
glaube nicht. Ich hoffe nicht!“, murmelte Kaya und schloss die Augen. Sie war
noch immer angeschlagen von ihrem fiesen Kater. „Er sagt, er will hier ein Auge
auf mich haben“, wiederholte sie Peters Worte.
„Oh?“ Alina
klang so verwundert wie Kaya es gewesen war. „Und?“, fragte sie dann lauernd.
„Was und?“
„Wie ist
er?“, flüsterte Alina fast. Und Kaya atmete aus, ehe sie ihrer besten Freundin
ihren Vater im haarkleinsten Detail beschrieb. Das war etwas, was sie durchaus
tun konnte. Und tatsächlich sprachen sie und Alina noch eine Stunde über
Oliver. Und über Peter. Allerdings konnte Kaya über ihn nicht sonderlich viel
sagen, außer dass sie mit ihm eher auf einer Wellenlänge lag, als mit Oliver,
und das war schon seltsam genug. Vor allem, weil sie sich fest vornahm, ihn
nicht ausstehen zu können.
Sie
erzählte Alina nur vage vom Scheunenfest, erzählte von der kleinen Tochter des
Bauern Voss, und dass sie sich gut mit ihr verstand, und ihr versprochen hatte,
dass sie aufs Kaya gestohlenem Pferd reiten durfte.
Das brachte
Kaya beinahe in Verlegenheit, denn Alina wusste natürlich noch nichts von
diesen Plänen! Und Kaya musste ausholen. Weit ausholen. Sie erzählte von ihrem
ungerechten Großvater, der plante, das Pferd von Dr. Schmidt töten zu lassen.
Und sie erzählte, wie schrecklich sie es fand, und dass sie herausgefunden
hatte, dass sie noch bis Dienstag Zeit hatte. Und deshalb hatte sie die
Ohlkamps um Erlaubnis gefragt, und sie glaubte, Peter würde ihr
unwahrscheinlicherweise sogar helfen.
Alina sagte
eine ganze Weile gar nichts, und Kaya konnte praktisch hören, wie überrumpelt
sie war.
„Du erlebst
entschieden zu viel bei deinen Reiterferien“, sagte sie schließlich ungläubig.
Und Kaya hatte ihr noch nicht einmal alles erzählt, dachte sie beschämt.
„Verschweigst du mir sonst noch irgendetwas?“, wollte Alina scherzhaft wissen,
und Kaya glaubte fast, Alina konnte Gedanken lesen.
„Äh…
nein?“, erwiderte Kaya schnell, fast gekränkt.
„Ok!“,
lenkte Alina eilig ein. „Es sollte nicht klingen, als-“
„-Alina?“,
unterbrach Kaya sie dann doch, und kaute dabei nervös auf ihrem Fingernagel.
Wieder einmal war ein idealer Moment gekommen. Und Kaya seufzte auf. Jetzt
hatte sie Alina ohnehin schon alles erzählt. Sie konnte einfach kein Geheimnis
vor Alina behalten. Nicht gut zumindest. Es sei denn, es ging um Bastian, denn
da war Alina erstaunlich eifersüchtig, obwohl es keinen Grund dafür gab. „Da
ist noch eine Sache“, begann Kaya unsicher, und Alina war mucksmäuschenstill
geworden, lauschte gespannt, und Kaya atmete noch einmal aus, schämte sich
schon wieder und spürte tatsächlich die Hitze ihrer Wangen. „Gestern, da… auf
dem Scheunenfest…“, fuhr sie fort, und sie hörte Alinas Atem.
„Ja?“, warf
diese vorsichtig ein.
„Du
erinnerst dich an den Reitlehrer von dem ich erzählt habe?“
„Tom?“,
riet Alina sofort, mit unverhohlener Freude in der Stimme, und Kayas Mundwinkel
sanken. Ja, von ihm hatte sie definitiv nur Positives erzählt.
„Nein“,
widersprach sie grimmig, „nicht Tom. Tom hat eine Freundin. Marie“, ergänzte sie den Namen
verächtlicher als sie vorgehabt hatte. „Nein, ich meine… den anderen
Reitlehrer.“
„Den
Arsch?“, wollte Alina dann mit gewisser atemloser Verzögerung von ihr wissen,
und Kaya nickte stumm.
„Ja“,
bestätigte sie missmutig. So hatte sie ihn wohl überwiegend in ihren Gesprächen
genannt – und tat es noch. Und Alina schwieg wieder. Kaya fasste sich ein Herz
und sagte es einfach. „Er hat mich geküsst!“ Und nichts passierte. Alina sagte
gar nichts. „Ali-“
„-Was?!“,
schrie Alina praktisch ins Handy, und Kaya zuckte zusammen. „Oh mein Gott,
Kaya! Ich fass es nicht! Ernsthaft?“ Aber bevor Kaya antworten konnte, wurde
Alina sachlich. „Wie sieht er aus? Jedes Detail, Kaya! Jedes!“, warnte ihre
beste Freundin sie, und Kaya war so viel Aufmerksamkeit nicht wirklich gewöhnt.
Sie hatte nie irgendwelche Jungs-Geschichten zu erzählen, aber Alina hing an
ihren Worten.
„Er ist…
älter als ich?“, begann Kaya unsicher, und Alina hakte sofort nach.
„Wie viel
älter?“
„Zwei Jahre
älter“, sagte Kaya sofort. „Also, nicht wirklich. Er ist neunzehn, und ich
werde ja achtzehn, also-“
„-uh! Neunzehn! Kaya, das ist aufregend!“, unterbrach Alina sie schwärmerisch.
„Ist er größer als du?“, bohrte sie ungeduldig weiter.
„Ja“, entgegnete
Kaya fast gereizt. „Bestimmt einen Kopf oder so.“
„Das ist
gut“, bemerkte Alina, obwohl Kaya nicht genau wusste, wofür es gut sein sollte.
„Haarfarbe? Mein Gott, Kaya, erzähl doch endlich!“
Kaya würde
ja erzählen, wenn Alina sie mal ausreden lassen würde! „Er ist blond“, fuhr
Kaya fort, aber Alina unterbrach sie schon wieder.
„Blond-blond
oder richtig blond?“, stellte sie eine unfassbar dumme Frage.
„Was?“ Kaya
war ehrlich überfordert.
„Blond, wie
Bastian blond ist oder blond-richtig-blond?“ Kaya atmete überfordert aus.
Bastian war eher dunkelblond.
„Nein,
blond-blond?“, wiederholte sie das lächerliche Wort. So wie ihre Haare blond waren.
Etwas heller, vielleicht? Sie war sich nicht mal mehr sicher.
„Frisur?“,
kam die nächste einsilbige Frage.
„Alina,
ich-“
„-Kaya, antworte
einfach!“ Alina klang regelrecht verzweifelt.
„Längere
Haare, mein Gott.“
„Wie wer?
Wie Jared Leto?“, wollte sie ungnädig wissen. „Wie Legolas?“ Sie schien nicht
zufrieden zu sein, mit Kayas Erzählkunst, und Kaya atmete genervt aus.
„Nein. Eher
wie Aragorn“, blieb sie bei der Herr der Ringe Referenz.
„Oh“,
murmelte Alina interessiert. „Die Länge geht noch“, bestätigte sie dann
gönnerhaft. Kaya verdrehte die Augen.
„Welche
Augenfarbe?“
„Ich-“ Sie
wollte sagen, dass sie es nicht wusste, aber das stimmte nicht. „Grün“, schloss
sie schließlich, und erinnerte sich wieder an seinen unheimlichen Blick aus
seinen Augen.
„Und sieht
er gut aus?“, fragte Alina schließlich, und Kaya wusste es nicht.
„Ich weiß
es nicht“, sagte sie also wahrheitsgetreu und erntete einen ungläubigen Laut
von Alina.
„Du weißt
es nicht? Boah Kaya! Manchmal, da könnte ich dich-! Hat er Warzen im Gesicht?
Ist er dick? Stinken seine Füße?“ Kaya musste lachen, und wünschte aber, er
hätte Warzen im Gesicht. Dann wäre er nicht halb so arrogant.
„Er sieht
gut aus“, bestätigte Kaya dann lachend. Erleichterung überkam sie, und das
schlechte Gefühl, was sie wegen ihm hatte, wurde immer kleiner. Als wäre es
nicht schlimm. Entspannt legte sie sich zurück ins kühle Gras. „Aber er ist ein
Arsch“, schloss sie grinsend.
„Was?
Warum?“ Alina wurde ernster.
„Weil er
der böse Reitlehrer ist, und weil er – keine Ahnung – weil er mir nach dem Kuss
gesagt hat, es wäre ein Fehler, und ich soll es keinem sagen“, räumte sie
beleidigt ein. Alina schwieg einen Moment.
„Weil dein
Großvater ihn entlassen könnte?“, schloss sie fast messerscharf, und es war
etwas über das Kaya nicht nachgedacht hatte.
„Was? Wieso
sollte das-?“
„-na, weil
du eine Reitschülerin bist? Und er ist dein Lehrer? Gott, wie aufregend!“, rief
Alina begeistert aus. „Und außerdem bist du die Enkelin seines Chefs!“ Kaya
verdrehte im Gras wieder die Augen.
„Ich glaube
nicht, dass es ihm darum geht, Alina“, wiegelte sie ihre Worte ab.
„Ach nein?
Denkst du nicht, dass ein neunzehnjähriger Mann weiß, ob er jemanden küssen
will, oder nicht? Und denkst du nicht, dass er denkt, du hättest Angst und
würdest sofort zu deinem Opa rennen?“ Lauernd wartete sie.
„Opa?“,
wiederholte Kaya grinsend das furchtbare Wort, aber Alina jaulte praktisch auf
vor Ungeduld.
„Komm
schon, Kaya! Das ist romantisch! Und aufregend!“
„Nein. Es
war ein blöder Fehler. Und ich war traurig und sauer, weil Tom eine Freundin
hat“, schloss sie dann. Und er war kein Mann. Er war der blöde Reitlehrer, den
sie nicht leiden konnte.
„Erzähl von
dem Kuss!“, verlangte Alina schwärmerisch.
„Alina!“,
beschwerte sich Kaya mit beschämtem Grinsen, aber Alina widersprach ihr sofort.
„Oh nein!
Du erzählst mir alles!“
Und während
Kaya stockend erzählte, kam ihr unterbewusst der Gedanke, dass sich Alina nur
deshalb so brennend interessierte und begeistert war, weil es bedeutete, dass
Kaya ihr nicht Bastian streitig machen würde, so abwegig das auch war. Aber
Kaya hütete sich davor, Alina zu fragen.
~*~
Er sah sie
von weitem. Und er hatte absolut keine Lust. Deshalb hatte er seine Sachen auch
gepackt, denn er konnte sich vorstellen, dass sie reden wollte. Er hasste sich
manchmal. Er hasste sich dafür, dass er dumme Entscheidungen traf, die er immer
nur bereute. Und er hasste, dass er sich nicht zusammenreißen konnte.
Das
dämliche Taxi sollte endlich kommen.
Missmutig
hockte er auf dem Gatterzaun, und fast war es angenehm, keine Reithose zu
tragen, stellte er fest. Sobald man etwas zu oft tat, machte es keinen Spaß
mehr. Und er hatte definitiv schon eine Woche zu lang, unfähige Mädchen
unterrichtet.
„Leo“,
sagte sie seinen Namen vorwurfsvoll. Er hob den Blick ausdruckslos zu ihrem
Gesicht. Sie erwartete hoffentlich nicht, dass er antwortete. „Willst du dich
eigentlich nicht entschuldigen?“, wollte sie beleidigt wissen, und er hob die
Augenbraue.
„Weswegen?“,
fragte er sie tatsächlich, und ihr Blick wurde noch finsterer.
„Tom und
ich-“
„-Tom und
du gehen mir am Arsch vorbei“, informierte er sie mit einem freudlosen Lächeln,
was sie tatsächlich bestürzte. Sie wirkte verschlossen.
„Das ist
nicht fair“, sagte sie dann. „Wir müssen zusammenhalten, wenn-“
„-Vanessa,
nerv irgendwen anders mit deiner Meinung, ok?“, unterbrach er sie und wandte
den Blick ab. Sie wirkte persönlich verletzt. Hätte er sie doch nie angerührt!
Hatte sie nicht einen Freund? Konnte sie den nicht nerven? Was wollte sie von
ihm?
„Du bist so
ein Scheusal!“, fauchte sie ihn an. „Wieso gebe ich mir überhaupt die Mühe?“
„Ich weiß
es nicht, Vanessa, ehrlich!“, bestätigte er abschätzend. „Lass mich in Ruhe,
ja?“
„Ich hoffe,
deine Arroganz bricht dir das Genick, Mistkerl!“, fuhr sie ihn tödlich
beleidigt an. Sie stolzierte davon, und so viel Drama auf einmal hatte er noch
nicht erlebt. Er schüttelte ungläubig den Kopf, während er ihr nachblickte.
Aber er war verdammt dankbar, dass die alte Hexe gestern Abend nicht mehr da
gewesen war, als….
Er
schüttelte wieder den Kopf. Fast war er von sich selber schockiert. Klar, er
flirtete mit den dummen Mädchen, die er unterrichtete. Denn es war leichter sie
anzuschreien, wenn sie es ihm nicht übelnahmen. Und es machte ihm wenig, ab und
zu mal was zu riskieren und die eine oder andere zu küssen. Es war jedes Mal
dumm, und er bereute es, aber das gestern…! Das war einfach nur richtig dämlich
von ihm gewesen!
Was hatte
er sich gedacht? Er hatte sich gedacht, dass er selbst dieses Mädchen haben
könnte, wenn er wollte. Selbst eine, die ihn offensichtlich verabscheute. Gerade
so ein Mädchen! Und es war fast zu einfach gewesen. Keine Herausforderung für
ihn. Sie sah nicht mal gut aus, war einfach nur ein dummes, kleines,
unerfahrenes Mädchen gewesen.
Aber wenn
sie zum Alten rannte, dann wäre es garantiert vorbei mit dem leichten Leben.
Und das war
sein blöder Fehler gewesen.
Das Taxi
fuhr endlich auf den Hof. Er sprang vom Gatter, schulterte seine Tasche und war
froh, für zwei Tage wegzukommen. Er war heute mit Freunden in der Stadt
verabredet. Und endlich würde er es wieder mit richtigen Mädchen zu tun haben.
Nicht mit diesen Kindergartenkindern, die ihm zu Füßen lagen. Deshalb war er
auch nicht wirklich besorgt. Er nahm an, mit seiner Aktion hatte er
höchstwahrscheinlich nur ein weiteres Herz gewonnen.
Alle
Mädchen waren gleich. Gleich dumm.