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Kapitel

Erstes Kapitel , Zweites Kapitel , Drittes Kapitel , Viertes Kapitel , Fünftes Kapitel ,

Sechstes Kapitel , Siebtes Kapitel  , Achtes Kapitel , Neuntes Kapitel ,

Zehntes Kapitel , Elftes Kapitel , Zwölftes Kapitel , Dreizehntes Kapitel ,

Vierzehntes Kapitel , Fünfzehntes Kapitel , Sechzehntes Kapitel ,

Siebzehntes Kapitel , Achtzehntes Kapitel , Neunzehntes Kapitel

 

Eine Studie

 

Vor kurzem las ich einen Bericht über eine Studie von Harald Euler in der Fachpresse, die sich mit Mädchen und Pferden beschäftigte.

 

Er untersuchte die Anziehungskraft, welche ein Pferd auf ein Mädchen ausüben kann. Er beschreibt es als Phänomen junger Frauen. Männer seien am Reitsport nicht mehr interessiert gewesen, seitdem es nach dem zweiten Weltkrieg Frauen möglich war, die Reitvereine zu besuchen. Nach nur zehn Jahren waren die Frauen den Männern zahlenmäßig bereits überlegen. Vor Ende des Krieges hieß es noch, Frauen wären nicht in der Lage, rittlings zu reiten, denn sie verfügen nicht über die ausreichende Muskulatur, ein Pferd zu lenken.

 

Die Frage, die sich mir stellte, war, ob Frauen Pferde zum Selbstzweck besitzen wollen oder aus demselben Zweck wie Männer? Aber eigentlich wird diese These auch hinreichend geklärt. Männer reiten Turniersport, Frauen – reiten. Es gibt die eine oder andere Ausnahme, aber die Zahlen sprechen für sich.

 

Man überwindet die Pferde-Phase als Frau letztendlich, so heißt es.

 

Mädchen überbrücken die Zeit der Kindheit mit Puppen, um die sie sich kümmern, die weitere Kindheit bis zum Teenageralter mit Pferden, um die sie sich kümmern, bis sie dann irgendwann eigene Kinder haben, welche dann den letzten Ersatz darstellen, um welchen sich gekümmert werden muss. Pferde dienen der emotionalen Bindung der Mädchen, in einem gewissen Alter.

 

Das Pferd sei das Sinnbild einer Therapie für das Mädchen, denn es biete ihm einen Ausweg aus der adretten, sauberen Umwelt, in die es gezwungen wird.

 

Nur einem geringen Prozentteil der Bevölkerung ist der tatsächliche Besitz eines Pferdes möglich. Das Offensichtliche sind die Kosten, Pferdesport zu betreiben.

Erblicke ich ein Pferd, erfüllt mich stumme Ehrfurcht. Wie es schaut. Wie es sich bewegt. Es hat etwas Uraltes an sich. Und das ist es auch, was es ist. Das Pferd existiert seit 60 Millionen Jahren auf der Erde. Damals war es so groß wie ein Hund, aber dennoch begleitet es den Menschen seit der Zeit der Neandertaler, also seit mehr als 15.000 Jahren.

 

Heute gilt Pferdesport als Luxussport. Ein Nutztier, dessen Verzicht bis weit in das 20. Jahrhundert noch undenkbar gewesen war, wird zum Luxusobjekt.

Heute ist es günstiger, ein Auto zu besitzen, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Es ist simpler, sauberer, günstiger zu finanzieren. Nutzfahrzeuge der Landwirtschaft erledigen schneller und kostensparender die Arbeiten, für die diese Tiere einst unersetzbar waren.

 

Damit einher geht somit recht unstreitig die These, dass die Pferdehaltung im klassischen Sinne überholt ist, unnötig und nur Pferdeliebhabern vorbehalten. Das Pferd heutzutage hat keinen landwirtschaftlichen überdimensionalen Nutzen mehr. Die Zucht und das Training eines Pferdes gipfeln im reinen Gebrauch des Tieres. Nicht als Arbeitstier, nicht als Transporttier. Sein Nutzen ist dem eines kostspieligen Haustieres gewichen, größer als Katze oder Hund, mit dem Hintergrund, es vorzuführen, seine Fähigkeiten im Lauf oder Sprung zu demonstrieren, zu zeigen, dass man in der Lage ist, ein solches Tier zu reiten, zu kontrollieren.

 

Reduziert man also den Nutzen des Pferdes auf den reinen Darstellungszweck seines Besitzers gelangt man zu dem Ergebnis, dass ein Pferd nur besitzen kann, wer über das nötige Geld verfügt. Nicht nur allein die Haltung und Versorgung sind teuer, auch das Zubehör für Mensch und Tier hat seinen Preis.

 

Der Reitunterricht ähnelt immer noch dem militärischen Stil der Dressur. Es ist die Basis, denn es gilt, die Bewegung des Pferdes zu begreifen, und sie am vorteilhaftesten für den Reiter zu nutzen. Es dient dazu, das Gleichgeweicht des Pferdes zu fördern, in dem der Reiter sich so auf dem Pferderücken bewegt, dass er die Bewegungen des Pferdes nachahmt, es unterstützt und damit praktisch eins mit dem Pferd wird.

Die Grundidee galt der Gesundheitsförderung des Tieres, denn im Militär war es durchaus rentabler ein Pferd solange wie möglich nutzen zu können. Außerdem war es wichtig, dass sich der Reiter auf das Tier verlassen konnte, dass es sich so bewegte, wie es musste.

Heutzutage wird ein Pferd nicht mehr für die Militärarbeit ausgebildet. Die Dressur eines Pferdes endet im Turniersport.

 

Diese Disziplin entstand vor über hundert Jahren unter Offizieren und war diesen zunächst auch vorbehalten. Es wirkt wie eine Perversion des eigentlichen Nutzens des Tieres, zwingt man es nämlich zu einer unnatürlichen Körperhaltung und verursacht dadurch letztendlich doch massive Schäden an seiner Gesundheit.

 

Betrachtet man also den damaligen Zweck eines Pferdes – nämlich der Haltung als Nahrungsquelle des Menschen, anschließend die Zähmung zum Arbeits-, Nutz- und Reittier – ist der Zweck heute ein anderer. Vor allem, weil die wenigstens Reiter ein eigenes Pferd besitzen. Sie leihen sich ein solches und nehmen teuren Unterricht. 

 

Fragt man die Reiterin, weshalb sie Reitunterricht nimmt, ist die Antwort häufig dieselbe. Sie liebte Pferde schon als Mädchen und wollte immer reiten. Und mehr wird sie nicht sagen.

 

Man ist immer Opfer seiner Sozialisation. Persönlich sehe ich hinter einem Pferd mehr als die Zuneigung, die ich für das Tier empfinde. Mir wurden der Wert und der Nutzen einer jeden Sache näher gebracht. Was man haben will, muss man sich leisten können.

Diese simplen Worte ziehen in Bevölkerungsschichten eine klare Grenze. Nicht jeder kann sich ein Auto leisten. Nicht jeder leistet sich ein Haus. Nicht jeder hat Platz auf seinem Grundstück. Und erst nach der Deckung des Grundbedarfs eines Menschen, manchmal größer oder kleiner, schließt sich der Besitz eines Pferdes vielleicht an.

 

Entfernt man sich vom Wert und Nutzen des Tieres, kann man sich seiner Existenz und seiner Ausstrahlung gegenüber stellen. Das Bewusstsein für das Tier ist für mich dann ein anderes.

 

Es symbolisiert eine unberührte Schönheit der Natur und Freiheit, welche der Verstand in einer funktionierenden, wirtschaftlich orientierten Welt nicht mehr finden kann.

Die Idee Pferd ist ein Gegenbeispiel zum gewöhnlichen Alltag. Es bedeutet nicht nur finanzielle, sondern auch geistige Freiheit. Das Bild, auf dem Pferd durch die unberührte Natur zu reiten, sich der Stille und Entspannung hingeben zu können, stimuliert zumindest meine Vorstellung von gedanklicher Harmonie.

 

Dazu kommt die Fähigkeit eines Menschen, die es bedarf, ein Pferd zu führen.

Es ist kein Auto. Es genügt nicht, den Schlüssel zu drehen und die Pedale zu betätigen.

Es bedarf eines Könnens, eines Feingefühls. Es geht um Fertigkeiten, die sich nur durch Ausdauer und Hingabe erlernen lassen. Dafür benötigte man die kostbare Zeit, über die niemand mehr verfügt, in der Zeit der Beschleunigung und des Fortschritts.

Es benötigt Vertrauen. Nicht das Vertrauen, was man Menschen entgegenbringt, was nicht immer von aufrichtiger Natur ist, denn Menschen bemerken oft die Unaufrichtigkeit der anderen nicht.

 

Einem Tier gegenüber kann man seine wahren Beweggründe jedoch nicht verbergen. Und sind sie von schlechter Natur, dann spürt das Fluchttier, mit dem feinen Gespür für die Unaufrichtigkeit des Reiters, dieses sofort.

 

Ich sprach von der Dressur, denn in der Theorie ist sie die höchste Kunst des Reitens.

Es verlangt einem Menschen die höchste Auffassungsgabe in Bezug auf ein Pferd ab. Ausdauer, Kondition und Begabung. Natürlich mag es eine fragwürdige Kunst sein, denn neben der Lehre des Pferdes und seiner natürlichen Beschaffenheit, verlangt es dem Pferd einen menschenähnlich antrainierten Gehorsam ab. Und Gehorsam in dieser Form liegt wohl in keiner Natur eines jeden Tieres.

 

Schreibe ich also über Pferde, geht es in erster Linie um das Tier, jedoch geht es auch um die Therapie der Seele.

Die Figur des Pferdes vereinigt so viele erstrebenswerte Ziele.

 

Ich kam zu dem Schluss, dass Dressur eine Art analoge Ehrlichkeit darstellt. Keine Abzweigungen, keine geheimen Schleichwege, keine Hintertürchen, keinen Subtext.

Man muss dem Pferd die ehrliche Bewegung zeigen, den Befehl physisch erteilen, und nur, wenn man ihn ehrlich meint, ohne Zögern ausführt, erfolgt die direkte Antwort des Pferdes auf das unmissverständliche Signal.

 

Der Knackpunkt ist das unmissverständliche Signal, das vielen Menschen Schwierigkeiten bereitet. Denn unmissverständlich kann ein solch subtiles Signal nur dann sein, wenn man sich selber nicht ablenken lässt, sich nicht sabotiert. Dressur kann nur reiten, wer mit seinem Körper, mit seiner Sprache, mit dem Tier im Einklang ist.

Und jedes Tier merkt, wenn man nicht im Einklang ist.

Diese Ehrlichkeit geht unter den Menschen verloren, und schnell habe ich begriffen, diese Geschichte wird von Ehrlichkeit handeln.

 

Die Beziehung zwischen Reiter und Pferd muss also zwangsläufig auf Ehrlichkeit basieren. Denn das Pferd ist ein weitaus zu gefährliches Tier, als dass man sich auf bloßes menschliches Vertrauen verlassen könnte. Es ist ein gefährlicher Sport. Er ist reizvoll, wenn man denn glaubt, man besäße ausreichendes Vertrauen, genügend Ausdauer, genug eigene Überzeugung.

Die Symbiose zwischen Mensch und Tier war das schönste Bild, was sich mir bis hierhin offenbart hatte.

 

Wie gesagt, man ist Opfer seiner Sozialisation. Ein solches Denken lässt natürlich simple Rückschlüsse zu. Ich denke, man kann jedes Problem lösen, wenn man sich genügend Distanz verschafft, und es aus der Entfernung betrachtet.

 

Und ich denke, deshalb schreibt man. Und manchmal bringen einen die Worte an ungewöhnliche Orte, man findet Dinge, die man längst verloren geglaubt hatte. Denn jeder Reise wohnt eine heimliche Bestimmung inne. Die Worte können einen so weit fort tragen, dass man, wenn man wiederkehrt, eine völlig neue Sicht der Dinge hat.

Und die Seele ist geheilt.

 

Besonderen Dank an: Claudia, Gwenny, Ellie, Mary, Dani, Gigi, Blair & Caro – ohne euch wäre vieles unmöglich gewesen <3

 

 

Erstes Kapitel

– Ronja Räubertochters Tochter –

 

Sie fühlte sich besiegt von einer größeren Macht, gegen die sie nichts ausrichten konnte. Ihr Kopf sank auf die Tischplatte, und das Schlimme war, wie enttäuscht ihre Mutter sein würde. Sie seufzte auf, und wünschte sich, irgendwo anders zu sein. Nur nicht hier. Kaya plante bereits ihre Flucht. Sie würde ihrer Mutter einfach von unterwegs eine Flaschenpost schicken und alles erklären, während sie sich durschlug, als Straßenkünstler oder sie trainierte einen streunenden Hund, der für sie Geld verdienen könnte, in dem er auf den Hinterbeinen lief. Nicht, dass sie wüsste, wie eine Flaschenpost in Prenzlau ankommen sollte, aber das waren nur nebensächliche Kleinigkeiten.

 

„Schade“, vernahm sie die verhasste Stimme von Carolina Berg und hob den Blick durch ihren schützenden blonden Haarvorhang. „Ich hatte gehofft, dass sie fliegen würde. Wenn sie die Nachprüfung richtig verhaut, vielleicht darf sie dann sowieso nicht mehr zurück?“ Sie hatte sich mit milder Schadenfreude an ihren Freund gewandt. Jedoch schien dieser kein besonderes Interesse an diesem Gespräch zu haben. Das Klassenzimmer leerte sich schnell.

 

„Caro, wieso lässt du mich nicht in Ruhe, ok?“ Bastian Kaminsky war der Oberprimus, wie ihn Herr Steiner immer nannte. Herr Steiner war ihr Kurslehrer, der ihr gerade eröffnet hatte, dass sie durch Volleyball spielen und um den Sportplatz joggen die Sportnachprüfung niemals bestehen würde, und dass Stefanie Weber letztes Jahr in einem Wildwasser-Camp gewesen wäre, und dort mit ihrem Camcorder ihre Rafting-Tour gefilmt hatte. So etwas sollte Kaya doch machen! Klar, sie würde einfach beim verdammten Zirkus mitmachen und sich filmen, wie sie beim Hochseilakt zu Tode stürzen würde.

 

Herr Steiner hatte ihr einige Dinge vorgeschlagen, wie Rock-Climbing, was sie bei ihrer Höhenangst überhaupt nicht weiter in Erwägung zog, oder Kunstreiten oder etwas ähnlich Außergewöhnliches, worüber sie auch noch einen Aufsatz schreiben sollte!

 

Wieso – wieso?! – hatte ihre Mutter sie nur auf diese Schule geschickt? Auf der Realschule, auf der sie vorher gewesen war, war es den Lehrern egal gewesen, ob die Schüler in der ersten großen Pause den Sportplatz in die Luft gejagt hätten, und hier musste sie Felshänge hochklettern und sich dabei filmen, um eine Nachprüfung zu bestehen!

 

Carolina war fertig, ihrem Freund die Meinung zu sagen und verschwand schnaubend mit ihren Freundinnen. Sie trug immer hohe Schuhe, ihre braunen Haare lagen immer lächerlich glatt und perfekt, wie in einer Shampoo-Werbung, und Kaya nahm an, sie wachte bereits mit perfektem Makeup auf. Immerhin bekam Kaya jetzt nicht mehr ihre Aufmerksamkeit zu spüren. Sie hasste Carolina Berg und ihren reichen Vater, mit dem sie überall angab, weil er der Architekt war, der die neue Aula des Schiller-Gymnasiums finanziert hatte. Wie konnte man schon gegen so etwas anstinken?

 

Nur noch sie und Bastian waren jetzt im Klassenzimmer. Anscheinend hatte sie ihn zu lange angesehen, denn er schenkte ihr einen gereizten Blick. Tatsächlich war sie letztes Jahr kurz in ihn verschossen gewesen, aber wirklich nur kurz, denn wenn man ihn kennenlernte, begriff man, dass er oberflächlich und arrogant war. Deswegen war er wahrscheinlich auch mit Carolina zusammen.


„Was?“, fuhr er sie an, und sie konnte seine schlechte Laune überhaupt nicht verstehen. Er war doch wieder einmal Klassenbester. Nur einmal wünschte sie sich, so viel Glück zu haben. Und sie wünschte, ihre beste Freundin Alina wäre nicht schon vor einer halben Stunde abgereist. Fast die ganzen Sommerferien musste sie ohne Alina auskommen, und ihr graute schon vor der Sportprüfung, wo ihre größte Kunst sein würde, drei Orangen zu jonglieren. Bastian Kaminsky war Klassenbester, Mädchenschwarm und noch tausend andere Sachen, die Gott manchen Leuten regelrecht in den Hintern zu schieben schien, um es mit den Worten ihrer Mutter auszudrücken.

 

Sein Vater war Chefarzt der Charité, und sie glaubte nicht, dass sie jemanden kannte, der reicher war als Bastian Kaminsky. Und dennoch war er so unglaublich ätzend.

 

„Gar nichts, ok?“, gab sie genauso gereizt zurück und fuhr sich durch die langen blonden Haare, die sie nur zum Trotz nicht hatte schneiden lassen, um ihre Mutter zu ärgern. Mittlerweile kam es ihr kindisch vor, denn sie hatte jetzt größere Sorgen, als rebellisch gegen ihre Mutter zu sein. Denn ihre Mutter hatte diese Schule so oft aufgesucht, bis sie Kaya endlich aufgenommen hatten, dass das schlechte Gewissen ihre Kehle zuschnürte.

Ihre Mutter würde bestimmt wieder diesen enttäuschten Ausdruck bekommen und kein einziges Wort sagen, und Kaya würde sich wie die undankbarste Tochter auf der Erde fühlen.

 

„Was machst du hier noch?“, erwiderte er, als gehöre ihm das leere Klassenzimmer. Sie sah ihn verstört an.


„Wieso? Musst du für den Rest der Ferien das Kursbuch bewachen oder so?“, gab sie zurück, und er fuhr sich seufzend durch die hellen Haare. Er trug eine rechteckige Brille, eine weiße Bluse unter einem blauen Pulli und eine dunkle Jeans. Sie konnten nicht gegenteiliger sein, allerdings saßen sie jetzt zusammen hier im Klassenzimmer, als hätte auch er gerade eine Lebenskrise. „Ich warte auf Herrn von Ende“, sagte sie schließlich. Der Schulleiter gewährte den armen Lämmern der Schule die letzte Ehre, ehe sie geschlachtet wurden, dachte sie grimmig. Es war so nett wie es demütigend war, nahm sie an. Wahrscheinlich wollte er ihr ins Gewissen reden, aber wenn es zu Mathe und Sport kam, hatte sie kein Gewissen. Da war eine nutzlose Leere in ihrem Innern, und sie konnte es nicht ändern.

 

Bastian sagte nichts darauf. Ob auch die guten Schüler vom Schulleiter einen Schulterklopfer bekamen? Aber Bastian wirkte viel zu nervös, als würde er den gutmütigen Herrn von Ende erwarten, den Dumbledore ihrer Schule. Er war zwar nicht so alt und hatte auch keinen Bart, aber wahrscheinlich war er von Grund auf gut.

 

„Ich habe gleich Führerscheinprüfung“, erklärte Bastian jetzt widerwillig und lockerte den Kragen seines Hemds. Sie runzelte die Stirn. Konnte man das hier in der Schule haben? Sie würde sich bei dieser Schule über gar nichts mehr wundern! Man musste sich schließlich auch filmen, während man sich zum Affen machte. Und tatsächlich war Bastian-Alles-Könner mal nicht vollkommen gelassen und vorbereitet. Das war auch ein netter Anblick.


„Du bist siebzehn, oder nicht?“, erkundigte sie sich, denn sie hatte nicht gewusst, dass Bastian Kaminsky älter wäre als sie. Er verdrehte die Augen.

 

„Sicher bin ich siebzehn!“, fuhr er sie an. „Mit siebzehn macht man seinen Führerschein!“, informierte er sie überheblich, als wäre es Allgemeinwissen. Er war so ein Idiot. Tja, sie würde das nicht tun. Sie würde wohl auch mit achtzehn keinen Führerschein machen können, sollte sie nicht einen besseren Job finden, als Prospekte in Prenzlau auszutragen, was ihr drei Euro pro Tag brachte, weil sie Frank, den Kioskmann, kannte.

 

Aber sie wusste, Bastian musste Medizin studieren und Arzt werden. So wie auch sein Vater, und das auch noch an der Charité, von der ihrer Mutter meinte, dass nur Einserschüler genommen wurden.

Also, wo sie nicht mal in einer Millionen Jahren angenommen werden würde. Nicht mal als Patient, nahm sie bitter an. Sie hatte zwei Fünfen auf dem Zeugnis und überlegte langsam, ob eine Nachprüfung in Mathe nicht wesentlich einfacher gewesen wäre, als eine Selbstmord-Mission zum Rock-Climbing?

 

Sie könnte auch eine Fahrradtour durch Europa machen, hatte Herr Steiner gesagt. Allerdings besaß Kaya nicht mal ein Fahrrad. Ihr Kopf legte sich wieder auf die kühle Tischplatte.

 

„Wird deine Mutter ausrasten?“, fragte Bastian jetzt ruhiger, anscheinend um irgendwas zu sagen, und er klang seltsamerweise fast amüsiert. Sie hob wieder den Kopf und stützte ihr Kinn auf ihren Händen ab.

 

„Ich…- keine Ahnung, nein“, erwiderte sie achselzuckend. Ihre Mutter rastete nicht aus. Sie war eher der Typ, der still bestrafte, wie die Psychopathen in den Horrorfilmen, dachte sie beunruhigt. Ihre Mutter benutzte die Schuldschiene. Nicht die einmal-ausrasten-und-meiner-Tochter-sechs-Wochen-Hausarrest-geben-Nummer. Ihre Mutter ging subtiler vor.

 

„Dann hast du ja Glück“, bemerkte er neidisch. Kaya lachte freudlos auf.

 

„Ja, wer hätte nicht gerne eine Nachprüfung in Sport“, murmelte sie bitter.

 

„Na und? Sport ist Kinderkram“, entgegnete er überheblich und fuhr sich wieder durch die Haare, so dass sie jetzt völlig unordentlich lagen.

 

„Sebastian“, durchschnitt eine strenge Stimme die Stille im Klassenzimmer. „Hier bist du. Ich habe dich schon gesucht.“ Selbst Kaya saß plötzlich gerade auf ihrem Stuhl. Ja, Dr. Kaminsky war furchteinflößend! Sein Anzug war nachtschwarz, warf keine einzige Falte, und seine Krawatte war so ordentlich und streng gebunden, dass sie ihn fast erwürgen musste, nahm sie an.

Bastian sah ihm unglücklich entgegen. „Zur Feier deiner bald bestanden Fahrprüfungen, kannst du mich bereits morgen früh nach Tegel zum Flughafen bringen, dann muss ich kein Taxi bestellen“, klärte sein Vater ihn auf und bemerkte sie erst jetzt. Er bedachte sie mit einem kurzen Blick. „Ist das Carolina?“, fügte er nickend hinzu, und Kaya sah von ihm zu Bastian.

 

Sie verstand. Bastians Vater hatte also keine Zeit für seinen Sohn, kannte nicht einmal dessen Freundin und Bastian schien morgen bereits als Fahrer eingespannt zu sein, obwohl heute noch nicht feststand, ob er überhaupt seine Prüfung bestand. Bei so viel Druck hätte sie sich schon längst übergeben.

 

„Mhm“, sagte Bastian nur, und Kaya starrte ihn an.


„Wirklich nett, doch noch die Freundin meines Sohns kennenzulernen, mein Name ist Dr. Matthias Kaminsky, vielleicht sieht man sich ja eventuell bei einem gemeinsamen Essen, wenn ich von meiner Reise wiederkomme?“ Er schüttelte sogar kurz ihre Hand, ehe er Bastian die warme, starke Hand auf den Rücken legte. „Sebastian, du hast eine Minute, dich zu verabschieden, dann erwarte ich dich auf dem Schulhof“, erklärte er mit einem strengen Blick, ehe er Kaya noch einmal zum Abschied zunickte.

 

Bastian war eine Spur blasser geworden. „Du hättest sagen können, dass mein Name nicht Carolina ist!“, fuhr sie ihn jetzt an. Aber sie meinte es nur halb so ernst, denn er sah ziemlich mitgenommen aus. Wieder fuhr er sich durch die Haare, legte kurz die Hände über die Augen, und sie fragte sich, ob sie irgendetwas Tröstendes sagen musste.

 

„Ich verrate dir ein Geheimnis“, begann er mit einem freudlosen Lächeln, als er den Rücken durchstreckte. „Ich habe verdammte Prüfungsangst“, schloss der fünfmal wiedergewählte Kurssprecher, der nur Einsen schrieb und dieses Jahr die souveräne Begrüßungsrede für die Schüler gehalten hatte. Ihre Augen wurden größer.

 

„Echt?“ Sie klang ungläubig, und er sah sie an.

 

„Echt“, wiederholte er resignierend.


„Ach komm“, räumte sie jetzt betont munter ein. „Du musst bloß rechts vor links beachten, bei Rot halten, rückwärts einparken und Anekdoten über Geld und Sportwagen erzählen, und dann beginnen deine Ferien“, fügte sie achselzuckend hinzu. „Ich muss Einrad auf der Zugspitze fahren und nicht runterfallen, während ich mich filme“, endete sie verzweifelt, und tatsächlich schenkte er ihr ein Lächeln.

 

„Also, wenn ich heute bestehe, und du recht hast, dass Geld und Auto-Gespräche mir helfen, dann komme ich morgen bei dir vorbei und helfe dir bei deinem Zugspitzen-Problem“, versprach er plötzlich. Sie sah ihn an.


„Ach, schon gut“, murmelte sie. So viel Aufmerksamkeit hatte sie von ihrem Ex-Schwarm nicht mal dann bekommen, als sie versucht hatte, ihm aufzufallen. Wie sollte er ihr überhaupt helfen? Und warum bot er es an? Und… hatte er nicht eine Freundin? Die er seinem Vater nicht vorstellte? Sie hatte einige Fragen, aber er sah ihr fest ins Gesicht.

 

„Nein, wirklich. Versprochen!“, wiederholte er ernst. Sie sagte nichts auf diesen seltsamen Deal. Er wusste ja nicht mal, wo sie wohnte.

 

Es klopfte am Türrahmen.

 

„Fräulein Rothenberg?“, sagte der Schulleiter freundlich, und Bastian atmete ein letztes Mal aus. Er nickte ihr zum Abschied zu, wie sein Vater, ehe er den Schulleiter passierte.

 

„Herr von Ende, schöne Ferien wünsche ich Ihnen“, sagte er noch zum Schulleiter, und dieser klopfte ihm zumindest auf die Schulter.

 

„Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Kaminsky. Ich erwarte Sie in sechs Wochen pünktlich um zehn vor acht“, ergänzte er lächelnd. Bastian hob die Hand zum Abschied und war verschwunden. Möglicherweise hatte sie ein Date mit dem Kursschwarm morgen, ging ihr dumpf durch den Kopf, und sie wusste, Alina würde ausrasten, wenn sie es ihr erzählte. Alina und natürlich Bastians Freundin.

 

„So, dann erzählen Sie mir von Ihrem Problem, Fräulein Rothenberg“, begann der Schulleiter und setzte sich tatsächlich zu ihr an den Doppeltisch, an dem sie sonst mit Alina saß. Sein Anzug war kariert und seine grauen kurzen, streng frisierten Haare standen mittlerweile um die Ohren etwas ab, als hätte auch er einen anstrengenden Tag gehabt.

 

„Mit wie vielen armen Fünfer-Schülern mussten Sie schon sprechen?“, fragte Kaya neugierig, mit ein wenig Mitgefühl für den Schulleiter, der bestimmt auch andere Sorgen hatte.

 

„Ach, mit nicht so vielen, wie Sie wohl glauben mögen“, erwiderte er kryptisch. Was sollte das heißen? Dass Sie und Jens die einzigen schwarzen Schafe des Gymnasiums waren? Nicht besonders aufbauend. „Immerhin denke ich, dass die Nachprüfung bei Ihnen kein Problem darstellen wird, nicht wahr, Fräulein Rothenberg?“

 

Kayas Augen wurden größer. Ach? Nicht?!


„Schade, dass Ihre Mutter nicht auch hier sein konnte“, bemerkte er bedauernd, aber sie zuckte die Achseln. Ihre Mutter arbeitete. Das war eigentlich die einzige Antwort, die sie kannte, wenn jemand sie fragte, wo ihre Mutter war. „Also? Haben Sie sich Gedanken über die Prüfung gemacht?“, fragte er beinahe fröhlich, und Lehrer waren ihr ein Rätsel. „Ich denke, es sollte ja eine regelrechte Freude für Sie sein, aus Berlin rauszukommen, nicht wahr? Es kann im Sommer recht… heiß werden, in der Stadt“, ergänzte er nachdenklich, und ehe sie fragen könnte, weshalb sie denn nicht den Sommer über in der Stadt sein sollte, fuhr er fort.

„Wissen Sie, ich kenne Ihren Großvater tatsächlich“, bemerkte er nickend, als hätte sie es angezweifelt. „Wir haben gemeinsame Bekannte in Schleswig-Holstein“, erläuterte abwinkend, falls sie näher hatte darauf eingehen wollen, was sie nicht wirklich vorgehabt hatte zu tun.


„Ah?“, sagte sie also in Ermangelung besserer Worte.

 

„Ferien auf einem Gestüt ist doch für jedes Mädchen ein Traum, nicht wahr?“, fuhr er lächelnd und fort, und sie nickte knapp. Ja, für jedes Mädchen, das reiten konnte, Geld hatte und dorthin eingeladen wurde, sicher. Sie nahm an, das machte dann Mordsspaß. „Verfügen Sie über eine Kamera? Ich weiß, Herr Steiner liebt Video-Montagen“, ergänzte er zwinkernd. „Falls nicht, können Sie sich gerne Schulequipment ausleihen, aber bitte heile wiederbringen“, fügte er mahnend hinzu.


„Vielen Dank, Herr von Ende“, erwiderte sie resignierend. Er nahm an, sie konnte reiten. Er nahm an, sie kannte ihren Großvater. Aber er kannte ihn anscheinend besser als sie es tat.

 

„Ich habe ja nicht viel mit Pferden zu tun, aber ich habe gehört, dass aus dem Gestüt Ihres Großvaters die renommiertesten Springpferde stammen?“ Es war eine echte Frage, die sie mit einem unverbindlichen Kopfrucken beantwortete.

 

„Kann sein?“, entgegnete sie vage mit einem schmalen Lächeln.

 

„Na“, rief er schließlich aus, erhob sich und zwinkerte ihr zu. „Gut, dass wir dieses Gespräch hatten und dass es bei Ihnen ja Gott sei Dank so einfach ist, eine Sportart zu finden, die unseren Herrn Steiner begeistern kann. Er ist ein Pferdenarr, müssen Sie wissen. Wahrscheinlich hat er Ihre Fünf in Sport bereits freudig antizipiert“, vermutete Herr von Ende mit jedoch mahnendem Blick, auch wenn sie nicht wusste, was antizipiert bedeutete. Aber es klang nicht nett.

 

Und sie stand wieder am Anfang. Fahrradfahren auf der Zugspitze klang mittlerweile fast schon sympathisch. „Grüßen Sie mir Ihre Mutter, Fräulein Rothenberg. Und Ihren Großvater, wenn Sie ihn sehen“, ergänzte er nickend.

 

Sicher. Ihr Großvater kannte ihren Namen zwar nicht, aber das sollte nur ein kleines Problem werden, bei den fünfhundert anderen Problemen, die sie hatte.

 

„Danke, Herr von Ende“, sagte sie, denn sie brachte es nicht über sich diesem freundlichen Mann zu erklären, dass sie weder reiten konnte, noch Kontakte zu irgendwelchen Gestütbesitzern pflegte.

 

„Keine Ursache, ich helfe gern. Und kommen Sie morgen einfach beim Sekretariat vorbei. Die Damen werden Sie gerne mit einer Kamera ausstatten, Fräulein Rothenberg“, wiederholte er ernst. Sie nickte erneut, und dann war sie wieder allein. Und wieder sank ihr Kopf auf die Tischplatte zurück. Was für beschissene Ferien es werden würden.

Und es half nichts. Sie konnte nicht hier bleiben. Sie nahm an, irgendwann schloss auch die Schule ihre undankbaren Türen.

 

Und sie hatte auch noch mehr Sorgen als ihre Nachprüfung. Es stand wieder der monatliche Anruf an. Aber Oliver hatte heute auch noch Geburtstag. Ihre Mutter hatte sie extra erinnert, damit sie ihn anrufen würde. Sie war sich nicht mal sicher, ob ihre Mutter sich überhaupt bei ihm meldete. Sie glaubte, eher nicht.

Vor allem wusste sie auch schon, wie ihre Mutter reagieren würde, würde sie auch nur darüber nachdenken, ihren Großvater anzusprechen, denn bei diesem Thema reagierte ihre Mutter mehr als sensibel, deswegen wusste Kaya auch nichts über ihren angeblichen Großvater. Absolut gar nichts!

Aber auch über ihren Vater wusste sie nur wenig.

 

Oliver, ihr Vater, war vor sechzehn Jahren nach München gezogen, und seitdem sah sie ihn nur alle paar Jahre, wenn überhaupt. Sie telefonierten alle paar Monate miteinander, und eigentlich kannte sie ihn überhaupt nicht gut genug, um ihm regelmäßig zum Geburtstag zu gratulieren. Aber ihre Mutter ließ ihr da erstaunlich wenig Spielraum.

 

Sie wusste, ihre Eltern waren sechzehn gewesen, als ihre Mutter sie bekommen hatte. Sie waren nur ein Jahr zusammen gewesen, weil ihr Vater dann festgestellt hatte, dass er schwul war. Sie hatte die Geschichte nie begriffen, und ihre Mutter machte sich nie die Mühe weiter auszuholen, Dinge besser zu erklären, denn in den Augen ihrer Mutter war das alles, was man wissen musste.

 

Sie und ihr Vater waren zusammen gewesen, waren unbeabsichtigt schwanger geworden, waren von Zuhause abgehauen, hatten sich in Berlin eine Wohnung genommen – wie sie das fertig gebracht hatten, war Kaya auch schleierhaft, denn sie durfte mit siebzehn nicht mal Alkohol kaufen gehen, geschweige denn, länger als eine Nacht von Zuhause wegbleiben! Und dann war ihrem Vater scheinbar die Erkenntnis gekommen, dass eine Frau, ein Kind und das Familienleben wohl doch nicht das waren, was er sich vorgestellt hatte. Und da endete die romantische Geschichte ihrer Eltern. Die keine romantische Geschichte war.

Und sie hatte sie nur Alina erzählt. Niemandem sonst. Wahrscheinlich wusste die Schulleitung Bescheid, aber sonst keiner.

 

Wer würde es auch verstehen, unter all den verwöhnten Gymnasiasten, deren Mütter Hausfrauen waren, die Geschwister hatten und Väter, die nicht schwul waren.

 

Jetzt war ihr Vater Sänger an irgendeinem Staatstheater. Ihre Mutter arbeite am Deutschen Theater in Berlin als Schauspielerin. Sie war also das Kind von seltsamen Künstlern, natürlich. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, es wäre ein Geschenk gewesen, dass sie an diesem Theater spielen durfte, mit keiner Schauspielausbildung. Soweit Kaya es beurteilen konnte, hatten die wenigsten der Schauspielerfreunde ihrer Mutter irgendein Talent. Sie hatten tausend schlechte Angewohnheiten, das konnte Kaya sagen. Ihre Mutter war schon die beste, fand sie. Ihre Mutter hatte am Rennaissance Theater durch eine Bekannte eine Stelle als Maskenbildnerin bekommen. Und weil sie sich nicht nur darin gut angestellt hatte, sondern sich auch noch besser Text hatte merken können als die Darsteller, hatte sie nach und nach kleine Rollen bekommen.

Allerdings sah ihre Mutter auch noch besser aus als die meisten Frauen des Theaters. Und wie es nun mal so war, war sie zwar gut gewesen, aber die Frauen waren neidisch geworden. Und vielleicht war es Glück, vielleicht war es Unglück, dass der blöde Exfreund ihrer Mutter ein verkappter Regisseur gewesen war, der zufällig ein Stück am Deutschen Theater aufführte, für dessen weibliche Hauptrolle er nur ihre Mutter hatte haben wollen.

 

Das Stück hatte gefloppt, und der Typ hatte keinen weiteren Auftrag mehr bekommen, aber ihre Mutter war ins Ensemble aufgenommen worden. Zwar nur als zweite Nebenbesetzung, aber auf einmal hatten sie fast doppelt so viel Geld wie vorher! Das war nicht viel, aber es war mehr. Komischerweise hatte der Typ ihre Mutter verlassen, als diese sich geweigert hatte im Theater zu kündigen. Kaya war das nur recht gewesen. Sie hatte ihn nie ausstehen können!

 

Aber noch etwas widerstrebte ihr, neben dem Theaterleben ihrer Mutter, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Sie hieß nicht wie ihre Mutter. Sie hieß wie ihr Vater. Auch hier bildete sie die riesengroße Ausnahme in ihrer Klasse. Warum ihre Mutter entschieden hatte, dass Kaya nicht ihren Nachnamen bekommen sollte, war Kaya noch immer ein Rätsel, wie so vieles. Ihre Mutter hieß Petersen, Kaya hieß Rothenberg. Und so war es schon immer gewesen, und ihre Mutter hatte sich schwer dafür eingesetzt, dass diese Formalität auch jedes Mal gründlichst beachtet wurde.

Tatsächlich so gründlich, dass selbst ihre Großmutter jeden seltenen Brief an Petersen und Rothenberg adressierte.

 

Kaya wusste, wenn sie volljährig war, würde sie den Nachnamen ihrer Mutter annehmen. Das hatte sie ihrer Mutter noch nicht erzählt, aber es hatte ihr nie gefallen, nicht so zu heißen wie ihre Mutter. Es war manchmal, als wären sie nicht verwandt.

Ihre Mutter hatte sie vertröstet mit der Begründung, dass sie angenommen hatte, Kayas Vater zu heiraten, wären sie erst einmal achtzehn gewesen, aber das hatte sich dann ja zerschlagen. Und Kaya begriff nicht, weshalb sie nun damit gestraft war, alleine diesen Namen zu tragen, der in ihrer Mutter bestimmt alles andere als schöne Erinnerungen hervorrief.

 

Sie war anders. Das war aber nichts Neues mehr.

 

Sie hatte sich die Tasche über die Schulter geworfen, während sie das Handy aus der Hosentasche zog. Es war das alte Handy ihrer Mutter. Ein Samsung-irgendwas mit einem gesprungenen Display, aber es funktionierte immerhin.

 

Die Gänge der Schule lagen ausgestorben vor ihr. Nur ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Ab und an erspähte sie eine der Putzfrauen in den Räumen, die aber kein Wort mit den Schülern sprachen. Kaya würde auch nicht mit den Schülern sprechen, würde sie hier als Putzfrau arbeiten.

Sie verließ dankbar das uralte Gebäude, das ihr jeden Tag nur Bauchschmerzen brachte und ließ den Schulhof nur zu schnell hinter sich. Die Haltestelle lag nicht weit entfernt, aber sie musste zwanzig Minuten fahren, bis sie zu Hause war.

 

Ihre Finger glitten angespannt über die Namen ihres spärlichen Adressbuchs auf dem gesprungenen Display, während sie nach dem Namen Oliver suchte. Sie kannte allerdings nur einen. Die Bahn kam, und die meisten Schüler waren alle bereits verschwunden, also hatte sie das Glück, nicht mit den Massen nach Hause fahren zu müssen. Viele Eltern holten ihre Kinder am letzten Tag ohnehin von der Schule ab.

 

Sie setzte sich ans Fenster und betrachtete den Wechsel an Häuserfassaden, während sie Charlottenburg hinter sich ließ und die Umgebung schäbiger wurde, mit jedem weiteren Kilometer, den sie zurücklegte. Es klickte in der Leitung und sie wartete gespannt.

 

„Oliver Rothenberg?“, vernahm sie seine ernste Stimme, und sie war jedes Mal nervös, wenn sie mit ihrem Vater sprach. Er war ja praktisch ein Fremder. Ein Fremder, dessen Namen sie trug. Manchmal war es anstrengend, Traditionen aufrecht zu erhalten.

„Hey Oliver“, begrüßte sie ihn und sank tiefer in den unbequemen Sitz zurück. „Herzlichen Glückwunsch… zum Geburtstag“, ergänzte sie und nahm an, dass er heute 33 geworden war. Aber sie fragte nicht nach. Sie sagte ihm auch nicht, wer anrief, denn sie wollte testen, ob er sie überhaupt noch erkannte.

 

„Oh – hi, Kaya“, erwiderte er, tatsächlich überrascht. Ihr Name klang immer wieder seltsam aus seinem Mund, aber er kannte sie also noch. Ihr Name klang ohnehin schon seltsam genug, aber ihre Mutter hatte ihr erklärt, es wäre wichtig, einen besonderen Namen zu haben. Das war ihr gelungen. Sie konnte ihn praktisch jedes Mal für jeden buchstabieren. „Ich danke dir. Alles klar?“, fügte er hinzu, und er klang normal. Seine Stimme war sogar angenehm, aber sie konnte sich nicht mehr wirklich erinnern, ob sie immer so gewesen war.

 

„Klar“, beschloss sie zu lügen, denn sie musste ihrem Vater ja nicht erzählen, dass sie zwei Fünfen hatte und eine Nachprüfung in Sport machen musste, die sie niemals bestehen würde. Es bestand ja keine Gefahr, dass er jemals nach Berlin kommen würde. „Läuft alles gut im Theater?“, ergänzte sie also, um das Thema von sich abzulenken.


„Sicher, alles wunderbar. Sie haben mir heute eine unglaubliche Torte gebacken, tausend Tonnen schwer, und später gehen wir noch feiern“, erzählte er gut gelaunt. Sie hatte ihrem Vater noch nie etwas geschenkt, fiel ihr auf. Und sie wusste nicht mal, wer die Leute waren, mit denen er feiern ging. Ob einer davon sein Freund war? Es schauderte sie, daran zu denken.

 

„Hm, cool“, sagte sie also. Kurz schwiegen sie, ehe er sich wieder räusperte.

 

„Alles in Ordnung mit Vivian?“, fragte er, wie jedes Mal, und auch der Name ihrer Mutter klang seltsam aus seinem Mund. Kaya wusste nicht, wann er ihre Mutter das letzte Mal gesehen hatte, aber sie nahm an, es war auch sieben Jahre her.

 

„Ja, alles in Ordnung. Sie geht wahrscheinlich nach London die nächsten Wochen“, beschloss sie wertfrei zu erzählen, obwohl sie es ihrer Mutter übel nahm, dass sie alleine ging. 

 

„Nach London?“, fragte ihr Vater beeindruckt, und Kaya seufzte.

 

„Ja, wahrscheinlich sieben Wochen lang“, erklärte sie. „Sie hat eine winzige Rolle in Starlight Express am Broadway in London bekommen“, fügte sie fast schon bitter hinzu.

 

„Tatsächlich?“ Er klang beeindruckt.

 

„Ja, sie kennt wen, der krank geworden ist, und… keine Ahnung“, erklärte sie achselzuckend. Sie war immer noch beleidigt.

 

„Das ist eine gute Chance“, sagte ihr Vater anerkennend. Ja, das war es wohl. Vor allem war es auch gutes Geld. Ihre Mutter sparte, so dass sie sich endlich einen Urlaub leisten konnten. Vielleicht sogar schon in den Herbstferien. Das wäre wirklich super. Aber Kaya zog es vor, weiterhin eingeschnappt zu sein. „Du kannst nicht mit, nehme ich an?“, schloss er schließlich ernster, und sie war überrascht, dass er zu diesem Schluss überhaupt gekommen war. Denn ja. Das war das ganze blöde Problem an der Sache.

 

„Ja, nee. Sie sagt, sie müssen da in kleinen Trailern wohnen, und… sie kann da mit mir nichts anfangen, also…“ Kaya wusste, sie klang trotzig. Aber jeder würde trotzig sein, würde er als Bürde bezeichnet werden, als wäre sie noch ein Kleinkind. Ein Kleinkind, was eine Nachprüfung bestehen musste.

 

„Also?“, fragte er nach, als würden sie jeden Tag so ein Gespräch führen. „Bleibst du alleine in Berlin?“, wollte er ungläubig wissen.

 

„Nein, ich fahre den Sommer über zu Oma Mariele“, räumte sie ein. Eigentlich wollte sie da nicht hin. Vor allem nicht, weil sie sich da bestimmt nicht filmen könnte, während sie von einem Berg hing.

 

„Oh“, erwiderte er und klang, wie sie sich fühlte. Ja, sie nahm an, er hatte erst recht kein gutes Verhältnis zu der Mutter seiner Exfreundin „Deine… Freundin ist weg?“ Sie wusste, Oliver hatte keine Ahnung mehr, wie ihre beste Freundin hieß, aber sie nahm es ihm nicht übel. Sie wusste auch nicht, wie seine Freunde hießen.

 

„Alina ist mit ihrer Familie auf einer Kreuzfahrt für drei Wochen, also… ja, sie ist weg“, antwortete sie nickend.

 

„Hm“, erwiderte er schließlich.

 

Sie nahm an, das Gespräch war jetzt zu einem Ende gelangt.

 

Sie überlegte manchmal, ob sie ihn fragen sollte, ob man sich mal treffen könnte, aber sie verwarf den Gedanken immer wieder. Der Weg war weit. Sie hatte kein Geld, also müsste er kommen, oder er müsste ihr die Zugfahrt bezahlen – oder sonst etwas. Und nach Geld wollte sie ihn erst recht nicht fragen. Sie nahm an, er war ähnlich knapp bei Kasse, wie sie und ihre Mutter auch. Es war wohl einfach zu kompliziert, nahm sie an. Er bot es auch von sich aus nie an, also fragte sie gar nicht erst.

 

Sie wollte nie wirklich mit ihm reden, aber wenn sie denn mal telefonierten, dann tat sie sich schwer mit dem Auflegen. Sie vermisste ihren Vater nie wirklich, aber wenn sie seine Stimme hörte, dann kamen ihr immer die Fetzen ihrer Mutter in den Sinn, die sie dann und wann mal preisgab. Kaya erinnerte sich nicht mehr an das Gesicht ihres Vaters. Nicht mehr im Detail, aber ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass er damals der hübscheste Junge gewesen war. Sie hatte kein Foto von ihm. Sie glaubte, ihre Mutter hatte alle Bilder vernichtet, auch wenn sie es nicht zugab. Sie erinnerte sich, dass er groß war. Und schlank. Er hatte dunkelblonde Haare gehabt damals, vor sieben Jahren. Ihre Mutter hatte gesagt, dass alle Mädchen in ihn verliebt gewesen waren, dass er sich aussuchen konnte, mit wem er befreundet war und mit wem nicht.

Alles wäre ihm ganz einfach zugeflogen.

 

Wahrscheinlich würde er auch nicht mit ihr sprechen wollen, wäre sie nicht seine Tochter, überlegte sie und kaute auf ihrer Unterlippe. Aber sie sprach ihre Gedanken nicht aus. Sie begriff auch nicht, warum er schwul geworden war, warum er ihre Mutter nicht mehr gewollt hatte, denn sie war überzeugt, ihre Mutter war die schönste Frau auf der Welt.

 

Die elektronische Frauenstimme sagte emotionslos die Stationen an und unterbrach ihre Gedanken.

 

„Dann… mach’s gut“, sagte sie fast schon unbeholfen. Kurz dachte sie, er hätte längst aufgelegt, aber dann hörte sie ihn ausatmen.


„Danke für deinen Anruf, Kaya“, erwiderte er und klang nur noch ernst. Nicht mehr fröhlich. „Grüß Vivian von mir“, fügte er noch hinzu, und dann legte er auf.

 

Sie hatte ihn noch nie Papa genannt. Nicht mal in ihren Gedanken.

 

Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Sie hatte keine Ahnung, wann ihre Mutter fahren würde, aber sie wusste, es war in den nächsten Tagen. Ihre Laune verschlechterte sich. Wie sollte sie die blöde Nachprüfung bestehen? Sie konnte gar nichts. Sie war so unsportlich wie eine Scheibe Toast.

 

Die Bahn erreichte letztendlich ihr Ziel, und sie stieg mit einigen anderen Leuten aus. Sie musste noch ein Stück die Eberswalder Straße runter laufen. Es war ein heißer Tag geworden. Tausend Menschen schienen wieder einmal unterwegs zu sein. Und viele in ihrem Alter. Kaum war die Schule vorbei, krochen sie aus ihren Löchern.

 

Sie erreichte ihr Haus, kramte nach ihrem Schlüssel und glaubte nicht, dass ihre Mutter noch Zuhause sein würde. Aber sie irrte sich, als sie im zweiten Stock angekommen war und die Wohnungstür aufschloss. Das gesamte Haus roch nach irgendwelchen exotischen Speisen der Nachbarn, nahezu jeden Tag. Ihr Magen knurrte kurz, aber Hunger war hinter ihren anderen Sorgen zurückgetreten.

 

Sie hörte ihre Mutter im Wohnzimmer fluchen.

 

„Mama?“, rief sie durch den Flur, und ihre Mutter erschien barfuß im Türrahmen des Wohnzimmers. Ihre blonden Locken lagen wild auf ihrem Kopf und fielen ungebändigt über ihre Schultern. Ihr Kleid war sommerlich und beige. Sie sah sehr gut aus, wie immer.


„Hey Kleine. Ich bin gleich weg. Mach dir einfach Spaghetti, ok? Ich muss diesen verdammten Koffer zu Ende packen“, entfuhr es ihr, und sie wandte sich wieder um. Ihre Mutter hatte nicht mal gemerkt, dass sie geflucht hatte, stellte Kaya fest. Für gewöhnlich vermied ihre Mutter Kraftausdrücke. Sie zog die Jacke aus, warf sie über die Kommode und trat sich die Schuhe von den Füßen. Sie ging durch den Flur ins Wohnzimmer, wo der große rote Koffer ihrer Mutter aus allen Nähten zu platzen drohte.


„Was hat Herr Steiner gesagt?“, wollte ihre Mutter angestrengt wissen, während sie versuchte, den Reißverschluss zu schließen.


„Was?“, entfuhr es Kaya ertappt, und ihre Mutter hob den gehetzten Blick.

 

„Die Nachprüfung? Du musst doch in Sport die Nachprüfung machen, oder?“ Ihre Mutter kam also sofort zur Sache.

 

„Jaah. Es wird etwas komplizierter als um den Sportplatz zu joggen, Mama“, widerlegte Kaya ihre ursprüngliche Theorie, die sie noch vor einigen Tagen mit ihrer Mutter geteilt hatte. Ihre Mutter seufzte auf.

 

„Ich habe auch schlechte Nachrichten für dich“, erklärte sie entschuldigend. „Deine Oma Mariele ist gestürzt. Sie hat sich das Schienbein angebrochen und bleibt bei deinem Onkel Jannis“, erklärte ihre Mutter angestrengt, während sie den Koffer endlich zubekam. Ihre Mutter sprach nie besonders freundlich über ihre eigene Mutter. Wahrscheinlich weil sich die beiden seit ihrer ungewollten Schwangerschaft damals sowieso nicht mehr verstanden, wie ihre Mutter es gesagt hatte. Kaya wusste nicht, was sie sagen sollte.

 

„Oh, autsch. Tut bestimmt weh“, sagte Kaya nur. „Das ist… wirklich blöd“, ergänzte sie. Aber vielleicht nahm ihre Mutter sie jetzt ja doch nach London mit!

 

„Das ist wirklich richtig blöd. Aber meine Mutter wird wieder gesund, und sie entschuldigt sich, dass du nicht kommen kannst“, merkte ihre Mutter an. Kaya kannte ihren Onkel Jannis nur aus Erzählungen. Er hatte wohl einen Schreibtischjob in irgendeiner Röhrenfirma, eine Frau und drei kleine Kinder. Und Kaya nahm an, ihre Mutter war menschlich genug, sie nicht dorthin zu zwingen. Zu der Familie, die sie nicht kannte und die ihre Mutter nicht wirklich leiden konnte. Kaya tat es alles auch nicht wirklich leid, denn auch ihre Großmutter hatte sie Jahre nicht gesehen. „Und was meinst du damit, mit Joggen wäre es nicht getan?“, griff ihre Mutter ihre Worte wieder auf und wischte sich einige Locken aus der Stirn. „Und hast du Oliver angerufen?“, schien ihr jetzt noch einzufallen, und Kaya nickte.


„Ja, ich hab ihn vorhin angerufen. Schöne Grüße“, wiederholte sie die Worte ihres Vaters. „Und ich muss ein Videotagebuch über irgendeine tolle sportliche Tätigkeit machen“, erklärte sie.

 

„Aha, was soll das heißen?“ Ihre Mutter war im Begriff, ihre hohen Schuhe anzuziehen, denn sie war bereits zu spät dran, stellte Kaya mit einem Blick auf die bunte Uhr fest, die schief an der orangenen Wohnzimmerwand hing.

 

„Keine Ahnung? Hochseilakte? Bergsteigen? Wasser-Rafting?“, zählte sie verzweifelt auf, und ihre Mutter schüttelte verständnislos den Kopf.

 

„Wieso musst du etwas machen, was im Sportunterricht niemals auch nur vorkommen wird?“, wollte sie entgeistert wissen, und Kaya zuckte die Achseln. Ihre Mutter sah sie mitleidig und unentschlossen an.


„Weil es Sadisten sind, Mama. Es tut mir furchtbar leid“, fügte sie hinzu, denn ihre Mutter wirkte wieder einmal untröstlich.

 

„Ach, so ein Unsinn“, murmelte ihre Mutter, aber Kaya wusste, ihre Mutter gab sich schon wieder die Schuld daran, dass Kaya einfach nur faul war. Zumindest in Sport. In Mathe war sie hoffnungslos. „Also, was machen wir jetzt?“, wollte ihre Mutter ratlos wissen, während sie ihre Schlüssel in die Handtasche steckte.

 

„Na ja, Rollschuhfahren in England wäre bestimmt etwas, was sich lohnen würde aufzuzeichnen?“, schlug sie scheinheilig vor, aber der Blick ihrer Mutter war eindeutig.

 

„Kaya, wir haben darüber gesprochen. Es ist laut und gefährlich. Der Trailer ist zu klein für uns beide, und Kinder sind außerdem nicht erlaubt“, sagte sie wieder, gereizter als vorhin, und Kaya war kein Kind mehr. Nicht mehr wirklich zumindest. „Ich kann mich nicht um dich kümmern, und alleine lasse ich dich bestimmt nicht durch London laufen!“ Es hatte keinen Sinn, darüber wieder zu streiten. Kaya wusste es ja.

 

„Ich… mir fällt schon was ein“, gab Kaya nach. „Mama, ich…“, setzte sie erneut an, und ihre Mutter warf abwesend einen Blick auf die Uhr an der Wand.

 

„Ja?“ Sie klang gestresst, denn sie musste los. Und sie musste arbeiten, um Geld zu verdienen und die Miete zu zahlen, und Kaya hasste sich dafür, dass sie nicht klüger war oder eifriger. Das schlechte Gewissen nagte an ihr.

 

„Na ja, Herr von Ende hat mit mir gesprochen und gesagt, Reiten wäre… auch eine Möglichkeit“, räumte sie schließlich ein. Der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter war für sie nicht zu deuten.


„Du kannst nicht reiten“, sagte sie lediglich konsterniert.


„Ich… könnte es lernen?“, widersprach Kaya vorsichtig, nicht sicher, wie ihre Mutter reagieren würde.


„Wir haben kein Geld dafür, das weißt du“, sagte ihre Mutter, und Kaya wusste, sie würde abblocken.

 

„Ja, aber… wenn mein Großvater-“, begann sie, aber der Ausdruck ihrer Mutter war eisig geworden.


„Wir betteln nicht bei wildfremden Menschen um einen Gefallen, Kaya!“, schnitt ihre Mutter ihr jedes weitere Wort ab. „Du musst dich einfach nur bei irgendetwas Sportlichem filmen. Da werden wir wohl nicht die Längen einer Reitausbildung gehen müssen, oder?“, vergewisserte sich ihre Mutter gereizt, und Kaya ruckte mit dem Kopf.

 

„Es war nur ein Vorschlag“, entgegnete sie defensiv, aber ihre Mutter hatte die Stirn in Falten gelegt.


„Wir überlegen das später. Ich muss wirklich los. Ich versuche, früh wiederzukommen, denn ich fliege morgen, Kaya. Es sind einige Kollegen vom Theater den Sommer über in Berlin. Da kannst du dann hin, ok? Vielleicht kannst du helfen, das Bühnenbild zu streichen? Da müsstest du auf einen Hochsitz, das ist doch auch spannend. Und sportlich?“, schlug ihre Mutter betont munter vor, und Kaya verzog nur den Mund. Und die Hölle müsste sich auftun, bevor sie zu irgendeinem der bekloppten Theater-Freunde ihrer Mutter ging! „Mach’s gut, Kurze, bis später“, verabschiedete sich ihre Mutter entschuldigend, küsste Kaya auf die Stirn und verließ mit klackernden Absätzen die Wohnung.

 

Ach, wäre sie doch auch auf einem Kreuzfahrtschiff in der Südsee, und hätte sie doch auch einfach nur Zweien, wie Alina….

 

Kaya ließ sich auf die ausgesessene Ledercouch fallen und griff sich den Laptop ihrer Mutter.

Sie hatte nicht mal besonders großen Appetit. Das waren ja finstere Aussichten.

 

Wahllos tippte sie auf der Tastatur, suchte bei Google nach einfachen Extremsportarten, die man Zuhause machen konnte, wurde aber nicht wirklich fündig.

 

Ihr Handy vibrierte in ihrer Hosentasche. Dankbar ging sie ran, als sie die Nummer erkannte.


„Wie kann es sein, dass du Empfang hast?“, wollte sie ungläubig wissen. Sie hörte Alina lachen.


„Wir sind ja noch in deutschen Gewässern, also kein Problem. Mein Bruder übergibt sich seit einer Stunde, obwohl wir bis vorhin nur im Hafen gelegen haben“, fügte sie angewidert hinzu. „Meiner Mutter ist auch schlecht, nur mein Vater und ich waren schon am Buffet“, ergänzte sie fröhlich. Kaya wusste, ihr würde auch schlecht werden.

 

„Klingt super“, bemerkte sie trocken.


„Und? Was sagt deine Mutter zur Nachprüfung?“, wollte Alina jetzt begierig wissen. Alina hatte erstaunliches Timing, stellte Kaya schlecht gelaunt fest und bekam heiße Schuldgefühle.


„Ach so… ja, ich werde glatt durchfallen“, schloss Kaya bitter. „Herr Steiner sagt, ich muss mich filmen, wie ich Fallschirm springe oder Snowboarde oder… keine Ahnung!“, rief sie unglücklich aus.


„So ein Mist“, entfuhr es Alina. „Ja, ich erinnere mich an das Video letztes Jahr von Stefanie Weber. Das war ziemlich cool. Da warst du noch nicht auf der Schule. Und du kannst ja nicht mal Fahrrad fahren“, bemerkte ihre beste Freundin ratlos.


„Hey! Ich kann Fahrrad fahren. Ich habe nur keins“, verbesserte Kaya sie gereizt.

 

„Ok, und was machen wir jetzt?“

 

Wir? Du hockst auf einem Südsee-Kreuzer“, beschwerte sich Kaya neidisch.


„Ja, ich weiß. Wann fährst du zu deiner Oma?“, wollte sie jetzt wissen.

 

„Oh, das hat sich erledigt. Die hat sich das Bein gebrochen und ist bei meinem Onkel.“


„Oh je. Das tut mir leid!“, entfuhr es Alina.

 

„Ja, aber meine Oma ist zäh, denke ich“, fügte sie unsicher hinzu, denn sie wusste es nicht. Aber wenn sie war wie ihre Mutter, würde sie ein gebrochenes Bein bestimmt nicht unterkriegen. „Und meine Mutter versucht mich jetzt bei ihren verrückten Kollegen unterzubringen“, ergänzte sie schlecht gelaunt.

 

„Oh wie blöd“, bestätigte Alina. „Aber es gibt viele Sachen, die du in Berlin machen könntest, wobei du dich filmen kannst“, schlug Alina vor. „Im Fitnessstudio haben sie eine Kletterwand“, fügte sie hinzu, und Kaya musste fast lachen.


„Ja, ich bin sicher, so etwas hat Herr Steiner gemeint. Ich filme mich dabei, wie ich eine Wand runterfalle“, gab sie bitter zurück.

 

„Wie wäre es mit Spandau bei Nacht? Du könntest versuchen, den Verrückten zu entkommen und heile wieder nach Hause zu finden! Das würde dir zumindest den Respekt der Schule einbringen“, schlug Alina ratlos vor. Kaya ignorierte Alinas Worte und gab bei Google seufzend die nächsten Worte ein. Gestüt Rothenberg. Sie hatte es noch nie gegoogelt. Sie interessierte sich eher selten für Pferde, oder Dinge, die damit zusammenhingen.

 

„Ich bin dabei, das Gestüt von meinem Großvater zu googlen“, informierte sie Alina, die plötzlich aufmerksamer wurde.


„Der Unbekannte, bei dem deine Mutter das Zucken im Gesicht bekommt, wenn du davon anfängst?“, vergewisserte sich Alina neugierig. „Und ist das mit Pferden?“, wollte sie beiläufig wissen. „Dass du reiten könntest, wäre mir neu“, bemerkte sie fast spöttisch.


„Nein, kann ich nicht, aber… es wäre eine Idee“, rechtfertigte sie sich.

 „Vielleicht… ist das keine so blöde Idee“, entgegnete Alina schließlich nachdenklich.

 

„Na ja, es ist keine besonders gute Idee“, räumte sie ein. Und sie bekam über 7000 Hits bei Google. Sie starte auf die Google-Seite, und ihre Augen überflogen die Zeilen. Rothenberger Allee, Duvenstedt, Hamburg. Da befand sich das Gestüt.

„Ich bin auf der Homepage“, fügte sie knapp hinzu, als sie die Seite öffnete. Dass die Straße tatsächlich auch so hieß! Das war doch nur Zufall, oder?

 

„Du willst echt reiten gehen?“, vergewisserte sich Alina unsicher, aber Kaya seufzte.

 

„Ich will ganz bestimmt nicht, ich google nur?“


„Und dann was? Du willst ihn einfach anrufen und ihn fragen, ob du umsonst auf sein Gestüt kannst, wo du dann Pferde filmst?“ Kaya kaute auf ihrer Lippe, während sie die Homepage studierte. Der Hintergrundrahmen war dunkelblau, und in weißer Schnörkelschrift zog sich der Schriftzug Gestüt und Reitschule von Rothenberg über den oberen Rand. Im Hintergrund war ein Bild zu sehen. Es sah aus, wie eine unglaubliche Auffahrt, gesäumt mit weißem Rhododendron, mit einer riesigen offenen Wiese. Ziemlich luxuriös, überlegte sie kopfschüttelnd.

 

Weit hinten war ein riesiges Haus zu sehen. Ein Mann mit Reitgerte in schwarzen glänzenden Stiefeln hatte seine Hand hoch auf den Sattel eines braunen Pferdes gelegt und blickte ernst in die Kamera. Er sah noch sehr jung aus, fiel ihr auf, aber eigentlich machte es Sinn, wenn ihr Vater erst 33 war, nahm sie an.

 

Darunter stand: Dr. Alexander Julius von Rothenberg ist Eigentümer des Familiengestüts und der Reitschule Rothenberg. Die Reitschule gilt als renommierteste Adresse Hamburgs für Schüler der hohen Reitkunst und ist überdies seit vierzig Jahren Partner der Spanischen Hofreitschule in Wien. Das Gestüt Rothenberg war überdies auch 2013 Sponsor der SML-Tour Germany, außerdem gehörten die Sieger zu den hauseigenen Turnierteilnehmern. Der Rekordsieg beim diesjährigen S&D-Derby wurde angeführt von Leonard König, welcher ebenfalls unter den Top-Springen der VR-Classics der internationalen Weltranglisten-Springprüfung Kl. S*** mit Stechen vertreten ist, zusammen mit Tom Kiergarten…

 

„Was heißt S&D-Derby?“, fragte Kaya verwirrt und hätte auch gerne gewusst, was hohe Reitkunst sein sollte, aber Alina machte ein unwilliges Geräusch.

 

„Woher soll ich es wissen? Ich sitz auf einem Schiff“, erläuterte sie. „Aber vielleicht steht es für Sadomaso und Dance?“, schlug Alina lachend vor. „Willst du ihn anrufen?“, wollte Alina lauernd von ihr wissen, aber Kaya hatte keine Ahnung. Alina hatte wahrscheinlich recht. Es war ein bisschen viel verlangt, von jemandem, der einen nicht mal kannte, zu fordern, dass sie umsonst sechs Wochen auf seinem Gestüt wohnen durfte, oder?

Sie klickte auf den blau unterlegten Namen des Mannes, den sie nicht kannte.

 

Sie landete bei Wikipedia. Alexander von Rothenberg war am 9. August 1964 in Hamburg geboren. Er war jetzt 51 Jahre alt. Er besuchte mit zehn Jahren das Albert-Schweitzer Gymnasium in Ohlsdorf und wurde während seiner Kindheit von seinem Vater bereits in Spring- und Dressurreiten ausgebildet. Er studierte anschließend Rechtswissenschaften an der Ruprechts-Karls-Universität in Heidelberg und machte dort auch sein zweites Staatsexamen.

Er wurde nach dem frühen Tod seines Vaters Treuhänder des Familienerbes, übernahm die Leitung des Turnier Gestüts und lebte seit seinem Abschluss wieder in Duvenstedt.

 

Er heiratete noch vor seinem Studium mit achtzehn Jahren die zwanzigjährige Katharina Ahrendt. Das Paar bekam nur ein Kind. Oliver-Alexander von Rothenberg...

 

Sie musste ehrlich gestehen, dass sie nicht gewusst hatte, dass ihr Großvater einen eigenen Wikipedia Eintrag hatte. Aber anscheinend lief dieses Pferde Gestüt gut, so wie sie es beurteilen konnte. Fast war es beunruhigend. Und sie fragte sich unwillkürlich, warum ihr Vater keinen Kontakt mehr mit seinem anscheinend reichen Vater hatte und in München wohnte? Und wieso hießen sie nicht auch von Rothenberg, sondern nur Rothenberg – wenn sie schon so heißen musste? Aber das würde ihr auch nicht bei ihrer Nachprüfung helfen.

 

„Kaya?“, hörte sie Alinas Stimme und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.

„Wie wäre es, wenn du einfach nach Hamburg fährst? Ohne Ankündigung, ohne alles?“, fragte Alina plötzlich.

 

„Was?“ Alina war wahrscheinlich die Seeluft zu Kopf gestiegen.

 

„Ja, ich meine, deine Mutter ist in London, und du bist die arme minderjährige Enkelin, die ihren Opa besuchen will, um reiten zu lernen“, schlug Alina scheinheilig vor.

Opa?“, wiederholte Kaya unsicher das fremde Wort. „Alina, ich glaube, dein Vater ist älter als mein Großvater“, erwiderte sie langsam. „Und er sieht ziemlich streng aus.“


„Na und? Das ist doch egal. Denkst du nicht, dass das vielleicht ein besserer Plan ist, als anzurufen, zu sagen, dass du nicht reiten kannst, aber einen Gefallen willst, weil du eine Nachprüfung in Sport bestehen musst?“ Kaya verzog den Mund.


„Das ist beides absolut dämlich“, stellte sie trocken fest. „Außerdem würde meine Mutter ausflippen, wenn sie wüsste, dass ich einfach so nach Hamburg fahren wollen würde“, erklärte Kaya kopfschüttelnd.

 

„Und wenn wir ihr sagen, du hättest bereits einen anderen Platz, wo du bleiben könntest?“


„Ach ja? Und wo wäre das? Auf einem Schiff in der Südsee?“, wollte sie ungläubig wissen, aber Alina schnaubte auf.

 

„Unsinn, aber wir könnten sagen, mein Vater wurde geschäftlich wieder zurück nach Berlin berufen, und du würdest bei uns wohnen? Und so unwahrscheinlich ist es nicht. Meine Mutter befürchtet es die ganze Zeit über“, fügte sie knapp hinzu. „Oder vielleicht hofft sie es auch“, ergänzte Alina nachdenklich.


„Das ist vollkommen verrückt!“

 

„Wieso? Deine Mutter hat keinen Grund, anzunehmen, dass du sie anlügst. Sie würde doch niemals annehmen, dass du freiwillig auf ein Gestüt fährst, oder?“


„Ja, noch mal zum Hauptproblem: Ich habe kein Geld, Lina“, sagte sie lauter.

 

„Ach, das ist kein Problem! Du hast doch noch unseren Haustürschlüssel. Der Code für die Alarmanlage ist 8470, dann gehst du in mein Zimmer. Der Schlüssel für meinen Schreibtisch liegt unter dem Fuß vom Globus im Regal, und dann leihst du dir eben Geld von mir“, schlug Alina achtlos vor. Kayas Augen wurden groß bei ihren Worten und heftig schüttelte sie den Kopf.


„Was? Nein, auf gar keinen Fall! Ich breche doch nicht bei euch ein, um dir Geld zu klauen!“

 

„Unsinn, du hast einen Schlüssel, du hast den Code, und ich habe genug Geld, Kaya“, fügte Alina streng hinzu. Seltsam, wie das manche Leute einfach sagen konnten, überlegte Kaya schockiert. „Und wenn du deine Nachprüfung nicht bestehst sitze ich ganz alleine beim alten Steiner und schmachte Bastian Kaminsky alleine an, das willst du doch wohl nicht?“, wollte sie lauernd wissen. Jetzt wäre der Moment gekommen, Alina zu sagen, dass Bastian sie morgen besuchen wollte, falls er seine Prüfung bestand. Aber Kaya sagte nichts.


Ich schmachte ihn nicht an!“, entfuhr es Kaya schließlich kleinlaut, auch wenn sie sich tatsächlich fragte, ob er morgen auftauchen würde. Wahrscheinlich nicht.

 

„Ja, ja… bestimmt nicht“, wiederholte Alina wissend. „Du stehst ja nicht auf beliebte, hübsche Jungs“, fügte sie lachend hinzu. Kaya beschloss, darauf nicht einzugehen.

 

„Das geht trotzdem nicht“, begann Kaya wieder.


„Wieso nicht?“

 

„Weil ich meine Mutter anlügen müsste und bei euch einbrechen würde. Und wofür? Dafür, dass wir nicht mal wissen, ob mein Großvater mich bei ihm wohnen lassen würde!“ Kaya hörte Alina stöhnen.

„Also, du hast keinen Sinn für Abenteuer! Und dein Großvater ist nicht blöde, oder? Der würde niemals eine Minderjährige in der Nacht draußen alleine lassen. Druck dir die Route aus, plan die Reise, die ich liebend gerne für dich planen würde, und geh nach Hamburg. Du bist außerdem schlank und hübsch“, fügte Alina hinzu. Kaya verzog den Mund. Sie konnte es schon nicht leiden, als Minderjährige bezeichnet zu werden. Sie war doch keine vier mehr.


„Was soll das bedeuten?“, erkundigte sie sich jetzt unwillig.

 

„Na ja, ich meine, schlanke, hübsche Mädchen wirft man doch nicht auf die Straße“, erklärte Alina lachend.


„Ha ha, wirklich witzig.“

 

„Komm schon. Und wenn es nicht klappt, kommst du wieder nach Hause und wir überlegen uns einen neuen Plan, Kaya.“ Alina klang ungeduldig.

 

„Meine Mutter würde mich umbringen!“

 

„Es war doch deine Idee mit dem Gestüt?“, entgegnete Alina verständnislos.


„Ja, eine Idee, Lina! Das war kein Plan in Stein gemeißelt!“

 

„Na und? Der Plan ist nicht schlecht, bedenkt man, dass Herr Steiner es dir sogar vorgeschlagen hat!“


„Hat er nicht. Er hat gesagt, Reiten wäre eine Möglichkeit. Er hat nicht gesagt, geh los und belästige den Großvater, den du noch nicht gesehen hast!“, informierte Kaya ihre beste Freundin.

 

„Das sind alles nur technische Details, Kaya“, erklärte Alina. „Oh, mein Vater kommt!“, entfuhr es ihr. „Ich ruf dich heute Abend noch mal an. Also, der Code ist 8470, falls du ihn wieder vergessen hast!“

 

„Lina-!“, wollte sie sich beschweren, aber Alina hatte bereits aufgelegt.

 

Ja, es wäre ein Plan. Aber es war ein Plan, den auch die Panzerknacker hätten machen können, denn was da alles schief gehen würde, könnte Kaya nicht mal an zwei Händen aufzählen. Das schlechte Gewissen schickte wieder heiße Schuldgefühle in ihren Bauch. Sie musste diese blöde Nachprüfung bestehen! Egal, wie, denn sie könnte nicht ertragen, dass ihre Mutter sich Vorwürfe machte.

 

Sie hatte keine Ahnung, was ihr Großvater von ihr hielt, oder ob er ihr so etwas schuldig war. Wahrscheinlich nicht. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.

 

 

Zweites Kapitel

– Das Glück der Erde –

 

Das Ticken der Standuhr an der Wand war das einzige Geräusch, das in den Räumlichkeiten zu vernehmen war. Die Lepaute Standuhr war seit 1820 im Familienbesitz. Sie war aus dunklem Rosenholz und die feuervergoldeten Bronzeappliken zeigten religiöse Motive aus einer Zeit, in der Standuhren noch als Statussymbole gegolten und Ehrfurcht vor dem Glauben geherrscht hatte.

Der Monatsläufer musste nach exakt dreißig Tagen wieder aufgezogen werden, um die richtige Uhrzeit anzuzeigen. Es war noch nie versäumt worden. Nicht von seinem Vater, nicht von seinem Urgroßvater oder dessen Urgroßvater. Er wusste nicht mehr, wen er schließlich mit dieser Aufgabe beauftragt hatte, aber immerhin nahm derjenige seine Weisung anscheinend ernst.

 

Jetzt war die Uhr nur noch ein Artefakt, kein Statussymbol mehr. Genauso wie Ehrfurcht nur noch ein Artefakt aus einer längst vergessen Zeit zu sein schien, überlegte er bitter.

 

Das Licht schien verhalten durch die doppelverglasten Sprossenfenster in den Verhandlungsraum, der vor weniger als zehn Jahren noch als Wohnzimmer des zweiten Stocks genutzt worden war. Seit dem Tod seiner Mutter allerdings gab es keinen Anlass mehr, ein zweites Wohnzimmer zu unterhalten. Er erinnerte sich noch, wie die Möbel damals angeordnet gewesen waren, bevor der riesige Verhandlungstisch und die lederbezogenen Schwingstühle Einzug gefunden hatten.

 

„Dr. Rothenberg?“, unterbrach der junge Berater seine Gedanken und sah ihn an, wie man möglicherweise einen Pensionär betrachtete, der die Unterstützung hunderter Berater brauchte, weil er nicht mehr in der Lage war, eine eigene Entscheidung zu treffen und stattdessen gedankenverloren eine Standuhr betrachtete.

 

Er verzog den Mund bei dem Unverständnis der anwesenden, angeblich studierten, Elite, die für ihn jeden Cent zehnmal umdrehte, bis ihre Finger wund waren, um einen Gewinn zu erzielen, mit angeblichem Fachwissen, dass einem heutzutage in teilweise unverständlichen Anglizismen präsentiert wurde, um die trockene Materie benutzerfreundlicher zu machen, nahm er an. Was für ein tragischer Trugschluss.

 

„Was?“, entgegnete er mit gewöhnlichem Gleichmut.

 

„Wir kämen dann jetzt zu den Liegenschaften?“, erwiderte der Mann namens Hansen vorsichtig. Die Herren bedachten ihn mit vorsichtigen Blicken. Er wusste, dass diese Männer Angst vor ihm hatten. Kriecherische Angst war eine Schwäche, die diese Fußabtreter aber höchstwahrscheinlich in der Universität heutzutage beigebracht bekamen, nahm er bitter an. Er betrachtete die Unterlagen vor sich. „Die Stiftungen laufen im nächsten Jahr aus, Dr. Rothenberg.“

 

Er hob gereizt den Blick. „Das ist mir bewusst, Dr. Hansen. Ich habe die Stiftungsverträge unterzeichnet.“ Er hatte sie unterzeichnet, da hatte Eduard Hansen gerade den ersten Tag seines verwaschenen Wirtschaftsstudiums begonnen. Manchmal bereute er, dass ihn seine Position dazu zwang, kleine Besserwisser einzustellen, die in ihrer jungenhaften Arroganz nicht zu übertreffen waren, weil sie mit ihrem monatlichen Einkommen knapp über dem Durchschnitt lagen.

 

„Ja, Dr. Rothenberg, natürlich“, erwiderte er kleinlaut. Er sah, wie sich der Adamsapfel des Mannes bewegte als dieser schluckte. Er nahm an, Doktortitel wurden heutzutage an den Universitäten mit beiden Händen verschenkt, so unfähig wie ihm dieser Haufen hier vorkam. Sein Blick glitt über die Erscheinung des etwa dreißig Jahre alten Mannes vor ihm, der kaum die Schultern des auf keinen Fall handgeschneiderten Anzugs ausfüllen konnte. Anscheinend versuchte er, seine spärlichen Haare einem der jetzigen Frisurentrends zu unterwerfen, aber das Versuchsstadium schien nicht überschritten zu sein, denn es sah lediglich lächerlich aus.

 

„Ja, gut. Ich meine… - es wurden sich noch nicht um neue Verträge gekümmert, Dr. Rothenberg, und… mit Ablauf der vertraglichen Laufzeit-“

 

„-mit Ablauf der Vertragslaufzeit sind die Objekte unbenutzt. Ich verstehe das Prinzip eines befristeten Stiftungsvertrags, Dr. Hansen, vielen Dank.“ Eine feine Schweißperle erschien am schwindenden Haaransatz des promovierten Kandidaten vor ihm, und er blätterte durch das Dossier, das ihm im Rahmen der neuesten Comptersoftware mit unnötigen Verzierungen am Rand präsentiert worden war.

 

„Was der Stab sich überlegt hätte, wären Anfragen an Stiftungen außerhalb Hamburgs. Es haben sich keine neuen Interessenten überhaupt innerhalb des hanseatischen Raums gefunden“, erklärte ihm nun ein anderer Anzugträger, der seinem gefallenen Kameraden nun zu Hilfe sprang. Die Brille, die dieser Mann trug war randlos, entspiegelt und ganz der Zeit entsprechend. Die Krawatte jedoch war lachsfarben und nichts, was ein Mann in dieser Position auch nur im Ansatz überlegen sollte, zu tragen.

 

Nicht einmal als Gefallen für seine Frau. Allerdings wusste er, dass keiner dieser hier anwesenden wirtschaftsrechtlichen Überflieger verheiratet war. Und es wunderte ihn nicht. Es wunderte ihn auch nicht, dass sich kein Käufer in Hamburg und Umgebung traute, ihn als Pächter zu haben. Er würde dieses Gespräch mit seinem Berater-Team nicht weiter hinauszögern. Heute war ein geeigneter Tag, nahm er an.

 

Er schloss das Dossier und schenkte der Runde an jungen Herren einen abschätzenden Blick, die so übermotiviert ihre Mindmaps erstellt hatten, dass seine nächsten Worte beinahe mit einem Lächeln seine Lippen verließen.

 

„Meine Herren, wie wäre es, wenn Sie die Zeit sinnvoll nutzen würden und mich verschonen von Hausfrauenstiftungen, die ihre altertümlichen Spinnräder, und Kachelöfen in meinen Jahrhunderte alten Räumen ausstellen wollen, und einen geeigneten Käufer finden. Sei es aus Hamburg oder sei es aus Bangkok“, schloss er lächelnd.

 

Und er hatte mit der erstaunten Stille gerechnet. Natürlich, denn, dass er jemals sein Eigentum würde verkaufen wollen hatte vielleicht unausgesprochen im Raum gestanden, jedoch war es nie laut geäußert worden, denn es wäre töricht.

 

„Einen Käufer? Aber… Sie wollten die Liegenschaften doch nicht verkaufen, Dr. Rothenberg. Wir-“

 

„-ich sehe mich außerstande, mich noch zwei weitere Jahrzehnte mit Verträgen zu befassen, die mir einen mittelmäßigen Profit bringen, zu dem Preis, dass eingetragene Verbände mir meine letzte Geduld mit ständigen Verwalterfragen und drohenden Klageschriften zur Zwangsrenovierung rauben, Dr. Hansen“, unterbrach er den Mann, der nun seine Krawatte zu lockern schien. „Auch Ihr zehnköpfiges Beratergespann überzeugt mich nicht, mit den erwirtschafteten Zahlen.“ Die Zahlen waren soweit in Ordnung. Kein übermäßiger Profit, aber Vermögen erwirtschaftete sich ja bei einem gewissen Reichtum selbst. Sein Geld arbeitete für ihn, aber langsam wurde es wieder Zeit, sich um eine geeignete Weiterfinanzierung der Projekte zu kümmern, und es kostete Kraft.

 

„Wir… wir haben uns noch nicht um potentielle Käufer bemüht, Dr. Rothenberg“, sagte ein weiterer Mann, dem diese Information wohl nun überhaupt nicht in seine Akten zu passen schien.

 

„Deshalb sage ich es Ihnen ja heute“, erwiderte er mit einem nachsichtigen Kopfschütteln.

 

„Einen solchen Käufer für alle Objekte zu finden – das ist…“

 

„Sie können die Objekte gerne einzeln verkaufen“, warf er mit schwindender Geduld ein. Gerne hätte er, dass deswegen kein Skandal vom Zaun gebrochen wurde, denn er war nicht der erste Mann auf der Welt, der seinen Besitz verkaufte.

 

„Einzeln? Sie wollen den gesamten Besitz teilen?“, entfuhr es einem wenig versprechenden Volljuristen namens Körner, der erst vor zwei Monaten sein Examen mit einem fragwürdigen magna cum laude bestanden hatte. „Es wäre vorteilhafter, Pachtverträge zu vereinbaren. Dann könnte Ihr Erbe in den Vertrag eintreten, wenn-“

 

Der Mahagonistuhl knarzte auf dem dunklen Parkettboden, als er sich schließlich erhob. Er verschloss die blanken Knöpfe des italienischen Jacketts. Das Gespräch war vorbei.

 

„Lassen Sie möglichen Interessenten entsprechende Angebote zukommen, die den jetzigen Werten der Objekte entsprechen. Informieren Sie mich über Annahmen potentieller Käufer, und keine weiteren Diskussionen mehr. Ich bringe hiermit mehr als deutlich zum Ausdruck, dass ich die fünfzehn Objekte allesamt versilbert haben möchte, ohne Ausnahme. Ich investiere in neue Projekte mit dem Erlös aus den Liegenschaften, aber das besprechen wir, wenn es an der Reihe ist.“

 

Seine Berater taten ihr bestes, ihre Entrüstung zu verbergen.

 

Es klopfte an die Eichentür und die schwere bronzene Klinke bewegte sich ächzend. Eine Assistentin steckte den blonden Kopf hinein.

 

„Dr. Rothenberg, ich sollte Sie an den Termin erinnern, wenn-“

 

„-schon gut. Wir sind hier fertig, Frau Kramer“, schnitt er ihr das Wort ab. Die Frau trat hastig ein, um ihm die Tür aufzuhalten. Sie war leicht übergewichtig, stellte er mit einem abschätzenden Blick fest. Dass sie schwanger war, nahm er nicht an. Sie war alleinstehend, als ihm ihre Bewerbung vor einigen Jahren vorgelegt worden war. Und seitdem hatte er sie nie auch nur ein einziges Mal in männlicher Begleitung gesehen, und sie wohnte hier auf dem Anwesen.

Sie war allerdings die einzige gewesen, mit fließenden Spanisch Kenntnissen. Für ihren Beruf vollkommen unnötig, allerdings hatte sie sich mit dieser Eigenschaft von den anderen gesichtslosen, unqualifizierten Bewerberinnen abgehoben. Es verlieh ihr eine interessante Note.

 

Sein letzter Blick galt noch einmal der Standuhr. Er beschloss, sie von einem Fachmann polieren zu lassen. Die junge Frau hatte den Blick gesenkt, als er an ihr vorbeischritt und den geräumigen Saal verließ.

 

Es herrschte auch weiterhin betroffene Stille im Verhandlungsraum, während er den Flur hinab schritt. Sein privates Büro lag ein Stockwerk tiefer. Es überblickte den See und die angrenzenden Paddocks. Heute begann das Training. Es war eine gute Ablenkung, nahm er an. Und er hatte jetzt den Termin mit dem Tierarzt.

 

Er war die Wendeltreppe runter gegangen. Das Holz des Geländers stieß ihm auch unangenehm ins Auge. Einige Sachen brauchten eine Überholung hier, stellte er ärgerlich fest.


„Herr von Rothenberg?“ Er hob den Blick. Seine Köchin sah zu ihm auf.

 

„Ja, Frau Fiets?“, erwiderte er, während er weiter schritt. „Lassen Sie einen Handwerker kommen, der das Treppengeländer aufbessert. Und finden Sie jemanden, der die Uhr im großen Verhandlungsraum poliert“, ergänzte er gleichmütig, während sie ihm folgte.

 

„Gnädiger Herr, ich wollte Sie daran erinnern, dass Ihr Sohn heute Geburtstag hat.“ Er konnte keine Angst oder Scheu in der Stimme der Frau hören. Frau Fiets war von seiner verstorbenen Frau eingestellt worden, war also schon seit über dreißig Jahren hier auf dem Gestüt.

 

„Und?“, entgegnete er ruhig, ruhiger, als er angenommen hatte, als er die Tür zu seinem Büro öffnete. „Sie erinnern mich jedes Jahr daran, Frau Fiets“, erklärte er, während er die Schublade einer der Kommoden öffnete, um seine Lederhandschuhe oben auf zu legen.

 

„Ich dachte mir, vielleicht wollten Sie dieses Jahr anrufen, gnädiger Herr. Ich habe seine Nummer“, fügte sie bedächtig hinzu.


„Vielen Dank, aber nein.“

 

„Wollen Sie nicht wissen, woher ich die Nummer habe, Herr von Rothenberg?“

 

Sie strapazierte seine Geduld. Er wandte sich um. „Nein, Frau Fiets. Ich würde gerne wissen, was es heute Abend zu Essen gibt. Und ich möchte, dass Sie sich darum kümmern, dass die Handwerker zeitig erscheinen“, fuhr er sie jetzt an und sie neigte ergeben den Kopf.

 

„Es gibt Rosmarin-Kartoffeln, Räucherlachs und Pudding. Und ja, ich werde mich darum kümmern, gnädiger Herr“, ergab sie sich kleinlaut.

 

„Vielen Dank“, gab er energisch zurück und wartete, bis sie die Tür hinter sich schloss. Manche seiner Angestellten schienen sich mehr zu erlauben, als ihnen zustand, überlegte er ärgerlich. Er hoffte nur, sie würde nicht tratschen. Soweit es ihn betraf, hatte er keinen Sohn mehr. Er hatte keinen Gedanken an ihn verschwendet.

 

Vor allem gab es heute genug zu tun. Die Lehrer würden mit dem Training beginnen, und mit viel Pech kam Wolfgang König heute persönlich vorbei, um die frisch dressierten Stuten abzuholen. Er trennte sich ungern von seinen Pferden. Aber er wusste, sie wurden nur deshalb dressiert, um sie zu verkaufen.

 

Und Doktor Schmidt würde heute seinen Hengst wieder einmal untersuchen. Apollo litt an Laminitis. Es war eine gewöhnliche Hufrehe, und er weigerte sich, mehr darin zu sehen, als es war. Er war zornig mit dem Personal, denn er wusste, Apollo hätte im Sommer keine Schonung gebraucht, hätte nicht wochenlang auf der Weide stehen müssen, um das Gras zu fressen, was laut Dr. Schmidt verantwortlich sei, für den Zustand seines Pferdes.

 

Und er hatte es zu spät entdeckt. Natürlich hatte er das, denn Hufrehe war ein Haltungsfehler, etwas, was in seinem Gestüt nicht vorkam. Und er war beinahe noch zorniger mit seinem Pferd. Denn er hatte ihn wieder trainiert, hatte diesen Frühling mit hohen Hoffnungen auf das Derby begonnen, nur um schließlich zu merken, dass sein Pferd kürzere Schritte machte. Und das war alles gewesen. Er hatte nicht einmal damit gerechnet, dass seinem Prachthengst etwas so banales wie Hufrehe überhaupt passieren konnte.

 

Aber es würde vorübergehen, wie alles andere sonst. Denn sein Hengst war keine acht Jahre alt. Und er hatte nicht all die Zeit und Mühe in das Tier investiert, damit es an lächerlicher Hufrehe verendete. Bitter verzogen sich seine Mundwinkel, und er blickte hinab auf die Lederhandschuhe. Er hatte schon so viele Pferde verloren oder verkauft, hatte so viele von ihnen überlebt, aber er wäre unglaublich wütend auf das Tier, würde eine kleine Hufrehe ihn Turnierzeit kosten.

 

Denn sein Hengst war ihm wichtiger als vieles sonst. Wichtiger als die meisten Menschen, und er würde dem Tier nicht vergeben, würde es ihn so sehr enttäuschen.

 

Jetzt würde er sich umziehen, kurz das Training überwachen und die Listen der Anwärter für das Dressurtraining überprüfen. Nicht dass wieder so eine unglückliche Geschichte wie letztes Jahr passierte, und eine Schülerin die Kosten nicht mehr hatte tragen können. So etwas war inakzeptabel. Er verschenkte die Plätze in seiner Reitschule schließlich nicht.

 

Der Tag kam ihm bereits jetzt schon unendlich lang vor. Dabei hatte er noch nicht einmal angefangen. Und die grauen Haare hatten begonnen sich auf seinem Kopf zu häufen, stellte er mit einem gereizten Blick in den Spiegel fest. Er war alt geworden. Wann war das passiert, fragte er sich verblüfft.

 

Oliver wurde heute 33. Als ob er es vergessen hatte. Er vergaß gar nichts. Nie. Aber es war nur eine weitere Zahl. Ein unwichtiges Detail. Hart griff er nach den Lederhandschuhen und wandte sich vom Spiegel ab.

 

~*~

 

„Du hörst mir gar nicht zu!“, bemerkte ihre Mutter, während Kaya lustlos auf der Pizza kaute, die sie bestellt hatten. Sie hatte regelrecht Bauchschmerzen vor lauter Gedanken. Sie war hin und hergerissen und überlegte, wie groß der Fehler war, den sie wohl machen konnte.


„Was?“, entfuhr es Kaya erschrocken, als sie den Blick ihrer Mutter bemerkte, die den Harry Potter Film auf Pause schaltete.

 

„Ich habe gesagt, Elias könnte dich für ein Woche aufnehmen. Elias ist wirklich nett“, fügte sie hinzu, als Kaya den Mund verzog.


„Er ist Kettenraucher“, entgegnete Kaya angewidert.


„Na ja, das ist wohl übertrieben, oder? Du hättest sein Gästezimmer und könntest immer Fenster aufmachen“, wandte ihre Mutter ein, aber auch sie klang nicht vollkommen überzeugt. „Und dann hätte Martina noch zwei Wochen Platz für dich.“ Kaya kam sich vor wie ein lästiges Haustier.


„Hm“, machte sie, während sie das kalte Pizzastück wieder in den Karton zurücklegte. Sie wischte sich die fettigen Finger gedankenverloren an der Hose ab.

 

„Ich weiß, es ist nicht ideal, aber ich finde noch weitere Freunde, bei denen du bleiben kannst“, versprach ihre Mutter versöhnlicher. Martina war lesbisch und trank jeden Abend eine Flasche Wein. Kaya kannte sie nur betrunken und ziemlich offenherzig. Alle Theaterfreunde ihrer Mutter hatten irgendeinen Fehler.

Keiner der Schauspieler war verheiratet. Sie fragte sich, ob das bei allen Leuten so war, die im Theater arbeiteten. Überall auf der Welt. Konnte man es nicht verbinden? War es einfach unmöglich?

 

Kayas Handy klingelte plötzlich in ihrer Hosentasche. Sie kramte es hervor. Alina.

 

„Hey“, nahm sie lustlos das Gespräch entgegen. Alina begrüßte sie nicht mal.


„Gib mir deine Ma!“, verlangte sie jetzt. Kaya blinzelte die Müdigkeit und Lustlosigkeit fort.

 

„Was?“, verlangte sie zu wissen, aber Alina erklärte nichts weiter.


„Komm schon. Gib mir deine Mutter.“ Aber Kaya ahnte, warum sie anrief.


„Alina, ich glaube nicht-“

 

„-was? Hat deine Mutter einen hübschen Platz gefunden bei Ekel-Elias? Der immer stinkt und den ganzen Tag keine Schuhe trägt?“, erkundigte sich Alina, und eigentlich musste Kaya nicht so großartig viel abwägen, ehe sie ihrer Mutter das Handy reichte.


„Für dich“, erwiderte sie auf den fragenden Blick ihrer Mutter hin.

 

„Hallo?“, sagte ihre Mutter verwirrt, und Kaya hörte, wie Alina munter anfing zu lügen. Sie schnappte die Worte „dringend“ und „Arbeitskrise“ und „sofortiger Rückflug nach Berlin“ auf, während ihre Mutter die Stirn runzelte. Atemlos wartete Kaya.


„Alina, das heißt, ihr kommt wieder zurück? Das ist doch schade! Ihr seid doch gerade erst gefahren“, ergänzte ihre Mutter mitfühlend. Kaya hörte Alina gleichmütig plappern.

„Aha, und deine Eltern haben damit kein Problem? Bist du sicher? Kann ich deine Mutter sprechen?“

 

Kaya hörte die Worte „seekrank“ und „kann morgen anrufen“ heraus.


„Oh, ich bin morgen schon abgereist, Alina“, sagte ihre Mutter nachdenklich. „Wenn du dir absolut sicher bist? Ich lasse Kaya natürlich genügend Geld hier, damit sie die Einkäufe deiner Mutter bezahlen kann. Und sie hilft auch gerne im Haushalt!“, log ihre Mutter, aber Kaya war überrascht, wie schnell ihre Mutter Alina glaubte. Vielleicht weil sie wusste, dass ihre doofen Theaterfreunde keine gute Alternative zu den rechtschaffenen Wagners waren.

 

Alinas Vater war Controller in einer Immobilienfirma, und ihre Mutter war Hausfrau. Alinas kleiner Bruder war auch in Ordnung, aber nur weil Kaya ihn nie zu Gesicht bekam. Er war in sämtlichen Sportvereinen untergebracht, spielte nebenbei noch Geige und war nur selten Zuhause. Außerdem war Kayas Mutter so erfreut, dass sie eine so nette Freundin gefunden hatte. Anscheinend hatte sie damit nicht gerechnet, als Kaya auf die neue Schule gekommen war. Sie wusste nicht, was ihre Mutter eigentlich dachte, was sie tat. Kaya wusste, sie tat sich schwer mit Menschen. Auf ihrer alten Schule hatte sie keine echten Freunde gehabt, und sie hatte auch keine gewollt. Nicht wirklich. Wahrscheinlich war ihre Mutter dankbar genug, dass Kaya nicht „auf die schiefe Bahn“ geraten war, wie ihre Mutter es nannte, obwohl Kaya sich nicht sicher war, was das hieß. Wahrscheinlich, dass sie die Schule schwänzte und anfing zu rauchen oder so etwas.

 

Aber eine Nachprüfung war auch nicht wirklich besser, nahm sie bitter an. Jedenfalls hatte sie vom ersten Tag an neben Alina gesessen, die ihr alles erklärt hatte, was man über Kurvendiskussionen eigentlich wissen müsste, und was Kaya niemals verstehen würde. Alina hatte ihr gezeigt, wie man auf dem Schulhof überlebte, ohne von den Zicken fertig gemacht zu werden, und sie hatte seitdem jeden Tag neben Kaya gesessen. Auch Alina hatte vorher keine wirklich beste Freundin gehabt. Kaya nahm an, beste Freunde passierten einfach. Man suchte sie sich nicht vorher aus.

 

Und seit einem Jahr bereute sie nicht, dass sie sich damals neben Alina gesetzt hatte. Und ihre Mutter bereute es auch nicht. Wahrscheinlich bekam Kaya auch deshalb nur halb so viel Ärger. Wahrscheinlich würde ihre Mutter denken, alles wäre noch schlimmer, wenn Kaya nicht mit ihr befreundet wäre.

 

Alina durfte hier so ziemlich alles. Und dass sie lügen könnte, war ihrer Mutter noch nie in den Sinn gekommen, überlegte Kaya. Ihre Mutter wusste auch, dass Alina nie Probleme mit Schulnoten hatte. Vielleicht hoffte sie, dass Alinas Verhalten auf sie abfärben würde. Wenn ihre Mutter nur wüsste…!

 

„In Ordnung, wenn es wirklich ok ist. Ich verlasse mich auf dich! Ja, dann eine gute Heimreise euch. Grüß deine Eltern von mir, Alina. Willst du Kaya noch mal – nicht? Ok, dann mach’s gut!“, verabschiedete sich ihre Mutter überrascht, und Kaya nahm wortlos ihr Handy entgegen.


Sie sah ihre Mutter gespannt an. „Wie du vielleicht gehört hast, fahren die Wagners wieder zurück. Du musst also nicht zu Elias. Aber sei bitte höflich, ok? Mach Frau Wagner keine Arbeit, hörst du?“ Kaya nickte nur und lächelte. Sie hatte Angst, dass ihre Mutter die Lüge hören würde, wenn Kaya nur ihren Mund aufmachte. Ihre Mutter war gut bei so was.

„Und versuch bitte, die Nachprüfung nicht zu vergessen, ok?“ Kaya nickte erneut.

 

Oh nein. Sie würde genau das Gegenteil tun, überlegte sie mit einem mulmigen Gefühl.

 

„Na gut. Dann lass uns weitergucken. Ich hab dich doch nur noch heute Abend, Kurze“, sagte sie liebevoll, und zog ihre Tochter gegen ihre Schulter. Ihre Mutter nannte sie immer Kurze. Dabei war Kaya mittlerweile genauso groß wie ihre Mutter. Sie liebte das Parfüm ihrer Mutter. Es roch so blumig und frisch. Sie schloss die Augen, während sie nur noch daran dachte, dass sie ihre Mutter nur anlog, um sie nicht zu enttäuschen.

 

Sie sagte nicht laut, dass sie nicht wollte, dass ihre Mutter ging. Es war nicht üblich, dass Kaya sich beschwerte über die Arbeitszeiten ihrer Mutter. Sie wusste, ihre Mutter war anders als andere Mütter. Und eigentlich gefiel ihr das gut, denn ihre Mutter war alles, aber nicht langweilig. Sie war wunderhübsch und die stärkste Frau, die Kaya kannte.

 

Wenn sie groß war, wollte sie genauso werden wie ihre Mutter. Also lächelte sie und kuschelte sich in die Armbeuge ihrer Mutter und vergaß, dass sie schon siebzehn war, und siebzehnjährige Mädchen eigentlich nicht mehr so anhänglich sein sollten.

 

Alina würde sie auslachen. Denn Alina sprach mit ihrer Mutter nur, wenn es nötig war. Aber Kaya glaubte, dass eigentlich ihre Mutter ihre beste Freundin war. Oder zumindest war sie gleichauf mit Alina.

 

„Ich hab dich lieb, Mama“, sagte sie zufrieden, und ihre Mutter strich ihr über die langweiligen, glatten blonden Haare. Sie wünschte sich immer, dass sie aufwachen würde, und die Locken ihrer Mutter hätte. Aber das passierte wohl nicht mehr, nahm sie an.

 

„Ich dich auch. Ich bin schneller zurück als du glaubst, ok?“, flüsterte ihre Mutter, und Kaya wusste, ihre Mutter hasste lange Abschiede oder große Szenen. Am liebsten sagte ihre Mutter gar nichts, wenn sie weg musste. Sie sagte, es wäre dann leichter, und der Abschied wäre nicht so schmerzhaft. Kaya begriff das nicht, aber sie widersprach auch nie.

 

Aber im Gegensatz zu ihr, weinte ihre Mutter jedes Mal beim letzten Harry Potter Teil. Wahrscheinlich war sie doch ganz weich innen drin. Weicher als Kaya es war. Aber sie achtete kaum auf den Film, denn sie wollte sich den Duft ihrer Mutter einprägen, und wie sie sich anfühlte, denn sie würde fast zwei Monate hunderte von Kilometern entfernt sein.

Vielleicht schaffte sie es, nicht einzuschlafen, um so viel von ihrer Mutter wie möglich zu haben. Sie würde es versuchen.

 

Auch wenn sie wusste, dass sie immer schlecht darin war, wachzubleiben, wenn sie musste. Jedes Jahr an Silvester war es ein Wunder, wenn Kaya nicht schon vor dem mitternächtlichen Dinner for One eingeschlafen war. Letztes Jahr war sie mit Alina in der Sporthalle der Schule gewesen, auf einer Party von Alinas Volleyball Gruppe. Sie hatte den zwölf Uhr Sekt nicht mal getrunken. Alina hatte sie wecken müssen, weil Kaya auf den blauen Sportmatten eingeschlafen war.

 

Die Chancen, dass sie es heute schaffte wachzubleiben, auch wenn sie ihre Mutter für zwei Monate nicht mehr sehen würde, waren… wohl eher gering.

 

Aber noch war sie wach!

 

Hellwach….

 

~*~

 

Sie glaubte, sie hörte das Klicken der Haustür, aber das Wohnzimmer lag noch in finsterer Dunkelheit, und ihre Augen wollten so hartnäckig geschlossen bleiben. Und sie driftete ab. Sie wollte eigentlich wach bleiben, aufstehen, den Tag nutzen, aber als sie kurz die Augen entspannte und wieder öffnete, wurde sie wach vom Vibrationsalarm ihres Handys, das auf dem Tisch lag.

 

Sie blinzelte und das Wohnzimmer lag in erschreckender Helligkeit. Ein Blick auf Uhr an der Wand teilte ihr mit, dass es kurz nach elf war! War es gerade nicht noch dunkel gewesen? Sie strampelte sich unter ihrer Bettdecke hervor, die ihre Mutter wohl über sie gelegt haben musste und raffte sich erschöpft auf, um ans Handy zu gehen.

 

Mist, der Akku war fast leer!

 

Sie schob ihren Finger über das gesprungene Display, um Alinas Anruf entgegennehmen. Als sie sich das Handy ans Ohr hielt, gähnte sie herzhaft, und hörte Alina aufschnauben.

 

„Du schläfst noch?“, fragte sie überflüssigerweise, und Kaya streckte sich stöhnend.

 

„Bin auf der Couch eingeschlafen. Meine Mama ist schon weg. Wie ist die See?“, ergänzte sie missmutig, erhob sich, und verließ die Unordnung des Wohnzimmers wieder, um in der Küche die Kaffeemaschine anzustellen.

Sie goss einhändig eine geschätzte Menge Wasser in den schmalen Tank und häufte drei Löffel Kaffeepulver in den Filter, den sie mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen in die Vorrichtung manövrierte, während Alina von ihrer Mutter erzählte, die auch an diesem Tag in der Suite verbleiben würde, um sich zu übergeben.

 

Sie schlurfte gähnend zurück ins Wohnzimmer, um auf dem schmierigen Glastisch, mit den zwei wackligen Stühlen, eine Nachricht ihrer Mutter zu finden. Daneben lagen 300 € für Alinas Mutter. Kaya verdrehte die Augen. Würden die Wagners tatsächlich zurückkommen, müsste sie Frau Wagner niemals so viel Geld geben! Wenn Frau Wagner überhaupt Geld von ihr annehmen würde. Immerhin musste sie somit nicht bei Alina einbrechen. Und bestimmt hatte sich ihre Mutter das vom Mund abgespart, und Kaya wusste, sie würde einen Teil hier lassen, denn ihre Mutter konnte für gewöhnlich nicht mit Geld um sich werfen.

 

Auf der Notiz hatte ihre Mutter in ihrer schiefen Schrift Grüße und Küsse dagelassen, den Namen des Ortes, in dem sie sein würde, und sie ermahnte sie erneut, nicht die Nachprüfung zu vergessen. Sie hatte am Rand der Notiz einen schiefen Rollschuh gemalt. Kaya musste schmunzeln. Ihre Mutter hasste Rollschuhfahren. Ihre Mutter war ähnlich unsportlich, wie sie es war. Wahrscheinlich war sie deshalb nicht so zornig mit ihr, nahm Kaya an. Sie vermisste ihre Mutter jetzt schon. Sie schob das Geld unter das alte Platzdeckchen, denn Geld hatte man nicht offen auf dem Tisch liegen, überlegte sie.

 

„Hör zu, ich werde gleich von meinem Handy aus deine Reise buchen, denn du wirst wieder einmal keine Ahnung haben, wie man kostensparend bucht. Außerdem buche ich von meinem Konto, dann hast du keine Reisekosten!“, fuhr sie selbstverständlich fort.


„Alina, nein!“, widersprach Kaya, aber Alina unterbrach sie rigoros.

 

„Unsinn. Immerhin kommt es auch mir zugute, wenn du die blöde Nachprüfung bestehst. Und wenn deine Mutter dir Taschengeld dagelassen hat, dann brauchst du jeden Cent!“, ermahnte sie Kaya jetzt. „Außerdem schicke ich dir per Mail eine Liste von Dingen, die du kaufen kannst, für die Reise. Astronautenfutter ist zwar eklig, aber nahrhaft und sättigend. Falls du länger unterwegs bist, oder es Probleme gibt, hast du genug zu essen, ohne zu viel Geld auszugeben! Und du kannst heute noch in unsere Wohnung, mein Bargeld holen!“, ergänzte sie hastig.

 

Kaya wollte widersprechen, aber Alina schien schon ganz aufgeregt zu sein. Wahrscheinlich war sie seit acht Uhr wach und plante Kayas Abenteuer.

 

„Ich rufe dich wieder an, wenn ich dir die Mail mit deinem Ticket, deine Route und die Einkaufsliste geschickt habe!“ Kaya wollte sich eigentlich erkundigen, wo Alina gerade auf dem Ozean war und warum ihr Empfang so verdammt gut war und wie es ihr ging, aber Alina hatte bereits aufgelegt.

 

Es klingelte an der Haustür. Gähnend schlurfte Kaya auf den Flur hinaus. War das die Post? Die Nachbarn, die schon mal vorsintflutlich eine riesige Party anmelden wollten? Sie spähte durch den Spion, aber niemand stand vor der Tür. Also klingelte jemand von unten.

Sie drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage.


„Wer ist da?“, wollte sie unfreundlich wissen, so wie es ihre Mutter ihr beigebracht hatte.


„Hi, hier ist Bastian“, kam seine Stimme blechern durch den kleinen Lautsprecher. Sie starrte die Gegensprechanlage an. Dann blickte sie an sich hinab. Sie trug einen Schlafanzug – und was?! „Ich hab meine Prüfung bestanden. Und ich habe Brötchen?“, fügte er hinzu.

 

Echt jetzt?!

 

Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und sie war überfordert mit dieser Situation. Sie drückte unschlüssig auf den Knopf.

 

„Eine Minute, ok?“, erwiderte sie heiser und stürmte zurück.

 

Hastig räumte sie die Sachen von den Möbeln, warf die Sachen ihrer Mutter einfach bei ihr aufs Bett und verschloss die Tür. Mit dem Fuß trat sie ohne Reue alte Cornflakes unter die Couch, sowie die Blätter der Yucca Palma, zerknüllte nebenbei den Pizzakarton und eilte in die Küche, um ihn in den vollen Mülleimer zu stopfen.

Sie holte ihre Bettdecke eilig aus dem Wohnzimmer, um sie wieder über ihr Bett zu werfen und schloss auch diese Tür. Denn ihr Zimmer ordentlich zu bekommen, dafür bräuchte Kaya bestimmt eine ganze Woche!

 

Mehr schlecht als recht drückte sie Zahnpasta auf ihre Zahnbürste im Bad und putzte kaum mehr als fünf Sekunden ihre Zähne, ehe sie die Zahnpasta wieder ins Waschbecken spukte und sich im verschmierten Badezimmerspiegel betrachtete. Sie kämmte sich mit der Bürste die langen Haare glatt und ignorierte ihren Schlafanzug, den sie trug, denn mit Fantasie könnte er als Hausanzug durchgehen.

 

Vollkommen erschöpft kam sie wieder vor der Haustür an und drückte den Knopf, um ihn reinzulassen. Anscheinend wusste er doch, wo sie wohnte. Anscheinend hatte er einen Führerschein, begriff sie, während sie ihr Gähnen hinter ihrer Hand verbarg.

 

Sie öffnete die Tür, als sie seine Schritte im Flur hören konnte.

 

„Hey“, begrüßte er sie unschlüssig und blickte knapp an ihrer Erscheinung hinab. Es war so seltsam, dass er hier aufgetaucht war. Sie wich von der Tür zurück, um ihn reinzulassen.

 

„Hey“, erwiderte sie ebenfalls und nahm ihm die Brötchentüte ab. „Kaffee?“, fragte sie ihn jetzt, und er nickte vage. Er war hier! In ihrer Wohnung. Ein Junge, den sie mal gemocht hatte und den Alina immer noch mochte, war in ihrer Wohnung! Der erste Junge, ging ihr auf. Sie bedeutete ihm scheu, weiter ins Wohnzimmer zu gehen, als sie hastig die Küche betrat, um zwei Teller und zwei Tassen zu holen. Sie füllte die Becher mit Kaffee und stellte sie mit den Tellern auf ein Tablett. Sie entleerte die prall gefüllte Brötchentüte in einen Brotkorb, den sie auch auf das Tablett stellte.

 

Dazu holte sie noch Margarine, Wurst, Marmelade und Käse aus dem Kühlschrank. Den letzten Rest an Essen, der noch da war. Sie stellte eine Tüte Milch mit aufs Tablett und Zucker. Sie kippte die Milch schon in ihre Tasse, denn sie wusste weder, ob er überhaupt Milch und Zucker wollte, noch, ob er tatsächlich Kaffee trank.

 

Sie kippte die Milch versehentlich über ihren Becherrand hinaus und wischte den Fleck fluchend mit dem Ärmel weg. Dann balancierte sie das schwere Tablett ins Wohnzimmer.

Er saß bereits auf der Couch und sah sich neugierig um.

 

Er schob den Laptop zur Seite, als sie das Tablett auf den niedrigen Wohnzimmertisch stellte. Er griff wortlos nach seinem Kaffee, und sie tat es ihm gleich.

Sie kam sich plötzlich mächtig erwachsen vor. Sie war allein in ihrer Wohnung, und ein Junge saß auf ihrer Couch.

 

„Du… hast deine Prüfung bestanden“, schloss sie schließlich, um irgendwas zu sagen, und glaubte, bereits jetzt rot geworden zu sein.

 

„Ja, hab bestanden“, erwiderte er nickend. Er trank seinen Kaffee also schwarz.

 

„Hast du deinen Vater zum Flughafen gebracht?“, fragte sie weiter, obwohl es wohl offensichtlich war.

 

„Ja, vor einer Stunde“, bestätigte er. Da hatte sie noch geschlafen. Wahrscheinlich war Bastian jemand, der morgens um halb acht aufstand, selbst wenn er keine Schule hatte, damit er noch mehr lernen konnte, oder so.

 

„Und bist du mit dem Auto hier? Das darfst du gar nicht, oder?“, fragte sie weiter, und hatte keine Ahnung, weshalb sie so viele Fragen stellte. Außerdem musste er sich dann wohl einen Parkplatz unten erkämpft haben, vermutete sie, denn Parkplätze gab es hier so selten, wie einen Fleck auf dem Bürgersteig ohne Hundekot.

 

„Nein, ich hab das Auto in der Tiefgarage des Flughafens gelassen und bin mit der Bahn gekommen“, erklärte er. Sie sah ihn an.

 

„Echt? Du wusstest, wo ich wohne?“, entfuhr es ihr überrascht. Er ruckte mit dem Kopf und zog sein iPhone aus der Tasche.

 

„Internet?“, gab er ungläubig zurück, legte es auf dem Tisch ab, und kurz betrachtete sie neidisch das teure Stück Technik. Aber sie glaubte, es war überbewertet. Das sagte ihre Mutter auch.

 

„Und das Auto bleibt einfach da? Braucht deine Mutter kein Auto?“, fragte sie gedankenverloren, aber seine Stirn runzelte sich.

 

„Wir… ähm… haben mehrere Autos“, gab er etwas kleinlaut zurück. Oh. Natürlich. Er war ja reich. Jetzt wurde sie wirklich rot. Ihre Mutter hatte gar kein Auto. Sie konnten es sich gar nicht leisten. Wieso genau war Bastian Kaminsky hier? Die Wohnung musste ihm vorkommen wie ein größerer Flur, überlegte sie dumpf, voller Verlegenheit, die eigentlich unangebracht war. Sie schämte sich nämlich nicht. Es war einfach nur… so seltsam. Das war alles.

 

„Wieso besuchst du mich?“, entfuhr es ihr jetzt ratlos.

 

„Ist es so schlimm?“, wollte er fast beleidigt von ihr wissen, und sie runzelte die Stirn. Ja, vielleicht sah er wirklich nicht schlecht aus, ging ihr auf. Seine Haare schimmerten sogar und sie waren ordentlich frisiert. Er saß gerade auf der Couch, hatte die Beine nicht hochgelegt, oder so, und er kam ihr so vor, als würde es ihm nichts ausmachen, hier zu sein. Als würde er sich überall wohlfühlen. Sein Selbstbewusstsein war wohl das erste, was sie an ihm beeindruckt hatte. Neben seiner angenehmen Größe. Viele Jungen waren tatsächlich kleiner als sie. Oh je. Er hatte eine Frage gestellt, ging ihr auf!


„Nein, ich… nein. Aber… wir haben nie Kontakt in der Schule, oder… außerhalb?“, sagte sie jetzt verwirrt. Er lächelte plötzlich. Und sie war definitiv nicht gewöhnt, dass Jungen sie anlächelten. Es verursachte ein seltsames Gefühl in ihrer Magengegend, stellte sie nervös fest. Und sie fand sich selber erbärmlich. Immerhin hatte sie das erkannt.


„Ja, Caro kann dich nicht leiden“, erklärte er, als wäre es witzig.

 

„Ähm, ja. Das wäre noch so eine Sache. Du hast eine Freundin, richtig?“, hakte sie nach, und er ruckte tatsächlich mit dem Kopf.

 

„Caro ist…“, begann er unschlüssig und legte dann den Kopf schräg. „Ich hab dir gesagt, ich komme vorbei und helfe dir, deine Sportprüfung zu bestehen“, erklärte er jetzt ernsthaft. Aber sie konnte noch immer nicht begreifen, wieso er das tat.

 

„Ja… ich… also, Alina und ich haben da schon einen… Plan“, schloss sie ausweichend, denn eigentlich wollte sie ihm davon nicht wirklich erzählen. Sie strich sich eine Strähne hinter ihr Ohr und blickte hinab in ihre Kaffeetasse. Bastian Kaminsky saß auf ihrer Couch.

Oh mein Gott! Und Carolina würde sie umbringen!

 

„Ist er geheim?“, wollte er sofort wissen, und sie hob erneut den Blick zu seinem Gesicht. Er sah schon ganz niedlich aus. Sie biss sich auf die Lippe. Sie konnte nicht verhindern, zu fragen.

 

„Weiß Carolina, dass du hier bist?“ Kurz legte sich seine Stirn in Falten.


„Nein“, erwiderte er neutral. Aber sie sah, dass sich seine Oberlippe kurz abweisend kräuselte.

 

„Nicht?“, wiederholte sie ratlos.

 

„Caro ist nicht meine Freundin“, sagte er, fast ein wenig gereizt. Kayas Augen wurden groß.

 

„Ist sie nicht?“, stammelte sie nur und hätte schwören können, Carolina sah das anders. Sie hörte sie schließlich in der Pause schwärmen! Und ging sein Vater nicht auch davon aus, dass Bastian mit Caro zusammen war?

 

„Wäre sie gerne“, bestätigte er mit einem schiefen Grinsen. Das änderte die Dinge ein wenig, überlegte sie verwirrt. Bastian hatte keine Freundin und besuchte sie in ihrer Wohnung mit Brötchen? Ohne jeden Grund? Zumindest ohne einen guten Grund? „Also?“, sagte er energischer, und sie schnappte aus ihren Gedanken.


„Was?“

 

„Euer Plan?“

 

„Wieso… willst du mir helfen?“, forschte sie weiter nach, und hob die Hand, ehe er sprechen konnte. „Und sag nicht, weil du es gestern versprochen hast. Ich meine, das ist… so untypisch und…“ Sie sah ihn an, in Ermangelung weiterer Worte.


„Ok, du willst also zur Sache kommen?“, sagte er und überraschte sie damit. Oh je! Bekam sie jetzt ein Liebesgeständnis von Bastian Kaminsky? Das wäre… so unfassbar! Ihr Herz klopfte wieder lächerlich schnell.

 

„Ähm… ich will nur wissen, warum du-“

 

„-ich mag Alina“, sagte er schnell. Sie spürte, wie ihre Mundwinkel ausdruckslos sanken.

 

Was?! Oh… seine Worten ließen sie kurz blinzeln, und sie senkte den Blick wieder hastig in ihre Tasse. Mist! Sie war so unglaublich dumm!

 

„Also, ich… mag sie wirklich. Und… ihr seid befreundet, und ich…“

 

Ihr Herz schlug so schnell vor Scham. Er dachte, wenn er ihr half, dann würde sie ein gutes Wort für ihn bei Alina einlegen?! Und vor allem, er hatte es nicht mal nötig, überhaupt einen Umweg über sie zu machen. Und… - sie schluckte die Enttäuschung runter. Was hatte sie gedacht? Dass irgendein blöder reicher Junge aus ihrer reichen Gymnasiums-Klasse sie leiden mochte?! Das wäre das erste Mal, dass irgendwer ihr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Sie war so dumm.

 

„Aha“, rang sie sich nickend ab. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass er ihr einfach nur bei Facebook eine Nachricht schreiben musste, und sie wäre höchstwahrscheinlich seins. Aber es wäre vielleicht ein guter Grund, weshalb er wieder gehen konnte, denn eigentlich fand sie es ziemlich peinlich.

 

Sie trank einen großen Schluck Kaffee.

 

„Ja, also…“, begann sie beschämt, „dann sag ich ihr… Bescheid“, bot sie an, ohne ihm in die Augen zu sehen. Gott, sie war dankbar, Alina nicht in aller Vorfreude berichtet zu haben, dass Bastian Kaminsky bei ihr vorbeikäme. Einfach nur, um ihr zu helfen. Sie war so unendlich froh! Es ersparte ihr zumindest die Scham, die sie gegenüber Alina gefühlt hätte, weil sie tatsächlich für eine Sekunde geglaubt hatte, dass er sich für sie interessierte.

 

„Hey, ich hab gesagt, ich helfe dir!“, widersprach er achselzuckend.

 

„Das ist wirklich nicht nötig. Du kannst… gerne noch was essen, aber ich brauche wirklich-“

 

„- es macht mir nichts aus!“, versicherte er jetzt. Sie griff sich missmutig ein Brötchen. Als wäre sie ein Sozialfall, dem er helfen wollte, um als Ritter in schimmernder Rüstung vor Alina dazustehen. Gott, wusste er nicht, wie er aussah?! Sie konnte seine falsche Bescheidenheit nicht leiden, dachte sie missmutig.

 

Allerdings sagte sie nichts weiter. Oh Gott, es war so unendlich peinlich! Hoffentlich sah er ihr nicht an, wie peinlich es ihr war!

 

„Also, dann habt ihr schon eine Idee? Du weißt, was du für die Nachprüfung machen willst?“, versuchte er es erneut, und ja. Sie merkte, er hatte das Lächeln aufgelegt, dass er sonst dem Schulleiter zuteilwerden ließ.

 

„Ich werde heute zur Schule gehen, um mir die Cam auszuleihen“, räumte sie missmutig ein, ohne ihm weitere Informationen zu geben. Es war doch relativ leicht mit dem Kurschwarm zu sprechen, wenn man wusste, dass er definitiv und absolut gar nichts von einem wollte, stellte sie bitter fest. Zwar wollte sie am liebsten in Grund und Boden versinken, aber ansonsten war alles ok.

 

„Ich hab eine Cam. Die kann ich dir leihen. Wirklich, kein Problem! Und meine ist auch viel besser als die blöde Schul-Cam“, beteuerte er.

 

„Hey, es ist wirklich nicht nötig, dass du-“

 

„-wieso willst du meine Hilfe nicht?“, unterbrach er sie verwirrt.

 

„Weil ich sie nicht brauche“, gab sie bockig zurück. Er sah sie verwirrt an. Sie seufzte auf. „Weil du mir nicht helfen musst, bloß um Punkte bei Alina zu sammeln“, fügte sie gereizt hinzu.

 

„Soweit ich informiert bin, muss mich auch die beste Freundin leiden können“, entgegnete er ruhiger. Sie verdrehte die Augen. Er war ein blöder Schleimer. Kurz war sie wütend auf Alina. Nur sehr kurz, aber sie war definitiv wütend. Oder neidisch. Oder was auch immer.

„Kaya, ich leihe dir gerne meine Cam. Und du musst es Alina nicht mal sagen. Ok? Wirklich, ich habe kein Problem damit. Und sie ist wirklich besser als der Scheiß aus der Schule“, wiederholte er ernst. Sie seufzte erneut auf. Sie konnte nicht leiden, dass er sich so große Mühe gab, nur damit sie ihn leiden mochte. Mochte sie nämlich nicht. Absolut nicht mehr.

„Hab ich was Falsches gesagt?“, entfuhr es ihm jetzt, und bevor er noch auf den abwegigen Gedanke käme, dass sie eifersüchtig war, schüttelte sie hastig den Kopf.

 

„Fein, meinetwegen!“, brummte sie in ihr Brötchen. Hunger hatte sie keinen mehr.

 

„Es bleibt also ein Geheimnis, was du machen willst?“ Sie begriff nicht, warum er es unbedingt wissen wollte. Aber sie nahm an, wenn er das ernst meinte, was er sagte, würde Alina ihn bestimmt nicht abweisen. Sie resignierte.

 

„Ich werde auf dem Hof von meinem Großvater reiten gehen“, sagte sie so lapidar als wäre es ganz natürlich. Immerhin klang es zumindest ein bisschen elitär. Sie konnte sich denken, dass er sie für eine arme Kirchenmaus halten musste, dass er glaubte, er würde ihr mächtig aus der Klemme helfen, mit seinem blöden Kamera-Angebot. Sie war wieder wütend.

 

„Oh?“, entfuhr es ihm. „Ich wusste nicht, dass dein Großvater einen Hof hat“, gab er tatsächlich erstaunt zu bedenken. „Dann hast du ja echt kein Problem. Herr Steiner steht auf Pferde und all das.“

 

„Jaah“, sagte sie und bekam wieder das mulmige Gefühl in ihrem Innern. Ihr Handy vibrierte in die Stille hinein, und beide schraken zusammen. Sie schämte sich nur minimal für das gesprungene Display und beachtete seinen Blick gar nicht. Der blöde Bastian Kaminsky saß auf ihrer Couch, nur um sich bei ihr einzuschleimen. Alina würde das gefallen, vermutete sie missmutig. Natürlich. Welchem Mädchen würde das nicht gefallen….

 

Alina hatte ihr geschrieben, dass die Mail angekommen sein müsste. Kaya klappte gespannt den Laptop auf, für den sie sich kurz aus ihrem Sitz erheben musste, und stellte ihn auf ihren Schoß.

 

„Was passiert jetzt?“, wollte er knapp wissen, und lugte über ihre Schulter. Sie roch seinen Duft. Es verwirrte sie kurz. Sie hatte einen Jungen noch nie so nah aus der Nähe erlebt. Und ihre Mutter hatte ja seit einer ganzen Weile keine festen Freunde mehr gehabt. Und sie hatte nicht gewusst, dass Jungen auch gut riechen konnten. 

 

„Nichts weiter, ich…“, wich sie seiner Frage aus, und öffnete den Browser, um zu gucken, ob die Mail tatsächlich angekommen war, während sie unauffällig von ihm abrückte, bevor sie wieder rot werden würde. Plötzlich griff seine Hand nach dem Bildschirm und drehte den Laptop. Sie hob überrascht den Blick.

 

„Rothenberg?“, entfuhr es ihm, als würde er den Namen bereits von irgendwoher anders kennen und erst jetzt wirklich mit ihr in Verbindung bringen. Er sah hinab auf die Homepage des Gestüts, und es war ihr unangenehm. Sie entzog ihm den Laptop wieder. Sie wollte bestimmt keine Fragen beantworten, die ihre Familie betrafen. Sie öffnete ihr Mail Postfach und Bastian schien sich mögliche Fragen zu verkneifen. Und tatsächlich! Alina hatte anscheinend alles nachgeguckt, alles gebucht, alles geschickt. Sie musste es nur noch ausdrucken! Und kurz fühlte sie sich schlecht, weil sie wütend auf Alina gewesen war.

 

Alina war wirklich ihre allerbeste Freundin. Die beste, die sie jemals hatte, und eigentlich konnte sie nachvollziehen, warum Bastian Alina als Freundin wollte. Wer würde Alina nicht wollen? Sie war kleiner als Kaya, hübscher als Kaya und hatte mehr Geld als sie.

 

Und dann vibrierte ihr Handy erneut. Diesmal rief Alina an. Kurz überlegte sie, den Anruf zu ignorieren, entschied sich aber dagegen. Und Bastian schien es gesehen zu haben. Sie fuhr mit dem Finger über das Display und drückte sich das Handy ans Ohr.

 

„Hey“, sagte sie gepresst und drehte sich von Bastian weg. „Ja, ich hab alles bekommen“, beantwortete sie Alinas Frage. Gott, war ihr das unangenehm. „Ja, ich… hör mal, ich ruf dich gleich noch mal, ok?“

 

Sie sah, wie Bastian die Stirn runzelte. Alina sprach wieder, und Kaya hielt ihm in plötzlicher Eingebung das Handy entgegen und sah ihn auffordernd an. Seine Augen wurden größer, als er begriff. Und er schüttelte hastig den Kopf. Sie runzelte die Stirn und nahm das Handy wieder ans Ohr.

 

„Ich – ja. Ich rufe dich gleich noch mal an, ok?“, versprach sie Alina, und beendete das Gespräch. „Vielleicht solltest du mit ihr reden, wenn du sie magst?“, sagte sie verständnislos, aber er griff sich ein Brötchen.

 

„Ja, aber vielleicht sollte ich das nicht tun, wenn sie dich anruft? Dann muss ich erklären, wieso ich hier bei dir bin“, erläuterte er. Und sie verstand nicht. Verständnislos sah sie ihn an. Plötzlich zuckten seine Mundwinkel. „Du hast noch nie einen Freund gehabt, oder?“, fragte er lächelnd, und diese Aussage ließ sie sofort wieder knallrot werden. Sie senkte den Blick

 

„Was soll die Frage?“, fuhr sie ihn an, aber sie sah ihn aus den Augenwinkeln noch immer lächeln.

 

„Na ja, wenn ein Junge und ein Mädchen alleine sind, dann… kann das… ein falsches Bild vermitteln“, erwiderte er gedehnt. Sie hob den Blick.

 

„Wieso?“, entfuhr es ihr verblüfft. Er hob tatsächlich die Augenbrauen, als wäre es offensichtlich, und sie schloss die Augen, als sie begriff. Oh Gott! Sie war so peinlich! Und sie wurde noch röter. „Oh… nein!“, sagte sie hastig. „So etwas… würde sie nie…! Ich…“ Sie unterbrach sich selbst und trank einen sehr langen Schluck Kaffee, um nicht weitersprechen zu müssen. Er grinste bereits wieder, schien sie aber nicht mehr quälen zu wollen.

 

„Sie ist in Urlaub, oder?“, wollte er wissen, während er sein Brötchen mit Marmelade beschmierte und Kaya am liebsten sterben wollte.

 

„Ja. Kreuzfahrt“, bestätigte sie heiser.

 

„Ziemlich cool“, bestätigte er. „Wollen wir gleich die Cam holen?“, fügte er hinzu, und sie ruckte mit dem Kopf. „Ich weiß ja nicht, wann du zu deinem Großvater fährst“, fuhr er fort. Richtig. Das wusste sie auch noch nicht. Sie öffnete die Mail. Das Ticket war im Anhang und sie klickte auf die Vorschau, dankbar irgendetwas zu tun.

 

„Morgen früh“, stellte sie verblüfft fest. Sie fuhr also sonntags. Dann musste sie heute noch einkaufen. Und packen.

 

„Wohnst du allein?“, fragte er plötzlich, und sie hob irritiert den Blick.

 

„Was? Nein, ich… meine Mutter ist in London.“

 

„Sie spielt am Theater, oder?“, vergewisserte er sich, während er das Brötchen mit schnellen Bissen aufaß. Kaya nickte nur. „Und sie hat also einen Gig in London?“, schloss er neugierig. Kaya nickte erneut. „Und wo ist dein Vater?“, fragte er und schien es tatsächlich wissen zu wollen.

 

Wahrscheinlich war es für ihn unbegreiflich keinen Vater zu haben, wo ihm sein Vater anscheinend alles bezahlte, was er wollte.

 

„Mein Vater wohnt in München. Meine Eltern sind nicht mehr zusammen“, sagte sie kleinlaut. Er nickte und schien nachzudenken.

 

„Tut mir leid“, sagte er schließlich.

 

„Muss es nicht. Ich kenne meinen Vater kaum, also…“ Sie zuckte die Achseln. „Ich ziehe mir eben was anderes an, dann können wir los“, schloss sie, um das unangenehme Gespräch abzukürzen und erhob sich.

 

„Ok“, sagte er nickend. Er würde sie mit zu sich nach Hause nehmen, ging ihr auf. Sie war noch nie da gewesen. Sie war noch nie bei einem Jungen Zuhause gewesen. Sie beeilte sich, denn sie wollte ihn nicht zu lange im Wohnzimmer alleine lassen.

 

Als sie eine ausgewaschene Jeans und ein blaues Shirt übergezogen hatte, hatte er bereits das Tablett in die Küche gebracht, und den Aufschnitt zurück in den Kühlschrank gestellt. Kurz war es ihr unangenehm, aber sie sagte nichts. Besser sagte sie gar nichts mehr, bevor sie noch irgendetwas Peinliches sagen würde.

Im Wohnzimmer stopfte sie eilig das Geld in ihr Portemonnaie, und zog sich ihre Chucks im Flur an.

 

„Ok, wollen wir los?“, rief sie, und er kam ebenfalls in den Flur.

 

„Du und deine Mutter seid nicht wirklich ordentlich, oder?“, sagte er fast amüsiert, und wieder setzte ihr Herzschlag aus. Sie hatte definitiv keine Erfahrung mit Jungen.

 

„Musst du dich ja nicht dran stören!“, gab sie verteidigend zurück, aber er grinste breit.


„Es stört mich nicht“, erwiderte er bloß, und sie konnte sich keinen Reim auf ihn machen. Sie stellte sofort fest, dass er wesentlich teurer gekleidet war als sie, als sie an sich hinabblickte.

 

„Ähm… sollte ich… mir vielleicht was anderes anziehen?“ Seine Stirn lag in krausen Falten.


„Wieso?“, erkundigte er sich ehrlich verblüfft.

 

„Weil…“ Sie sah kurz an ihm hinab. Er winkte lächelnd ab.

 

„Du siehst gut aus, ok?“, gab er nur zurück, und sie griff sich etwas beschämt ihren Schlüssel aus der Schüssel im Flur. Und nein, sah sie nicht. Sie war noch nicht zum Wäsche machen gekommen. Sie trug wirklich gerade ihre letzten Sachen, die noch sauber waren.

 

Aber wenn es ihm egal war, konnte es sie auch nicht stören. Sie musste sich ja nicht mal Mühe mit ihm geben. Er wollte sie ja nicht. Verstohlen blickte sie immer wieder auf das eingestickte Krokodil seines Shirts. Sie hatte vergessen, was es für eine Marke war, aber sie kannte sie aus der Werbung. Sie verstand nicht, warum Menschen Marken unbedingt haben wollten. Als wären die Sachen damit gleich tausendmal besser. Sie kaute auf ihrer Lippe, während sie unauffällig versuchte, einen Fleck aus ihrem Shirt zu reiben, als sie die Stufen runter gingen.

 

~*~

 

„Oh mein Gott!“ Alina klang, als wäre sie im siebten Himmel gelandet. „Ist das wirklich dien Ernst? Wie süß ist das denn?“, entfuhr es ihr aufgeregt. „Und er mag mich? Wirklich mich?!“, vergewisserte sich ihre beste Freundin, als wäre es so unwahrscheinlich. Alina war hübsch und normal und ihre Eltern hatten Geld, und… Kaya konnte sich fast schon kein langweiligeres Pärchen vorstellen.

 

„Ja“, bestätigte sie zum hundertsten Mal, während sie in einer Drogerie versuchte, die seltsamen Vitamine zu kaufen, die Alina als lebenswichtig markiert hatte.

 

„Hast du ihm gesagt, dass du heimlich nach Hamburg fährst?“, wollte Alina gespannt wissen, aber Kaya schüttelte den Kopf.

 

„Nein, geht ihn nichts an, oder?“ Aber Alina schien ihr nicht mehr wirklich zuzuhören.

 

„Oh Gott! Bastian Kaminsky mag mich! Er mag mich!“, rief sie glücklich ins Handy, und Kaya verdrehte die Augen.

„Ja, ja. Konzentrier dich bitte noch kurz auf mein Problem?“, verlangte Kaya genervt, und Alina wurde ruhiger.

 

„Oh, ja! Sicher. Aber… du hast ihm gesagt, wann ich wiederkomme?“, vergewisserte sich Alina kleinlaut. Kaya stöhnte auf.

 

„Ja. Ich hab ihm gesagt, wann du wiederkommst, was dein Lieblingsessen, dein Lieblingsfilm, dein Lieblingsbuch, deine Lieblingsklamotten sind – alles, Alina, ok?“ Sie hörte Alina seufzen vor Glück.

 

„Oh, und er sieht so gut aus! Carolina wird grün vor Eifersucht werden! Wie war sein Haus?“, fragte sie, und schien wieder vergessen zu haben, sich auf Kayas Sorgen konzentrieren zu wollen.

 

Und Bastians Haus war regelrecht ein Palast gewesen. Es war ihr so unangenehm. Ihre Wohnung war ihm bestimmt wie eine Abstellkammer vorgekommen, nahm sie an. Sein Haus stand an einem See. Mit einem Bootssteg. Auf Stelen. Mit tausend Zimmern. Und sie war froh, dass seine Mutter nicht zuhause gewesen war.

 

„Schön“, kürzte sie das Thema ab. „Wieso hast du mir die Jugendherbergen mit angegeben?“, wollte Kaya jetzt wissen und hörte Alina ausatmen.

 

„Nur für alle Fälle“, sagte sie vage. „Also, falls alle Zimmer belegt sind, oder…“ Kaya kaute auf ihrer Lippe, als sie mit den Vitaminen zur Kasse ging. Sie hatte jetzt fünfzig Euro für Proviant ausgegeben. Und Alina schien ihre Gedanken zu erraten. „Du kannst dir wirklich mein Geld holen, Kaya!“, sagte sie. „Oder ich überweise dir Geld“, schlug sie jetzt vor.

 

 „Auf gar keinen Fall!“, beteuerte Kaya kopfschüttelnd und bezahlte weitere drei Euro für Vitamine, die sie nicht brauchte.

 

„Aha, und was ist mit Stiefeln?“, fragte Alina überlegen. Kaya stutzte, als sie das Geschäft verlassen hatte, und die Sonne in ihrem Nacken brannte. Es war über Nacht also tatsächlich echter Sommer geworden.


„Welche Stiefel?“, wollte Kaya besorgt wissen, und Alina stöhnte auf.

 

„Kaya! Du gehst reiten. Denkst du, die Ausrüstung gibt es gratis? Ich denke, es zeigt Entgegenkommen, wenn du deine Ausrüstung mitbringst“, schloss Alina streng.

 

„Ausrüstung? Ich habe keine Ausrüstung“, erwiderte sie, und ihre Vorfreude riss ab.


„Ja, ich weiß. Aber ich habe noch Reitstiefel und einen Helm“, erklärte sie.

 

„Nein“, sagte Kaya bloß. „Mir passen schon deine Stilettos nicht. Wieso sollte ich dann in deine Reitstiefel passen? Wie teuer sind die denn so?“, wollte sie vage wissen und hörte Alina seufzen.

 

„Gute Stiefel? Ein paar hundert Euro bestimmt“, gab sie zu bedenken. Kaya schloss die Augen.

 

„Ach, komm schon. Das ist ein Gestüt! Da wird schon Ausrüstung genug sein!“, entgegnete sie gereizt. Alina stöhnte auf.

 

„Ok, wie du meinst. Dann geh nach Hause, pack deine Sachen und ruf mich wieder an!“ Sie klang etwas beleidigt, aber Kaya würde nicht auch noch bei Alinas Eltern einbrechen!

 

„Ok, bis später“, verabschiedete sich Kaya und rannte die letzten Meter zur Haltestelle, wo die Bahn dankenswerterweise hielt. Nicht, dass es in der Bahn kälter wäre als draußen, stellte sie erschöpft fest als sie auf einen der Plätze fiel.

 

Ihr Handy klingelte erneut. Der Name ihrer Mutter war auf dem Display erschienen. Hastig fuhr sie mit dem Finger darüber, um ranzugehen.

 

„Mama!“, rief sie erleichtert, und es war laut im Hintergrund.

 

„Hey, Kurze! Ich bin angekommen und umgezogen. Ich wollte mich nur eben melden. Hast du alles gefunden? Ich werde die nächsten Tage keine Zeit haben anzurufen, verstehst du?“, sagte ihre Mutter hastig, als wäre sie auf dem Sprung. Und das kam Kaya eigentlich nur recht. Kurz meldete sich wieder ihr schlechtes Gewissen, und sie bekam ein schlechtes Gefühl im Bauch. Und was sollte sie gefunden haben? Den nichtvorhandenen Aufschnitt im Kühlschrank? Oder ihre Zahnbürste? Manchmal dachte sie, ihre Mutter hielt sie für ein Kleinkind.

 

„Ja, ich… ok!“, sagte Kaya nickend. „War dein Flug ok?“, fragte sie, denn sie wusste nichts Besseres zu fragen.

 

„Ja, hat ja nur eine Stunde gedauert. Du, ich muss los! Ich hab dich lieb, Kurze! Grüß Alinas Eltern! Und hab viel Spaß, ja? Und sei vorsichtig und mach keine Dummheiten!“, fühlte sie sich wohl noch gehalten, zu sagen. Kaya nickte.


„Nein, Mama. Versprochen“, erwiderte sie zögerlich. „Mach’s gut“, sagte sie noch, aber ihre Mutter hatte schon aufgelegt.

 

 

Drittes Kapitel

- Ans Ende der Welt und über den Rand -

 

Sie hatte nicht wirklich Angst allein Zuhause, aber sie hatte dennoch alle Lichter angeschaltet und den Schlüssel im Schloss zweimal umgedreht. Nur für den Fall!

Sie hatte jetzt zum dritten Mal alle Sachen wieder aus ihrer Tasche geräumt, denn jedes Mal war die Tasche zu schwer, als dass sie sie durch Hamburg würde tragen können. Alina hatte ihr auch geraten, eher weniger als zu viel einzupacken. Unten im Keller trockneten ihre übrigen Sachen gerade im Trockner. Das durfte sie nicht vergessen.

 

Ihr Handy klingelte, und Kaya pustete sich eine Strähne aus der verschwitzten Stirn, als sie es aus der Hosentasche zog. Sie wusste, sie musste ein Handtuch mitnehmen, damit sie nicht nach einem Handtuch würde fragen müssen. Und am besten nahm sie auch einen Schlafsack mit, überlegte sie dumpf, während sie die unbekannte Nummer betrachtete, bevor sie den Anruf entgegennahm.

 

„Ja?“, entfuhr es ihr vorsichtig, und sie war bereit, sämtliche Werbevertreter zornig abzuwimmeln, die es wagten, sie anzurufen.

 

„Hey“, vernahm sie eine Jungenstimme und ärgerte sich, dass sie sofort wusste, dass es Bastian war. Ihr Herz schlug schneller.

 

„Hey“, gab sie einfallslos zurück. „Woher hast du meine Nummer?“, wollte sie unsicher wissen und hörte ihn lachen.

 

„Du bist echt naiv“, erwiderte er, und ihr Mund öffnete sich vor Entrüstung. „Du bist kein Superheld mit geheimer Identität, ok?“, erklärte er jetzt. „Deine Adresse ist online im Telefonbuch, und deine Handynummer hast du auf der Klassenliste angegeben“, fuhr er gleichmütig fort.

 

„Oh“, entfuhr es ihr verblüfft. „Ok. Hast du… mit Alina gesprochen?“, fragte sie, weil sie sonst nicht wusste, was sie sagen sollte, während sie erneut versuchte, die Tasche zu schließen.

 

„Ich… nein“, gestand er ein. „Noch nicht.“ Sie runzelte die Stirn.


„Warum rufst du an?“, wollte sie unsicher wissen.

 

„Ich habe nichts Besseres zu tun“, sagte er ehrlich, und sie wusste nicht, ob das ziemlich dreist von ihm war und sie auflegen sollte, oder ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte. Aber hatte er wirklich nichts Besseres zu tun als das?! Wieder warf sie sich halb auf ihre Tasche und wusste, sie hatte noch immer kein Handtuch eingepackt.

 

„Aha? Ich dachte, Bastian Kaminsky muss auf alle angesagten Partys in Berlin?“, gab sie ächzend zurück und begriff, die Tasche würde so niemals zugehen. Erschöpft atmete sie aus.

 

„Meine Freunde sind in Spanien. Jugendreisen“, gab er ziemlich offen zu. „Außerdem muss ich nächste Woche zwei Wochen Praktikum in der Charité machen“, fügte er gleichmütig hinzu. Sie glaubte nicht, dass sie so gleichmütig wäre, würden alle ihre Freunde Gruppenurlaub in Spanien machen, nur sie müsste hier bleiben und arbeiten. Aber sie kannte nicht mal genug Leute für eine Gruppe, ging ihr plötzlich auf. Sie biss sich auf die Lippe. Sie wusste nicht, wie sie Bastian vorkommen musste. Aber sie nahm es ihm kaum übel, dass sie nicht seine Aufmerksamkeit erregte. Sie war so unauffällig, dass sie wahrscheinlich die nächsten sechs Wochen allein hier in der Wohnung sein könnte, und niemand würde es merken.

 

„Hm“, erwiderte sie, während sie einen Pullover, den sie wohl wahrscheinlich nicht brauchen würde aus der halboffenen Tasche zerrte. „Praktikum als was?“, ergänzte sie gepresst.

 

„Als Sklave meines Vater“, erwiderte er trocken, und sie musste grinsen bei seinen Worten und bekam endlich die Tasche zu.

 

„Das tut mir leid“, entgegnete sie und wischte sich die Haare aus der Stirn.

 

„Schon gut. Also… du hast jetzt meine Nummer“, schien er sagen zu müssen. „Wenn irgendwas ist, kannst du anrufen, ok?“ Und sie runzelte die Stirn. Was sollte sein, weswegen sie ihn anrufen müsste?


„Ok?“, erwiderte sie unschlüssig, und er räusperte sich. „Danke. Das ist… nett von dir?“, ergänzte sie langsam. „Und danke für die Cam. Ich verspreche, ich mache sie nicht kaputt“, sagte sie jetzt.

 

„Kein Problem“, erwiderte er, und sie war sich nicht sicher, worauf er noch wartete. Aber sie hatte eine Vermutung. Es war ihr peinlich, aber sie sagte es dennoch.

 

„Ich… habe mit Alina gesprochen“, sagte sie schließlich. Kurz herrschte Stille.


„Oh, echt?“ Er klang zu lässig. Fast übertrieben, und sie lächelte.

 

„Ja“, bestätigte sie und wartete, dass er sprach.

 

„Und?“, entfuhr es ihm etwas zu teilnahmslos.

 

„Also, sie klang nicht abgeneigt“, entschied sie sich zu sagen. Und dann hörte sie ihn ausatmen.

 

„Oh, cool. Ja… cool“, entgegnete er betont beiläufig.

 

„Du kannst ihr ja bei Facebook schreiben?“, bot sie ihm grinsend an. Sie hörte ihn tippen. Wahrscheinlich suchte er Alina gerade bei Facebook, nahm sie an.

 

„Jetzt?“, entfuhr es ihm ratlos, und sie nickte.


„Sicher. Ich bin mir sicher, Alina würde sich freuen“, fügte sie hinzu. Und wie sie sich freuen würde. Wahrscheinlich würde sie Kaya nicht schlafen lassen, weil sie die ganze Nacht lang mit ihr über Bastians Grübchen oder seine Oberarme sprechen wollte oder so was!

 

„Hey, ich…“, begann er, und sie war überrascht, dass er tatsächlich unschlüssig klingen konnte.

 

„Ja?“, entgegnete sie fragend und hörte ihn seufzen.


„Danke, Kaya“, sagte er schließlich. Sie setzte sich auf ihr Bett und fuhr sich über die Stirn.


„Bastian, kann ich dich was fragen?“, sagte sie jetzt und wechselte das Handy ans linke Ohr, während sie ihren Mut zusammen nahm.

 

„Klar“, erwiderte er jetzt.

 

„Wieso… bist du so… unsicher?“, erkundigte sie sich jetzt vorsichtig. Kurz schwieg er am anderen Ende. Sie glaubte schon, er hätte aufgelegt.


„Wie meinst du das?“ Sie hörte, dass er eine Spur verletzt klang.

 

„Ich meine, wieso… musstest du mir deine Hilfe anbieten? Wieso hast du Alina nicht einfach angerufen? Du hast doch die Klassenliste und all das“, ergänzte sie ratlos.

 

„Ich bin mir lieber hundertprozentig sicher“, kam seine nüchterne Antwort, und sie war ernsthaft überrascht. Sie erwiderte nichts darauf. Sie hatte nicht gedacht, dass Leute wie Bastian sich irgendwann einmal nicht zu Hundertprozent sich waren. Und es störte sie, dass es fast zu einfach war, mit ihm zu reden. Er war sogar leider richtig nett.

 

Sie starrte hinab auf die Tasche und wusste, wüsste ihre Mutter Bescheid, dann würde sie richtigen Ärger bekommen. Wirklich richtigen Ärger! Heiße Schuldgefühle brodelten wieder an die Oberfläche. Und sie würde einfach ausnutzen, dass Bastian sie angerufen hatten.

 

Sie wickelte sich abwesend eine Strähne um den Finger, als sie sich erhob und ins Wohnzimmer schlenderte.

 

„Erzähl mir von der Fahrprüfung“, sagte sie jetzt und ließ sich auf die Couch fallen, während sie ein paar alte Chips aus der Tüte in ihren Mund fallen ließ. Kurz sagte er nichts. Sie hatte es ganz vergessen. Sie hatte ihn heute fragen wollen, aber… sie war zu aufgeregt gewesen. Es war definitiv leichter, mit ihm am Telefon zu sprechen und nicht sehen zu müssen, wie gut er aussah.

 

„Ich… hab bestanden“, gab er knapp zurück. Sie kaute laut auf den Chips.

 

„Und das wusstest du von vornherein? Hattest du keine Sorge, dass es schief geht?“, wollte sie wissen, und hörte ihn ausatmen.

 

„Ok… vielleicht ganz kurz“, räumte er ein, und sie hörte ehrliche Aufregung in seiner Stimme. „Da… da war diese Kreuzung, und dieser Radfahrer kam komplett aus dem Nichts…“

 

~*~

 

Das Vibrieren ihres Handys schreckte sie komplett unerwartet aus ihren wirren Träumen. Sie war schon wieder auf der Couch eingeschlafen, stellte sie fest, und sie streckte sich gähnend nach dem Handy. Es war noch dämmrig draußen, aber sie war eingeschlafen, ohne die Lichter im Wohnzimmer auszumachen. Nur der Fernseher war ausgegangen, weil der Timer angeschaltet gewesen war. Sie schlief selten in ihrem Bett. Meistens schlief sie auf der Couch ein, weil sie auf ihre Mutter wartete, und diese aber erst weit nach elf Uhr nach Hause kam.

 

Sie hatte sowieso noch nie gut in Betten schlafen können. Die Matratzen waren immer irgendwie zu weich.

 

Sie fuhr mit dem Finger über das Display.

 

„Hm?“, sagte sie, und hörte am anderen Ende das Rauschen von Wellen.

 

„Hi, entschuldige, dass ich dich wecke, aber es war ja den ganzen Abend bei dir besetzt. War dein Handy wieder leer?“, fuhr Alina sie an. „Wir liegen vor Thailand“, ergänzte sie aufgeregt, ohne eine Antwort abzuwarten. „Und wir gehen endlich mal an Land. Ich glaube, meine Mutter lässt sich da gleich irgendwo anketten. Timo auch“, ergänzte sie. Timo war ihr kleiner Bruder. Anscheinend hatte sich die Seekrankheit noch nicht gelegt, stellte Kaya gähnend fest.

„Kaya, Bastian hat mir geschrieben!“, rückte sie endlich mit der Sprache raus. „Oh, er ist so süß! So absolut perfekt! Ich konnte nicht länger schlafen! Und ich werde ihn anrufen. Meinst du, ich kann ihn anrufen?“

 

Kaya überlegte, dass sie gestern fast zwei Stunden mit ihm telefoniert hatte, und dass es sehr lustig gewesen war. Sie hoffte nur, sie war nicht verliebt in ihn. Das wäre wirklich blöd. Wirklich richtig blöd. Sie horchte in sich. Sie war zwar traurig, aber eigentlich wurde das überschattet durch ihre Aufregung.

 

„Klar, ruf ihn an“, krächzte sie.

 

„Ja. Ja, das mache ich!“, rief Alina aus. „Ich hab dir noch hundert Euro überwiesen“, erklärte sie beiläufig. Ehe Kaya protestieren konnte, sprach Alina weiter. „Hast du gepackt? Denk an ein Handtuch, ok? Manchmal nimmt man besser seine eigenen Sachen mit“, erklärte sie.

 

Ja, ein blödes Handtuch brauchte Kaya noch. Und ihre Unterwäsche aus dem Trockner.


„Ich will nicht, dass du mir Geld überweist“, brummte sie jetzt und streckte sich.

 

„Zu spät. Und sei nicht albern. Das ist kein Problem. Du musst in drei Stunden zum Bahnhof. Und ich will nicht, dass du irgendwas vergisst. Nimm deinen Schülerausweis mit. Vielleicht bekommst du dann irgendwas günstiger. Denk an den Perso! Und hast du dein Ticket ausgedruckt?“, fuhr sie geschäftig fort.

 

„Ja, alles ausgedruckt“, bestätigte Kaya, und sie würde gleich ziemlich heiß duschen gehen. Sie wusste nämlich nicht, wann sie das das nächste Mal können würde. Je näher die Erfüllung des Plans rückte, umso unsicherer wurde sie. Und wie viele Prospekte sie für hundert Euro austragen musste! Alina übertrieb es!

 

„Ok. Vergiss deinen Schlüssel nicht. Und das Bargeld. Vergiss das auch nicht, ok?“, ermahnte Alina sie. „Und wenn es Probleme gibt – ruf mich an, ja?“, fuhr sie fort, und dass Bastian Kaminsky, Klassenschwarm und Besserwisser, bald Alinas Freund sein würde, schien sie wieder vergessen zu haben. Sie klang ernsthaft besorgt. „Lad dein Handy noch auf! Und nimm das Kabel mit, Kaya!“, sagte sie streng, und Kaya verdrehte die Augen.

 

„Ja, mach ich“, gab sie trotzig zurück. Und sie hätte es wahrscheinlich vergessen. Sie schlurfte in ihr Zimmer, um das Handy aufzuladen, was wahrscheinlich wirklich gleich ausgehen würde.

 

„Ruf mich an, bevor du gehst!“, rief Alina noch in ihr Handy.

 

„Ok“, gab Kaya zurück, und am liebsten hätte sie ihre Mutter angerufen und ihr alles gebeichtet. Aber dann müsste sie vielleicht doch noch zu Ekel-Elias. Es war sechs Uhr. Gott, war sie müde. Sie schloss das Handy ans Ladekabel an, und dankbar schien es aufzuladen.

 

Duschen, anziehen und Wäsche aus dem Trockner holen. Das war jetzt gerade ganz oben auf ihrer Liste. Sie zog sich die Jogginghose und das Shirt aus, während sie die Badezimmertür verschloss. Sie hatte Angst, stellte sie fest. Aber sie konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Sie war noch nie in Hamburg gewesen. Sie war noch nie alleine ICE gefahren. Und es war Sommer. Wenn alles schief laufen sollte, könnte sie immer noch auf einem Feld unter dem Sommerhimmel schlafen. So wie Huck Finn und Tom Sawyer.

 

Sie wusch sich gründlich, massierte Shampoo in ihre Haare und ließ es eine Minute einziehen. Sie rasierte sich die Achseln, die Beine, putzte sich die Zähne unter der Dusche und ignorierte ihr klopfendes Herz. Sie stellte schließlich das heiße Wasser aus, trocknete sich im dampfenden Badezimmer ab und öffnete anschließend das schmale Fenster.

Die Vögel sangen bereits und es wurde hell draußen.

 

Sie lief im Handtuch durch den Flur in ihr Zimmer. Sie hatte die Tasche wieder ausgekippt. Jetzt zog sie die Sachen von gestern an. Sie glaubte nicht, dass sie für die Zugfahrt gute Kleidung anhaben müsste. Die verwaschene Jeans war ein wenig zu groß, aber immerhin war sie lang genug. Sie zog auch das blaue Shirt wieder über, stieg in ihre Chucks und griff sich den Schlüssel, um nach unten in den Keller zu gehen, um ihre Wäsche zu holen.

 

Sie ging in ihrem Kopf noch mal die Liste durch. Sie würde keinen Schlafsack mitnehmen, entschied sie plötzlich. Und sie würde auch kein Handtuch mitnehmen. Sie würde schon irgendwo ein Handtuch herbekommen, ansonsten kaufte sie sich einfach eins! Wie teuer waren Handtücher schon?

Sie knipste das Licht im Keller an, öffnete den Trockner und packte ihre restlichen Sachen in den Plastikkorb.

 

Dann lief sie wieder hoch, schloss die Tür auf, während sie einhändig den Korb hielt und trat die Tür mit dem Fuß drinnen wieder zu. Sie kippte den Inhalt des Korbs auf ihr Bett und kaute nervös auf ihrer Unterlippe.

Sie hatte nicht genügend Unterwäsche. Sie würde waschen müssen. Zur Not hatte sie aber Shampoo und könnte irgendwo in einem Waschbecken ihre Sachen waschen.

Sie machte sich das erste Mal die Mühe, ihre Unterwäsche zu falten. Immerhin hatte es ein gutes, dass Alina sie überredet hatte Stringtangas zu tragen: Sie waren winzig und nahmen keinen Platz weg.

 

Es folgten ihre Socken, danach ein einziger warmer Pullover. Ansonsten nur Shirts und Spaghettiträgertops und ihre drei BHs. Auch ihre fünf Hosen legte sie so streng und penibel zusammen, dass noch ein wenig Platz übrig blieb. Dann kam ihr Kulturbeutel mit vorsorglichem Makeup, verschiedenen Cremes und Salben. Sie holte mit Schrecken ihre Pille aus der Schreibtischschublade. Alina nahm die Pille noch gar nicht, fiel ihr wieder ein. Ihre Mutter hatte als Kaya fünfzehn geworden war dafür gesorgt, dass Kaya beim Frauenarzt gesessen hatte, um die Pille verschrieben zu bekommen, damit ihrer Tochter auf gar keinen Fall dasselbe passierte wie ihr damals mit fünfzehn.

 

Als ob! Kaya hatte ja nicht mal einen Freund. Sie verzog grimmig den Mund, warf die Pillenpackung achtlos in die Tasche. Jetzt fehlte noch ihr Ladekabel. Ihren Ausweis, das Ticket, Bastians Cam und den Proviant hatte sie in ihrem Rucksack, den sie auch noch mitnehmen würde. Da würde sie auch noch eine Flasche Wasser zu packen. Und das restliche Geld.

 

Es wurde langsam ernst. Sie schloss die Tasche mit letzter Kraft und wusste, sie würde sie in Berlin nicht mehr aufmachen. Sie platzte fast aus den grünen Nähten.

Sie ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und hatte keinen Hunger. Sie prüfte noch mal im Rucksack, ob sie alles hatte, steckte das restliche Geld ein und ließ 100 Euro zurück, denn ihre Mutter wäre froh, wenn sie nicht alles ausgeben würde.

 

Sie kontrollierte noch mal die Route, um die sich Alina gekümmert hatte und wusste, sie hatte alle Sachen. Sie hatte nichts übersehen, hatte nichts vergessen und brauchte jetzt einfach genügend Glück. Etwas, dass sie noch nie gehabt hatte.

Es konnte viel schief gehen. Das meiste, glaubte sie. Aber das Ticket, was Alina gebucht und bezahlt hatte, beinhaltete auch eine offene Rückreise, innerhalb eines Monats.

Sie konnte also wieder nach Hause kommen.

 

Und sie wusste, sie würde so viele Prospekte austragen gehen, bis sie Alina alles zurückgezahlt hatte. Sie wusste nichts mit sich anzufangen. Sie würde gleich ihre Haare trocken föhnen und Kaffee trinken, bis sie gehen musste.

Mit Glück wäre sie dann so aufgekratzt, dass sie im Zug im Dreieck springen würde.

 

Wenn man darauf wartete, dass die Zeit verging, dauerte alles Ewigkeiten, stellte Kaya nervös fest. Es war still im Haus. Natürlich war noch keiner der Hartz IV Nachbarn wach. Sie mochte das Haus eigentlich, denn wenn sie wirklich oft alleine war, dann waren die Nachbarn alle tagsüber Zuhause, und die Hälfte war auch wirklich nett.

Aber jetzt gerade wollte sie gar nicht irgendwohin. Je weniger wussten, was sie vorhatte, umso größer war die Chance, dass ihre Mutter es vielleicht nie erfahren müsste. Das wäre ideal. Sie würde die nächsten Wochen reiten lernen, sich langweilig dabei filmen lassen und ihre Mutter wäre ja sowieso erst nach ihrer Prüfung wieder in Berlin, und vielleicht könnte Kaya sie erfolgreich davon abhalten, jemals ihr Prüfungsvideo zu sehen. 

 

Aber diese Sorge konnte sie sich erst in sechs Wochen machen. Sie hatte ja noch nicht mal die erste Hürde überwunden. Wieder überkam sie die Angst. Aber sie ließ es dieses Mal nicht zu, ging schnurstracks ins Bad und föhnte ihre Haare kopfüber im engen Bad zwischen Waschbecken und Badewanne und versuchte sich auf die Zugfahrt zu freuen.

 

~*~

 

„Und du hast alles?“, vergewisserte sich Alina aufgeregt. Kaya hörte im Hintergrund wildes Geplapper. Sie waren gerade von Bord gegangen. Sie hörte Alinas Bruder irgendwas rufen, aber Alina ignorierte wohl alles andere.

 

„Ja, ich hab alles“, erwiderte Kaya. Sie hatte die Klinke in der Hand. Sie hatte ihre Tasche, ihren Rucksack, ihr Portemonnaie, die Cam, das Ticket, die Route, ihren Schlüssel, ihren Proviant. Sie hatte die Lichter ausgemacht, die Kaffeemaschine, den Strom.

 

Sie hatte alles. Absolut alles. Auch ihr Ladekabel, das sie fast vergessen hätte. Nur fast natürlich.

 

„Ok, ich weiß, du hast kein Internet unterwegs, aber du hast genug Guthaben, um mich anzurufen, richtig?“, fuhr Alina ungerührt fort, während sie wohl durch eine thailändische Einkaufsstraße ging.

 

„Ja, hab ich. Ansonsten lade ich es auf.“

 

„Klingel mich an, wenn irgendwas ist. Ich telefoniere bei meinem Vertrag umsonst, ok?“, flüsterte sie jetzt eindringlich.

 

„Ja, mach ich. Also, ich muss los“, erwiderte Kaya ungeduldig.

 

„Ok. Ja. Oh, Kaya, ich bin so aufgeregt!“, entfuhr es Alina leise.

 

„Noch ist nichts passiert“, beschwichtige Kaya sie und hatte wieder das mulmige Gefühl im Bauch.

 

„Ok, bis später. Viel Glück, Kaya! Und denk an Emil! Lass dir im Zug nicht das Geld klauen!“

 

Kaya musste fast lächeln. „Also, ich glaube, darum muss ich mir keine Gedanken machen. Ich fahre schließlich aus der bösen Großstadt weg. Und ich werde es mit meinem Leben verteidigen!“, fügte sie dramatisch hinzu.

 

„Sei vorsichtig!“, rief Alina noch, ehe die Verbindung unterbrochen war. Kaya streckte den Rücken durch, holte tief Luft und zog die Tür hinter sich zu. Sie schloss ab, verstaute den Schlüssel in ihrem Rucksack und eilte die Stufen hinab. Es waren 47 Stufen. Sie hatte sie schon so oft gezählt, dass sie es mittlerweile wusste.

 

Es war wieder warm draußen, keine Wolke am blauen Himmel. Sie musste fünfzehn Minuten zur Bahnstation laufen und zwang sich, ruhig zu atmen. Sie hatte Alina gar nicht mehr nach Bastian gefragt, aber sie war sich sicher, Alina hatte ihn bestimmt schon angerufen.

Sie würde behaupten, es waren die ereignisreichsten Ferien bisher.

 

Na ja, auf der Realschule war sie einmal am letzten Schultag in den Schrank gesperrt worden und war erst drei Stunden später von der Putzfrau rausgeholt worden. Das war auch ereignisreich gewesen. Und davon hatte sie ihrer Mutter auch nichts erzählt. Da wäre aber was los gewesen. Ihre Mutter hatte es gut drauf, wütend zu werden. Schon oft hatte sie Kayas Lehrer zusammen gestaucht, wann immer Kaya in einen Streit oder eine Prügelei verwickelt worden war, weil sie einfach zur falschen Zeit am ganz falschen Ort gewesen war.

 

Sie hatte aber nie Angst gehabt oder sich beschwert oder gepetzt. Sie kam aus Prenzlau. Entweder man lebte damit, oder man konnte gleich aufgeben.

Allerdings war es heute etwas anders. Sie würde schließlich ihr geliebtes Berlin verlassen. All ihre geliebten Imbissbuden und die vertrauten, vollen Straßen mit den bunten Schaufenstern.

 

Sie mochte die Großstadt. Man war nie allein. Die Stadt schlief auch nicht, und war auch nachts noch taghell. Sie war bisher nur bei ihrer Oma in Schleswig-Holstein gewesen und einmal auf Klassenfahrt auf Norderney. Und das hatte ihr gereicht an Landleben. Alina hatte es großartig gefunden. Natürlich. Aber Alina fuhr auch jedes Jahr zweimal mit ihrer Familie in Urlaub. Kaya war gern mit ihrer Mutter zusammen in ihrer Wohnung, ihrem kleinen Reich. Sie vermisste sie schon jetzt so schrecklich, aber sie verdrängte die Gedanken schnell, ehe sie wieder traurig werden würde.

 

Sie kam an der Haltestelle an. Der Gurt der Tasche hatte sich schon schmerzhaft in ihre Schulter gegraben. Sie hatte kurz überlegt gehabt, ihren Föhn mitzunehmen, hatte dann aber davon abgesehen. Wofür brauchte sie im Sommer einen Föhn? Sie ließ die Tasche neben sich fallen und sah die Bahn schon um die Ecke biegen.

So weit so gut. Ächzend griff sie wieder nach dem Gurt der Tasche und war froh, dass um diese Zeit nicht besonders viele Leute unterwegs waren.

 

Die meisten, die sonntags um die Zeit schon wach und unterwegs waren, waren Kirchgänger. Oder Obdachlose, die in der Ringbahn schliefen. Aber meistens wurden auch die irgendwann verscheucht. Heute war kein Obdachloser in der Bahn, stellte sie fest. Wahrscheinlich, weil jetzt Sommer war. Es war nicht mehr zu kalt, um draußen zu schlafen, nahm sie an. Sie hatte ihren Rucksack auf dem Schoß und zählte die Stationen. Sie musste zehn Stationen bis zum Hauptbahnhof fahren. Und da musste sie auf Gleis 7 und kam auf Gleis 5 in Hamburg an. Und sie fuhr nur zwei Stunden, ohne umzusteigen.

 

In zwei Stunden hatte sie das Bundesland gewechselt. Sie hatte sich den Wikipedia Artikel über ihren Großvater ausgedruckt. Dann hatte sie was zu lesen. Sie hatte zwar auch das dritte Herr der Ringe Buch dabei, aber im Moment war ihr nicht nach Krieg in Mittelerde zumute. Vielleicht aber später.

 

Sie erreichte den Bahnhof ohne Schwierigkeiten. Obwohl es Sonntag war, waren die Gleise voller Menschen. Sie schleppte ihre Tasche zu Gleis 7 und hatte noch zwanzig Minuten Zeit. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und sah sich um. Viele Eltern waren hier mit ihren Kindern. Wahrscheinlich um in Urlaub zu fahren, nahm sie an. Einige der Kinder hingen schlafend auf den Armen der Mütter, andere weinten, und Kaya konnte es nicht verstehen. Sie liebte es, Zug zu fahren. Vielleicht auch, weil sie es so selten tat. Aber Flugzeuge machten ihr Angst.

 

Und tatsächlich fiel ihr ein Mädchen auf, was ihr sonst niemals aufgefallen wäre, nahm sie an. Sie hatte einen langen blonden Zopf, trug eine dunkle Jeans, einen hellen Blazer, hohe Schuhe, und auf ihrem großen schwarzen Rollkoffer befestigt, klemmte ein schwarz samtener Reiterhelm. Er sah ziemlich modern aus. Nicht einfach nur rund und samtig, sondern mit Kanten und er glänzte an manchen Stellen. Sie stand auch auf Gleis 7. Unauffällig bewegte sich Kaya sehr langsam in Richtung des Mädchens.

 

Ihr Silberschmuck schimmerte an ihren manikürten Fingern, und sie wirkte ziemlich abweisend. Das Handy des Mädchens klingelte laut, und sie zog ein silberglänzendes iPhone aus ihrer Handtasche. Kaya erkannte es, denn Bastians Handy hatte auch so ausgesehen.

 

„Ja?“, fragte das Mädchen mit heller Stimme, die Kaya auch bis hierher verstehen konnte. „Nein, ich stehe am Gleis. Glaubst du das? Ich habe das Auto nicht bekommen! Mein Vater meinte, ich könnte auch ganz einfach Zugfahren. Ja, unfassbar, oder?“, schien sie sich lautstark zu beschweren, und Kaya grinste dem Boden entgegen. Sie hatte immer gewusst, Mädchen, die ritten, waren blöde Ziegen. Sie hielt nach dem Zug Ausschau.

 

„Und, sind sie schon da? Echt? Und wie sieht er aus?“, fuhr sie lächelnd fort, und Kaya hob den Blick. „Du Glückliche! Ich werde erst in drei Stunden anfangen können, wenn ich bis dahin überhaupt schon da bin. Keine Ahnung, wie heute die Taxen fahren“, schien sie sich erneut zu beschweren.

 

„Du warst schon auf dem Platz?“ Sie klang jetzt neidisch. „Und? Was? Kandare ist Pflicht, Tina“, informierte sie ihre Gegenüber mit tadelnder Überheblichkeit. „Was? Ach Unsinn! Du brichst dem Pferd nicht den Kiefer! So was Lächerliches!“ Kurz herrschte Stille, und dann nickte das Mädchen geschäftig. „Wenn es dir nicht gehorcht, dann braucht es die nötige Disziplin.“ Das Mädchen betrachtete ihre Fingernägel. „Ich begreife sowieso nicht, wieso du ihr das nicht schon längst abgewöhnt hast! Das Martingal ist meiner Meinung nach so uneffektiv!“, erklärte sie fast entnervt. „Ach, Tina! Ich benutze es, weil es schick aussieht, nicht weil ich es brauche!“, rief sie jetzt aus. Kayas Augen hatten sich etwas geweitet, während sie nicht ein einziges Wort verstand, was das Mädchen gerade von sich gegeben hatte.

„Ich habe dir gleich gesagt, du sollst dieses Jahr nicht Jewel nehmen, sondern Granger. Sie hat immerhin kein Problem mit der Sattellage“, schien sie mit einem schadenfrohen Lächeln zu erwidern, als wäre es ein schlagfertiger Witz gewesen. Das Mädchen kam sich ohnehin wohl unheimlich wichtig vor.

 

„Ich glaube nicht, dass dich Herr von Rothenberg am Turnier teilnehmen lässt, wenn Jewel noch immer ausbricht, weil sie mit dir machen kann, was sie will!“, erklärte das Mädchen jetzt lächelnd. „Ich zeige es dir später, Tina. Ja, ich mache es doch mit Ribbon genauso!“

 

Kaya hatte den Namen ihres Großvaters gehört. Und ihr war jetzt klar, dass dieses Mädchen auf das Gestüt fuhr. Und sie schien sehr gut reiten zu können. Oder sie tat lediglich so. Kaya kaute wieder auf ihrer Lippe. Die Durchsage am Gleis kündigte die Einfahrt des Zuges an.

 

„Tina, ich muss Schluss machen. Der dämliche Zug kommt.“ Das Mädchen verabschiedete sich knapp und steckte das Handy zurück in die dunkelbraune Lederhandtasche, die ebenfalls mit viel Silber verziert zu sein schien. Der ICE hielt und Kaya setzte sich unschlüssig in Bewegung. Sie blieb hinter dem Mädchen, aber diese hatte wohl einen Platz in der ersten Klasse. Und Kaya ging auf, dass sie zwar nichts vergessen hatte, aber dass sie vielleicht ja auch mal nach Pferden hätte googeln können. Nur ein kleines bisschen.

 

Alina hatte ihr einen Fensterplatz reserviert, und nachdenklich setzte sich Kaya, nachdem sie mit letzter Kraft ihre Tasche nach oben in die Ablage gehievt hatte. Ihren Rucksack behielt sie auf dem Schoß.

 

Sie holte ihren Mp3-Player aus der vorderen Tasche ihres Rucksacks. Sie drückte auf Play und lauschte den Helden, während der Zug den Bahnhof verließ. Nervös glitt ihr Blick über die verschiedenen Gleise, über die Hochhäuser, und sie begriff, sie verließ jetzt ihre Stadt.

 

 

Viertes Kapitel

– Fast Ferien auf Immenhof –

 

„Tja, Herr von Rothenberg“, sagte Dr. Schmidt skeptisch, während er den Hengst betrachtete, der in der Fürstenhalle verhalten trabte. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Tatsächlich war Dr. Schmidt heute wieder gekommen. Er hatte seinen Hengst vor zwei Tagen untersucht und hatte gesagt, er würde heute wieder kommen, um zu sehen, ob die kalten Wickel etwas genutzt hatten. Unschlüssig folgte sein Blick dem Hengst. Alexander hatte ihn in die Fürstenhalle bringen lassen. Das Oberlicht hier war heller und natürlicher als das künstliche Licht der Leuchtstoffröhren in der Trainingshalle. Außerdem brauchte Apollo etwas Auslauf. Er war in der Box schon ganz nervös geworden. Er müsste geputzt werden, überlegte er ungeduldig.

 

„Was sagen Sie?“, wollte er wissen. Graue kurze Locken türmten sich wüst auf dem Schopf des Tierarztes. Er trug Gummistiefel, die schon bessere Tage gesehen hatten, eine braune Cordhose und ein grünkariertes Hemd. Selten sah er den Landarzt ohne Cord und Karomuster. Und er war hier in der Fürstenhalle genauso Fehl am Platze, wie ein Pferd mit Hufrehe. Aber er hatte sich an den Anblick des Tierarztes gewöhnt. Auch an den Klang schlechter Nachrichten aus dem Mund des Mannes. Und er war sich sicher, so etwas würde jetzt folgen, denn für gewöhnlich war Dr. Schmidt nicht so still. Er druckste nur bei schlechten Neuigkeiten herum. Wahrscheinlich fiel es ihm selber gar nicht auf, aber Alexander merkte es sofort.

 

„Die Wickel bringen keine Veränderung“, erklärte der Tierarzt kopfschüttelnd, nachdem er den Hengst ausgiebig begutachtete hatte. „Ich werde ihm jetzt einige Blocker spitzen“, fuhr er ernster fort und bückte sich zu seiner Tasche. „Das Tier sollte jedoch nicht geritten werden“, ergänzte er streng. Alexander atmete langsam aus. Das bedeutete, er würde Apollo nicht trainieren können. Apollos Bewegungen hallten von den hohen Wänden der Halle wider. Sein Schnauben, seine Schritte.

 

Die Zuschauerhänge waren noch leer. Wenn das hauseigene Turnier stattfinden würde, wären sie prall gefüllt. Alle Tickets waren bereits ausverkauft, und Alexander konnte nur daran denken, dass Apollo dieses Jahr nicht in der Halle zeigen würde, zu was er eigentlich gezüchtet worden war.


„Wie lange nicht?“, wollte er also wissen, aber der Arzt ruckte mit dem Kopf.

 

„Wir werden sehen. Ich spritze ihm schmerzlindernde Mittel, aber Sie müssen bedenken, dass es dem Pferd lediglich die Schonhaltung abgewöhnt“, fuhr er fort. Alexander verpasste seinem Hengst einen zornigen Blick, den der Tierarzt wohl richtig deutete.

 

„Was wollen Sie mir damit sagen? Dass… dass es bereits zu spät ist? Dass ich mir keine Gedanken mehr über die Ausbildung des Tieres machen soll?“, fuhr er den Arzt an, ohne es verhindern zu können.

 

„Herr von Rothenberg“, begann der Arzt behutsam, „Hufrehe kommt schleichend. Natürlich war damit nicht zu rechnen, aber es muss nicht unbedingt ein Haltungsfehler gewesen sein. Stress ist auch oft ein Faktor“, warf er gedehnt ein. Jetzt sah Alexander ihn direkt an.

 

„Stress? Das Tier war seit Monaten keinem Stress mehr ausgesetzt!“

 

„Es ist bisher jedes Jahr seit seinem zweiten Lebensjahr im Turniersport geritten, nicht wahr?“, erkundigte sich Dr. Schmidt und betrachtete die Notizen, die er sich gemacht hatte.


„Ja, das ist zu erwarten, bei einem gezüchteten Springpferd, oder nicht? Andere Pferde werden bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr im Turniersport geritten“, fuhr Alexander ihn jetzt an.

 

„Natürlich ist es zu erwarten, aber nicht jeder Zuchthengst ist geeignet für eine ständige Inanspruchnahme“, erklärte der Tierarzt ruhiger. „Und hier…“, er deutete entsprechend um sich. „Wir reden hier nicht von Hobby-Dressur“, ergänzte er mit hochgezogener Augenbraue.

 

„Es ist ein Pferd, und natürlich reite ich ein Pferd, Dr. Schmidt!“, schloss Alexander mit schmalen Mund.

 

„Herr von Rothenberg, ich behaupte auch nicht, dass es Ihr Fehler ist. Manchmal kann man nichts dafür. Krankheiten tauchen auf. Und Hufrehe ist nun mal mit die häufigste Pferdekrankheit.“

 

„Ja, vielleicht auf Ponyhöfen, wo die fetten Shetlandponys sich auf den Weiden dick und rund fressen! Also, was ist die Prognose?“, kürzte er das Thema ab, denn er hatte mit Tom noch die Neueinsteiger zu bewerten.

 

„Wir werden sehen. Er stellt die Hinterbeine noch nicht unter den Bauch, was er tun würde, wenn die Schmerzen unerträglich wären“, erläuterte der Tierarzt mit unverhohlener Besorgnis, als könne das noch passieren, Himmel noch mal! Alexander biss die Zähne zusammen und versuchte, sich zu beruhigen. Er wusste, was zu tun war, wenn die Schmerzen unerträglich würden, und es kam einfach nicht in Frage! Er hatte nicht so viel Kraft und Aufwand und Geld in das Pferd gesteckt, damit es ihn enttäuschen würde!

 

„Wie lange dauert diese Behandlung?“, konkretisierte er seine Frage. Der Landarzt kratzt sich am Kopf, den Mund unsicher verzogen.

 

„Wir warten jetzt zwei Wochen. Die Durchblutung kann unter Umständen wieder angeregt werden; sollte das Bindegewebe, was abgestorben ist, sich aber bereits vom Knochen gelöst haben, dann…“ Kurz schien der Tierarzt nachzudenken.


„Darum kümmern wir uns, wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Ich habe noch zu tun und danke Ihnen, dass sie sonntags vorbeigekommen sind“, verabschiedete er den Arzt knapp und unfreundlich.


„Für Sie doch immer gerne, Herr von Rothenberg. Lassen Sie Apollo in der Box oder lassen Sie ihn zum Auslauf in die Hallen, aber nicht mehr nach draußen, geben Sie ihm nur trockenes Futter, und rufen Sie mich an, falls er sich hinlegen sollte und nicht mehr aufstehen will“, erklärte der Arzt, und Alexanders Augen weiteten sich. „Natürlich wäre das das schlimmste Szenario und wirklich noch nicht in Aussicht“, fügte der Arzt hastig hinzu. „Mehr können wir im Moment nicht tun“, ergänzte er entschuldigend. Alexander nickte abweisend. „Und was ist mit der Stute?“, warf der Arzt plötzlich ein.

 

Richtig. Da war ja noch ein Problem. Aber Alexander winkte ab. Er hatte nicht die Zeit für zwei Problemtiere.

 

„Darum können Sie sich in zwei Wochen kümmern, wenn Sie wiederkommen und es die Zeit erlaubt. Es eilt nicht“, beschloss er gleichgültig. Er nickte dem Tierarzt zu. „Sie finden den Weg“, ergänzte er und verließ die Halle. Ein Angestellter hatte am Rand der Fürstenhalle gewartet. „Halten Sie das Tier, während der Arzt es behandelt“, befahl er dem Mann. „Dann bringen Sie den Hengst nach draußen und reinigen das Fell“, fuhr er streng fort. Der Mann nickte eifrig und lief in die Mitte der Halle. Alexander gönnte seinem missratenen Hengst keinen weiteren Blick mehr. Mehr als hundertzwanzigtausend Euro hatte ihn das Tier gekostet.

Unfassbar, dass er sich auf gar nichts verlassen konnte. Und er konnte nicht mal klagen, denn es war auch noch sein eigenes Versagen.

 

Die Sonne schien warm. Es würde nur noch heißer werden. Es war schon zu heiß für die Pferde. Sie würden heute Abend mehr Wasser brauchen als üblicherweise.

Es waren weite Wege von der Fürstenhalle zu den Trainingshallen, zu den Stallungen bis zum Herrenhaus. Es war ein gut geölter Betrieb, den er hier leitete, und er konnte es nicht leiden, wenn seine Pferde nicht mitspielten.

An die Stute wollte er nicht mal denken müssen. Sie war auch eine teure Anschaffung gewesen, und jetzt konnte er sich überlegen, von welchem Pferd er menschlich enttäuschter war. Seinem Hengst oder der verdammten Stute, die ebenfalls so vielversprechend gewesen war.

 

„Herr von Rothenberg!“, rief Tom ihm aus der Entfernung von der großen Koppel zu. Zügig schritt Alexander zum Gatter. Schon von hier aus erkannte er drei Mädchen, die einen miserablen Sitz auf ihren Pferden hatten, aber er kommentierte es nicht. Er nahm an, Tom sah es selber, war aber höflich genug, es nicht direkt anzusprechen. Wäre er der Lehrer… - aber er verwarf den Gedanken. Genau aus diesem Grund überließ er es anderen Leuten, die sich anscheinend mit Geduld und Nächstenliebe auskannten. Sie waren schließlich noch jung.

 

Dann würde Tom jetzt also beginnen. Alexander war schon froh, nichts mit der Aufnahme und Einteilung der Schüler zu tun haben zu müssen. Er unterrichtete Schüler gerne, allerdings lieber die guten als die, die eigentlich nichts hier zu suchen hatten.

Natürlich waren es fähige Reiterinnen, die aufgenommen wurden, aber zwischen fähig und begabt lagen himmelweite Unterschiede.

 

„Herr Kiergarten, wie kommen Sie voran?“, wollte er wissen, als er sich neben den jungen Mann stellte, und einige der Damen den Rücken auf den Pferden durchstreckten, während sie ihm erschrockene Blicke zuwarfen. Tom Kiergarten war einer der festangestellten Reitlehrer. Wüsste er es nicht besser, hätte er dem jungen Mann nicht zugetraut unter den weltbesten Springreitern zu rangieren. Schon alleine wegen seiner Größe. Aber Alexander war selber nicht klein und war ebenfalls einer der besten gewesen, vor fünfzhen Jahren zumindest. Tom trug eine gewöhnliche Reiteruniform, hatte jedoch auf den Helm verzichtet. Auf seinem schwarzen Blazer, den er aber über den Gatterzaun gehangen hatte, glitzerte das eingestickte Emblem des Gestüts. Die Ärmel seines weißen Hemds waren hochgekrempelt.

 

„Wir warten nur noch auf Sie. Ich wollte anfangen mit einigen Runden, um zu sehen, welcher Klasse die Mädchen zugeordnet werden sollen“, erklärte der junge Mann neben ihm geschäftig. Um ihn herum arbeiteten nur junge Männer. Aber die Studierten unterschieden sich von den Reitern immens, fand er immer.

Müsste er wählen, würde er die Arbeit auf dem Gestüt und der Reitschule vorziehen. Ihm kamen die verklemmten Anzugträger immer so ungesund vor. Keiner von seinen Beratern konnte reiten. Nicht einer. Ihm war die Gesellschaft der Reitlehrer lieber, denn bei ihnen war er sicher, dass sie zu zwischenmenschlichen Beziehungen fähig waren. Und eine gute Beziehung zu Tieren bedeutete ihm schon mehr, als gute Beziehungen zu Menschen oder zu Gesetzestexten. Vor einem Tier konnte man sein wahres Naturell nicht verbergen.

 

Ein Tier durchschaute einen Menschen im Bruchteil eines Moments.

 

Tom war nie blass. Er war auch nie schlecht gelaunt, soweit Alexander es beurteilen konnte, aber seine Angestellten hüteten sich auch wohl in seiner Anwesenheit schlechte Laune zu zeigen, nahm er an. Alexander nickte schließlich.

 

„Gut, dann fangen wir an. Leonard ist in der Halle, nehme ich an?“ Der andere Reitlehrer hatte sich gegen das Unterrichten von Anfängern ausgesprochen. Er war ähnlich ungeduldig wie Alexander selber mit Turnieranfängern. Und Tom verdrehte die Augen.

 

„Ja, und er hatte schon mehrere Ausbrüche“, ergänzte er mit einem wissenden Blick und gedämpfter Stimme. Der junge Herr König konnte durchaus jähzornig werden, wenn es zu Unverstand bei Pferden kam, das hatte Alexander festgestellt, und es mochte für einen Reitlehrer vielleicht keine positive Eigenschaft sein, aber hier auf seinem Gestüt war es ein hervorragender Charakterzug.

 

„Und Ihr Umzug? Gut verlaufen?“ Für gewöhnlich ließ er die Reitlehrer auf dem Gestüt wohnen, sowie die Gäste, wenn sie es sich leisten konnten. Dieses Jahr war Tom aber nach Hamburg gezogen und wohnte dort mit seiner Mutter in der Stadt. Alexander interessierte sich selten für familiäre Hintergründe seiner Angestellten, und damit auch nicht für deren finanzielle Probleme, aber er wusste sehr wohl, Frau Kiergarten war auf die Arbeit und das Gehalt ihres Sohnes angewiesen. Aber bisher war Alexander zufrieden mit Toms Arbeit.

 

„Ja, wir sind vor zwei Wochen endlich mit Wände streichen fertig geworden“, erwiderte er zögerlich. Alexander konnte sich tatsächlich nicht daran erinnern, jemals eine Wand gestrichen zu haben. Fast musste er lächeln. Ein Pferd begann zu tänzeln. Der Reiterin stand der Schweiß auf der Stirn, bemerkte Alexander abschätzend.

 

„Nun gut, fangen wir an“, befahl Alexander mit lauter Stimme. Das Privatgespräch war beendet. Er hielt sich zurück und ließ Tom beginnen.

 

„Willkommen zur ersten Turnierstunde“, begrüßte er die Mädchen. Keine stach Alexander besonders ins Auge. Das Klemmbrett mit der Namensliste hing mit einer Kordel um einen Holzpfosten, und kurz überflog er die Namen, als er es in die Hand nahm. Ja, einige waren ihm bekannt. Es passierte häufig, dass die Käufer seiner Tiere, ihre Kinder zu ihm in eine Ausbildung schickten. Katharina Karlsberg. Er hob den Blick und betrachtete unauffällig die Mädchen, aber keine sah Ottokar Karlsberg auch nur im Entferntesten ähnlich. Aber es war auch keine von ihnen klein, gedrungen, glatzköpfig und dick, überlegte er knapp.

Wahrscheinlich bräuchte er diese Anhaltspunkte, um sie ausmachen zu können.

 

„Mein Name ist Tom Kiergarten. Ich weiß, Sie möchten sich alle in unterschiedlichen Arten des Reitens weiterbilden. Einige von Ihnen wollen reines Springreiten erlernen, andere Dressurreiten, sowie schlichtes Kunstreiten, wieder andere interessieren sich für Rennsport. Wichtig ist allerdings als erstes, dass Sie sicher auf dem Pferd sind. Die Grundregeln haben Sie zu beherrschen, mindestens ein Jahr Reiterfahrung haben Sie zu haben“, fuhr er streng fort, „Außerdem sind Sie sich bitte im Klaren darüber, dass das hier keine Reiterferien sind. Hier wird hohe Reitkunst gelehrt, und das funktioniert nur mit Disziplin. Mit Ausdauer und Talent. Ausritte durch Wald und Flur sind Ihnen nur in der Freizeit gestattet, was konkret bedeutet, nur am Wochenende.“ Er blickte ernst in die Runde.

 

Alexander hätte fast geschmunzelt. Er hielt sich souverän und die Mädchen zeigten Züge von Panik auf ihren vor Sommerhitze geröteten Gesichtern.

 

„Sobald wir Sie eingeteilt haben – und manche von Ihnen werden auch bei mir verbleiben, um vielleicht doch einige Lücken in ihrer Ausbildung aufzufrischen – ändern sich ihre Reitpläne. Leonard König trainiert Dressur. Ausschließlich, und wer sich jetzt noch nicht auf seiner Liste befindet, wird es wohl in diesem Jahr auch nicht mehr schaffen.“ Einige Mädchen tuschelten auf den Rücken der Pferde. „Es gibt Ausnahmen. Sollten mich Ihre Künste heute so sehr überraschen, dass es ich es für möglich halte, Sie in sein Team aufzunehmen, werden Sie noch transferiert“, ergänzte er mit Nachdruck.

 

„Ich trainiere mit Ihnen Springreiten und die Basics, falls diese denn noch Training benötigen sollten, was wir mal nicht hoffen, es kann durch verschiedene Reitlehrer immer zu Unstimmigkeiten kommen“, wand er ein. „Alle diejenige von Ihnen, die sich auf Trab- sowie Galopprennen spezialisieren wollen, werden zu Vanessa Werdelmeier ins Team kommen.“

 

Vanessa war noch nicht angekommen. Sie hatte ihm Bescheid gegeben, dass sie erst am Montag eintreffen würde. Sehr fähiges Mädchen. Ihre Stute stand bereits im Paddock. Herr Werdelmeier hatte ihm bereits sieben Tiere abgekauft.

 

„Wichtig für Sie ist, dass diejenigen, die nach sechs Wochen tatsächlich qualitativ hochwertige Fortschritte gemacht haben, einen Turnierplatz bei den VR-Classics erhalten. Natürlich gehört dazu, dass sie das hauseigene Cross-Country Turnier meistern. Aber sehen Sie es nicht als ihre Pflicht, zum Turnier zu kommen. Jährlich schaffen es ohnehin nur zwei oder weniger, den Maßstäben gerecht zu werden. Für Sie sollte zählen, dass Sie hier auf der Reitschule Rothenberg erstklassig beraten und ausgebildet sind. Das hauseigene Cross-Country Turnier ist ein ganz eigenes Aushängeschild. Eine Teilnahme hieran ist bereits etwas Besonderes, und ich möchte Sie erinnern, wie viele hunderte sich diesen Sommer hier beworben haben, und dass Ihr Aufenthalt jetzt schon bereits eine Ehre und ein großes Glück für Sie und Ihr Pferd ist.“ Er schenkte den Mädchen ein gewinnendes Lächeln.

 

Alexander senkte den Blick und seine Mundwinkel zuckten. Tom war ein hübscher Junge. Dunkle Haare, blaue Augen, ein entwaffnendes Lächeln. Ihn einzustellen war eine wirklich erfolgversprechende Entscheidung gewesen. Die Mädchen hingen an seinen Lippen, wenn er sprach. Und er würde es nicht laut sagen, aber reines Reiten zum Spaß und Selbstzweck, war eine Frauendomäne. Reitersport immer noch eine Männerdomäne. Nichts würde daran etwas ändern. Für gewöhnlich schaffte es kaum eine Reiterin hier, sich für die VR-Classic zu qualifizieren. Aber auch kaum ein Reiter schnitt im hauseigenen Turnier sonderlich gut ab. Alexander nahm an, es lag daran, dass die gewöhnlichen Reiterinnen kein Interesse am Wettkampf hatten. Es ging ihnen nur, stumpf gesagt, um das Pferd. Und er konnte jetzt schon sagen, keines der Mädchen hier würde es schaffen.

Er irrte sich nie, was solche Vorhersagen betraf. Und dieses Mal würde es auch nicht anders sein.

 

„Dann beginnen wir, wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben“, schloss Tom munter und schwang sich leichtfüßig über das Gatter auf die Koppel. „Noch eine wichtige Sache“, unterbrach er das aufgeregte Getuschelt der Mädchen. „Das Zaumzeug wird jeden Abend geputzt. Von Ihnen höchstpersönlich. Die Sättel werden poliert, ebenfalls höchstpersönlich. Das Equipment, was auf Rothenberg verwendet wird ist einzigartig in der Welt. Es bedarf der gründlichen Pflege, und alle diejenigen, die ihr Zaumzeug stets nur einmal im Monat geputzt haben, die möchte ich besonders zur Ordnung ermahnen. Die Sattelkammer wird jeden Abend überprüft. Das Equipment ist nur in so gutem Zustand, weil auf eine erstklassige Pflege Wert gelegt wird.“ Die Peitsche lag locker in seiner Hand. „Dinge selber in Ordnung zu halten, ist bereits Teil der Disziplin, die von Ihnen gefordert wird, außerdem eine Pflicht im Vereinskatalog, den sie bitte bereits ausreichend studiert haben sollten. Es wird keine Ausnahmen geben. Die Pflege der Pferde übernehmen die Angestellten der Stallungen.“ Kurz wirkten einige Mädchen entgeistert. Aber Tom ließ ihnen keine Zeit mehr für mögliche Fragen.

 

„Sie traben nach der halben Parade aus dem Schritt an, ich werde Ihr Pferd beobachten, wie es die Hinterhand bewegt, den Kopf hält, und ob die Haltung generell in Ordnung ist“, rief er und knallte die Peitschte lautlos in den Sand, so dass dieser aufwirbelte.

 

Die fünfzehn Pferde setzten sich ruckartig in Bewegung. Es war fast schon schwer, den Mädchen zuzusehen, denn kaum eine machte überhaupt irgendeine nennenswerte Figur auf ihrem Pferd. Und er erkannte eines seiner Tiere. Es hatte eine besonders helle Blässe auf der dunklen Stirn, fast halbmondförmig. Er hatte das Tier Herkules getauft. Einer der Brüder von Apollo. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem kurzen Mädchen um Katharina Karlsberg.

Erst jetzt erkannte er die Nummern an den Sätteln. Praktische Neueinführung von Tom, nahm er an. Erneut griff er nach dem Klemmbrett.

 

13. Ja, Katharina Karlsberg. Die Steigbügel waren viel zu lang, er sah es von hier aus. Und das Tier drängte nach außen.

 

„Karlsberg!“, rief er und kam näher ans Gatter. Das Mädchen erschrak heftig. „Der Hengst springt falsch an“, sagte er laut. „Du musst mehr Gewicht nach innen bringen. Wenn du die äußere Seite nicht kontrollierst, springt er dir noch auf die äußere Schulter um!“

 

Das Mädchen starrte ihn panisch an, als sie ihn in der Runde passierte. Alexander atmete aus. „Tom, Sie machen das schon“, riss er sich zusammen, bevor das Mädchen noch anfangen würde zu weinen. Sie nahm die Beine beim Trab zu weit zurück und brachte das Tier zum Angaloppieren, aber er verkniff sich die Worte. „Legen Sie im Basic-Kurs Wert auf Hand- und Außengalopp. Am besten lassen Sie Frau Karlsberg mit Kappzaum selber longieren, damit sie die natürliche Außen- und Innenstellung erkennen kann“, schloss er strenger. Und das Mädchen begriff, dass sie also in den Basic-Kurs musste. „Bei Nummer 7,8 und 9 ähnlich“, ergänzte er, und die Mädchen wirkten erschüttert.


„In Ordnung, Herr von Rothenberg“, entgegnete Tom nickend mit einem leisen Lächeln und ließ die Peitschte wieder auf den Sand knallen. Reiter überschätzten sich meistens. Und Alexander übernahm gerne die Position des strengen, bösen Reitlehrers, damit Tom nicht alle Punkte bei den Damen direkt am Anfang verlor.

 

„Lassen Sie die Pferde sich noch zehn Minuten warm laufen, dann gehen Sie mit den Anfängern zum Longieren in den Roundpen, die übrigen Reiter können in die kleine Halle. Herr Bornemann wird dort Zaum-Training machen und die Spring- und Dressurpferde für die Kandaren messen“, ergänzte er. „Rennreiter müssen sich bis morgen gedulden“, fügte er knapp hinzu.

 

„Dann machen die Anfänger heute bis drei Uhr?“, fragte er knapp, und Alexander überschlug kurz die Zeiten im Kopf.

 

„Ja, drei Uhr. Sprechen Sie sich mit Leonard wegen des Hallenwechsels ab, ja? Und lassen Sie mir die Pläne zukommen!“, rief er, ehe er sich abwandte.

 

„Werden wir tun, bis später, Herr von Rothenberg.“

 

~*~

 

Sie hatte den Zug verlassen. Und ihre Augen suchten den Bahnsteig nach dem blonden Mädchen ab. Sie war schon weiter vorne bei den Rolltreppen. Kaya nahm die Beine in die Hand und hievte sich die schwere Tasche über die Schulter, als sie dem Mädchen eilig folgte.

 

Die Halle unten war ausgeschildert mit Wandelhalle und bildete über ihrem Kopf eine halbrunde Glaskuppel, die sich bestimmt fünfhundert Meter zog. Die Sonne brannte durch das Glas auf sie alle hinab, wie in einem Treibhaus. Es war unglaublich heiß geworden.

Sie lief jetzt praktisch hinter dem Mädchen her.

 

Sie spürte ihr Handy in der Hosentasche vibrieren, aber sie achtete darauf jetzt nicht.

Sie wusste nicht, warum sie hinter dem Mädchen herlief. Vielleicht weil sie hier in Hamburg die einzige war, von der sie wusste, dass sie dasselbe Ziel hatte.

 

Das Mädchen verließ den Bahnhof und Kaya folgte ihr. Sie überblickte draußen in strahlender Helligkeit den Platz. Busse standen hier im Übermaß, sowie Zuhause auch. Die Taxen warteten beharrlich, aber sie wusste, sie konnte sich ein Taxi nicht leisten. Sie würde es nicht riskieren. Aber das Mädchen hatte sich bereits ein Taxi ausgesucht und sprach schon mit dem Fahrer, der ihr Gepäck in den Kofferraum lud.

 

Sie könnte ihr vorschlagen, sich das Taxi zu teilen.

 

„Hey!“, rief sie plötzlich und fing wieder an zu rennen. „Hey, warte, ich-“

 

Aber plötzlich kam sie nicht mehr voran. Überrascht verstummte sie, spürte, wie ihre Füße wie zusammengebunden waren. Als sie fiel, sah sie noch, wie das Mädchen einstieg, und der Fahrer die Türen schloss.

 

Mist, dachte Kaya noch, ehe sie auf den Boden schlug.

 

Ihre Füße hatten sich in einem Taschengurt verfangen, und sie plumpste der Länge nach auf den asphaltierten Gehweg. Ein dumpfer Schmerz schoss durch ihre Kniescheibe. Sie biss die Zähne fest zusammen. Auch ihre Ellbogen gaben kurz unter dem Aufprall nach.

 

„Au!“, fluchte sie, als sie endlich lag, ihre Tasche ein Meter vor sich, der Rucksack noch auf ihrem Rücken. Immerhin war so der Cam von Bastian nichts passiert. Und ihrem Handy anscheinend auch nicht, denn es vibrierte bereits erneut in ihrer Hosentasche. Fluchend strampelte sie die Beine aus der Tasche des Jungen, der tatsächlich grinste.

 

„Lass dein Zeug hier nicht liegen!“, fuhr sie ihn schmerzverzogen an. Ihr Knie ziepte unangenehm und sie zog ihr Handy ächzend aus der Hosentasche. Aber sie blieb auf dem Boden sitzen. Die Haut ihrer rechten Handfläche war etwas abgeschürft. Sie nahm das Handy in die linke Hand und fuhr über das Display.

 

„Ja?“, sagte sie grimmig, und hörte laute Hintergrundgeräusche.

 

„Nach meinem Zeitplan müsstest du angekommen sein“, erklärte Alina fröhlich.

 

„Ja, bin angekommen“, bestätigte sie schlecht gelaunt.

 

„Alles ok?“, erkundigte sich Alina sofort skeptisch. „Wurdest du doch beklaut?“, wollte sie hastig wissen, aber Kaya pustete sich die Haare aus der Stirn.

 

„Nein. Ich bin nur hingefallen“, gestand sie ein.

 

„Autsch. Schlimm?“, wollte Alina wissen, aber Kaya ruckte mit dem Kopf.

 

„Nein, nichts lebensbedrohliches“, murmelte sie, während sie fluchend wieder auf die Beine kam. Missmutig entdeckte sie den rötlichen Fleck auf dem Stoff über ihrem Knie. Also hatte sie sich auch noch ihr Knie aufgeschlagen. Sie würde erst mal eine öffentliche Toilette suchen müssen, um den Fleck wegzukriegen, dachte sie.

 

„Ok, hör zu. Der Bus, den du nehmen kannst hat die Nummer 276 nach Duvenstedt, ok? Die Haltestelle ist die Rothenberger Allee. Und wenn du dich beeilst, müsstest du noch einen erwischen! Er fährt vom Heidi-Kabel-Platz“, sagte Alina aufgeregt. Grimmig hob Kaya den Blick. So wie es aussah, hatte sie keine Zeit mehr, ihre Wunden zu säubern.

 

Sie griff eilig nach ihrer Tasche, schlang sie erneut über die Schulter und begann in Richtung Bus zu humpeln.

 

„Ok, ich sehe ihn!“, sagte sie keuchend. „Wie viele Haltestellen sind das?“, wollte sie von Alina wissen. Diese machte ein unverbindliches Geräusch.

 

„Keine Ahnung. Du fährst ungefähr eine Stunde“, sagte sie jedoch entschuldigend.

 

„Mir egal, solange ich nicht laufen muss“, entgegnete Kaya. Sie erreichte den Einstieg. Sie hievte die Tasche hinein. „Alina, ich muss auflegen. Muss bezahlen“, ergänzte sie.

 

„Ok, ruf mich an, wenn du angekommen bist!“, sagte Alina aufgeregt.

 

„Ja“, versprach Kaya und legte auf. Sie schob das Handy zurück in die Hosentasche und holte ihr Portemonnaie aus dem Rucksack. „Einmal nach Duvenstedt, Rothenberger Allee“, sagte sie außer Atem.


„Schülerausweis oder Semesterticket?“, fragte der Busfahrer mit charmantem Hamburgerakzent, und grinsend schüttelte sie den Kopf. „Dann wären das 4,50“, ergänzte er unfreundlich, aber Kaya hatte das Gefühl, mit so einem Dialekt konnte man überhaupt nicht unfreundlich klingen. Sie zahlte die Unsumme und schleppte ihre Tasche bis hin zur letzten Reihe. Sie setzte sich an ein verschmiertes Fenster und begriff, der Bus besaß keine Klimaanlage.

 

So ein Mist. Ihr Wundspray war tief vergaben in ihrer Tasche. Die Wunden würden noch eine Stunde warten müssen, nahm sie bitter an. Aber schmutzig sahen sie nicht aus. Sie bewegte kurz ihr Knie in der Hose. Es ziepte, denn das Blut war am Stoff der Hose getrocknet und durch die Bewegung löste sie die Haut vom Stoff. Sie zog zischend die Luft ein.

 

Super. Sie holte die Wasserflasche aus dem Rucksack und machte ein Tempo nass, mit dem sie ihre Hände säuberte und anschließend versuchte, ihre Hose sauber zu tupfen. Erst jetzt merkte sie, dass sie ihre Ellbogen ebenfalls aufgeschürft hatte. Seufzend verdrehte sie die Augen. Hätte sie doch einfach wieder ihre dünne Jacke übergezogen. Sie sah aus, als hätte sie sich geprügelt oder so. Das würde kein guter erster Eindruck werden, da war sie sich sicher. Der Bus fuhr an, und der uralt-Motor im Inneren war ohrenbetäubend laut.

Sie lehnte den Kopf zurück und blickte aus dem Fenster als der Bus den Bahnhofsplatz verließ. Sie fuhren erst nach Uhlenhorst über Hohenfelde. Schon nach zehn Minuten hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und plattes Land erstreckte sich kilometerweit. Sofort vermisste sie das städtische Treiben, die hohen Häuser, die vollen Plätze voller Eiscafés und Menschen.

 

Feld an Feld reihte sich nun aneinander, Landwirt an Landwirt glitt am Fenster vorbei, auf hohen Traktoren oder Scheunendreschern oder was auch immer. Beängstigt wartete sie darauf, dass sich die Landschaft wieder ändern würde, aber auch nach einer halben Stunde kam keine Großstadt mehr in Sicht.

 

Seufzend schloss sie die Augen. Die Ansage im Bus war auch nicht hilfreich. Fuhls-, Hummels- und Poppenbüttel klangen alle nicht besonders vielversprechend. Es klangen wie Ortschaften aus einem Erich Kästner Roman. Nach fünfundvierzig Minuten griff sie sich ihren Mp3-Player und drehte die laute Musik auf, denn es vermittelte ihr immerhin ein wenig an Heimat. Und es passte hier ganz und gar nicht hin, stellte sie überrascht fest. Sie verband Musik eigentlich nicht mit Orten, aber Katy Perry schien nicht aufs Land zu gehören. Sie klickte die Lieder weiter.

 

Ihr war aufgefallen, dass die wenigen Leute im Bus auch nicht ausstiegen. Ob sie alle an ihrer Haltestelle ausstiegen? Oder hatten sie nichts zu tun und fuhren einfach nur so mit dem Bus?

 

Eine Stunde war vergangen, und langsam wurde sie unruhiger. Die Haltestellen hatten mittlerweile alle das Wort Duvenstedt im Namen, aber noch war ihre nicht erschienen. Und sie hörte noch zwei weitere Lieder von irgendeinem ihr unbekannten Countrysänger, der wohl den Weg über den Musikordner ihrer Mutter versehentlich auf ihren Player gefunden hatte. Aber es gefiel ihr nicht schlecht, während sie sich sicher war, dass sie die Lieder in der Ringbahn bestimmt weggeklickt hätte.

 

Das Anzeigenschild wechselte. Duvenstedt, Rothenberger Allee. Wie gestochen sprang sie auf, verzog noch einmal den Mund, als sich ihr Knie wieder zu Wort meldete und drückte auf den Halteknopf. Es wunderte sie gar nicht, dass wieder keiner ausstieg als der Bus wenige Meter weiter hielt.

 

Und so etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie humpelte die Stiegen hinab, und kaum berührte sie den Boden, schlossen sich die Türen hinter ihr und der laute Bus fuhr weiter. Ein Bushäuschen stand unter einer – Linde? Hieß der Baum so? Sie war sich nicht sicher. So viel Natur auf einmal überforderte ihr Wissen aus Bäume- und Sträucherkunde aus der sechsten Klasse. Hinter dem altertümlichen Bushäuschen lag eine Weide. Ponys standen dort und grasten träge. Sie stapfte durch das hohe saftige Gras zum Drahtzaun und musterte die Ponys misstrauisch.

 

Was für eine bescheuerte Idee es gewesen war, ausgerechnet Pferde zu wählen. Aber sie setzte den Rucksack ab und holte die Cam aus ihrer gepolsterten kleinen Tasche. Sie lag zylinderförmig in ihrer Hand. Sie schaltete sie an. Sie war voll aufgeladen, und sie hatte noch zwölf Stunden freie Aufnahmezeit. Das würde reichen, um auch noch ihren gesamten Krankenhausaufenthalt hier zu filmen, sollte sie vom Pferd stürzen und sich das Bein brechen, ging ihr dumpf auf.

 

Sie drückte auf Record und filmte die grasenden Ponys. Sie schwenkte die Kamera auf die unbefahrene Straße. Allein das wäre in Berlin undenkbar! Von der Weide, den Ponys und dem Bushäuschen ganz abgesehen. Es kam ihr fast vor wie in einem Museum, aber sie begriff, es lag wohl daran, dass das Bushäuschen nicht mit Graffiti bedeckt war. Es war so seltsam, überhaupt irgendein Gebilde mit vier Wänden ohne Graffiti zu sehen, fiel ihr auf.

 

Das war das Land. Keine Sprayer.

 

Sie stand einer T-Kreuzung. Ihr gegenüber begann die Rothenberger Allee. Allerdings gab es keine Hausnummern, denn was sie sah war einfach nur eine endlose Weidelandschaft. Die Vögel sangen hier lauter als in der Stadt. Alles grünte und blühte um sie herum, und sie stellte die Kamera wieder aus, als sie die Umgebung gefilmt hatte. Sie steckte sie zurück in die Polsterung und wieder in den Rucksack. Sie schulterte ihn voller Tatendrang und griff wieder nach der schweren Tasche.

 

Sie überquerte die Straße, ohne das ein Auto in Sicht gekommen war. Sie konnte auch auf keinem Bürgersteig gehen, die Straße besaß weder Bürgerstieg noch Markierungen.

Sie hielt sich möglichst weit rechts, aber hohe Büsche zwangen sie praktisch, mitten auf der Straße zu gehen, wenn sie neben ihren Schürfwunden nicht auch noch Kratzer von Rosenbüschen haben wollte.

 

Und sie begriff erst jetzt, wie lang die Straße sein musste. Sie erstreckte sich nämlich so weit, wie Kaya gucken konnte. Es gab keine Abzweigungen, nur Fort- und Landwirtschaftswege, wie kleine Schilder die Auffahrten auf die Felder kennzeichneten. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie betrachtete die Landschaft skeptisch, in städtischer Manie.

 

Niemand. Absolut niemand war hier draußen. Und sie hoffte, dass hinter der Erhöhung der Straße endlich das Gestüt lag. Wie groß konnten hier die Landflächen bitteschön sein? Ihr Handy vibrierte wieder. Sie kramte es aus der Tasche.

 

„Ja?“

 

„Hey, hier ist Bastian.“

 

Sie hatte gar nicht auf das Display geachtet, und kurz sprang ihr Herz in ihren Mund. Nie wurde sie von einem Jungen angerufen, und in den letzten Tagen dafür schon zweimal.

 

„Kaya?“, sagte er jetzt, und sie schüttelte perplex den Kopf, während sie den Schweiß auf der Stirn spürte.

 

„Hi“, begrüßte sie ihn.

 

„Du bist angekommen?“, fragte er jetzt.

 

„Das klingt nicht wie eine Frage“, erwiderte sie überrascht.

 

„Nein, ich… habe gerade schon mit Alina telefoniert“, gestand er ein.

 

„Aha“, sagte sie lächelnd. Er klang ziemlich happy, fand sie. Sie schleppte sich mit ihrem Gepäck weiter. „Ich bin vorhin aus dem Bus gestiegen, aber es ist ein endloser Weg.“ Sie war sich nicht sicher, was Alina ihm erzählte hatte.

 

„Dein Großvater wird mächtig überrascht sein“, entfuhr es ihm nachdenklich. Ah gut. Anscheinend hatte Alina ihrem neuen Typen schlichtweg alles erzählt. Sie seufzte auf.

 

„Du weißt jetzt alles, nehme ich an?“, entfuhr es ihr bitter, aber sie hörte ihn lachen.

 

„Oh, tut mir leid. Ja, so ziemlich. Und Alina hat mir gesagt, ich soll nichts verraten. Sorry“, räumte er lachend ein.

 

„Ach, ist egal. Das wird alles sowieso nicht funktionieren“, murmelte sie verzweifelt. „Hier ist nichts außer Landstraßen. Am besten mache ich kehrt und fahr nach haue und filme mich dabei, wie ich das blöde Theater streiche“, murrte sie.

 

„Komm schon, Kaya. Jetzt bist du schon mal da“, munterte sie anscheinend auf. Sie hörte ihn tippen. „Außerdem…“, sagte er langsam, „geht die Landstraße nur zwei Kilometer. Du müsstest das Gestüt doch sehen können, oder?“

 

Er hatte leicht reden! „Hier ist ein riesen Berg, Bastian!“, beschwerte sie sich. „Und mein Knie tut weh, meine Tasche ist schwer – und hier ist nichts! Nicht mal eine Tankstelle, wo man sich eine Cola kaufen kann oder so!“

 

„Na ja, mit Tankstellen hat man das da nicht so“, sagte er. „Aber auf der Homepage sieht das Gestüt riesig aus“, bemerkte er abwesend.

 

„Hast du eigentlich nichts zu tun?“, fragte sie ächzend, als sie den höchsten Punkt der endlosen Anhöhe erreicht hatte und zurück über die Schulter blickte. Die Bushaltestelle konnte sie schon nicht mehr erkennen. Sie lag verborgen um eine Kurve, verdeckt durch hohe Bäume.

 

„Hm“, machte er nachdenklich. „Habe gleich Tennis, aber sonst… - nö“, gab er zu.

 

„Tennis“, wiederholte sie. „Das wäre etwas, wobei ich mich hätte filmen können“, murmelte sie bitter.

 

„Sicher, wenn du aber nicht gerade Wimbledon spielst, ist das wohl nichts, was die Lehrer unserer Schule reizen wird, um dich gut zu benoten“, sagte er lächelnd. Sie hörte das Grinsen praktisch.

 

„Und das ist alles? Du rufst mich einfach an?“, vergewisserte sie sich ernsthaft und hörte ihn seufzen.

 

„Hey, wenn ich dich nerve, können wir auch auflegen“, erklärte er eine Spur beleidigt. Aber sie war schon dankbar, wenn sie überhaupt einen Anruf bekam. Egal, von wem. Sei es auch von dem Typen, den sie mal gemocht hatte und der jetzt auf ihre Freundin stand.

Es war alles ungerecht. Manchmal fragte sie sich, ob es eben so sein müsste. Bastians Eltern waren reich und erfolgreich und Bastians Weg lag klar vor ihm. Alinas Eltern waren reich und genauso erfolgreich, und Alina würde bestimmt irgendeinen guten Job finden später.

Aber sie würde erst mal hundert Jahre studieren gehen.

 

Ihre Mutter arbeitete jeden Tag so lange, dass Kaya sie nie zu Gesicht bekam. Ihr Vater hatte sie und ihre Mutter verlassen, und ihre Großeltern sprachen kein Wort mit ihnen.

Und ausgerechnet sie war jetzt auf dem Weg zu einer Person, die sich eigentlich nicht für sie interessierte.

 

„Bist du noch dran?“, fragte er gereizt, und sie schüttelte verwirrt den Kopf. Die Hitze war einfach zu viel, sagte sie sich.

 

„Ich – ja. Nein, tut mir leid, du… nervst mich nicht“, sagte sie zerknirscht. Kurz herrschte Stille. Sie sollte gar nicht mit Bastian oder Alina zu tun haben. Sie würde nicht studieren gehen. Sie hatte keine intakte Familie und dumm war sie noch dazu. Und bei ihrem Glück würde ihr Großvater sie von seinem Hof jagen, nahm sie an. Immerhin hatte es ein Gutes. Dann könnte sie schon heute wieder nach Hause fahren, überlegte sie dumpf.

 

„Du hast Angst, oder?“, unterbrach er plötzlich ihre Gedanken. Sie atmete unschlüssig in das Mikrophon des Handys.

 

„Ich hab keine Angst“, log sie schwer atmend.

 

„Es ist nur ´ne Nachprüfung“, erwiderte er ruhiger. Ja, sie verstand. Er dachte, sie hätte Angst wegen der Prüfung, nicht, weil sie ihren Großvater noch nie gesehen hatte und jetzt praktisch vor seine Füße fiel, mit Sack und Pack. Aber sie ging auf seine Worte ein, ohne ihn zu korrigieren.

 

„Das ist leicht für dich zu sagen. Ich… bin einfach zu dumm“, sagte sie leichthin, was auch nicht gelogen war. Sie dachte an ihre angenehme Realschule zurück, bei der sie bestimmt nicht solche Längen hätte auf sich nehmen müssen, um versetzt zu werden.

 

Er sagte nichts darauf. Vielleicht stimmte er ihr ja stumm zu. Wahrscheinlich. Wahrscheinlich hielt der Oberprimus sie tatsächlich für dumm.

 

„Ach, Blödsinn“, sagte er schließlich. „Vielleicht läuft ja alles gut“, fuhr er fort.

 

„Jaah, vielleicht“, entgegnete sie unwillig. Und sie blieb plötzlich stehen. „Ich kann es sehen“, flüsterte sie plötzlich.

 

„Ja? Und?“ Er klang ebenfalls neugierig. Langsam schritt sie näher. Ein brauner Zaun hatte plötzlich begonnen. Hinter ihm wuchsen hohe Hecken und Sträucher. Ein großes lackiertes Holzschild kündigte schwarz auf weiß das Gestüt Rothenberg in fünfhundert Metern an.

Ihr Herz schlug sehr schnell. Und sie sah schon von weitem ein mächtiges Problem. Ein unüberwindbares Problem!

 

„Mist!“, entfuhr es ihr und sie wich nahe an die Hecken und Sträucher zurück, als sie näher kam.

 

„Was?“, erwiderte Bastian schnell.

 

„Da ist eine Schranke. Da ist sogar ein Wachhäuschen!“, sagte sie verzweifelt.

 

„Oh“, entgegnete Bastian bloß. „Ok, dann gehst du dann hin, zeigst deinen Ausweis, und sagst, du willst deinen Großvater besuchen“, schloss er leichtfertig. Sie entdeckte zähneknirschend mehrere Überwachungskameras, die auf die Einfahrt gerichtet waren. Was war das hier? Ein Hochsicherheitspferdegefängnis?

 

„Das kann ich nicht“, murmelte sie. „Ich muss Alina anrufen“, ergänzte sie plötzlich. Alina wusste bestimmt weiter. Der Gedanke an Alina hatte etwas Tröstliches, fand sie.

 

„Ok?“, erwiderte er eine Spur beleidigt.

 

„Ja, mach’s gut!“, verabschiedete sie sich unglücklich. „Danke, für den Anruf“, fügte sie schnell hinzu, ehe sie das Gespräch beendete und Alinas Nummer wählte. Sie ließ anklingeln und legte dann auf. Und sie wartete im Schutz der Hecke.

 

Aber Alina rief nicht zurück. Sie wartete noch eine halbe Minute und wählte die Nummer erneut. Das Freizeichen ertönte. Hastig legte sie wieder auf, denn sie wusste, selbst, wenn sie nur klingeln ließ, kostete es sie Guthaben. Und ihr fiel wieder ein, dass Alina ja die letzten Anrufe vom Handy ihres Vaters getätigt hatte. Eilig durchsuchte sie die Anruferliste.

Sie fand die Nummer und kurz zögerte sie.

 

Was, wenn Alinas Vater ranging? Was, wenn Alina ihm sonst was für eine Geschichte erzählt hatte?  Seufzend schob sie das Handy zurück in ihre Hosentasche.

 

Und jetzt? Sie konnte unmöglich tun, was Bastian gesagt hatte! Wieso musste da ausgerechnet eine Schranke sein? Was war das hier denn bitteschön? Der Reichstag?!

Sie schlich sich langsam näher und achtete darauf außerhalb der Kameralinsen zu bleiben.

 

Und sie hörte ein Auto aus nächster Nähe. Bevor sie zurückweichen konnte, hob sich die Schranke. Ein schwarzer Wagen fuhr aus der breiten Einfahrt und bog nach rechts, direkt auf sie zu. Sie versuchte, möglichst unauffällig am Straßenrand zu stehen, aber der Wagen hielt neben ihr. Das Beifahrerfenster wurde elektrisch runter gelassen.

 

„Haben Sie sich verlaufen, junge Dame?“, fragte eine freundlich dreinblickende Dame, wahrscheinlich über sechzig, schätzte Kaya, und auch sie sprach den angenehmen Dialekt.

 

„Äh…“, entfuhr es ihr unschlüssig. Dann schüttelte sie zaghaft den Kopf.

 

„Gehören Sie zu den Schülerinnen?“, fragte die Frau weiter.

 

„Ich… ich wollte jemanden besuchen“, sagte Kaya schließlich, die von ihrer Mutter stets beigebracht bekommen hatte, vor Leuten keine Angst zu haben, und in ganzen Sätzen zu antworten. Sie versuchte, freundlich zu schauen, aber sie könnte sich bereits erschlagen für ihre Blödheit. Wen wollte sie bitteschön besuchen?!

 

„Sie wollen einen der Schüler besuchen? Am ersten Trainingstag?“, wiederholte die Frau im Auto die Frage. Kaya nickte nur. „Sie haben viel Gepäck dabei, nur um jemanden zu besuchen“, bemerkte die Frau jetzt. Sie hatte die Haare zu einem Dutt hochgebunden, aber vereinzelt fielen ihr wirre helle Haare an den Seiten heraus.

 

„Wohnen Sie auf dem Gestüt?“, fragte Kaya jetzt neugierig, denn vielleicht war die Frau ja ihre Großmutter. Aber sie meinte sich schnell wieder zu erinnern, dass ihre Großmutter bereits gestorben war.

 

„Na, wen wollen Sie denn besuchen? Erna, fahr mal rechts ran“, wandte sie sich an die jüngere Frau, die hinterm Steuer saß. Der schwarze Mercedes fuhr neben Kaya rechts an den Rand der engen Landstraße. Sie schluckte schwer und glaubte, gleich ohnmächtig zu werden. Sie brauchte bestimmt einen Pass oder einen Ausweis, um da rein zu kommen! Die Frauen stiegen aus. Die Dame, die mit ihr gesprochen hatte, trug eine streng zugeknöpfte Bluse und einen langen blauen Rock. Sie sah sehr schick und sehr streng aus, befand Kaya plötzlich.

 

„So, mein Name ist Frau Fiets. Und Sie scheinen eine weite Reise hierhin gemacht zu haben“, stellte sie mit Blick auf ihr Gepäck fest.

 

„Ich… bin nur auf der Durchreise“, log Kaya hastig. „Und… eine Schülerin ist meine… Schwester, und sie hat ein paar Sachen vergessen, die… ich ihr bringen sollte.“ Oh Gott. Wäre Lügen ein Schulfach, müsste sie wohl auch darin eine Nachprüfung machen müssen.

 

„Ihre Schwester?“ Und Kaya fiel der Name ein, den das Mädchen am Bahnhof in Berlin genannt hatte.

 

„Tina“, sagte sie hastig.

 

„Tina? So viele Namen, war eine Tina dabei? Meinen Sie… Tina von Bergen?“, vergewisserte sich die Frau verblüfft, und Kaya beschloss, zu nicken, und dankbar zu sein, sich keinen Nachnamen ausdenken zu müssen, der wahrscheinlich auch noch falsch wäre. „Die arme. Ist sowieso schon ganz fertig mit den Nerven“, bemerkte Frau Fiets anscheinend an ihre Begleitung gewandt. Dann musterte sie Kaya wieder.

 

„Na, dann bringen wir Sie mal rein. Wo wollen Sie denn danach noch hin?“ Kaya überlegte angestrengt. Himmel, die Frau ließ ihr auch keine Pause.

 

„Nach Berlin…“, schloss sie eilig, mit gewisser Resignation. „Meine Eltern sind… schon abgereist, ich… besuche wen in Berlin, und sie haben mich hier abgesetzt. Wir wohnen… in Hamburg und… von hier aus fährt ja der Bus direkt bis zum Bahnhof. Und…“ Kaya unterbrach sich verzweifelt.

 

„Na, das ist aber nicht gerade nett von Ihren Eltern“, bemerkte Frau Fiets missbilligend. „Du solltest die Eltern der Schüler hier mal kennenlernen, Erna. Sich selber zu schade, einen Schritt zu Fuß zu gehen, aber die Kinder in der Wildnis aussetzen…“ Aber sie unterbrach sich. Sie passierten die Schranke, und Frau Fiets nickte dem Mann in dem Häuschen lediglich zu. Kayas Augen wurden größer. Sie hatte die Kameras längst vergessen.

 

Das war doch nicht alles das Gestüt, oder?!

 

Sie sah sich um. Das wirkliche Schlimme war, dass sie kein Ende erkennen konnte. Die lange Auffahrt führte hoch zu einem Platz, vielleicht ein Parkplatz? Dahinter erstreckte sich eine riesige Koppel, oder wie man es nannte. Sie war rund und groß, mit einem höheren Zaun als der hinter der Bushaltestelle. Dahinter waren Stallungen, nahm sie an. So groß wie ihr Gebäudekomplex in Prenzlau, wenn nicht größer. Riesige Bäume standen dahinter, so hoch wie… höher als die Bäume im Friedrichshainer Park zuhause! Und in der Ferne war ein Haus. Nein, kein Haus. Es war… wie ein riesiges Hotel, dachte sie benommen.

 

Es war… größer als auf dem Bild im Internet und… anders.

 

„Ist das… das ist das Gestüt?“, entfuhr es ihr ungläubig und sie deutete auf die weite Fläche. Frau Fiets betrachtete sie verstört.

 

„Ja? Sicher. Warst du noch nie mit deiner Schwester hier?“, fragte sie jetzt verwundert. Kaya hörte gar nicht hin und schüttelte nur den Kopf. Sie merkte, wie ihre Schritte schneller wurden, wie sie weiter ausschritt, wie die Frauen ihr folgten.

 

„Was… was ist das alles?“, wollte sie erschüttert wissen. „Das gehört alles… Herrn Rothenberg?“, entfuhr es ihr fassungslos.

 

„Kind, ist alles in Ordnung?“, wollte die Frau jetzt wissen. „Du blutest ja!“, ergänzte sie überrascht. Kaya konnte nur wieder den Kopf schütteln. Ein Auto fuhr an ihnen vorbei. Es war ein Sportwagen mit nur zwei Sitzen. Er parkte auf dem Parkplatz vor ihnen. Ein großer dünner Mann stieg aus. Er trug einen passenden dunklen Anzug. „Ach, Herr Hansen!“, rief Frau Fiets überrascht. „Dass Sie am Sonntag den Weg hieraus gemacht haben“, sagte sie kopfschüttelnd. „Der gnädige Herr kann doch unmögliche so wichtige Geschäfte haben“, sagte sie nur.

 

Der Mann tupfte sich mit einem Taschentuch die nasse Stirn ab. Er musste ziemlich schwitzen in seinem Anzug, aber Kayas Blick war schon wieder über das Grundstück gewandert. Vor allem konnte sie hinter der runden Koppel nur noch Wiesen erblicken. In der Ferne vielleicht eine Art Springbock oder zwei. Wie groß war es wohl? Sie hatte es doch auf Wikipedia gelesen. Sie wollte den Artikel nicht rausholen. Es war unglaublich. Das Gespräch ging an ihr vorbei. Aber ihr Blick löste sich von den weiten Wiesen, denn aus den Augenwinkeln erkannte sie eine Gestalt, die von den Stallungen herkam.

 

Die Reiterstiefel machten laute Geräusche auf dem Kies. Die Gestalt näherte sich eilig.

 

„Ach, Herr Kiergarten, wären Sie wohl so freundlich?“ Kaya spürte, wie Frau Fiets sie mit der Hand auf ihrem Rücken vorwärts schob. „Die junge Dame wollte ihrer Schwester ein paar Sachen bringen? Die kleine Tina von Bergen?“, ergänzte sie. Kaya hob den Blick zum jungen Mann, dem ebenfalls der Schweiß auf der Stirn stand.

 

„Schwester?“, wiederholte er. Seine Augen ruhten auf ihrem Gesicht. Für einen Moment dachte sie, dass sie noch nie einen so hübschen Jungen gesehen hatte. Und im nächsten Moment wurde ihr klar, dass der junge Mann sie misstrauisch beäugte. Ihr Mund öffnete sich überfordert, und sie suchte krampfhaft nach einer guten Ausrede, aber… so plötzlich wie das Misstrauen gekommen war, so schnell verschwand es von seinen Zügen.

 

„Komm mit“, sagte er schließlich, und er sah sie unverhohlen an, bis hinab zu dem blutigen Fleck auf ihrer Jeans.

 

„Junge Frau, wenn Sie wollen, können Sie sich noch sauber machen, ehe Sie gehen. Sagen sie Magda, der Küchenhilfe, ich hätte Sie geschickt, ja?“ Kaya sagte darauf nichts und folgte dem fremden Jungen, der vielleicht zwei drei Jahre älter war als sie. Diese Frau Fiets schien sehr nett zu sein und trug einen mitleidigen Ausdruck für sie auf ihren gutmütigen Zügen.

 

„Wo gehen wir hin?“, fragte Kaya, als sie zielstrebig an den Stallungen vorbeigegangen waren. Sie zogen sich schier endlos neben ihnen her.

 

„Zu deiner Schwester“, erklärte er nur. Kaya konnte nicht sagen, ob er wusste, dass sie log, oder ob er ihr die halbherzige Lüge abgekauft hatte. So langsam wurde die Zeit knapp, denn der Junge steuerte eine Halle an, weiter hinten, hinter den Stallungen, wo das Grundstück anscheinend noch mal eine Wende nahm. Sie schüttelte den Kopf. Hier könnten tausend Leute wohnen, überlegte sie dumpf.

 

„Wie groß ist das hier?“, fragte sie, bevor sie sich halten konnte. Er stutzte kurz neben ihr.

 

„Keine Ahnung“, erwiderte er ernsthaft überrascht. „20, 30 Hektar?“, sagte er jetzt. Ja, ihre fünf in Mathe zahlte sich auch jetzt aus.

 

„Ja? Ein Hektar ist noch mal…?“, wollte sie unverfänglich wissen, und kurz lächelte er tatsächlich und hielt inne.

 

„1 Hektar sind 10.000m².“ Sie war ebenfalls stehen geblieben.

 

„Ah…“, sagte sie langsam. Das waren dann 10 Quadratkilometer. Mal 30… - oh. Das war eine Menge, nahm sie an, denn vorstellen konnte sie es sich nicht. „Wow“, entfuhr es ihr tonlos, ohne jede Begeisterung, denn sie war einfach nur schockiert.

 

„Was hat deine Schwester denn vergessen?“, fragte er jetzt, als sie wieder weitergingen.

 

„Ein paar… Kleinigkeiten“, sagte sie vage. Sie hatte keine Ahnung. Ihre Kunst, zu lügen, ging bis hierhin und keinen Schritt weiter, dachte sie verzweifelt.

 

„So wie…?“ Er ließ nicht locker, und sie sah scheu zu ihm auf. Er sah gut aus. Ja, wirklich. Gutaussehende Jungs ließen sie immer vollkommen dämlich werden. Es war zum Verrücktwerden mit ihr.

 

„Kiergarten“, wiederholte sie plötzlich. „Tom Kiergarten?“, sagte sie, als ihr der Name wieder einfiel. Er musterte sie.

 

„Ja, du kennst mich?“

 

„Nur von…“ Ja, wovon eigentlich?! „Von den Siegerlisten vom…“ Oh Mist, wie hieß das noch mal? Aber er tat ihr den Gefallen.

 

„Von den VR-Classics?“, half er ihr aus, und sie nickte heftig. Seine Stirn kräuselte sich kurz, als er sie näher betrachtete. „Wie alt bist du?“

 

„Was?“ Mit der Frage hatte sie nicht wirklich gerechnet. „Warum?“, fragte sie abwehrend.


„Ist das ein Staatsgeheimnis?“ Ihr fiel auf, dass er ohne Akzent sprach. Er sprach Hochdeutsch.

 

„Du kommst nicht aus Hamburg, oder? Du sprichst nicht so wie die Leute hier.“

 

„Du kommst auch nicht aus Hamburg“, stellte er lächelnd fest. Seine Antworten waren glatt. „Und wieso willst du mir nicht sagen, wie alt du bist?“

 

„Siebzehn“, sagte sie schließlich. Er musterte sie weiterhin. Dann blieb er stehen. Aus der Halle vor ihnen drang Musik durch die verschlossenen Türen. „Was ist da drin? Irgendeine Scheunenparty?“, wollte sie verwirrt wissen, und er schüttelte lächelnd den Kopf, als er die Türen aufzog.

 

„Deine Schwester hat gerade Dressur-Training. Aber wenn du wichtige Kleinigkeiten für sie hast, dann komm“, sagte er einladend und hielt ihr die Tür auf. Vielleicht bildete sie es sich ein, aber leiser Spott funkelte in seinen Augen. Sie schüttelte abwehrend den Kopf, denn was sollte sie –

 

„-dann müssen sie dran arbeiten. Die Kandare ist kein Spielzeug. Der Umgang muss perfekt beherrscht werden, oder es ist kostbare Zeitverschwendung!“, sagte der Mann streng. Ihr Mund hatte sich geöffnet. Wie von selbst machte sie ein paar Schritte vorwärts in die kühlere Halle. Künstliches Licht erhellte die rechteckige, riesige Halle. Die Decke war matt und undurchsichtig, aber das Licht fiel gedimmt auf den Sand der Halle.

 

In der Mitte standen einige Reiterinnen auf Pferden, am Rand stand….

 

Unsicher machte sie weitere Schritte voran. Es war der Mann auf dem Bild im Internet. Sein Haar war dunkel nach hinten gekämmt über seinen Kopf, aber es war… - so dicht, wie das Haar ihres Vaters, so wie sie es in Erinnerung hatte.

Er trug eine dunkle Hose, die um die Oberschenkel ein wenig ausgebeult war. Wohl eine Art Reithose. Darunter Stiefel. Glatt und glänzend. Darüber ein dunkles Hemd. Er wirkte so… jung. Nicht wie ein Großvater wirken sollte. Und sein Gesicht…. Das war… doch unfassbar! Das Gefühl, das sie erfasste war… seltsam. Es fühlte sich… bitter an, in ihr drin. Bitter und… irgendwie schmerzhaft. Denn sie war ein Mensch, der Dinge schnell vergaß. Herr Steiner sagte, es gab nasse und trockene Schwämme unter den Schülern. Die nassen begriffen schnell, die trocknen brauchten länger dafür. Und sie fand, sie war wohl eher einer dieser trockenen Schwämme. Leider. Und sie vergaß viel. Zahlen waren immer ein Problem. Und natürlich Gesichter. Vom Theater her sollte sie eigentlich langsam das Ensemble kennen, was sie zwangsläufig immer wieder sehen musste, aber jedes Mal war es peinlich für sie, denn sobald die Freundinnen ihrer Mutter eine andere Frisur oder andere Haarfarben hatten, war es mit dem Wiedererkennungswert vorbei.

 

Und so war es auch mit ihrem Vater. Sicher, sie konnte sich ins Gedächtnis rufen, welche Augenfarbe er hatte, oder wie lang seine Haare waren, aber wenn sie ihn dann sah, dann sah er doch vollkommen anders aus, als sie es geglaubt hatte, zu wissen.

Und jetzt wusste sie plötzlich wieder, wie ihr Vater aussah. Und das schmerzte. Nur das.

 

„Sicher, das ist es ja, was ich ihnen sage, aber wer es nicht beherrscht, der fliegt sowieso aus diesem Programm“, vernahm sie die laute überhebliche Stimme des fremden jungen Mannes, der neben ihrem Großvater stand.

 

„Tom, ich dachte, es wäre Ihre Pause?“, erkundigte sich der Mann, der Tom Kiergarten neben ihr erkannt hatte, wirkte aber nicht wirklich überrascht. Und Kaya hielt automatisch die Luft an, als der Mann sie nun näher ins Auge fasste. „Eine weitere Schülerin?“, fragte er milde interessiert.

 

„Wieso ist sie nicht umgezogen?“, wollte der blonde Mann schroff wissen. Seine Haare waren länger als die von Tom Kiergarten neben ihr. Und sie wellten sich seinen Nacken hinab. Und sein Gesicht war… nicht freundlich. Ganz und gar nicht. Kaya wandte den Blick von dem blonden Mann ab, denn er war ihr unangenehm.

 

„Tom?“, wiederholte der Mann. Er kam näher. Das Gewicht der Tasche schnitt Kaya in die Schulter, aber sie spürte es kaum. Sie konnte nur den Mann betrachten. Stumm betrachten. Der Mann, der den gleichen Namen trug wie sie. Ihr kam eine lächerliche Erinnerung an die dritte Klasse ins Gedächtnis. Sie hatten alle Bilder von ihrer Familie malen müssen. Die Großeltern der anderen Kinder waren alle alt gewesen, grauhaarig und haben auf den Bildern alle gutmütig gelächelt.

 

Die Großmütter hatten alle graue runde Haarknoten auf dem Kopf gehabt.

 

Als die Lehrerin zu ihr gekommen war, hatte Kaya sich und ihre Mutter fertig gemalt. Frau Kirschner hatte sie erwartend angesehen, und Kaya hatte zögerlich weitergemalt. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie ihr Vater oder ihre Großeltern aussahen. Das hatte sie der Lehrerin aber nicht gesagt, sondern einfach gemalt. Ihren Vater, ihren Großvater, ihre Großeltern, Cousins und Cousinen, die sie gar nicht hatte. Das Bild war am Ende aus allen Nähten geplatzt. Und Frau Kirschner war zufrieden gewesen.

 

Daran musste sie gerade denken und kam sich plötzlich wesentlich jünger vor, als sie gerade war. Sie wusste nicht, ob man spüren konnte, wenn Familie anwesend war, aber so etwas Ähnliches dachte sie gerade. So ein Gefühl erfüllte sie gerade. Sie wusste nicht, ob sie das auch denken würde, wenn sie diesen Mann einfach nur auf irgendeiner Straße in Prenzlau getroffen hätte, ohne zu wissen, wer er war. Aber… je näher sie ihn betrachtete – umso mehr konnte sie sich an ihren Vater erinnern. Das Gefühl war… - es tat weh. Und sie glaubte auch nebenbei nicht, dass so jemand wie er in Prenzlau rumlaufen würde.

 

„Name?“, fragte der Mann, der plötzlich vor ihr stand. Ihr Großvater. Sie hatte gar nicht registriert, dass er sie erreicht hatte. Seine Augen waren blau. Blau, einfach tief blau. In seinem Gesicht lag keine Wiedererkennung, aber natürlich tat es das nicht. Er hatte sie ja noch nie in seinem Leben gesehen. Sie schluckte schwer, denn plötzlich lag ihre Zunge wie taub in ihrem Mund.

 

„Kaya“, entfuhr es ihr heiser, obwohl sie nicht hatte sprechen wollen. Kaya merkte nicht mal, wie egal ihr die Ausreden waren. Wahrscheinlich würde sie gleich verhaftet werden, wegen Hausfriedensbruch oder wegen was Jugendliche so in der Großstadt verhaftet wurden. Sie hatte es oft genug im Fernsehen gesehen. Vielleicht würde sie jemand packen und tatsächlich rauswerfen. Das war mal auf dem Gymnasium passiert, als irgendwelche fremden die Wände mit Graffiti angesprüht hatten.

Aber es war ihr egal. Das war ihr Großvater. Sie fühlte sich für eine Sekunde wie das Mädchen aus dem Märchen. Das, mit den Schwefelhölzern. Zwar war es nicht Winter, und sie litt an keinem Fieber in der Weihnachtsnacht. Sie war nicht mittellos und würde nicht gleich sterben, aber es kam ihr dennoch wie eine Erscheinung vor, die sie vor sich hatte.

Und plötzlich war es auch nicht mehr so unvorstellbar, dass auch sie mehr Familie besitzen konnte, als nur ihre Mutter. Ihr Herz schlug lächerlich schnell, während er sie betrachtete.

 

„Kaya?“, wiederholte er verständnislos. „Sind Sie eine Schülerin hier?“, fragte er erneut Sie hörte, der Mann war ungeduldig. Wahrscheinlich hielt er sie für minderbemittelt, weil sie einfach nicht sprechen konnte.

 

Anscheinend schien der junge Mann neben ihr auch auf ihr Geständnis zu warten. Sie atmete die angehaltene Luft aus. Kurz ließ sie den Blick über die verdutzten Reiterinnen wandern, die sie abfällig betrachteten.

 

Und kurz zuckten ihre Mundwinkel, als sie die Lächerlichkeit begriff. Als sie einsah wie dumm ihre Idee wirklich gewesen war. Und ihre Augen brannten plötzlich. Heiß und stechend.

Kurz verschwamm seine Gestalt vor ihrem glasigen Blick. Dann senkte sie hastig den Blick. „Verzeihung“, sagte sie leise, als sie sich an Tom Kiergarten vorbeischob, dessen Namen sie auch nur von einer Internetseite kannte.

 

Sie trat wieder in die Hitze der prallen Sonne. Sie wärmte ihre kalt gewordenen Oberarme. Sie erkannte den Mann namens Hansen auf die Halle zukommen. Er bedachte sie argwöhnisch, schien auch ihre abgeschürften Ellenbogen zu bemerken. Sie schritt langsam weiter.

 

„Dr. Hansen, warten Sie kurz“, hörte sie die Stimme ihres Großvaters. Und sie merkte, dass er ihr folgte. „Einen Moment, junge Frau!“, hielt er sie auf. Ihr Herz klopfte verräterisch laut. „Sie können hier nicht einfach reinspazieren. Das hier ist Privatbesitz, und wenn Sie nicht angemeldet sind, haben Sie hier nichts zu suchen!“, informierte er streng, wie ein Lehrer. Herrn Steiner hätte er bestimmt täuschen können, überlegte sie knapp.

 

Er sah sie nicht an wie ein Kind, fiel ihr auf. Er siezte sie sogar. Nur in der Schule passierte ihr das. Noch nirgendwo außerhalb. Er sah sie an, wie… einen Erwachsenen. Einen Eindringling. „Wenn Sie hier nichts verloren haben, verlassen Sie augenblicklich meinen Hof“, informierte er sie. Fast wertfrei. Nicht übermäßig zornig, nicht besonders interessiert. Als wäre sie eine lästige Kleinigkeit, die beseitigt werden müsste. Alinas Großvater schickte Alina jeden Monat eine Karte aus der Schweiz, manchmal mit Geld drin. Da wohnte er nämlich. Und sie nickte. Und manchmal hatte sie immer mal wieder klare Momente. Momente, in denen sie begriff, dass sie am besten auf ihre Mutter hören sollte.

Sie vermisste ihre kleine Wohnung, in der sie nichts von diesem Mann geahnt hatte, oder seinem unendlich großen Besitz, in den die Wohnung ihrer Mutter bestimmt einhunderttausendmal Platz gefunden hätte.

 

Und sie nickte ihm zu. Und sie wusste, das hier… hätte niemals ihr Großvater sein können.

 

Sie war immer überzeugt, Großväter liebten ihre Enkel. Dieser Mann… wirkte nicht besonders liebenswürdig. Er hatte seinem Sohn bestimmt nicht zum Geburtstag gratuliert, dachte sie plötzlich dumpf. Wieder schmerzte irgendetwas in ihrem Innern. Sie wusste nicht, was, aber ergründen wollte sie es nicht tiefer.

 

Und dann ging sie.

 

Sie ließ den Mann hinter sich zurück. Sie ging den Weg wieder runter, den sie gekommen war. Die Auffahrt lag frei. Die beiden Frauen waren nicht mehr da. Ihr Blick glitt über das weite Land. Sie erkannte Pferde auf einer weiteren Weide.

 

Was war das nur für eine blöde Idee gewesen, dachte sie bitter.

 

Sie verließ die Auffahrt, passierte die Schranke und schenkte dem skeptischen Wächter ein Lächeln zum Abschied.

 

 

Fünftes Kapitel

  Irgendwo hinter den Sternen –

 

„Was? Und wo bist du jetzt?“ Alina war völlig aufgelöst. Sie schien nicht damit gerechnet zu haben, dass der Plan tatsächlich nicht funktionieren würde. Und Kaya hatte nicht mit einer gottverlassenen Einöde an einem Sonntag gerechnet, aber… es fuhren keine Busse mehr in die Stadt. Sie lief, so gut sie ihre Füße tragen konnten, während Alina verzweifelt nach Herbergen in der Nähe suchte. Denn Kayas Rückfahrtticket war erst ab morgen gültig. Nicht für denselben Tag. Zwar hätte sie auch das Ticket bezahlen können, aber davon wollte Alina erst recht nichts wissen, denn selbst, wenn Kaya den Weg zum Bahnhof laufen würde – was laut Google Maps zu Fuß fast vier Stunden waren – würde die Zugfahrt unglaublich teuer und unglaublich lang werden.

 

„Keine Ahnung? Vor irgendeinem Moor“, rief sich Kaya den letzten Wegweiser ins Gedächtnis. Sie erinnerte sich nicht, ob der Bus hier langgefahren war.

 

„Hm“, machte Alina. „Wenn du zurückgehst, an der Bushaltestelle vorbei, kämst du im nächsten Dorf zu einer Herberge. Die empfängt auch sonntags Besucher“, sagte sie.

 

„Was? Ich bin schon eine halbe Stunde entfernt davon!“, beschwerte sie sich gereizt.

 

„Du befindest dich jetzt in einem Naturschutzgebiet, Kaya!“, erwiderte Alina nicht minder schlecht gelaunt. „Mit Pech verirrst du dich und wirst von Wölfen gefressen“, murrte sie böse. Kaya atmete zornig aus.

 

Dann musste sie den ganzen Weg wieder zurück. Toll, wirklich toll.

 

„Ich ruf dich an, wenn ich da bin“, brach sie abrupt das Gespräch ab, ohne Alina noch mal zu Wort kommen zu lassen. Es war so ein blöder Plan gewesen. So eine kreuzdumme Idee. Und sie wusste, würde ihre Mutter das erfahren, dann wäre was los!

 

Sie war stehen geblieben und trat den Rückweg an. Langsamer als vorher, während sie die verfluchte Tasche neu schulterte. Kein Auto war vorbeigekommen. Absolut niemand war hier! Niemand!

 

Jeder Schritt war bitter und erinnerte sie nur an ihre eigene Dummheit, ohne irgendeinen Ersatzplan in eine fremde Stadt gefahren zu sein. Aber sie weinte nicht. Deswegen würde sie nicht weinen. Dann blieb sie eben eine Nacht und fuhr wieder zurück. Sie hatte nichts weiter verloren. Nur einen Tag. Und sie war jetzt auch klüger und wusste, dass auf Familie niemals Verlass war. Das kannte sie ja von ihrem Vater schon!

 

Ihre Schritte wurden zorniger, wurden schneller. Schweiß rann ihren Rücken hinab.

 

Sie lief stumm, ohne anzuhalten. Sie hörte keine Musik, filmte keine Natur und wanderte einfach stur weiter.

 

Sie passierte die Bushaltestelle wieder, blickte nicht nach links zurück in die verdammte Rothenberger Allee und lief weiter gerade aus.

Und schon nach fünfzehn Minuten machte die Straße in der Einöde eine Biegung, und sie sah vor sich eine Dorfstraße. Das Dorf hatte sich gewunden um die Landstraße entwickelt, stellte sie fest. In der Kurve war ein Bäcker mit einer altertümlichen Brezel als Eingangsschild. Daneben war eine Sparkasse, tatsächlich!

Ein kleiner Einkaufsladen weiter hinten und vereinzelt sammelten sich Wohnhäuser zwischen den spärlichen Geschäften.

 

Es wirkte alles… dörflich. Nicht urban, sondern wirklich beschaulich. Einige Boutiquen, die heute geschlossen waren, säumten die kurvige Straße. Wer kaufte denn in so einer Einöde Markenklamotten? Sie konnte es sich kaum vorstellen. Und ganz am Ende der Straße, mit Blick über einen runden See mit Aussichtsplattformen lag eine Herberge. Lütte Seebank hieß sie, und Kaya atmete fast erleichtert auf.

 

Sie war so froh, dass die Türen nicht verschlossen waren. Aber es war auch erst vier Uhr. Sie erwartete nicht viel, aber das Türen um vier Uhr noch geöffnet waren, das war schon – wie sagte man es in der Mathematik? Eine notwendige Bedingung? Sie wusste nicht, warum sie keine vier bekommen hatte. Dann wäre jedes Problem gelöst gewesen. Sie betrat das Haus. Es war urig eingerichtet. Maritime Devotionalien häuften sich an den Wänden. Fischernetze, ausgestopfte Möwen, Angelrouten, riesige Anker, eine Sammlung winziger Leuchttürme, und am leeren Tresen waren unzählig viele Teeproben ausgelegt.

 

Kurz zögerte sie, aber niemand war hier unten. Also betätigte sie kurz die goldene Klingel auf dem glatten Tresen. Der Ton hallte hell durch den unteren großen Raum. An der Wand hingen Wanderrouten, weitere Reiseziele und eine große Karte von dem See, der hinter dem Haus lag. Es roch… nach Fisch in der Luft. Ihr Magen knurrte unwillkürlich. Sie hatte tatsächlich Hunger.

 

Eine Tür hinter dem Tresen öffnete sich, und eine rundliche Frau kam kauend zu ihr.

 

„Ja, Mädchen?“, fragte sie, wohl ein wenig verwirrt.

 

„Hallo“, begann Kaya, „ich… bräuchte ein Zimmer für eine Nacht“, erklärte sie, und ihr fiel auf, dass sie noch nie alleine nach einem Zimmer gefragt hatte.

 

„Wie alt bist du, wenn ich denn fragen darf?“, erkundigte sich die Frau freundlich, und sah sie durch die eckigen Brillengläser wachsam an. Sie hatte eine dunkelblonde Dauerwelle. Und sie wirkte nett. Ihre Haut war wohl von der Sonne hier gebräunt. Die See bräunte gut, sagte ihre Mutter immer wieder, wenn sie ihre und Kayas arme Hautfarbe betrachtete. Aber sie hatten kein Geld für Urlaub an der See, das war dann immer das nächste, was ihre Mutter sagte. Und jetzt verstand Kaya. Die Frau vor ihr sah genauso gesund aus wie Tom Kiergarten. Sie hatte unwillkürlich an ihn gedacht, ging ihr beschämt auf.

 

„Siebzehn“, sagte sie wahrheitsgemäß, denn sie müsste gleich bestimmt ihren Personalausweis zeigen. Bedauernd deutete die Frau auf ein Schild hinter sich, was Kaya gar nicht aufgefallen war. Keine Zimmervermietung an Minderjährige, stand dort. Kayas Herz sank erschrocken in ihren Bauch.

„Oh“, erwiderte Kaya sprachlos. „Dann… können Sie mir sagen, wo ich hin kann? Ein Hotel vielleicht?“, fragte sie erschöpft. Sie hatte ganz vergessen, dass sie minderjährig war. Sie kam sich gar nicht minderjährig vor. Nicht in ihrem Kopf.

 

„Das nächste Hotel ist eine Weile entfernt“, erwiderte die Frau kopfschüttelnd. „Mit wem bist du hier?“, wollte sie jetzt wissen, und ihre Stirn runzelte sich.

 

„Ich… mit niemandem, ich… wollte jemanden besuchen, aber das hat nicht… geklappt“, fasste sie ihr persönliches Fiasko sehr kurz zusammen.

 

„Hm…“, machte die Frau jetzt. „Wo sind deine Eltern?“, fragte sie, und Kaya atmete aus.

 

„Ich komme aus Berlin“, erklärte sie vage. „Aber meine Mutter ist zurzeit in London am Theater. Deswegen… sollte ich herkommen, jemanden besuchen, aber…“

 

„Das hat nicht geklappt“, wiederholte die Frau wissend Kayas Worte. Resignierend atmete die Frau aus. „Eine Nacht?“

 

Kayas Miene hellte sich wieder auf. „Ja, bitte! Ich bitte Sie. Nur eine Nacht, ich… habe Geld genug dabei. Und ich… bin morgen wieder verschwunden, ich verspreche es!“, schwor sie eifrig. Die Frau verdrehte die Augen.

 

„Na, schon gut. Den Ausweis, bitte“, sagte sie, so zuvorkommen wie vorher, als hätte das Gespräch über Kayas Alter nicht stattgefunden. Kaya zog ihren Personalausweis aus dem Portemonnaie und schob ihn über den Tresen. „Das Zimmer kostet pro Nacht vierzig Euro, Frühstück mitinbegriffen“, erklärte sie. „Falls du… heute Abend etwas essen möchtest, komm einfach in den Essenssaal, das Menü kostet zusätzlich acht Euro, die kannst du mir auch direkt bezahlen, wenn du möchtest. Mein Name ist Monika Ohlkamp, willkommen in der Lütten Seebank, Kaya… Rothenberg“, begrüßte sie Kaya, aber ihre Augen verweilten kurz auf dem Namen. „Verwandt mit… Herrn von Rothenberg?“, fragte sie jetzt verblüfft, und Kaya beschloss, den Kopf zu schütteln und zu lächeln.

 

„Nein, muss Zufall sein.“

 

„Ziemlich großer Zufall“, bemerkte die Frau, ohne erneut aufzublicken. Sie schob Kaya den Ausweis wieder zurück und Kaya bezahlte ihr bar achtundvierzig Euro für Übernachtung, Abendessen und Frühstück. Die Frau nahm das Geld entgegen und holte einen Schlüssel vom Haken. Der Anhänger war eine rote Boje. „Zimmer 7, die Treppe rauf, letzte Tür links. Einen schönen Aufenthalt. Und Abendessen gibt es um sieben, Kaya“, ergänzte sie beinahe mahnend, aber ein Zwinkern trat in ihre freundlichen Augen. Kaya nahm lächelnd den Schlüssel entgegen und freute sich auf eine kühle Dusche.

 

„Ja, Frau Ohlkamp, vielen Dank“, sagte sie und hievte die Tasche mit letzter Kraft die Treppe hoch.

 

~*~

 

Sie lag flach ausgestreckt auf dem weichen Bett. Im Badezimmer in der Duschtasse dümpelte ihre schmutzige Jeans vor sich hin und Kaya trug nur noch ein weites T-Shirt. Es war von ihrer Mutter. Es war ein Werbegeschenk des Theaters gewesen, rot und mit den weißen Buchstaben: Deutsches Theater, Berlin – auf der Rückseite.

 

Es roch nach Zuhause. Das Bett war weich und das einzige Fenster im Zimmer überblickte den funkelnden See hinterm Haus.

 

Sie hörte wie unten Teller verteilt wurden, wie es lauter wurde im Gästehaus. Die Sonne senkte sich langsam über die Bäume und spiegelte sich in der glatten Oberfläche des Sees wieder. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, und beschloss, eine Runde um den See zu wandern. Ohne ihre schwere Tasche.

 

Sie hatte geduscht und ihre Haare waren noch feucht, aber es war noch immer warm draußen. Und sie könnte Alina noch einmal anklingeln, denn ihr tat es mittlerweile leid, dass sie sie so angefahren hatte. Alina konnte nichts dafür, nahm Kaya an. Letztendlich war es ihre eigene Schuld.

 

Sie erhob sich träge. Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte. Sie zog sich eine andere Jeans über. Diese war zerschlissen und verwaschen, aber sie liebte sie einfach. Ihre Mutter hatte ihr verboten sie in der Schule anzuziehen, obwohl sie sich in nichts von den Designer-Jeans mit den Löchern unterschied, die alle anderen Mädchen der Schule zu tragen pflegte, dachte Kaya.

 

Sie schob den Schlüssel in ihre Tasche und steckte ihr Handy ein.

 

Die Stufen der Holztreppe knarzten laut unter ihren Füßen, aber sie hatte kein schlechtes Gefühl in diesem Haus. Die Wände hingen voller Bilder, Postkarten, kleinen Gegenständen, wie Glocken, getrockneten Kränze und bemalten Kacheln.

 

Der Teppich, der unten auf dem dunklen Holzboden lag, war schon ganz ausgetreten und zeigte ein verschlungenes Muster. Auf leisen Sohlen ihrer Turnschuhe ging sie am Saal vorbei, wo Frau Ohlkamp und ein paar weitere Frauen den Tisch deckten.

Die Tür war noch immer offen und sie sprang die wenigen Stufen nach unten auf den Kies und umrundete das Haus. Kurz schmerzte ihr Knie, aber sie hatte die Wunde sauber gemacht und desinfiziert. Jeder hatte doch im Sommer Sommerknie, oder? Das gehörte wohl oder übel immer dazu.

 

Hinterm Haus saßen zwei Herren auf einer Bank, stellte sie fest. Einer rauchte eine Pfeife. Das kannte sie nur aus Büchern oder aus dem Fernsehen. Die Männer bemerkten sie.

 

„Moin, ein neuer Gast in unserem Haus?“, erkundigte sich der Pfeifenraucher mit breitem Akzent, und Kaya musste unwillkürlich grinsen. Sie nickte und kam auf die Herren zu. Es waren wohl Herren, denn sie wirkten älter als Herr von Ende. Der andere hatte graue unordentliche Locken und trug alte Gummistiefel. Er rauchte nicht.

 

Sie entdeckte einen Hund neben dem Pfeifenraucher, und ging mitleidig auf die Knie, denn der Hund hatte sein rechtes Vorderbein in einem weißen Verband. Es war wohl eine Art Sennenhund, denn seine Nase war weiß, umrandet mit hellbraun, während der Rest des Fells schwarz war, durchzogen mit einigen grauen Strähnen. Er war wohl schon älter, nahm sie an.


„Der arme“, sagte sie mitfühlend und hob die Hand über seinen Kopf. „Darf ich ihn streicheln?“, fragte sie und sah zu dem Pfeifenraucher auf, der freundlich lächelte.

 

„Sicher, Mädchen. Balu beißt nicht. Der bricht sich nur das Bein“, bemerkte er kopfschüttelnd.

 

„Aua“, sagte sie mitfühlend. „Hab mir auch schon das Bein gebrochen. Das dauert lange“, sagte sie, dem Hund zugewandt.


„Ach, der erholt sich“, sagte der andere Mann mit wegwerfender Handbewegung. „Das ist schon der Heilungsverband. Den Gips ist Balu schon los“, erklärte er ihr zwinkernd. „Wie heißt du, wenn ich fragen darf?“, erkundigte er sich, ohne so breiten Akzent wie sein Nachbar.


„Kaya“, erwiderte sie.


„Oh, das klingt kompliziert“, meinte er. „Nicht von hier?“, warf er ein und musterte sie kurz, aber sie war blond und sehr weiß, also glaubte sie nicht, dass er irgendeine andere Herkunft erkennen konnte. Sie lächelte, wie immer, und schüttelte den Kopf.

 

„Nein, meine Mutter ist Theaterschauspielerin, also… kann ich froh sein, wenn ich nicht Isolde heiße“, entgegnete sie achselzuckend, während sie den weichen Kopf des Hundes kraulte. In ihrer Wohnung waren Hunde verboten, und sehen tat sie Hunde nur, wenn sie auf der Straße einem begegnete. Sie hätte gerne einen eigenen Hund. Der Hund atmete gemächlich aus und schloss unter den Berührungen genießerisch die Augen. „Na? Gefällt dir das?“, fragte sie grinsend, und der Pfeifenraucher lachte rau auf.

 

„Wem würd das nicht gefallen, von einer hübschen jungen Dame Aufmerksamkeit zu bekommen?“, rief er aus und hustete erneut.

 

„Rauchen kann tödlich sein, Herr Ohlkamp“, bemerkte der lockige Mann knapp.

 

„Ihnen gehört das Gästehaus!“, rief Kaya aus. Der Pfeifenraucher nickte und wie zur Antwort auf die Worte des grauhaarigen Mannes paffte er erneut an seiner Pfeife.

 

„Wissen Sie, Doktor, in meinem Alter ist Pfeife rauchen genauso schädlich, wie im Dunkeln Auto zu fahren“, sagte er leichthin und lächelte versonnen. Kaya war überrascht, denn der Arzt hier sah nicht so aus wie Dr. Kaminsky, dachte sie. Aber dann begriff sie, als sie wieder den Hund betrachtete.


„Sie sind Tierarzt“, stellte sie nickend fest.

 

„Entschuldige meine Manieren“, erklärte er ruppig und lächelte. „Mein Name ist Dr. Schmidt“, stellte er sich nickend vor.

 

„Der beste Tierarzt in Hamburg“, bemerkte der Pfeifenraucher bestätigend.


„Das soll dahingestellt bleiben“, erwiderte Dr. Schmidt mit erhobener Braue. „Kaya, wenn du willst, kannst du Balu um den See führen. Die Bewegung tut der alten Schlafmütze ganz gut. Sein Verband kommt morgen ab.“ Kaya war vollkommen überrascht. „Du bist doch hier Gast, oder?“, erkundigte sich Dr. Schmidt anschließend, und sie nickte perplex.


„Bleiben Sie zum Essen, Doktor?“, fragte Herr Ohlkamp, ohne überhaupt in Frage zu stellen, dass Kaya den Hund mitnehmen sollte.

 

„Wenn Sie mich so drum bitten“, sagte der Arzt mit einem knappen Lächeln auf angenehm schnippische Weise, und Herr Ohlkamp erhob sich ächzend von der Bank.

 

„Sicher, sicher“, bestätigte er. „Na gut, nimm den Hund mit. Aber komm pünktlich zum Abendessen wieder. Meine Frau kann nicht leiden, wenn man zu spät kommt“, ergänzte er, zwinkerte ihr aber zu, als würde er selber täglich zu spät kommen. Sie musste lächeln und erhob sich. Sie nahm die Leine von der Ecke der Bank. Noch nie hatte sie einen Hund ausgeführt.

 

„Komm, Balu“, sagte sie und zog kurz an der Leine. Der Hund sah missmutig zu ihr auf. „Du brauchst mich gar nicht so anzugucken. Weißt du, ich kann sportliche Betätigung auch nicht leiden, aber ich habe auch keine Wahl. Außerdem“, fuhr sie fort und bemerkte den belustigen Blick von Dr. Schmidt gar nicht, „brauchst du dich nicht anstellen, wo du so schön wohnen darfst!“, schloss sie strenger und deutete auf den See. Mit einem müden Jaulen kam der Hund schließlich widerwillig auf die Beine.

 

„Na, das nenn ich gut zu reden“, sagte Herr Ohlkamp. „Hör auf die junge Dame, Balu.“

 

Kaya wandte sich lächelnd um und begann mit dem Hund durch die kurze Wiese zu laufen. Er humpelte kaum noch, und sie stellte sich vor, es wäre ihr Hund. Als würde sie hier wohnen und der See gehörte ihrer Familie. Sie seufzte auf und atmete den Duft von Jasmin und blühenden Kirschen ein. Ihr Handy vibrierte und sie zog es aus der Tasche.

 

„Hey, Alina. Es tut mir leid, ich war… blöd vorhin“, sagte sie zerknirscht. Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.

 

„Hm“, vernahm sie Alinas beleidigte Stimme. Kaya musste lächeln.

 

„Hab ich dir überhaupt schon dafür gedankt, dass du alles geplant hast? Und dass du dir die ganze Mühe von einem Schiff aus gemacht hast? Dass du alles bezahlt hast, was ich dir natürlich wiedergeben werde, egal, wie viele Prospekte ich austragen muss?“, ergänzte sie jetzt und hörte Alina seufzen.

 

„Ja, ja. Schon gut“, gab sie nach.

 

„Weißt du, wo ich gerade bin?“, sagte Kaya und blieb stehen. Die Luft hier war anders als in Berlin. Die Vögel sangen und alles roch… frisch. Sauber. Nach Sommer und… Glück.

 

„Im Dorf in der Herberge?“, riet sie, ein wenig besorgt, falls Kaya sich wohl doch entschieden hatte, durch das Moor zu laufen.

 

„Jaah“, bestätigte Kaya lächelnd. „Und ich gehe gerade mit dem Haushund um den See. Er hat ein gebrochenes Bein, weißt du?“, erklärte sie und hörte Alina ausatmen.

 

„Ich verstehe echt nicht, wie du es immer schaffst solche Kontakte zu knüpfen, Kaya! Es muss an deiner Mutter liegen“, fügte Alina hinzu. Kaya runzelte die Stirn. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, immer nur, wenn Alina sie darauf ansprach. Weshalb sie mit Frank, dem Kioskmann, befreundet war und er ihr einen Job gegeben hatte? Sie wusste es gar nicht mehr. Sie glaubte, sie hatte ihm an einem heißen Tag ein Eis gekauft, als sie wieder einmal einen Comic bei ihm gekauft hatte.

 

Aber sonst? Das mit dem Hund war Zufall gewesen. Ihre Mutter war immer gastfreundlich, offen und lustig. Es sei denn, es ging um Kayas Schule. Dann war sie meistens besorgt.

Alina sagte immer, ihre eigene Mutter wäre spießig und mochte keine Gäste in ihrem Haus.

Das kannte Kaya nicht. Am Wochenende waren ständig Gäste bei ihnen, es sei denn, es war ein Premierenwochenende.
Und Bastian? Er interessierte sich nur für Alina, nicht für sie. Sie war nur… sein Mittel zum Zweck, quasi….

 

„Bist du enttäuscht?“, fragte Alina plötzlich, und Kaya dachte darüber nach. Sie schüttelte schließlich den Kopf.

 

„Nein. Schade um das Geld, aber ich zahl es dir zurück“, versprach sie.


„Keine Sorge. Das eilt nicht“, wiegelte Alina ab. „Tut mir leid, Kaya“, sagte sie dann.

 

„Muss es nicht“, erwiderte Kaya schnell, denn es war ihr sehr unangenehm, dass Alina so sprach. „Es war nur ein Versuch“, sagte sie gleichmütig. „Und Balu und ich müssen die Runde zu Ende drehen. Gleich gibt es Abendbrot“, ergänzte sie lächelnd, während sie das weiche Leder der Leine in ihrer Hand fester umschloss. „Wie ist das Meer?“, fragte sie abschließend gespannt.

 

„Ach, wie soll es sein?“, entgegnete Alina etwas mürrisch. „Nass und weit. Na ja, es ist ganz schön“, gab sie nach. „Aber ich… kann es kaum erwarten, zurückzukommen!“, ergänzte sie versonnen. Kaya wusste ziemlich genau, warum, nahm sie an. Wie das wohl wäre? Aus dem perfekten Urlaub nach Hause zu kommen, wo dann der perfekte Junge auf einen wartete? Mental verpasste sie sich eine Ohrfeige, denn Bastian war bestimmt nicht der perfekte Junge. Sie atmete ruhiger aus.

 

„Ja, ich verstehe“, sagte sie also grinsend. „Rufst du morgen wieder an?“, wollte sie wissen.

 

„Natürlich rufe ich morgen wieder an!“, versprach Alina. „Morgen Abend bist du schon wieder Zuhause“, fuhr sie seufzend fort. „Was für eine Zeitverschwendung“, ergänzte sie grimmig. Kaya musste immer noch lächeln.

 

„Genieß das Meer, wir hören uns morgen!“ Sie verabschiedeten sich und Kaya legte auf. Die Sonne sank noch tiefer, so dass der Himmel in tiefes Rot getaucht wurde.

„Ob meine Mama das jetzt auch sehen kann?“, fragte sie den Hund, der neben ihr humpelte und an dieser und jener Blume roch. Als sie auf der Hälfte des Sees war hielt sie an und ging auf die Knie, um den Hund wieder zu streicheln. Dankbar ließ er sich auf die Hinterbeine nieder und hechelte ihr entgegen. Sie kraulte erneut seinen Kopf, bis er genüsslich die Augen schloss.

 

~*~

 

Sie hatte nicht wirklich Hunger gehabt. Sie war wohl aufgeregt, nahm sie an. Kurz befiel sie eine Art Schüttelfrost. Sie saß zwar in der Nähe des Kamins, der auch brannte, aber sie glaubte, die Müdigkeit kroch langsam in Form von Kälte ihre Arme hinauf.

 

Sie saß an einem der rustikalen Tische und hörte mittlerweile beinahe schlaftrunken Dr. Schmidt zu, wie er über die Kühe vom Bauern Koller berichtete. Ihre Augen fielen immer wieder zu. Langsam verstand sie, dass sich hier wohl am Abend alle Leute vom Dorf sammelten. Zwar gab es jetzt nichts mehr zu essen, aber die Kerzen und der Kamin brannte noch freundlich, und Herr und Frau Ohlkamp saßen mit den Gästen und Einheimischen an den Tischen und tranken und plauderten über alles Mögliche. Kaya störte es nicht, nein. Es… vermittelte ihr ein bisschen das Gefühl von Heimat.

 

Es war ein bisschen wie Zuhause, wenn ihre Mutter am Wochenende Besuch von ihren Theaterfreunden hatte, die bis spät in die Nacht blieben, während Kaya in ihrem Schlafzimmer den Gesprächen lauschten, ehe sie in den Schlaf fand.

Zwar kannte sie hier keinen der Leute, aber Zuhause kannte sie auch die meisten nicht.

Sie dachte an ihre Mutter. Wehmütig mit einem schlechten Gewissen. Aber am meisten dachte sie daran, wie sehr sie sie vermisste.

 

„Hey, Mädchen!“, wurde sie aus den schläfrigen Gedanken gerissen. „Können wir dich für ein Bier begeistern?“, fragte Herr Ohlkamp, aber seine Frau schürzte die Lippen.

 

„Nein, ich glaube, Kaya möchte gleich ins Bett, oder?“ Es lag ein mütterlicher, wenn auch strenger Ton in Frau Ohlkamps Stimme. Kaya gähnte herzhaft.

 

„Jaah“, sagte sie nur. Sie hatte schon öfters Bier getrunken, aber sie glaubte nicht, dass heute noch nach oben finden würde, wenn sie jetzt noch trank. Dabei war es erst halb elf, fiel ihr mit Schrecken auf. Balu lag vor dem Feuer und schlief seit Stunden schon.

 

„Na, ich glaube auch, dass sie-“, begann Dr. Schmidt, unterbrach sich jedoch. Kaya spürte den kalten Luftzug um ihre Knöchel, als die vordere Tür aufgegangen war. Sie erhob sich schließlich. Es kamen noch mehr Leute, und bevor sie auf dem Tisch einschlief, würde sie lieber in das bequeme Bett oben verschwinden.


„Frühstück morgen um halb acht!“ rief ihr Frau Ohlkamp noch hinterher. Kaya nickte gähnend und schlurfte raus aus dem gemütlichen Saal in den Eingangsbereich. Sie hörte, wie sich zwei Männer um die Ecke unterhielten und ihre Jacken auf hingen. Sie begann die Treppe nach oben zu steigen.

 

„Wenn das weiter so geht, kündige ich noch zum Ende der Woche!“, versprach der eine jetzt dem anderen. Oben auf dem Treppenabsatz wandte sich Kaya um. „Ich glaube, Mädchen können allesamt nicht reiten“, fuhr der blonde junge Mann fort, der ihr bekannt vorkam.

 

Aber sie blinzelte müde, als sie Tom Kiergarten erkannte. Instinktiv kauerte sie sich zu Boden und linste durch die Holzstäbe des Treppengeländers hinab auf den Eingangsbereich. Frau Ohlkamp kam ebenfalls nach draußen.

 

„Na, schönen guten Abend euch beiden! Ich hab mich schon gefragt, wann ich euch zu Gesicht bekomme“, begrüßte sie die beiden. Tom umarmte sie sogar. Der blonde Mann sah sich mit einem gleichmütigen Ausdruck um, ehe er in den Saal verschwand.

 

„Was kann ich euch bringen?“, fragte Frau Ohlkamp Tom, dem sie sogar die Hand auf den Rücken legte. Kaya lehnte sich weiter vor.

 

„Bier wäre großartig, Monika, aber ich muss noch fahren. Also nur eins“, sagte Tom mit müdem Lächeln.

 

„Kommt deine Mutter die Woche mal vorbei?“, erkundigte sie sich still. Tom ruckte mit dem Kopf. „Weißt du, ich kann immer wen brauchen, der spült, die Betten macht, die Wäsche“, bot sie ihm anscheinend an, und müde runzelte Kaya die Stirn.

 

„Ich danke Ihnen. Ich sage es ihr. Vielleicht lässt sich da was einrichten“, erwiderte er.

 

„Na, komm erst mal rein“, kürzte Frau Ohlkamp das Gespräch ab und führte Tom ebenfalls aus dem Eingangsbereich fort. Kaya saß am Treppenabsatz und starrte durch die Stäbe auf den dämmrigen Eingang. Fast erwartete sie, dass ihr Großvater auch noch durch die Tür kam, aber das passierte nicht. Nach einem kleinen Moment erhob sie sich seufzend und schlenderte in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür von ihnen ab.

Es war Gewohnheit.

 

Dann stürzte sie praktisch ins Bett. Zähneputzen kam ihr unnötig und so anstrengend vor.

Bevor sie den Gedanken abgeschlossen hatte, fielen ihre Augen zu.

 

„Nacht, Mama“, murmelte sie in ihr Kopfkissen, ehe sie in einen traumlosen Schlaf fiel.

 

 

Sechstes Kapitel

– Hinter der Maske –

 

Ihr Handy weckte sie nicht. Sie hatte auch keinen Wecker gestellt gehabt, fiel ihr mit Schrecken ein, als sie aus dem weichen Kissen schreckte.

Die Sonne stand bereits am Himmel. Noch nicht hoch, aber es war hell. Heller als halb acht, nahm sie schlaftrunken an.

 

Sie schwang die Beine aus dem Bett und berührte den kalten Boden mit den Füßen. Sie streckte sich. Ihre Haare fielen zottelig ihren Rücken hinab. Sie griff sich blind das Handy vom Nachttisch, um zu sehen, dass es immerhin erst acht Uhr war. Sie stand mit Mühe auf, rieb sich ihren Rücken und streckte sich. Ihr Knie schmerzte etwas, so auch ihre Ellenbogen, aber ansonsten war sie unversehrt.

 

Sie huschte ins Bad, spritzte sich Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und erledigte die restliche Morgentoilette. Sie kämmte sich eilig die Haare und stieg in ihre Jeans vom Vortag.

Aus ihrer Tasche zerrte sie ein hellblaues Shirt. Auch dies war ein Shirt vom Theater Berlin. Sie runzelte die Stirn. Sie hatte gar nicht gewusst, so viele davon zu besitzen. Aber es war sauber, und wahrscheinlich war das im Moment die Priorität. Ihre klatschnasse Jeans hing sie über den Fenstersims aus dem offenen Fenster, damit sie schnell trocknen würde. Das Blut war nicht ganz rausgegangen, stellte sie missmutig fest.

 

Den Schlüssel steckte sie in ihre Tasche und flog fast die Treppen hinab, so schnell lief sie. Die Gäste saßen bereits im Saal. Es waren weniger als noch letzte Nacht, stellte sie fest. Frau Ohlkamp lief bereits durch den Saal.

 

„Moin“, begrüßte sie Kaya freundlich und Kaya erwiderte den Gruß mit einem Lächeln. „Die Brötchen sind nun schon kalt“, informierte sie Kaya und führte sie zu einem leeren Doppeltisch am Fenster. Aus einer Ecke kam Balu auf sie zu gehumpelt. „Sieht so aus, als hättest du einen Freund gefunden?“, zwinkerte ihr Frau Ohlkamp zu. Kaya kraulte den Hund am Kopf, und er ließ sich neben ihrem Stuhl zu Boden sinken, als sich Kaya gesetzt hatte. „Was kann ich dir bringen?“

 

„Kaffee?“, fragte Kaya müde, und Frau Ohlkamp nickte.

 

„In Ordnung, kommt sofort. Ich bring dir dazu Brötchen und etwas Aufschnitt, Konfitüre?“, sagte sie munter und eilte wieder davon, als Kaya zufrieden genickt hatte. Sie hätte es schlimmer treffen können. Zwar konnte sie sich diesen Luxus nicht noch einmal leisten, aber für dieses eine Mal war es wirklich schön gewesen.

 

Kaya sah nach draußen. Die Sonne beschien den schönen beschaulichen See. Sie würde gleich noch eine Runde um den See drehen. Vielleicht durfte sie ihren Pflegehund ja mitnehmen, überlegte sie, während ihre Hand wie von selbst wieder den Weg nach unten auf Balus Kopf fand. Sie gähnte herzhaft und recht ungeniert.

 

„Du musst aufpassen“, bemerkte eine Stimme vor ihr spöttisch und sie schreckte praktisch zusammen. „Sonst fliegen dir noch die Käfer in den Mund“, schloss Tom Kiergarten und sie sah zu ihm auf. Was tat er denn schon wieder hier?!

 

Frau Ohlkamp kam mit einem Tablett zurück.

 

„Hast du was dagegen?“, fragte er freundlich und deutete auf ihren Stuhl.

 

„Ihr kennt euch?“, erkundigte sich Frau Ohlkamp etwas argwöhnisch und verblüfft, und bevor Kaya den Kopf schütteln konnte, hatte Tom genickt.

 

„Ja, wir haben uns gestern kurz auf dem Gestüt gesehen“, antwortete er ohne Zögern und setzte sich ihr gegenüber. Wie selbstverständlich er das tat! Er war doch älter als sie, aber das schien ihm nichts auszumachen.

 

„Du reitest?“, wollte Frau Ohlkamp jetzt interessiert von ihr wissen. Etwas schwang in ihrem Blick mit, was Kaya nicht recht einzuordnen wusste.

 

„Ich… nein“, sagte Kaya kopfschüttelnd. Kurz blieb Frau Ohlkamps Blick an ihr hängen, dann wandte sie sich an Tom.

 

„Tee, wie immer?“, fragte sie knapp und Tom nickte. Dann verschwand sie wieder.

 

„Was… was tust du hier?“, wollte Kaya müde von ihm wissen. Vielleicht kam er im Auftrag. Vielleicht kam er, um sie zu stellen oder etwas ähnliches?

 

„Frühstücken“, erklärte er ohne Umstände, und sie musste kurz verdauen, dass er an ihrem Tisch saß. Sie sagte gar nichts darauf. Sollte er doch. Er musterte sie allerdings fast unverhohlen, und es war ihr unangenehm, vor allem, weil sie keinen weiteren Blick mehr in den Spiegel geworfen hatte. „Du bist seltsam, weiß du das?“, ergänzte er etwas unzufrieden, dafür aber sehr offen, und sie sah ihn schockiert wieder an.

 

„Was?“, entfuhr es ihr überrascht, und er deutete auf den Hund.

 

„Balu kennt dich anscheinend“, bemerkte er mit gerunzelter Stirn. „Und Tina hat keine Schwester, aber… ich nehme an, das weißt du?“, fuhr er fort, dann stellte Frau Ohlkamp seinen Tee und einen Teller mit belegten Brötchen vor ihn auf den Tisch. Erst jetzt sah Kaya, dass ihr Frühstück auch bereits vor ihr stand.

 

„Guten Appetit, ihr zwei“, sagte Frau Ohlkamp und lächelnd hatte sie sich abgewandt. Kaya antwortete nicht.

 

„Also?“, fragte er, und sein Blick lag immer noch auf ihrem Gesicht, eine Spur zu selbstgerecht, als dass sie sein Erscheinen als zufällig bewerten konnte.

 

„Also?“, wiederholte sie langsam, und er trank von seinem Tee. Seine dunklen Haare fingen das Sonnenlicht auf.

 

„Wer bist du?“ Kaya griff nach ihrer Kaffeetasse und wandte den Blick aus dem Fenster. Er beschämte sie. Sie fühlte sich unwohl, von ihm so durchleuchtet zu werden. Wenn er all das gewusst hatte, wieso hatte er sie dann überhaupt zu dieser Halle führt? Sie trank fast ärgerlich ihren Kaffee, denn sie glaubte, rot geworden zu sein. „Du sprichst nicht viel, oder?“, fuhr er nachdenklich fort. Seine Zähne waren nicht völlig ebenmäßig, aber wenn er lächelte hatte er Grübchen um die Mundwinkel. Sie hatte ihn wieder angesehen, obwohl sie es nicht gewollt hatte.

 

Er trug Reiterstiefel. Sie erkannte sie neben dem schmalen Tisch stehen. Arbeitete er auf dem Gestüt? Als… als was? Als Knecht oder so? Er sah zu fein aus dafür, entschied sie. Er trug einen dunklen Blazer. Ein goldenes Wappen war auf seiner linken Brust eingestickt.

 

„Hast du hier geschlafen?“, fragte er unverwandt, trotz ihres Schweigens. Sie nickte. Darin war sie sich sicher genug. Er schien sich keinen Reim auf sie machen zu können. „Es tut mir leid, wenn ich dich… ausfrage“, entschied er sich wohl schließlich zu sagen, und sein Ausdruck wurde freundlicher, auch wenn sie ihm seine Entschuldigung nicht abkaufte. „Aber… ich habe nicht verstanden, wieso du dich als die Schwester von jemandem ausgibst“, fuhr er fort. „Nur um einmal das Gestüt zu sehen?“, endete er ungläubig, und ihr Mund öffnete sich.


„Nein“, sagte sie tatsächlich fest und war fast überrascht über seine Meinung. Er lächelte, als würde er ihr nicht glauben.

 

„Haben schon einige gemacht, aber keine ist bisher bis in die Halle gekommen“, fuhr er fort, als hätte sie nichts gesagt. Sie sah ihn ungläubig an. Als ob sie sich einschleichen wollte!

 

„Wieso… wieso sollte ich so was tun?“, entfuhr es ihr entrüstet. Denn das ließ sie nicht auf sich sitzen! Als ob sie es nötig hätte, dieses dämliche Gestüt zu sehen!

 

„Na ja“, begann er betont gleichmütig, „welchen Grund sollte jemand wie du sonst haben?“, fragte er unverblümt. Jemand wie sie? Was sollte das bitte heißen? War er besser als sie, wollte er das damit sagen?!

 

„Ich weiß ja nicht, was du dort treibst, aber ich habe es bestimmt nicht nötig, mich irgendwo einzuschleichen!“, fuhr sie ihn an, und er schien kurz überrascht zu sein, dass sie doch sprechen konnte.

 

„Na dann“, sagte er abschließend, leerte in einem Zug seinen Tee und erhob sich. Kaya biss sich auf die Lippe und bereute ihren Ausbruch sofort. „Ich muss los, die Arbeit ruft“, erklärte er und biss lediglich einmal in sein Brötchen. „Vielleicht sieht man sich“, sagte er zum Abschied noch, aber sie gönnte ihm keine weitere Antwort. Wer weiß, wer er war und was er mit ihren Informationen anfangen wollte. Kurz zuckten seine Mundwinkel.

 

Er nickte ihr zu, ehe er elegant den Saal verließ und sich draußen von Frau Ohlkamp verabschiedete.

Sie wusste, ihr Aufenthalt endete hier in zwei Stunden. Auf ihrem Zimmer lag ein Zettel aus, der verkündete, dass die Zimmer um zehn Uhr zu räumen waren. Aber so viel los war hier nicht, stellte sie mit einem knappen Blick fest. Vielleicht sieben Leute aßen hier heute Morgen.

Vielleicht wäre ihre Hose bis dahin getrocknet.

 

Ansonsten würde sie sie nass einpacken.

 

Sie aß zu Ende, kraulte den Hund noch eine Weile und erhob sich dann.

 

Niemand hatte sie mehr angesprochen, und sie sah aus dem Fenster, wie Herr Ohlkamp am See den Rasen mähte. Langsam ging sie aus dem Saal. Draußen am Eingang herrschte eine rege Unterhaltung.

 

Oh, Mist!

 

Das war die Frau von gestern, stellte sie mit Schrecken fest. Fiets oder wie sie hieß! Unauffällig versuchte Kaya zur Treppe zu verschwinden.

 

„-du würdest mir wirklich aus der Klemme helfen. Und das neue Mädchen kann nicht mal was dafür. Ich meine, es kann ja passieren und Scherben bringen Glück, aber auf die Schnelle finde ich nicht genügend Teller bis zum Mittagessen. Bis ich in der Stadt bin und – oh. Hier bist du also abgeblieben“, stellte Frau Fiets überrascht, wenn auch freundlich fest, als sie Kaya aus den Augenwinkeln gewahr wurde. Frau Ohlkamp schenkte ihr auch einen Blick.

 

 „Kaya war unser Gast für eine Nacht“, erklärte Frau Ohlkamp, und Kaya wusste, das passte nun ganz und gar nicht mit der Geschichte zusammen, die sie Frau Fiets gestern erzählt hatte. Vielleicht wusste die Frau ja nichts mehr davon. Frau Ohlkamp hatte jedoch gespannt die Arme vor der Brust verschränkt, während Kaya ein Lächeln auf ihre Lippen zwang.

 

Frau Fiets runzelte dementsprechend die Stirn. „Hm, ach so?“, sagte sie also langsam. „Deine Ellenbogen sehen schon besser aus“, bemerkte Frau Fiets mit einem Blick auf ihre Arme. „Ich dachte, du wolltest gestern weiter?“, fuhr sie fort.

 

„Ich bin… fast weg“, sagte Kaya, erleichtert, dass sie eine Frage neutral beantworten konnte. Und Schweigen fiel über die Frauen. Ehe es aber die Grenze des Unangenehmen berühren konnte, nickte Frau Fiets. Sie wandte sich wieder an Frau Ohlkamp.

 

„Ich hole Erna aus dem Wagen und wir borgen uns deine Teller. Du bist eine Lebensretterin, Monika!“, rief sie erleichtert aus und hatte sich abgewandt. Kaya wusste nicht, weshalb ihr Herz so schnell schlug. Aber sie hatte das Gefühl, gerade eben hundert Meter gerannt zu sein. Frau Ohlkamp betrachtete sie weiterhin.

 

„Ich… werde meine Sachen aus dem Zimmer holen“, fühlte sich Kaya gehalten zu versprechen.

 

„Weißt du, du kannst gerne noch bleiben“, bot ihr Frau Ohlkamp freundlich an.

 

„Nein, ich… muss wirklich los“, wandte Kaya ein. Sie wollte nach Hause. So schön es hier auch war, alleine war sie eben einfach nur alleine in einer fremden Stadt. Aber anscheinend war ihre Minderjährigkeit bei Frau Ohlkamp kein Problem mehr.

 

Kaya schüttelte freundlich den Kopf und eilte nach oben.

Ihre Sachen waren schnell gepackt, und sie freute sich schon, dass Alina anrufen würde, um ihr die nächsten Reisemöglichkeiten mitzuteilen. Sie warf einen Blick zurück ins Zimmer, aber sie hatte nichts vergessen. Die Tasche hing ihr wieder schwer über der Schulter und seufzend ging sie die gewundene Holztreppe zurück nach unten.

 

Sie legte den Schlüssel auf den Tresen, wo Frau Ohlkamp immer noch lächelnd wartete.

 

„Ich hoffe, du hattest einen schönen Aufenthalt und hast eine gute Heimreise, Kaya“, sagt sie aufrichtig.

 

„Das Wetter ist gut, und es ist ja nicht weit“, gab sie zurück. „Danke für die Gastfreundschaft“, ergänzte sie eilig und stellte sich vor, wie sie ihrer Mutter hiervon berichten würde, aber… dann fiel ihr ein, dass sie das ja gerade nicht vorhatte. Etwas Schweres lag wieder in ihrem Magen. Gemischt mit Enttäuschung. Aber Glück hatte sie eben nie.

 

Sie verließ das gemütliche Gästehaus und trat in die Wärme des neuen Tages hinaus. Die Wärme war angenehm, aber sie wusste, in ein paar Stunden wäre es unerträglich.

 

Frau Fiets und die junge Frau von gestern luden gerade Kartons in den Kofferraum.

 

„Brauchen Sie Hilfe?“, bot Kaya eilig an, stellte die Tasche auf den Boden und näherte sich dem Auto.

 

„Ach, schon gut. Wir schaffen das schon, Kleine“, erwiderte die Frau gutmütig, während sie den letzten Karton hochhob. Die junge Frau setzte sich wieder hinter das Lenkrad. „Aber danke dir. Wie war dein Name? Kaya?“, wiederholte sie amüsiert, so wie die meisten Menschen es taten. Und wieder gefror etwas in dem gutmütigen Gesicht vor ihr. Ihre Augen nahmen plötzlich einen eigenartigen Ausdruck an. Kaya öffnete verwirrt den Mund, aber Frau Fiets Augen wanderten über ihre Gestalt, bis sie die Luft hörbar einatmete.

 

„Ach du liebe Güte! Da hol mich doch der…!“

 

Der Karton war ihren Händen entglitten, und auch Kaya konnte ihn nicht auffangen, als er mit einem lauten Scheppern zu Boden ging. Kaya nahm an, die Teller im Innern waren nicht mal mehr zu kleben. Beinahe ertappt hob sie den Blick zum Gesicht der Frau, die sie entgeistert betrachtete. Die Hände der Frau zitterten unwillkürlich.

 

„Dein… dein Name ist Rothenberg, nicht wahr? Olivers Tochter…“, entfuhr es Frau Fiets heiser, als wäre es eine grauenhafte Neuigkeit. Die junge Dame war hastig wieder ausgestiegen.

 

„Frau Fiets! Ist alles in Ordnung? Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte sie besorgt und hatte Frau Fiets an den Schultern ergriffen. Aber Frau Fiets behielt Kaya mit großen Augen immer noch in ihrem Blick.

 

~*~

 

Sie wusste nicht, wie alles so gekommen war, aber jetzt saß sie auf der Rückbank des Mercedes. Die Sitze waren aus dunklem Leder, die Scheiben waren getönt, und sie blickte hinaus. Sie fuhren die Auffahrt hoch, die sie bereits gestern hochgelaufen war. Die Stallungen schwammen an ihr vorüber. Mehrere Koppeln, auf einer von ihnen ritten Mädchen langsam im Kreis, während Tom Kiergarten sie zu unterrichten schien. Er war also Reitlehrer, überlegte sie während sie unbewusst weiter in den Sitz zurücksank. Ein langer Weg führte nach oben zum Anwesen.

 

Abwesend rieb sie ihren schmerzenden Ellenbogen, der über Nacht nun blau angelaufen war. Ihre Augen folgten einem Taubenpärchen, das sich in den hohen Linden niederließ. Das Auto fuhr um eine leichte Kurve, und ihr Mund öffnete sich unwillkürlich, als sich das Anwesen in seiner gesamten Läge und Größe offenbarte. Sie fuhren in einer aus Kies angelegten Runde und hielten vor dem Eingang.

 

„Das ist das Haus deines Großvaters“, erklärte Frau Fiets und unterbrach Kayas Gedanken. Kaya blickte an den Stockwerken empor. Es hatte so viele Fenster, dass sie sie mit einem Blick gar nicht erfassen konnte. Wie viele Zimmer es wohl waren? Aber sie war verstummt. „Komm“, ergänzte Frau Fiets. Die junge Frau sagte nichts und ließ den Motor laufen, als sie ausstiegen.

 

Kaya klammerte sich an ihre Tasche, als würde sie ertrinken. Sie sah sich um, aber niemand sonst war draußen vor dem Anwesen. Eine halbrunde Treppe führte hinaus zur Tür. So altmodisch und herrschaftlich war das Haus nun doch nicht, denn Kaya erkannte unzählige Sicherheitskameras, sowie eingelassene Plastikquadrate mit Ziffern, wohl um einen Türcode einzugeben.

 

Frau Fiets ging geschäftig vor ihr die Stufen nach oben, während die junge Frau weiterfuhr. Kaya fragte nicht, wohin sie fuhr. Sie konzentrierte sich darauf, nicht direkt in die Sicherheitskameras zu blicken.

 

„Hast du Hunger?“, fragte Frau Fiets mit einem Blick auf sie, aber Kaya schüttelte den Kopf. Sie blickte zur Seite, als Frau Fiets den Code für die Tür eingab, die keine Sekunde später aufschwang, als eine Kontrolllampe grün blinkte. Kaya sah es aus den Augenwinkeln. Sie folgte Frau Fiets ins Innere des Hauses. Hier war es kühl.

 

Es war unglaublich groß. Allein die Halle hier war zehnmal so groß wie das Gästehaus von Frau Ohlkamp. Es war auch viel größer als Bastians Haus. Sie sah sich immer wieder um. Riesige Bilder hingen an den Wänden, und sie waren alle selbst gemalt. Wie nannte man es? Originale. Nicht, dass Kaya wüsste, wer die Landschaft mit den Hirschen gemalt hätte, oder die unzähligen Portraits von Pferden, Wiesen und Heideland.

 

Es war beeindruckend. Es gestaltete eine ruhige Stimmung. Die Wände waren teilweise mit Holz vertäfelt. Zur anderen Hälfte sah es aus, als wäre es keine Tapete, sondern… Stoff? Seide? Es schimmerte im Licht, das durch die langen Sprossenfenster fiel. Frau Fiets führte sie durch die lange Halle, vorbei an Treppen, an Räumen, zu denen die weißen Flügeltüren teilweise offen, teilweise verschlossen waren. In einem anderen Flur wirkte alles etwas persönlicher.

 

Glasvitrinen mit Pokalen säumten sich an den Wänden, mit alten Reiterstiefeln, wie es schien, und dann gelangten sie zu einer weiteren verschlossenen Tür, wo Frau Fiets abermals einen Code auf ein Ziffernfeld eingab.

 

Auch diese Tür öffnete sich, aber nur zu einem weiteren Flur. Kaya wusste langsam nicht mehr, wie weit sie gegangen waren, in welche Himmelrichtung, und ob sie ihren Weg noch zurückfinden würde, aber Frau Fiets ging stetig weiter geradeaus. Kaya bemerkte die Bilder an den Wänden. Es waren nun persönliche Fotos in schweren Rahmen.

Eine Frau, die sie nicht kannte. Familienbilder von einer Familie, die ihr unbekannt war.

 

Sie kannte keinen der Menschen auf den teilweise schwarz weißen Bildern. Niemand sah ihr ähnlich, oder dem Mann, der ihr Großvater war oder ihrem Vater.

 

Sie folgte Frau Fiets schweigend, bis sie zu einer schmaleren, wenig verzierten Tür kamen.

 

„Hier ist die Küche. Ich koche uns erst mal einen Tee. Oder magst du lieber Kaffee?“, fragte sie plötzlich. Kaya ruckte mit dem Kopf. Sie war noch zu überwältigt. Sie würde alles trinken, nahm sie an.

 

Frau Fiets öffnete die schmucklose Tür und sie betraten einen riesigen Raum. Mehrere Herde reihten sich unter einer blaugekachelten Wand entlang. Bestimmt zehn Stück, wenn Kaya richtig zählte. Eine Insel stand in der Mitte, an der bereits mehrere Frauen Gemüse schnitten, Kartoffeln schälten und Fleisch panierten.

 

„Für wen ist das alles?“, entfuhr es ihr ehrfürchtig, und ihr Magen knurrte nun doch unwillkürlich.

 

„Für die Schülerinnen“, erklärte Frau Fiets nachsichtig. Ach ja, richtig. Das war ja ein Gestüt. Die Schülerinnen blieben ja hier. Genug Platz schien hier ja zu sein.

 

„Sie schlafen alle hier?“, vergewisserte sich Kaya dennoch.

 

„Ja, die Schülerinnen schlafen im ersten Stock. Der zweite Stock ist privat. Den dürfen sie nicht betreten“, erklärte sie bereitwillig, während sie zu einem langen Tresen schritt, wo bereits Tee auf einem Stövchen stand. „Vanille?“, erkundigte sich Frau Fiets jetzt, und Kaya nickte nur.

 

Sie brachte die gefüllte Tasse zu einem Tisch in einer Nische, wo zwei Stühle standen. Sie verließen den direkten Kochbereich durch einen oval abgerundeten Durchbruch in der Wand.

Es war urig hier. Die moderne Technik der Küche verlieh dem riesigen Saal einen interessanten Touch.

 

Kaya setzte sich. Frau Fiets selber trank keinen Tee. Kaya bemerkte jetzt erst die Blicke, die manche Frauen ihr zuwarfen. Nicht wenige waren ungefähr in ihrem Alter, nahm sie an.

 

Kaya nippte an der dampfenden Tasse. Sie war weiß mit einem blau geringelten Muster. Alinas Eltern besaßen auch Geschirr, was so aussah, erinnerte sie sich. Sie dachte an Alina. Ihr musste sie erzählen, dass sie nun doch hier gelandet war!

 

„Wie… wie alt bist du, Kaya?“, fragte Frau Fiets sie schließlich, aber sie klang bereits so, als wüsste sie es. Sie hatte Frau Fiets schon erzählen müssen, dass ihre Mutter nicht wusste, dass sie hier war, und dass sie selber gar nicht großartig darüber nachgedacht hatte, wie sie es ihrem Großvater eigentlich erklären wollte. Am besten gar nicht, dachte sie mittlerweile verzweifelt.

 

„Siebzehn“, erwiderte Kaya fast automatisch. „Ich bin siebzehn Jahre alt.“

 

„Siebzehn Jahre…“, wiederholte Frau Fiets kopfschüttelnd. „Du warst… winzig, als ich dich auf dem Arm hatte.“

 

„Sie…- wirklich? Sie hatten mich… auf dem Arm?“, flüsterte Kaya überrascht, und Frau Fiets nickte mit einem schmalen Lächeln.

 

„Ich hatte dich auf dem Arm, da warst du keine Woche alt“, erwiderte sie tonlos, während ihre Augen plötzlich glänzten. „Wie groß du geworden bist“, bemerkte sie schließlich mit einem prüfenden Blick. Kaya senkte unschlüssig den Blick.

„Und was machen wir jetzt mit dir?“ Sie schien eher sich selbst zu fragen, als Kaya.

 

„Ich… weiß es nicht. Ich kann mir nicht leisten, hierzubleiben, ich-“

 

„-papperlapapp! Natürlich bleibst du hier! Du bist Familie!“, erklärte sie, als würde das alles regeln. „Wir haben genügend Gästezimmer hier im Haus. Nicht, dass der gnädige Herr jemals private Gäste empfängt, aber… wir haben genug Platz, Kaya“, schloss sie freundlich. „Und ich denke, heute Abend kann er dich kennenlernen.“ Und Kaya glaubte, so etwas wie Furcht in Frau Fiets‘ Stimme zu hören. Sie schluckte schwer.

 

„Glauben Sie, das ist eine gute Idee?“

 

„Willst du ihn nicht kennenlernen?“

 

„Ich will ihn nicht unbedingt abends in seinem Haus überfallen“, räumte sie ein. Gerade, wo er ihr bereits gestern verboten hatte, jemals wiederzukommen. Ihr Blick wanderte ratlos nach draußen aus dem Fenster, aber Frau Fiets lächelte wieder.


„Ich bin sicher, es wird keine schlechte Überraschung für ihn werden“, versprach sie verschwörerisch. „Jetzt bringe ich dir etwas zu essen. Du kannst hier in der Küche essen. Die Reitschüler will ich dir jetzt noch nicht antun. Verzogene Gören sind das. Allesamt“, erklärte sie mit wegwerfender Handbewegung, als sie sich erhob.

 

Ihr Herz schlug laut in ihrer Brust.

 

Sie war da. Sie war im Haus ihres Großvaters.

 

 

Siebtes Kapitel

– Ende der Ballonfahrt –

 

Sie drehte sich eine lange Strähne um ihren Finger, während sie nervös durch das Zimmer schritt. Sie wagte nicht, sich irgendwo hinzusetzen. Sie fühlte sich nicht wie zuhause hier.

 

„Oh Kaya! Das ist so aufregend!“, plapperte Alina, und Kayas Ohr war schon ganz warm geworden, vom Telefonat. „Warst du schon draußen?“

 

„Nein, ich halte mich hier versteckt, wie ein Flüchtling!“, beschwerte sich Kaya mit klopfendem Herzen. „Ich meine, was, wenn er hier einfach reinkommt?“

 

„Und was? Dich rauswirft?“, wollte Alina ungläubig wissen, während Kaya hörte, wie die Wellen rauschten. Es war guter Empfang, wirklich.


„So wie gestern, ja?“, erwiderte Kaya spöttisch.

 

„Oh, er wusste doch gar nicht, wer du bist“, räumte Alina ein, klang aber nicht mehr vollkommen euphorisch. „Sag mal, hat dich Bastian noch mal angerufen?“, wechselte sie abrupt das Thema, dass Kaya mitten im geräumigen Gästezimmer, mit Kommode und Waschkrug und Balkon stehen blieb.


„Was?“, entfuhr es ihr ungeduldig. „Echt? Darüber willst du jetzt reden? Mein Leben ändert sich gleich, ich lerne meinen Großvater kennen, werde wahrscheinlich vom Sicherheitsdienst rausgeworfen, und du fragst mich, ob dein Freund mich angerufen hat?“, konnte Kaya sich nicht verkneifen zu fragen, und Alina stöhnte auf.

 

„Ich frage doch nur!“, motzte sie gereizt. „Ich meine, er hat gesagt, er…. hätte mit dir gesprochen. Einige Male…“, ergänzte sie fast zu locker. Kaya dachte kurz nach.


„Er… hat mich nur ein paar Mal angerufen“, sagte sie also, und versuchte Ruhe in ihre Stimme zu bringen.

 

„Ein paar Mal oft, oder ein paar Mal nicht oft?“, hakte Alina nach, und Kaya schüttelte verständnislos den Kopf.

 

„Weißt du, wie egal mir Bastian Kaminsky gerade ist, Alina?“, zischte sie aufgebracht, und Alina schwieg. Kaya atmete wieder aus, zwang sich, ruhiger zu werden, aber es half nicht. „Du bist doch nicht eifersüchtig, oder?“, ergänzte Kaya tonlos, denn sie wusste, wenn sie jetzt einen Streit mit Alina anfing, blieb ihr niemand übrig, mit dem sie noch würde reden können.

 

„Nein!“, widersprach Alina sofort heftig. „Ich… ich finde es nur komisch, dass… dass er dich so häufig anruft, das ist alles.“ Und eigentlich hätte Kaya gerne widersprochen, gerne hätte sie gefragt, was daran so verwerflich, so komisch sein sollte, dass sonst noch jemand auf dieser Welt mit ihr telefonieren wollte, außer Alina, aber sie brachte all ihre Vernunft auf, um es nicht zu tun.

 

„Aha“, entfuhr es Kaya kühler als beabsichtigt. Sie konnte sich mit diesem Problem jetzt nicht befassen. Sie wusste es selber. Sie waren siebzehn, und alles in ihrem Leben sollte sich um Schminke und Jungs und Zungenküsse drehen, aber das tat es verdammt noch mal nicht! Sie war dabei, sitzen zu bleiben. Sie war gerade in einer wildfremden Stadt, auf einem Anwesen, bei einem Mann, der für sie eigentlich mehr sein sollte, als nur ein Name, den sie bei Wikipedia gelesen hatte! Sie sollte eine Familie haben, aber auch das hatte sie nicht.

Sie hatte nur ihre Mama, aber die war in England, für Monate, und Kaya war allein.

 

Und ihre einzige beste Freundin dachte nur an sich selbst, dachte nur daran, ob mehr an der Tatsache dran sein könnte, dass Bastian Kaminsky sie viermal angerufen hatte! Ja, sie hatte mitgezählt! Na und? Na und?! Es war doch vollkommen egal, denn er wollte Alina und nicht sie!

 

Sie könnte sich gleich mitten am Abend erneut auf den Rückweg machen, weil ihr Großvater sie auch nicht wollte.

 

„Weißt du, ich muss jetzt auflegen, Alina“, sagte Kaya, beinahe sanft.

 

„Gut. Ich muss auch auflegen“, erwiderte Alina kalt.

 

Und Kaya hört die Leitung klicken. Das Gespräch war vorbei, und magischerweise war Alina sauer auf sie! Auf sie! Was hatte sie zur Hölle noch mal gemacht?! Gar nichts! Nur weil sie Alina nicht konstant zu ihrer neuen, langweiligen Beziehung beglückwünschte, war Alina jetzt stinksauer? Ok! Fein! Sollte sie doch sauer sein. Sie sollte mal sehen, ob es ihr etwas ausmachte. Tat es nämlich nicht!

 

Sie warf ihr Handy zornig auf das große Gästebett. Dunkelblaue Bettwäsche schimmerte im orangenen Licht des Kronleuchters an der Decke. Das Zimmer war antiquiert, und sie hatte sich noch nie so fehl am Platze gefühlt wie jetzt gerade.

 

Sie zuckte zusammen, als das Handy vibrierte, und ihr Herz schlug schnell, weil sie dachte, dass Alina doch noch eine Entschuldigung loswerden wollte, ehe Kaya ihre Würde opfern ging.

 

Sie spähte auf das gesprungene Display.

 

Sie hatte die Nummer noch nicht eingespeichert, aber ihr Herz sank in ihrer Brust.

 

Bastian rief sie an.

 

Ok… vielleicht telefonierte sie auch jeden Tag mit ihm. Aber was war schlimm daran, dass sie mehr als eine Kontaktperson hatte?

 

Und sie wusste, was schlimm daran war.

 

Und deshalb bewegte sie sich nicht. Bis die Mailbox dranging und das Vibrieren abrupt verstarb. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Es war ein seltsames Gefühl. Es war das erste Mal, dass Alina so etwas wie Eifersucht ihr gegenüber empfand, fiel Kaya auf.

 

Auch das verschlechterte ihre Laune merklich. Nie, nicht einmal in dem ganzen Jahr, hatte Alina Kaya um irgendetwas beneidet. Es war immer umgekehrt gewesen. Und selbst jetzt, wo Alina gemütlich auf der Südsee schipperte mit ihrer Familie, die immer für sie da war, und Alina selbst aus dieser Distanz den Klassenschwarm abbekam und sauer auf sie war, war Alinas Leben immer noch das, was Kaya gerne haben wollte.

 

Es klopfte verhalten an die Tür. Kaya schrak zusammen, als Frau Fiets öffnete.

 

„Kaya? Möchtest du mit mir kommen?“

 

Ihre ehrliche Antwort wäre Nein gewesen. Aber Kaya sagte gar nichts. Ihre Hände waren klamm. Sie fühlte sich unwohl in der weiten Jeans, dem alten Shirt, den Turnschuhen, die auch schon bessere Tage gesehen hatten. Ihre Haare hingen ihr einfach nur über die Schultern hinab. Sie war nicht geschminkt, sie sah nicht anders aus als sonst.

 

Sie folgte der Frau, die so nett zu ihr gewesen war. Sie dachte an ihre Mutter, an ihre beste Freundin, an ihr Zuhause, wo sie niemand rauswerfen würde.

Sie wünschte sich plötzlich, niemals hergekommen zu sein, und sie spürte, wie ihre Hände anfingen zu zittern.

 

Sie hatte Angst. Sie hatte einfach Angst.

 

Die Flure waren angsteinflößend, schienen immer enger zu werden, aber stoisch ruhig und leise folgte sie Frau Fiets. Sie hörte Mädchenlachen auf einem anderen Flur.

Wie klang es? Sorglos, das war das Wort.

Kaya kannte das Wort schon gar nicht mehr. Sie wusste nicht, wie sie nach Hause kommen sollte, heute Nacht. Sie wusste nicht, wie sie die Nachprüfung bestehen könnte, aber das wollte Alina schon bestimmt nicht mehr, damit sie nicht noch mehr mit Bastian sprechen würde.

 

Als ob er nach den Ferien überhaupt noch ein einziges Wort mit ihr sprechen würde! Als ob Alina das noch tun würde.

 

Sie folgte der Frau um die nächste Kurve, durch den nächsten Flur, den nächsten Gang, das nächste Zimmer mit Kamin. Das Gelächter der Mädchen hier im Haus verebbte, als sie durch eine Tür in einen kleineren Saal trat.

 

Abrupt blieb sie stehen. Das war es jetzt.

 

Sie erkannte seine Silhouette vor dem Kamin. Er saß in einem Sessel, las ein Buch, eine Zeitschrift oder etwas Ähnliches, und sie stand wie angewurzelt hinter Frau Fiets, versuchte, sich hinter ihrer leicht rundlichen Gestalt zu verbergen, und sie merkte, wie auch die Frau vor ihr angespannter wirkte.

 

Aber nur für eine Sekunde. Dann schien die Frau den Rücken durchzustrecken.


„Gnädiger Herr?“, sagte sie ohne Scheu, und Kaya fand die Worte sehr seltsam. War ihr Großvater das? Ein gnädiger Herr? Das blieb wohl zu hoffen, oder nicht? Gestern war er ihr nicht besonders gnädig vorgekommen. Ihr Herzschlag verdoppelte sich sofort, als er den Blick hob, eine Lesebrille auf der geraden Nase.

 

Sie ballte die Hände zu Fäusten, die Augen weit geöffnet, um keine Reaktion zu verpassen.

Sie dachte an ihre Zeit bisher hier in Hamburg. Sie versuchte, sich abzulenken.

Ob Balu schon den Verband abgenommen bekommen hatte? Ob er schon wieder laufen konnte?

 

Aber die Sekunden wollten nicht innehalten, nicht stehen bleiben, und erbarmungslos tickte die Zeit weiter.

 

„Gibt es ein Problem, Frau Fiets?“, vernahm sie seine Stimme. Gereizt. Ungnädig.

 

„Ich möchte, dass Sie jemanden kennenlernen, Herr von Rothenberg“, sagte Frau Fiets, wich zur Seite, und nun stand Kaya auf dem Präsentierteller. Frau Fiets schob ihr die Hand sanft in den Rücken, und Kaya machte einige unsichere Schritte nach vorn.

 

Oh, hätte sie doch ihren Rucksack schon mitgenommen! Hätte sie ihre Tasche schon über der Schulter, dann müsste sie nicht erst den endlosen Weg zurückfinden, um ihre Sachen zu holen, nachdem sie vom Gestüt gejagt worden war. Denn sie spürte es praktisch in ihren Knochen. Es war ein unumstößliches Gefühl, dass das hier nicht gut ausgehen würde, wie in einem kitschigen Film, in dem sich alle am Ende in die Arme fielen. Kaya spürte es einfach.

 

Kurz trat eine Stille ein, in der er sie nur musterte.

 

Frau Fiets schob sie noch ein Stück weiter vor, bis der Feuerschein Kayas Schuhspitzen erreichte. Das Feuer knisterte fast gemütlich in der angespannten Stimmung.

Seine Haare lagen nicht mehr vollkommen ordentlich. Er trug keine Reithose mehr, aber dennoch war alles, was er trug das absolute Gegenteil von ihr.

 

Er nahm die Brille langsam ab und sein ungebrochener Blick traf sie schließlich gänzlich. „Das Mädchen von gestern?“, wandte er sich an Frau Fiets mit schwindender Geduld.

 

„Ja“, sagte Frau Fiets schließlich, als Kaya immer noch nicht sprach. „Ihr Name ist Kaya“, erklärte sie dann, rauer als zuvor. „Sie wollte Sie gerne kennenlernen“, schloss Frau Fiets. Kaya rechnete damit, dass Frau Fiets jetzt sagte, wie sie mit Nachnamen hieß, dass sie erklärte, dass sie seine Enkeltochter war, dass sie irgendwas sagte, was ihn wissen ließ, warum er sie gleich rauswerfen würde.

 

Aber Kaya begriff, Frau Fiets tat ihr diesen Gefallen nicht. Ob sie auch entlassen werden würde, fragte sie sich plötzlich panisch.

 

„Frau Fiets kann nichts dafür!“, entfuhr es Kaya plötzlich hastig. Sie sprach tatsächlich. Sie hätte gedacht, ihre Stimme hätte sie längst aufgegeben. „Ich bin hierhergekommen, und sie… sie war nur so nett, mich… mitzunehmen, denn… - ich kann meine Sachen sofort holen! Ich… mache Ihnen keine Umstände, Herr… Herr von… Rothenberg“, sprach sie zögerlich ihren eigenen Namen aus.

 

Er war langsam aus dem Sessel aufgestanden. Er war näher gekommen, geschäftig, wenig interessiert, und jetzt sah er sie an. Sie konnte seinen Ausdruck überhaupt nicht einschätzen, sie wusste nicht, was die blauen Augen ihr sagten.

 

Dann, vollkommen ausdruckslos, verließ sein prüfender Blick ihr Gesicht und ruhte auf Frau Fiets‘ Gesicht.

 

„Ich glaube nicht, dass ich verstehe, was Sie von mir möchten, Frau Fiets.“ Seine Stimme nicht freundlich. „Alle Probleme mit Schülerinnen oder zukünftigen Schülerinnen, oder Schülerinnen, die gerne einen Platz bekommen hätten, sich aber nicht qualifiziert haben, sind Frau Kramers Sorge. In diesen Räumen hat niemand etwas zu suchen“, maßregelte er die Frau neben ihr.

 

„Gnädiger Herr, sie ist-“

 

„-ich möchte gehen! Bitte! Bitte, Frau Fiets, bitte – ich-“, flüsterte Kaya eindringlich, verzweifelt, denn sie wusste – nichts Gutes würde heute noch passieren! „Ich kann nicht“, schloss sie kopfschüttelnd, so leise, dass nur Frau Fiets sie hören konnte.

 

Frau Fiets unterbrach sich, sah sie an, und atmete aus.

 

„Was soll dieser Unsinn?“, fuhr der Mann sie barsch an, und Kaya zuckte zusammen. Hastig senkte sich ihr Blick auf den Perserteppich zu ihren Füßen. Sie schloss die Augen, denn sie hatte Angst, gleich zu weinen, egal, wie lächerlich das auch wäre. „Frau Fiets!“, donnerte seine Stimme jetzt ungehalten. „Wer ist dieses Mädchen?“, knurrte er. „Wieso ist sie-“

 

„-ich bin Kaya. Kaya Rothenberg.“

 

Sie öffnete die Augen, sah aber immer noch auf den Teppich hinab, als würde sich dort die Lösung zu all ihren Problemen zeigen, als würde er irgendetwas besser machen. Das Feuer knisterte immer noch, die Uhr an der Wand tickte laut, und es kam Kaya wie eine Ewigkeit vor, dass niemand etwas sagte.

 

Und dann hob sich ihr Blick. Der Mann sah sie an. Sie versuchte, nicht auf ihrer Unterlippe zu kauen und seinen Blick zu erwidern. Und die Stille dauerte an, bis es Kaya zu unangenehm wurde. „Ich… wollte Sie nicht stören. Ich… wusste nicht, wohin ich sollte.“

 

„Und du hast gedacht, Hamburg wäre die geeignete Adresse?“, fragte er plötzlich kühl. Sie schüttelte nahezu augenblicklich den Kopf. Aber sein Ausdruck blieb ernst. „Hat dein Vater dich angestiftet?“, fuhr er nach einer Weile fort. „Was soll das werden? Eine Art familiäre Erpressung?“, erkundigte er sich seelenruhig. „Ich lasse mich bestimmt nicht von einem Mädchen erpressen, das bei Nacht und Nebel beschließt, mich in meinem eigenen Haus, heimzusuchen“, erklärte er. Kurz musste sie seine Worte erst verdauen, begreifen, was er meinte.

 

„Erpressung?“, wiederholte sie fassungslos. „Wieso Erpressung?“ Wie sollte sie diesen Mann erpressen können?!

 

Seine Mundwinkel zuckten freudlos. „Eine gute Erbschaft ist eine Sache, für die sogar der stolzeste Mann seine Prioritäten aufgibt, wie mir scheint.“

 

Kayas Mund öffnete sich. „Erbschaft?“, wiederholte sie kopfschüttelnd. Niemand war tot, oder? Ihr Herz klopfte schnell. „Eltern vererben an ihre Kinder, oder nicht?“, fragte sie plötzlich. „Das heißt, Sie vererben an Ihren Sohn. Wir haben damit gar nichts zu tun“, sagte sie mit gerunzelter Stirn. Er blickte verächtlich an ihr hinab.

 

„Gnädiger Herr-“, begann Frau Fiets, aber er hob die Hand.


„Ist mein Sohn mitgekommen? Oder… deine Mutter?“, entfuhr es ihm abschätzend. „Warten sie draußen? Bist du die Vorhut?“ Kayas Augen weiteten sich. Was dachte er? Dass ihre Mutter das erlaubt hätte?


„Herr von Rothenberg-!“, begann Frau Fiets erneut voller Entrüstung, aber Kaya antwortete statt ihrer.

 

„Meine Mutter ist in England!“, erwiderte sie böse, und gleichzeitig erfasste sie die Trauer und die Wut, dass ihre Mutter sie nicht mitgenommen hatte. „Und Ihr Sohn wohnt irgendwo in München. Ich weiß nicht mal, wo!“, entfuhr es ihr mit zittriger Stimme, denn sie spürte die Tränen. „Niemand weiß, dass ich hier bin!“, fuhr sie ihn zornig an. „Niemand! Nur meine beste Freundin, aber die ist weit weg auf einem Schiff und spricht nicht mehr mit mir! Meine Mutter denkt, ich wäre in Berlin, also, nein. Niemand ist mit mir gekommen, niemand wartet draußen, um -… keine Ahnung, was Sie denken!“

 

Sie atmete heftiger, versuchte, das Stechen in ihren Augen zu ignorieren und echte Verblüffung war sehr kurz in sein Gesicht getreten.

 

„Sie hat die letzte Nacht bei den Ohlkamps im Dorf übernachtet“, erklärte Frau Fiets still. „Sie kam gestern mit dem Zug aus Berlin“, schloss sie noch leiser. „Heimlich“, fasste Frau Fiets schließlich Kayas Reise zusammen. Kaya nickte abwesend, als sie wieder auf den Teppich starrte, um nicht doch noch zu weinen.


„Ja, und es bleibt auch ein Geheimnis, denn… meine Mutter würde… im Dreieck springen, wenn sie wüsste, wo ich bin“, murmelte sie, ohne eine Beleidigung wirklich aussprechen zu wollen, aber sie begriff, was sie gesagt hatte, und ihr Blick hatte sich ertappt gehoben.

 

Seine Augenbrauen waren eindeutig nach oben gewandert und einige feine Falten traten auf seine Stirn.

 

„Wenn du… nicht wegen Geld gekommen bist…“, begann er schließlich und schien ihrem Ausbruch wenig Bedeutung beizumessen, „weshalb bist du dann hier?“, fragte er gedehnt.

 

Und sie holte tief Luft, um auszuatmen. Ganz klar würde sie jetzt nicht mehr lügen und sagen, dass sie ihn unbedingt hatte kennenlernen wollen. Ganz bestimmt nicht! Jetzt war es auch egal! „Ich… ich wollte… reiten lernen“, gestand sie ihre Halbwahrheit ein. Und kurz dachte sie, er würde ihr nun den Weg nach draußen in die Nacht zeigen, aber sein Mund öffnete sich einen Spalt weit.

 

„Du…?“ Er schien kurz über ihre Worte nachzudenken, ehe er den Kopf eine Winzigkeit schräg legte und sie musterte. „Du willst reiten lernen? Tatsächlich?“, bemerkte er knapp. Er rieb sich unschlüssig die Hände. „Und… bei deinen Genen kann ich es dir wohl kaum verdenken“, schloss er knapp und hob den Blick wieder zu Frau Fiets.

„Das war… töricht von Ihnen, Frau Fiets“, sagte er jetzt.

 

„Gnädiger Herr, bitte verzeihen Sie, aber sie hat einen weiten Weg hinter sich und-“

 

„-und es war auch töricht von dir, Mädchen“, fuhr er unbeirrt fort. „Du willst also bei mir reiten lernen und deiner Mutter nichts davon sagen?“, schloss er eine Spur ungläubig. Aber Kaya nickte nur.

 

„Ja, ich… das habe ich geplant“, flüsterte sie. Und jetzt zuckten seine Mundwinkel sehr kurz. Er atmete aus und rieb sich mit Daumen und Zeigfinger über seine Schläfen.

 

„Nun gut“, sagte er schließlich. „Da ich weiter nichts für deine Familie tun werde, darfst du zeigen, was du kannst. Ich werde mir morgen ansehen, ob du die richtigen Aussichten dafür hast, zu reiten. Aber wenn dies hoffnungslos aussieht, schicke ich dich wieder zurück. Ich nehme an, du finanzierst dich selber? Du hast ein Zimmer im Dorf?“, erkundigte er sich lächelnd, und ehe Kaya widersprechen konnte, mischte sich Frau Fiets wieder ein.

 

„Herr von Rothenberg!“, wandte Frau Fiets jetzt ein. „Das Mädchen kann sich doch nicht leisten, im Dorf zu wohnen!“

 

„Ich bin sicher, Sie haben Sie bereits in Ihrer Güte im Haus untergebracht, nicht wahr, Frau Fiets? Aber das Mädchen sagte mir, sie wäre nicht hier aufgetaucht, um bei mir um Almosen für ihre Familie zu betteln“, erwiderte er kalt. Und nicht mal, wenn er sie gebeten hätte, hierzubleiben, wäre sie geblieben! Almosen! Wie das Wort schon klang! Sie wusste nicht, ob sie Stolz besaß, aber sie fühlte, dass sie ihn niemals – niemals – um irgendetwas bitten würde! Und hinge sie auch an einer steilen Klippe, und seine Hand wäre die einzige, die sie hochziehen würde. Niemals!

 

Aber Kaya war auch nicht mehr allzu besorgt. Wie es aussah, blieb sie nur noch einen Tag. Sie sollte ihm zeigen, was sie konnte? Auf einem Pferd? Da konnte sie besser lieber doch Einradfahren auf der Zugspitze in Angriff nehmen.

 

„Ich will kein Geld von Ihnen“, sagte sie fest.

 

„Gut“, entgegnete er kühl. „Zeigen Sie ihr den Weg nach draußen. Ich erwarte dich morgen Früh, neun Uhr“, schloss er knapp.

 

Ehe Frau Fiets erneut protestieren konnte, hatte sich Kaya abgewandt und schritt, so schnell ihre weichen Knie sie tragen konnten zur Tür.

 

Am besten blieb sie noch eine Nacht im Dorf und reiste einfach morgen Früh ab. Sie hörte, wie Frau Fiets ihr folgte und die Tür hinter sich schloss.

 

„Kaya“, rief sie, und Kaya wurde widerwillig langsamer. „Der gnädige Herr ist schwierig. Ich lasse den Wagen holen und dich ins Dorf bringen. Ich bin sicher, er lässt dich morgen hier-“

 

„-schon gut“, erwiderte Kaya und konnte nicht verhindern, verletzt zu klingen. „Und ich finde den Weg. Ich brauche wirklich kein Auto, das mich ins Dorf bringt.“

 

„Es ist dunkel draußen! Natürlich-“

 

„-nein, danke. Bringen Sie mich bitte einfach nur zu meinen Sachen und beschreiben Sie mir den Weg zur Tür. Den Rest schaffe ich allein“, sagte sie kurz angebunden. Es war ihr peinlich, hier zu sein. Sie glaubte nicht, dass es hätte schlimmer laufen können. Außerdem wusste sie, dass sie gleich weinen würde.

 

„Kaya-“

 

„-nein. Bitte, ich möchte einfach nur gehen!“ Ihre Höflichkeit hatte sie unterwegs verloren, stellte sie mit klopfendem Herzen fest. Frau Fiets betrachtete sie seufzend. Kaya hatte sich den Weg zu dem Gästezimmer fast schon gemerkt, stellte sie fest, als sie wieder da waren. Das Licht brannte dort noch immer. Sie griff sich hastig ihren Rucksack und schulterte ihre schwere Tasche. Immerhin hatte sie heute ausreichend gegessen. Sie würde es schon schaffen.

 

„Es ist zu gefährlich. Das Auto kann-“ Aber Kaya sah sie schließlich an.

 

„Ich finde den Weg allein, danke“, sagte sie tonlos. Sie stürmte an Frau Fiets vorbei, nahm die nächste Treppe nach unten und das Geplapper von Stimmen wurde wieder lauter.

Und sie nahm die nächste Treppe, lief quer durch den Flur, so schnell ihre Füße sie tragen konnten.

 

Und dann erreichte sie eine Art Halle.

 

Sie wurde langsamer, als sie die Menschen dort erkannte. Eine Handvoll Mädchen standen um den blonden Reitlehrer, den sie gestern in der Reithalle schon gesehen hatte.

Und sie erkannte tatsächlich das Mädchen vom Bahnhof in Berlin. Sie trug die Haare mittlerweile offen, aber ihr Ausdruck war noch immer widerlich arrogant.

 

Die Mädchen schwiegen allesamt, als sie an der kleinen Gruppe vorbeimarschierte. Der blonde Reitlehrer bedachte sie mit einem ekelhaft überheblichen Blick.

Tränen nahmen ihr kurz die Sicht und Scham kroch in ihre Glieder. Sie hasste es, wie sie angestarrt wurde. Die Blicke dieser Mädchen unterschieden sich in nichts von denen, die sie von Carolina Berg und ihren Freundinnen ständig verpasst bekam.

 

Endlich sah sie die Haustüren vor sich. Ein Mann stand daneben. Er trug einen unauffälligen Anzug.

 

„Kann… kann ich gehen?“, wagte sie scheu zu fragen, und der Mann zog mit erhobener Augenbraue die Tür auf, um sie rauszulassen. Sie atmete die frische Nachtluft ein und lief schneller über den Kiesweg.

 

Es war so weit bis nach unten. Sie erkannte die Silhouetten von Pferden auf der Weide, die im Stehen zu schlafen schienen. Sie wischte sich über die feuchten Augen, während sie dunkle Stallungen und Hallen hinter sich ließ.

Sie rannte, bis sie das Wärterhäuschen sehen konnte. Es leuchtete als einziger Fleck auf dem sonst dunklen Gestüt, abgesehen von ein paar Notlampen an den Gebäuden.

 

Der Mann hob irritiert den Blick, als sie auf der Höhe des Häuschens war.

 

Und zum zweiten Mal hatte sie mehr als eilig dieses Grundstück verlassen.

 

Und obwohl es pechschwarze Nacht hier draußen war, fühlte sie sich hier unendlich wohler als in diesem blöden Haus! Hier draußen beleidigte sie niemand. Und niemand warf ihr vor, eine Erbschleicherin zu sein!

 

Sie lief die menschenleere Straße entlang. Sie sah das Bushaltestellenhäuschen auf sich zukommen und sie lief schneller. Sie hörte ein Käuzchen über sich und tausende von Grillen um sich herum. Aber niemand lief mehr auf der Straße, kein Geschäft gab es weit und breit. Sie vermisste die Großstadt! Noch nie hatte sie die Stadt so sehr vermisst wie jetzt!

 

Und ihr Handy vibrierte ein einziges Mal in der Tasche ihrer Jeans, in welche sie es in aller Eile gestopft hatte. Sie zog es schniefend hervor und hielt inne.

 

Erste Generalprobe war so ein Reinfall J kannst du dir ja vorstellen…!

Ich vermisse dich so sehr und denke die ganze Zeit an dich! Grüß die Wagners von mir, ich rufe die Tage mal durch. In aller Liebe, Mama <3

 

Tränen der Wut und der Verzweiflung nahmen Kaya die Sicht. Sie schämte sich so sehr, hergekommen zu sein. Kurz überlegte sie, im Bushäuschen zu warten, bis es Morgen werden würde, aber beim nächsten Kauz, der über sie hinweg rauschte und dem Gefiepse – was wohl entweder von Fledermäusen oder anderen Mäusen kam – hatte sie es sich schnell anders überlegt und hastete hinab ins Dorf.

 

Sie hatte keine halbe Stunde gebraucht, bei dem Tempo, das sie vorgelegt hatte, und war dankbar, dass die Tür noch nicht verschlossen war.

 

Sie hörte Stimmen aus dem Essenssaal und fand es hier wesentlich einladender als in diesem blöden Haus ihres Großvaters.

Erschöpft ließ sie die Tasche von ihrer Schulter auf den Boden fallen.

Frau Ohlkamp kam wohl wegen des Geräuschs schließlich nach draußen.

 

„Kaya!“, entfuhr es ihr verblüfft. Dann änderte sich ihr Ausdruck. „Kind, was ist denn passiert? Du weinst ja!“ Sofort war sie zu ihr gekommen, und Kaya wollte sich gar nicht mehr beherrschen und schluchzte auf.

 

„Ich… ich w…würde g…gerne noch… eine N…nacht bleiben, Frau O…ohlkamp“, brachte sie so ruhig wie möglich über die Lippen. Aber eigentlich schniefte und schluchzte sie die ganze Zeit. Frau Ohlkamp strich ihr beruhigend die langen Haare zurück und streichelte ihren Kopf.

 

„Na, na…. Natürlich kannst du bleiben! Möchtest du gerne über deinen Abend reden? Wie ist es gelaufen?“ Kaya schluchzte wieder auf und Herr Ohlkamp kam verwunderte in den Eingang.

 

„Was haben wir denn hier? Wer wird denn da weinen?“ Er schien etwas unsicher zu sein.

 

„Magst du dich zu uns setzen?“, fragte Frau Ohlkamp lächelnd und streichelte Kaya beruhigend den Rücken. „Ein Bier zur Beruhigung?“ Und Kaya nickte, während sie sich die Tränen von der Wange wischte. Herr Ohlkamp drehte seine Mütze unschlüssig in den Händen.

 

„Mit Bier kann ich dienen, Kleine“, versprach er erleichtert. „Vielleicht können wir alten Herren dich auch für eine Runde Doppelkopf begeistern, hm?“, versuchte er sie aufzumuntern, und sie musste fast lächeln. Sie hatte keine Ahnung von Kartenspielen, aber die Wärme des Kamins lockte sie in den Saal. Und Balu kam ohne Verband auf sie zu gelaufen. Langsam, aber er lief.

 

„Hey, du kannst ja laufen!“, murmelte sie heiser und kraulte den Hund, während sie die letzte Träne fortwischte. Und sie war dankbar, dass die Leute hier nett zu ihr waren. Wenigstens irgendwer in dieser fremden Stadt, diesem gefühlt fremden Land… es kam ihr vor wie eine fremde Welt, soweit weg fühlte sie sich gerade von Zuhause. Endlos weit fort….

 

~*~

 

Ihr Dutt wirkte strenger heute. Ihre ganze Körpersprache wirkte strenger als sonst. Und Frau Fiets war immer eine imposante Erscheinung, fand er. Sie ließ sich nie gehen, war immer um spätestens sechs Uhr auf den Beinen und hatte das gesamte Küchenpersonal mit wenig Aufwand im Griff. Und das seit dreißig Jahren.

 

Er ließ die Hamburger Allgemeine ein Stück weit sinken, als sie geschäftig seine Teetasse neu füllte und blickte über den Wirtschaftsteil gespannt hinweg.

 

„Sie sind nicht wütend, oder Frau Fiets?“, erkundigte er sich beinahe ungläubig, aber es war sowieso nur eine rhetorische Fangfrage. Und sie sah nicht mal auf, als sie antwortete, und sich wieder durch den Raum bewegte.

 

„Natürlich nicht, gnädiger Herr.“ Und jedes ihrer Worte klang wütend, stellte er amüsiert fest. Er faltete seufzend die Zeitung.

 

„Sie sind wütend wegen des Mädchens?“, schloss er kopfschüttelnd. Und bevor sie sich halten konnte, hatte sie sich steif zu ihm herumgedreht, den Korb mit Brötchen zornig in ihren Händen. Er hoffte nur, sie würden auf dem Weg zum Tisch nicht noch über Bord gehen.

 

„Es war mitten in der Nacht, Herr von Rothenberg! Mitten in der Nacht!“, fuhr sie ihn tatsächlich an. Er atmete ruhiger aus.

 

„Ja, Frau Fiets. Und wir befinden uns hier in Duvenstedt. Nicht auf der Reeperbahn“, entgegnete er glatt.

 

„Sie ist keine Fremde!“, entfuhr es ihr tonlos. „Es ist ihre Enkeltochter, Herr von Rothenberg!“ Er hatte sie tatsächlich noch nie so neben sich erlebt. Es schien sie mitzunehmen. Dass dieses Mädchen hier war, schien sie wirklich zu berühren. Wusste der Himmel, weswegen!

 

„Haben Sie sie nach dem Ausweis gefragt?“, erkundigte er sich schließlich, und der Mund der Frau öffnete sich. Ihre Augen verengten sich kurz. Sie schien wohl nicht zu wissen, ob er sich einen Scherz erlaubte. „Wissen Sie, ich bin mir nicht völlig im Klaren darüber, was ein geeignetes Verhalten meinerseits qualifiziert hätte, geehrte Frau Fiets“, fuhr er jetzt fort, und angelte sich ein Brötchen aus dem vor Wut zitternden Korb in ihren Händen.

 

„Es war mitten in der Nacht!“, wiederholte sie wieder dieselben Worte. Vielleicht war dies das Äußerste, was sie sich an Kritik ihm gegenüber zugestand. Und er fand, das war auch schon ausreichend viel Kritik.

 

„Mal ganz abgesehen davon“, erwiderte er trocken. „Und es war nicht einmal halb neun“, wand er mit erhobenen Augenbrauen ein. „Ich möchte mich auch nicht besonders lange mit diesem Thema aufhalten, verstehen Sie?“, rang er sich noch ein paar Worte mehr ab. „Das Wort Enkeltochter hat in meinen Ohren sicherlich nicht den gleichen Klang wie in den Ihren“, klärte er sie mit gewisser Nachsicht auf. „Ich habe keine Enkelkinder“, fuhr er achselzuckend fort. „Niemand hat sich je dafür interessiert, eine solche Verbindung aufrechtzuerhalten. Und offen gesagt, liegt mir daran auch nicht viel.“

 

Frau Fiets‘ Mund öffnete sich langsam, als überlege sie, ob es ihr zustand, zu antworten.

 

„Ich sage Ihnen, was sie ist: Sie ist die Tochter einer Frau ohne Anstand, ohne Manieren! Die Mutter dieses Mädchens hat dieser Familie ihre Zukunft genommen und zerstört. Und das wissen Sie auch. Sie hat sich mit glatter Absicht schwängern lassen, aber all ihre bösen Vorsätze haben sich zerschlagen! Jetzt hat sie nichts mehr. Nicht mal einen Mann“, schloss er fast bitter. „Also unterschätzen Sie mich bitte nicht“, ergänzte er warnend. „Und nehmen Sie nicht an, ich würde tatsächlich eines meiner Zimmer in meinem Haus für die Tochter dieser Person opfern! Was soll als nächstes passieren? Dass dieses Gör es vollbringt, mir mein Haus streitig zu machen – mit weiß Gott welchen Mitteln?“

 

Frau Fiets sah ihn nun offen an.

 

„Ich weiß nicht, wie dieses Kind erzogen wurde, wahrscheinlich überhaupt nicht, nach allem, was ich bisher gesehen habe. Aber hier aufzutauchen, ohne Nachricht oder Warnung und zu verlangen reiten zu lernen-! Sie können froh sein, dass ich nicht die Polizei gerufen habe, aber…“, er schmunzelte kurz, während er das Brötchen aufschnitt, „es war ja bereits mitten in der Nacht hier in Duvenstedt, um es mit Ihren Worten auszudrücken. Es wäre ohnehin niemand mehr aufgetaucht“, schloss er kühl. Die Polizei war auf dem Land ähnlich effektiv wie ein schlafender, tauber Hund.

 

Er sah, dass sie stumm die Hände zu Fäusten geballt hatte. „Ich möchte kein Gerede hören, haben wir uns verstanden, Frau Fiets?“, kürzte er seine gesamte Ansprache nun auf den wesentlichsten aller Punkte ab.

 

Und sie schien wohl tausend andere Worte für ihn auf Lager zu haben, zumindest nahm er das an. Aber sie sagte keines davon. „Jawohl, gnädiger Herr“, war alles, was sie sagte. Sie hatte sich von ihm abgewandt und den Saal anschließend verlassen.

 

Er schüttelte seufzend den Kopf und entfaltete die Zeitung wieder. Seine Augen konnten sich nur schwer auf die Zeilen konzentrieren. Er hatte nicht vorgehabt, so viele Worte zu sagen. Zumindest nicht laut. Noch glaubte er nicht, dass die Mutter des Kindes nicht Bescheid wusste. Noch glaubte er nicht, dass dieses Mädchen einfach so hierhergekommen war. Vielleicht war es ein großartiger Plan, ihm sein Geld abzuluchsen. Aber wie sollte das eine mittellose ungebildete Frau bewerkstelligen?

 

Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es Frau Fiets so sehr belastete. Man sollte meinen, er spräche ständig mit seinen Verwandten, hatte eine große intakte Familie, so wie es Frau Fiets belastete! Lächerlich!

 

Eine junge Frau betrat den Saal nun mit gesenktem Blick, aber sie lächelte leicht. Er kannte sie. Es war ihm schon öfters so vorgekommen, als senke diese Frau keusch, beschämt den Blick vor ihm. Seine Stirn runzelte sich noch so leicht, aber die Frau hob den Blick. Ihr Name lag ihm fast auf der Zunge. Alexander tat sich seit jeher schwer mit Namen, aber er war noch nicht so alt, um nicht zu merken, dass an diesem Blick aus diesen braunen Augen nicht etwas anderes mitschwang als aus den halbzornigen Blicken, die ihm seine Köchin zuteilwerden ließ.

 

Er stutzte fast, als er den Blick der jungen Frau analysierte. Wie alt konnte sie sein? Dreißig? Höchstens, nahm er an.

 

„Ich bringe Ihnen frischen Tee, Herr von Rothenberg“, erklärte sie sanft, als sie zu ihm kam. Ihre Bluse war gebügelt, hellblau und warf keine Falten, abgesehen von den offensichtlichen über ihrem Brustkorb. Sie war nicht ganz zugeknöpft, und die Frau trug einen schwarzen kurzen Rock unter ihrer weißen gestärkten Schürze, die sie umgebunden hatte. Sie arbeitete also in der Küche. Ihre Schuhe waren hoch. Ihre Beine waren lang. Die Bräune fiel ihm nur am Rande auf. Die Haare waren dunkel, kurz und lockig und sie hatte sie in einem Zopf zurückgebunden. Sie war geschminkt, nicht übermäßig, würde er sagen, aber er hatte auch wirklich keine Ahnung von allen Tricks, die man mit Makeup veranstalten konnte.

Er sah die jungen Reiterinnen täglich und bemerkte all den Aufwand, den sie mit Körperpflege und regelrechter Clowns-Schminke betrieben.

 

Ihre silbernen Ohrringe glitzerten in der Sonne.

 

Seine verstorbene Frau hatte selten Makeup getragen. Sie war natürlich schön gewesen, hatte sich nie wirklich um Schönheitspflege bemüht, oder Diäten als etwas ins Auge gefasst, was sinnvoll oder hilfreich wäre.

 

Ihm kam es so vor, als würde dieses Exemplar vor ihm, es darauf anlegen, dass er sie bemerkte.

 

„Vielen Dank-“

 

„-Julia“, nannte sie ihm zuvorkommend ihren Namen, ehe er in die Verlegenheit hätte kommen können, ihr zu sagen, dass er ihren Namen nicht kannte.

 

„Vielen Dank, Julia“, griff er ihre Worte gedehnt auf. „Leider kann ich mir einen weiteren Tee nicht mehr leisten. Die Arbeit ruft“, fuhr er interessiert fort. Es war wie ein seltsames Experiment. Die Mundwinkel der jungen Frau hoben sich lächelnd, und sie entblößte weiße schöne Zähne.

 

„Ich verstehe, wirklich zu schade. Aber vielleicht kann ich Sie später für einen Tee begeistern?“, schlug sie kokett vor, und sein Mund öffnete sich knapp, während er ihr einen fragenden Blick schenkte. Sie ließ sich nicht anmerken, dass ihr irgendetwas an dieser Unterhaltung komisch vorkam.

 

„Ich bin mir sicher, dass dies der Fall sein wird“, wich er ihrem auffordernden Blick nun mit vagen Worten aus. „Sagen Sie, seit wann sind Sie hier beschäftigt?“, erkundigte er sich nonchalant, während er sich erhob und das Brötchen nicht mehr anrührte.

 

„Seit zwei Monaten“, klärte sie ihn lächelnd auf. „Und Sie können mich gerne duzen, Herr von Rothenberg“, ergänzte sie rauer und zwinkerte ihm zu.

 

Ach, war das so? Er verharrte vor ihr und verwarf aber alle möglichen Gedanken, die sich unpassenderweise in seinem Kopf formten, wie dunkle, verhängnisvolle Rauchwolken. Er schüttelte etwas abwesend den Kopf. Das hatte er hinter sich.

 

„Wenn Sie mich entschuldigen“, verabschiedete er sich mit einem feinen Lächeln und verschob somit ihr Angebot, sie zu duzen. Sie nickte höflich und räumte immer noch lächelnd den Tisch ab. Kopfschüttelnd verließ er den Saal. Seine Reitstiefel knarrten mit jedem Schritt. Anscheinend war er immer noch begehrt, nahm er an.

Abwesend fiel sein Blick auf die verschiedenen Portraits seiner Frau, die den Weg säumten. Unwillkürlich hielt er mitten auf dem Flur inne, um eines zu betrachten, was nur sie zeigte. Sie lächelte. Sie hatte immer auf Bildern gelächelt. Er war immer der Meinung gewesen, sie hatte auch nie einen Grund gehabt, nicht zu lächeln, aber sie war von Trauer gezeichnet gewesen. Das wusste er auch.

 

Er dehnte seine Finger unschlüssig. Den Ring hatte lange abgelegt. Er trat näher an das Bildnis im breiten bronzenen Rahmen.

 

Katharina war schön gewesen. Es hatte sie immer etwas umgeben, was er nie recht verstanden hatte. Und er hatte sie nie dazu bewegen können, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen. Er hatte sie zu nichts überreden können, was sie nicht gewollt hatte.

Und er war sich ziemlich sicher, was seine Frau gesagt hätte, hätte das unsägliche Mädchen gestern vor ihr gestanden. Sie hätte sie nicht fortgeschickt. Sie hätte hinter einem Menschen niemals etwas Schlechtes vermutet. Seine Frau war vor sechs Jahren gestorben. Katharina war nicht mehr hier, und manchmal glaubte er, das Haus konnte es spüren. Es war stiller, kälter geworden. Oder vielleicht war nur er stiller und kälter geworden.

 

Der Krebs war schleichend gekommen, so schleichend, wie der Herbst den Sommer ablöste, so unauffällig hatte der Krebs sie geholt. Alexander hatte keine Angst vor dem Tod. Aber es war erschreckend gewesen, zuzusehen. Zuzusehen, wie jemand starb.

 

Er erinnerte sich gut an ihr letztes Gespräch.

 

Sie sagte zu ihm, sie wisse von der Affäre, und falls er sein Gewissen jetzt erleichtern wolle, wäre sie gerne bereit, ihm zu vergeben. Er hatte es nicht getan. Er hatte es ihr nicht gesagt. Er bereute es allerdings nicht. Wozu sollten unnötige Schmerzen gut sein? Er hatte jedoch das Dienstmädchen entlassen, am Tag der Beerdigung.

Und manchmal war er wütend auf Katharina. Ihre dunklen Augen blickten fast gutmütig auf ihn hinab, so kam es ihm vor. Als Oliver ausgezogen war, hatte sie sich mehr und mehr von ihm zurückgezogen. Sie hatte ihre Nächte im Gästetrakt verbracht.

 

Sie hatte ihm nie verziehen. Sie hatte ihm viele Dinge wohl nie verzeihen können, nahm er bitter an. Sie hatte nie überwunden, dass er ausgezogen war. Er hatte alle Bilder von Oliver vernichten lassen, aber er glaubte, irgendwo im Haus hatte sie ein Versteck gehabt, wo sie alle Bilder aufbewahrt hatte, denen sie noch hatte habhaft werden können, und wenn Frau Fiets von diesem Versteck wissen sollte, dann war sich Alexander sicher, würde sie es ihm niemals verraten.

 

Sie hatte mit Oliver versucht, Kontakt zu halten, nachdem er mit der Familienzerstörerin nach Berlin gezogen war. Aber Oliver hatte es nicht gewollt, hatte sie ihm erzählt. Alexander hatte es nicht mehr interessiert, was Oliver wollte oder nicht. Er erfuhr nur durch Katharina von der Trennung. Erfuhr nur durch sie von Olivers Veränderung, von seinen neuen Vorlieben. Seine Mundwinkel sanken tiefer. Er wusste nicht, welchen Fehler er begangen hatte, aber die größte Schuld gab er dem Mädchen, das damals hierhergekommen war, erklärte, sie wäre von Oliver schwanger und würde ihn heiraten wollen.

 

Sie war fünfzehn gewesen! Beide waren sie fünfzehn gewesen!

Oliver und das Mädchen. Er erinnerte sich noch an die Mutter des Mädchens, die nicht minder zornig gewesen war, erinnerte sich noch an Olivers heiliges Versprechen, dieses Mädchen niemals zu verlassen, ein guter Vater und Ehemann zu sein – Alexander erinnerte sich noch lebhaft an den Skandal im Dorf, an den Tratsch der Leute!

 

Er erinnerte sich. Und jetzt, seit gestern, nur umso besser! Denn die Tochter sah aus wie sie. Wie ihre Mutter. Er betrachtete Katharina, als hätte sie eine allwissende Antwort für ihn parat, aber wenn es so war, sprach sie sie nicht aus.

 

Und er erinnerte sich an den Tag, als Oliver mit dem Mädchen auf den Hof gekommen war. Sie war winzig gewesen. Sie war zu früh geboren worden, hatte ihm Katharina erzählt, denn er selber war nicht ins das große Wohnzimmer gekommen. Er hatte aus einem der Fenster gesehen, als Oliver wieder gegangen war. Er war nicht lange da gewesen, schien das Mädchen ungern gezeigt zu haben, und Katharina hat die ganze Nacht nicht mehr aufgehört, zu weinen.

 

Und fast hätte er es Oliver abgekauft. Die große Liebe, das Familienglück.

 

Und dann… war es zu Ende. Kurz war die Schock-Nachricht des homosexuellen Rothenberg-Erben wie ein böser Schatten durch das Haus gewandert, alle hatten darüber gesprochen, wenn nicht offen, dann zumindest heimlich – und ausgiebig.

 

Und dann, nach einigen Monaten, war es vorbei gewesen. Der Name Oliver geriet in Vergessenheit. Unter den Angestellten, die neu kamen, wusste keiner mehr, dass er einen Sohn namens Oliver gehabt hatte. Und irgendwann hörte Katharina auf, aus dem Fenster zu sehen, als würde ihr Sohn überraschend jeden Tag nach Hause kommen können. Sie schrieb keine Briefe mehr, versuchte nicht, ihn anzurufen.

Irgendwann stellte sie zu Olivers Geburtstag keine Kerze mehr auf den Tisch, den Alexander jedes Mal ohne Kommentar verlassen hatte, wenn sie ihn wieder daran erinnerte, dass sein Sohn Geburtstag hatte.

 

Er hatte mit seinem Sohn seit fast siebzehn Jahren kein Wort mehr gesprochen.

 

Es kam ihm plötzlich endlos vor. Es war, als wäre Oliver vor siebzehn Jahren gestorben.

Und er war ein so guter Reiter gewesen. Er war ein so hübscher Junge gewesen.

Und Katharina hatte ihn gebeten, sich mit seinem Sohn zu versöhnen. Aber er sah sich außerstande dazu. Es war nicht möglich. Er konnte sich nicht mehr ändern. Und er wollte es nicht. Er würde Olivers Entscheidungen niemals akzeptieren können. Niemals.

Alexander war von ihm so enttäuscht wie von seinem Zuchthengst.

 

Er senkte den Blick auf den Boden.

 

Er nahm an, dass Mädchen würde nicht noch einmal wagen, auf seinen Hof zurückzukehren. Es wäre besser so. Er wollte nichts von ihrer Existenz wissen. Er wollte sie nicht zu lange sehen, bis er selber glaubte, Ähnlichkeiten feststellen zu können.

Alexander war kein Menschenfreund. Er sah sich rechtlich schon außerstande, seinem Sohn das Erbe zu verweigern, denn der Pflichtteil stand ihm zu. Aber die Frau und das Kind würden nichts bekommen. Keinen Cent. Und das sollte dieses Kind besser früher als später begreifen.

 

In der Halle unten angekommen standen bereits einige Mädchen neben der Sitzecke im Erker und verstummten als sie ihn erkannten. Sie schienen sich alle aufrechter hinzustellen. Manchmal vergaß er, dass er sein Haus mit fremden Menschen teilte. Es war absurd, dachte er manchmal. Jemand wie er öffnete seine Türen Kindern reicher Kunden. Die Ausrüstung dieser Damen schien der neuesten Mode zu entsprechen, die Helme unter ihren Armen schimmerten purpurn im Licht. Violett war die neue Reiter-Farbe des Jahres, wie ihn Frau Kramer auf sein Fragen hin aufgeklärt hatte. Anscheinend wussten das diese Damen vor ihm ebenfalls.


„Sie warten auf Herrn König?“, erkundigte er sich, als er auf sie zukam. Auf wen sollten sie sonst warten? Auf ihn wohl kaum.

 

„Ja, Herr von Rothenberg“, sagte die hübscheste von ihnen. Sein Blick ruhte auf ihrer Gestalt. Sie war sicher so alt wie das Mädchen.

 

Und Leonard König enttäuschte ihn nicht. Er kam mit strengen Schritten durch die Halle gelaufen.

 

„Dann fangen wir an! Ich will nicht wieder länger machen müssen, weil ihr die Pferde nicht rechtzeitig in die Halle bekommt, also am besten bewegt ihr euch“, sagte er, ohne Charme, ohne jede Geduld in der Stimme, und die Damen liefen wie aufgeschreckte Hühner murrend in Richtung Ausgang.

 

„Alles in Ordnung?“, fragte Alexander mehr der Form halber.


„Talent sehe ich bei keiner wirklich, aber es mag noch kommen.“ Er klang nicht überzeugt, aber er war noch jung. Und Leonard war überheblich. Aber er ritt hervorragend. Kurz überlegte Alexander tatsächlich Leonard, nach seiner Mutter zu fragen, sah aber davon ab. Er mochte die oberflächliche Beziehung, die er mit seinem Personal führte. Er wusste ohnehin zu viel. Das war bei Tom so, das war Leonard genauso. Und es interessierte ihn nicht. Von Frau Fiets abgesehen. Aber seine verstorbene Frau würde ihn wahrscheinlich heimsuchen, würde er Frau Fiets durch ein jüngeres, besseres Exemplar ersetzen.

 

„Gut, fangen Sie an“, erwiderte Alexander stattdessen, und unwillkürlich glitt sein Blick zu einer der Uhren in der Halle. Halb neun.

 

Er würde zu Tom gehen, einen Blick auf die Einsteiger werfen, und dann mit dem Hufschmied die Tiere abgehen, bei denen ein Eisenwechsel nötig war. Seine Welt blieb nicht stehen, nur weil ihm Dämonen aus der Vergangenheit einen Besuch abstatteten.

 

 

Achtes Kapitel

– Ein Guter Sitz –

 

„Dein Großvater ist ein sturer, uneinsichtiger Geizkragen!“, entfuhr es Frau Ohlkamp offen, während sie zornig die Tische putzte und Kaya die trockenen Tücher für sie hielt. Und sie hatte auch keine hohe Meinung von diesem Mann. „Wir betreiben den Gasthof hier seit dreißig Jahren als seine Pächter, und er ist noch kein einziges Mal hier gewesen“, beteuerte sie aufgebracht. „Aber die Pacht alle halbe Jahre erhöhen, damit hat er kein Problem!“, schloss sie grimmig.

 

„Das tut mir leid“, sagte Kaya ehrlich.

 

„Das muss es nicht!“, erwiderte sie sofort kopfschüttelnd. „Ich meine – sieh dich an! Dich behandelt er nicht mal besser, und ihr seid blutverwandt!“, beschwerte sie sich und wischte mit mehr zorniger Kraft. „Dann sollst du auch noch auftauchen, nachdem er dich rauswirft und ihm etwas vorreiten!“ sie schnaubte auf. „Was denkt er sich eigentlich? Dass alles und jeder hier nach seiner Pfeife tanzt?“ Kaya wusste darauf nichts zu sagen, und es verging ein kurzer Moment in Stille. Frau Ohlkamp sah sie an und ihr Blick bekam eine weichere Note. „Herr Ohlkamp und ich, wir… haben keine Kinder, Kaya“, erklärte sie plötzlich. „Und ich würde dir gerne behilflich sein.“ Kaya lächelte dann. „Aber reiten kann ich dir leider nicht beibringen“, ergänzte sie, fast entschuldigend.

 

Kaya hätte keine Worte dafür finden können, wie egal ihr Reitenlernen war. Aber sie schwieg.

 

Herr Ohlkamp kam durch die Tür, eine Mütze ins Gesicht gezogen, um sich vor der Sonne abzuschirmen.

 

„Mädchen, sag mal, hast du Lust, uns zur Hand zu gehen?“, fragte er direkt. Kayas Mund öffnete sich ratlos. Sie hatte eigentlich abreisen wollen, wollte sich auf keinen Fall auf dem Gestüt demütigen gehen, und bestimmt wusste ihr böser Großvater nichts mehr von der Abmachung.

 

„Was soll ich machen?“, fragte sie also, denn ohne Alina war sie ziemlich aufgeschmissen, was die Reiseplanung anging. Sie würde sie anrufen müssen. Sie würde sich entschuldigen müssen, nahm Kaya missmutig an. Sie war schlecht, was Entschuldigungen anging. Aber sie würde sich darum wohl erst später kümmern.

 

„Aber Bernd!“, sagte Frau Ohlkamp, aber Herr Ohlkamp winkte ab.


„Wenn sie helfen will?“, sagte er, und Kaya ruckte mit dem Kopf. „Wir rechen das Gras zusammen“, erklärte er. „Kannst uns helfen“, schloss er ruppig und war schon wieder auf dem Weg nach draußen. Kaya folgte ihm. Dann hatte sie was zu tun, während sie überlegen konnte, was sie Alina sagen würde.

 

Sie erkannte einige junge Männer, die um den See herum mit Rechen das Gras zusammen fegten. „Wofür machen sie das?“, wollte sie wissen und kam sich schon beim Fragen vor wie ein dummes Stadtkind. Herr Ohlkamp stopfte bereits seine Pfeife.

 

„Heu. Wir trocknen es in der Scheune vom Bauern Voss. Herr von Rothenberg kauft es anschließend ab“, erklärte er, während er sich ächzend auf die Bank hinterm Haus niederließ. Schweiß stand ihm auf der Stirn. „Geh einfach zu Konstantin und Heiko, die beiden beim Anhänger“, fuhr er mit einem Nicken fort.

 

Sie erreichte die jungen Männer eher unschlüssig. Sie trugen keine teure Reiteruniform, stellte sie allerdings fast erleichtert fest. Einer hatte eine alte Kappe tief ins Gesicht gezogen, der andere hatte unordentliche dunkelblonde Locken auf dem Kopf. Er blinzelte in die Sonne, als sie kam.

 

„Hey, ich bin Kaya. Ich soll euch helfen“, sagte sie unsicher. Der Blonde nickte.

 

„Super! Komm rüber, kannst hier mit anpacken. Ich bin Konstantin, das ist Heiko“, stellte er sich und seinen Helfer vor. Heiko nickte nur stumm. „Fass unter dem Gras an, damit es dir nicht aus den Fingern fällt – und vielleicht solltest du Handschuhe anziehen“, sagte er jetzt. „Manche Halme können stechen“, klärte er sie auf.

 

Er zog sich seine einfach aus und reichte sie ihr. Sie nahm sie dankbar entgegen, während er sich wieder den Rechen griff. Vor ihr stand ein Ballen Gras. Er war fertig zusammengebunden und schien bombenfest zu halten. Sie griff mit beiden Armen um den unteren Teil des Ballens, und er war erstaunlich schwer. Ächzend hob sie ihn über den Rand des Anhängers, wo Heiko ihn kaugummikauend zurecht schob.

 

„Kommst du von hier?“, wollte Konstantin wissen, als er einen neuen Haufen Gras zusammen gerecht hatte. Kaya schüttelte den Kopf, als sie das dicke Band entgegennahm, was ihr Konstatin reichte, und mit ihr zusammen um den Ballen schnürte.

 

„Nein, ich komme aus Berlin“, erwiderte sie wahrheitsgetreu.

 

„Aha“, entgegnete er, während er dieses Mal den Ballen in die Luft stemmte, um ihn alleine über den Hänger zu werfen, während Heiko das Gras wieder stumm in die richtige Position schob. „Gehörst du dann zum Gestüt? Machst du Urlaub da?“, wollte er etwas abfälliger wissen, aber sie schüttelte heftig den Kopf.

 

„Nein, ich kann nicht reiten“, bemerkte sie, und glaubte, dass es mittlerweile nach neun sein musste. Und sie würde nicht da sein. Garantiert nicht!

 

„Komisch“, erwiderte Konstantin mit einem schiefen Grinsen. „Die meisten Mädchen sind verrückt nach Pferden“, sagte er achselzuckend, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. „Bist du verwandt mit den Ohlkamps?“, fragte er weiter, und rechte schon den nächsten Ballen zusammen. Kaya fiel auf, dass die Jungen sehr schnell arbeiteten.

 

„Nein, ich… wollte wen besuchen, aber… das hat nicht geklappt, und ich habe jetzt zwei Nächte hier geschlafen und werde bald wieder abreisen“, erklärte sie so nichtssagend wie möglich.

 

„Hm, klingt verwirrend“ gab er zurück. „Na los, keine Müdigkeit! Wir werden pro Ballen bezahlt!“, rief er ihr jetzt zu, und sie erwachte wieder zum Leben, half ihm das Gras zu sammeln, aufzustellen und festzubinden. Sie kam sich vor wie in einem Kinderbuch.

 

„Wie viel bekommt ihr pro Ballen?“, wollte sie grinsend wissen. Vielleicht wäre das ein Ferienjob, der lukrativ genug wäre, damit sie Alina ein wenig Geld zurückzahlen konnte, wenn sie wiederkäme. – Vorausgesetzt Alina würde noch mit ihr sprechen….

 

„Für jeden Ballen zwei Euro“, sagte Konstantin ächzend, während er einen festen Knoten band. Kayas Mundwinkel sanken. Na, da war Zeitungen austragen weniger anstrengend, überlegte sie dumpf.

 

„Spricht er nicht?“, fragte sie leiser, als Heiko nach vorne zum Hänger ging, um ihn ein Stück weiter rollen zu lassen, damit sie nicht so weit zurücklaufen mussten. Konstantin lachte auf.

 

„Nicht jeder redet hier so viel wie ich“, erwiderte er zwinkernd. Sie konnte sein Alter nur schätzen, aber sie vermutete, er war jünger als sie.

 

„Wie alt seid ihr?“, fragte sie schließlich.

 

Don Silencio hier ist vierzehn, ich bin fünfzehn“, klärte er sie auf. Kaya nahm an, es lag an der gesunden Hautfarbe, dass sie älter wirkten. Sie musste lächeln, als sie erkannte, dass Heiko unter seiner Kappe rot geworden war.

 

„Und das macht ihr als Ferienjob?“, fragte sie weiter, während sie spüren konnte, wie der Schweiß ihr den Rücken hinab lief.

 

„Ja, definitiv der beste Job. Beim alten Rothenberg will ich nicht mal für hundert Euro die Minute den Stall ausmisten gehen“, erwiderte er schaudernd. Kaya horchte auf, nickte aber langsam.

 

„Kein guter Job?“, erkundigte sie sich bei ihm, und Konstantin ruckte mit dem Kopf.

 

„Der Job ist ok, aber die Leute sind…“ Er machte eine Pause, verzog aber in eindeutiger Geste den Mund. Kaya nickte langsam. Ja, von dem, was sie bisher gesehen hatte, hatte ihr auch nichts gefallen. Vielleicht Frau Fiets. Der wollte sie wirklich keine bösen Hintergedanken unterstellen.

 

Sie arbeitete mit den Jungen weiter, und in den nächsten zwanzig Minuten sprach sie genauso wenig wie Heiko und schwitzte dafür einfach mehr. Sie hatte keine Ahnung, wie die Jungen diese Arbeit den ganzen Tag machen konnten. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Aber sie war überrascht, dass doch junge Leute im Dorf lebten.

 

„Ok! Kurze Pause!“, rief Konstantin schließlich, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, und um den See herum den anderen Jungen zusah, die teilweise auch Pause machten, teilweise weiterarbeiteten.

 

„Kommt ihr alle aus dem Dorf hier?“, fragte Kaya erschöpft. Sie hatte unglaublichen Durst, stellte sie fest. Konstantin stützte die Hände auf den Knien ab.

 

„Ich komme hierher und mein Bruder Christian auch.“ Er deutete auf einen größeren Jungen weiter hinten, aber Kaya glaubte ihn an seinen blonden Locken ausmachen zu können.

„Heiko hier kommt vom nächsten Dorf, aber die liegen ja alle ziemlich nah beieinander“, schloss er achselzuckend. „Wir lagern das Heu bei uns ein“, ergänzte er und legte den Kopf in den Nacken und schien die Sonne zu genießen.

 

Kaya schloss gerade aus dieser Information, dass er und sein Bruder dann Voss mit Nachnamen heißen mussten, als etwas um ihre Beine lief.

 

„Hey!“, rief sie aus, als sie Balu erkannte. „Na, du kannst aber schon gut rennen, hm?“ Sie kraulte den Hund am Kopf und hob den Blick gegen die Sonne, als sie eine Gestalt ausmachen konnte.

 

„Einen schönen guten Morgen, Fräulein Rothenberg“, begrüßte sie der Tierarzt mit einem freundlichen Blick. Anscheinend kannte auch er nun ihren Nachnamen. „Jungs“, richtete er jetzt ein Nicken an die beiden anderen.

 

„Hallo, Dr. Schmidt“, erwiderte sie unschlüssig. Sie bemerkte Konstantins fragenden Blick, aber er sagte nichts.

 

„Ich bin hier, um nach dem Rechten zu sehen, und mir ist zu Ohren gekommen, du hattest heute einen Termin?“ Der Hund strich jetzt dem Tierarzt um die Beine, und Kaya verzog den Mund und blickte wieder über den dunkelblauen See.

 

„Jaah, wissen Sie, Dr. Schmidt, ich bin viel lieber hier“, räumte sie achselzuckend ein.

 

„Körperliche Arbeit bei dieser Hitze?“, erkundigte er sich, aber sein Blick wirkte verständnisvoll. „Ich fahre jetzt rauf zum Gestüt und würde dich gerne mitnehmen“, schloss er auffordernd.


„Ich glaube nicht, dass ich da noch mal hin möchte“, erklärte sie.

 

„Hm…“, machte Dr. Schmidt nur. „Ich denke, du solltest diese Möglichkeit nicht verstreichen lassen, Kaya. Wer weiß wozu es gut ist? Vielleicht gefällt es dir sogar“, erwiderte er mit offenen Armen.

 

„Ich kann nicht reiten, also-“

 

„-ich glaube, das erwartet man von dir auch nicht“, sagte er ruhig. Kaya kaute auf ihrer Lippe.

 

„Ich glaube, Sie verstehen nicht, Dr. Schmidt“, versuchte sie es erneut. „Es war nicht gerade ein… glückliches Zusammentreffen“, beschrieb sie ihre gestrige Erfahrung. Und das war eine ziemliche Untertreibung.

 

„Das kann ich mir denken. Wirklich, Kaya“, beteuerte Dr. Schmidt. „Aber weißt du, ich denke, man sollte alle Gelegenheiten nutzen, die sich einem offenbaren, findest du nicht?“ Sie vermochte seine Worte nicht zu deuten, aber sie verschränkte die Arme vor der Brust.

 

„Ich hatte einen Termin um neun“, sagte sie schließlich. „Der ist vorbei“, ergänzte sie kleinlaut.

 

„Oh, ich bin mir sicher, das ist nicht schlimm.“

 

„Wie können Sie sich da sicher sein?“

 

„Mach dir einfach keine Sorgen, Kaya“, erklärte er wieder, und sie wusste nicht, woher er die Zuversicht nahm.

 

„Und ich bin nass geschwitzt. Ich habe keine Ausrüstung, kein Pferd – ich habe gar nichts“, sagte sie jetzt lauter.

 

„Ich denke, an einer Ausrüstung und einem Pferd sollte es auf einem Gestüt nicht mangeln, oder meinst du nicht?“ Seine gutmütige Art machte ihr wirklich zu schaffen. Sie legte die Stirn in Falten. Dann seufzte sie auf.

 

„Schön. Ich gehe dort hin. Aber wenn es furchtbar ist, gehe ich nach Hause, Dr. Schmidt“, sagte sie fest, und er lachte auf.

 

„Natürlich, das steht dir frei“, erwiderte er. „Zieh dich um, ich warte solange.“ Er bedeutete ihr, ihm zu folgen.


„Tja, tut mir leid, ich… muss wohl doch los“, entschuldigte sich Kaya bei Konstantin. Dieser musterte sie ausdruckslos.

 

„Komm, Heiko“, sagte er nur, ließ Kaya stehen und begann mit Heiko weiter Gras zusammenzurechen. Verdutzt sah ihm Kaya zu, folgte dann aber Dr. Schmidt zum Haus zurück.

 

„Du kommst hier viel rum, hm?“, erkundigte sich Dr. Schmidt, ohne sie anzusehen, und Balu tänzelte hechelnd neben ihr her.

 

„Ja, sieht so aus“, bemerkte sie. „Wissen jetzt alle hier, wer ich bin?“, wagte sie zu fragen, und Dr. Schmidt lachte auf.

 

„Das Dorf ist klein, Kaya. Und ja, ich denke, mittlerweile ist es den Leuten hier bekannt, aber keine Sorge. Das kann für dich nur von Vorteil sein“, sagte er, aber Kaya verstand nicht, was er damit meinte. Schweigend gingen sie zurück.

 

„Na? Spaß gehabt?“, fragte nun Herr Ohlkamp als sie das Gästehaus wieder erreicht hatten. „Den Jungen die Köpfe verdreht?“, lachte er, und Kaya wurde rot bis zum Haaransatz.

 

„Nein, hab ich nicht!“, widersprach sie kopfschüttelnd. „Und ich glaube, ich war auch keine gute Hilfe“, räumte sie ein. Aber Herr Ohlkamp paffte seelenruhig seine Pfeife weiter und richtete seinen Blick lächelnd über den See.

 

„Ich werde mir noch einen Tee genehmigen, während du dich umziehst“, sagte Dr. Schmidt und Kaya nickte. Sie verschwand ins Innere und beschloss, wenigstens zu duschen.

Wenn sie sich schon blamierte, dann wenigstens geduscht und in sauberen Klamotten.

 

~*~

 

Sie hatte sich kaum entscheiden können, dabei war es sowieso egal, was sie anzog. Sie entschied sich schließlich für die zerschlissene Jeans – und bemerkte, wie sie diese mit beinahe trotziger Überheblichkeit anzog – sowie das blaue Theater Berlin Shirt, das sie an ihre Mutter erinnerte. Und sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie zumindest versuchen musste, irgendetwas zu erreichen, wenn sie schon hier war.

 

Ihre Haare hatte sie gewaschen, und sie waren schon fast wieder getrocknet. Zumindest zur Hälfte. Aber es war so warm, sie nahm an, sie würden in zehn Minuten trocken sein, wenn der Wind nur mittelmäßig stark wehen würde. Sie fielen wie immer langweilig glatt und blond ihren Rücken hinab, aber wenn sie sie nicht föhnte konnte sie sich eine leichte Naturwelle einbilden, überlegte sie, während sie sich mit verengten Augen musterte.

 

Aber nein. Köpfe verdrehen konnte sie bei niemandem. Noch keinem Junge hatte sie jemals den Kopf verdrehte. Herr Ohlkamp war gemein. Wieder wurde sie rot bei dem Gedanken daran. Sie war lächerlich, wirklich.

 

Sie atmete ein, aber irgendwie wollte nicht wirklich viel Luft in ihre Lungen kommen, und sie war kurzatmig. Sie kämmte sich noch einmal die nassen Strähnen durch, legte die Bürste auf die Kommode vor sich unter den Spiegel und zuckte zusammen, als das Handy auf dem Nachttisch vibrierte.

 

Ob es endlich Alina war, die sie vorhin schon versuchte hatte anzurufen, die aber nicht rangegangen war?

 

Sie blickte hinab auf das gesprungene Display und ging so hastig ran, dass ihr das Handy fast aus der Hand geglitten wäre.

 

„Mama!“, sagte sie dankbar und hörte Musik und laute Stimmen im Hintergrund.


„Kaya?“, rief die Stimme ihrer Mutter. „Hörst du mich?“

 

„Ja, ich hör dich! Alles ok?“, fragte Kaya, ehe ihre Mutter fragen konnte.

 

„Ja, alles bestens hier! Wirklich stressig, aber kannst du dir ja vorstellen! Die Bühne ist dreimal so groß als beim Theater in Berlin, kannst du dir das vorstellen?“, rief ihre Mutter, und allein ihre Stimme zu hören, trieb Kaya die Tränen in die Augen. „Und bei dir?“, fragte ihre Mutter jetzt. „Alles klar bei euch? Wie sind die Wagners?“

 

Kurz runzelte Kaya die Stirn. Aber… richtig! Ihre Mutter dachte ja, sie wäre bei Alina zuhause!

 

„Oh, die Wagners sind super, Mama, wirklich“, murmelte Kaya verlegen.

 

„Gut zu hören. Endlich bekommst du mal gesundes Essen“, sagte ihre Mutter fast entschuldigend.

 

„Ich mag unser Essen, Mama“, entgegnete Kaya leise.

 

„Wie sieht es aus mit der Nachprüfung?“ Natürlich fragte ihre Mutter danach. Kayas Schuldgefühle brodelten in ihrem Bauch.

 

„Ich… also wir – Alina und ich – haben da eine Idee…“, sagte sie vage. „Mal sehen, ob das klappt. Ich… kann dir die Tage mehr berichten“, wich Kaya ihr aus.

 

„Na gut.“ Ihre Mutter wirkte nicht zufrieden. „Aber vergiss es nicht, ok?“

 

„Ok“, versprach Kaya tonlos. „Und?“, lenkte sie schließlich vom unangenehmen Thema ab. „Hast du jetzt gerade Rollschuhe an?“, fragte sie ihre Mutter und konnte nicht verhindern, zu grinsen.

 

„Kurze, ich lebe nur noch auf Rollschuhen. Und bei meiner körperlichen Selbstbeherrschung und Koordination kannst du dir ja vorstellen, wie wunderbar das funktioniert…!“, jammerte sie. Kaya musste lachen.


„Oh, ich würde es so gerne sehen!“, sagte Kaya jetzt enttäuscht.

 

„Ich werde die Kollegen mal bei Gelegenheit beauftragen ein Video von mir zu filmen, dann schicke ich dir das“, versprach ihre Mutter besorgt. „Wenn ich es denn überleben sollte…“, bemerkte sie bitter.

 

„Ach komm schon! Können denn alle anderen reiten?“, fragte sie ihre Mutter und biss sich sofort auf die Zunge nach ihren Worten. „Rollschuhfahren, meine ich!“, verbesserte sie sich hastig.

 

„Wie kommst du denn auf reiten?“, fragte ihre Mutter amüsiert. „Und nein, Gott sei Dank können es die anderen auch nicht gut“, beantwortete ihre Mutter ihre Frage und ging nicht weiter auf ihren Versprecher ein. Kaya hörte in nächster Nähe zwei Männer irgendetwas auf Englisch brüllen. „Das sind die Bühnenbildner“, erklärte ihre Mutter leiser. „Ich hab hier nicht viel Ruhe, Kurze. Kann ich dich heute Abend noch mal anrufen?“, fragte ihre Mutter und Kaya hätte das Handy am liebsten nicht mehr weggelegt.

 

„Ja, Mama“, erwiderte Kaya schließlich seufzend.

 

„Vielleicht kann ich dann auch kurz mit Frau Wagner sprechen? Um mich zu bedanken?“, ergänzte ihre Mutter, und Kaya glaubte nicht, dass das möglich sein würde. Sie wusste nur noch nicht genau, wie sie das ihrer Mutter klarmachen würde.

 

„Äh… ja, ok“, sagte sie nur. „Mama, ich hab dich lieb!“, fügte sie schnell hinzu.

 

„Ich dich auch, Kurze. Bis später, ja? Mach dir einen schönen Tag!“

 

Dann war das Gespräch auch schon vorbei. Einen schönen Tag? Kaya glaubte nicht daran, aber… sie würde das Beste draus machen.

 

Sie legte das Handy zurück auf den Nachttisch und schnürte ihre Turnschuhe. Sie hatte Angst. Und sie wusste nicht, weshalb Dr. Schmidt so viel Vertrauen hatte, dass es nicht schlimm werden würde.

 

Denn Kaya war vom Gegenteil mehr als überzeugt.

 

Dr. Schmidt wartete unten bereits auf sie, hatte aber an ihrer Garderobe scheinbar nichts auszusetzen. Ihre Mutter hätte sie diese Hose niemals anziehen lassen. Aber Kaya machte sich nichts aus Reiterklamotten, denn sie hatte ohnehin keine. Wozu dann schick aussehen?

 

„Dann wollen wir mal. Ich hoffe, du hast keine Allergien?“, erkundigte sich Dr. Schmidt, als er ihr die Tür seines dunklen Jeeps öffnete. Er trug immer noch Gummistiefel – oder schon wieder – erkannte Kaya. Ob er nie etwas anderes anzog?

 

„Nein, nicht das ist wüsste. Außer gegen Nüsse“, räumte sie ein.

 

„Na gut, Nüsse haben kein Fell und sollten sich auf den Autositzen auch nicht finden lassen“, erwiderte er zwinkernd.

 

Sie fuhren los. Kaya fiel auf, dass sie Frau Ohlkamp gar nicht auf Wiedersehen gesagt hatte, aber Frau Ohlkamp würde sie ja später wiedersehen, wenn sie in Einzelteilen zurück  zum Gasthof kommen würde. Sie hatte sich noch keine Gedanken über das Geld gemacht, fiel ihr auf. Eigentlich konnte sie sich weitere Übernachtungen nicht leisten. Zwar hatte Frau Ohlkamp ihr gesagt, sie könne auch erst mal umsonst auf dem Hof wohnen, aber das war Kaya unangenehm. Wie konnte ihr reicher Großvater ihr nicht gönnen in einem seiner Millionen Zimmer zu schlafen, und Frau Ohlkamp, die hohe Pachtsummen zu zahlen hatte, ließ sie umsonst im Gasthof schlafen?

 

Kaya begriff reiche Leute nicht – und wollte sie auch gar nicht erst!

 

„Können Sie reiten, Dr. Schmidt?“, fragte sie den Tierarzt unwillkürlich, und dieser lächelte jetzt.

 

„Nicht wirklich“, gestand er ein. „Ich mag Pferde gerne, aber auch Kühe und Schweine. Man kann das Tier an sich mögen, ohne auf ihm Kunststücke vollführen zu müssen, verstehst du, was ich meine? Ich mag auch Düsenjets, aber… Pilot möchte ich trotzdem nicht sein“, erklärte er.

 

Kaya dachte darüber nach. „Na ja, Sie können das Pferd vielleicht nicht reiten, aber… sie können es reparieren, wenn es kaputt geht, umgangssprachlich gesagt“, erwiderte sie nachdenklich. „Ich denke, das ist wichtiger als Kunststücke auf einem Pferd zu können, oder? Ich meine, wenn es kaputt geht, dann hilft es auch nichts, dass man einbeinig Saltos auf seinem Rücken schlagen kann“, murrte sie. Sie wäre lieber Tierarzt als Reiter.

 

Dr. Schmidt lachte neben ihr. „Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Wenn du auch nur im Entferntesten die Reitergene deines Vaters oder Großvaters geerbt hast, dann sehe ich keine Schwierigkeiten, Kaya.“ Und Kaya stutzte. Sie sah den graugelockten Mann neben sich an, den Mode auch nicht zu kümmern schien. Kaya mochte es an ihm.

 

„Sie kennen meinen Vater?“, fragte sie scheu. Dr. Schmidt schien kurz abzuwägen.

 

„Nein, ich… kannte ihn oberflächlich. Als er ein Junge war. Er war kaum von den Pferden runterzubekommen“, schien er sich lächelnd zu erinnern. „Immer wenn ich zum Gestüt kam saß er auf einem Pferd. Egal, zu welcher Tageszeit“, lachte er.

 

„Aha“, sagte Kaya, die es sich nicht vorstellen konnte.

 

„Er hat viele Turniere gewonnen“, bemerkte der Tierarzt nickend. „Dein Großvater hatte ein ganzes Zimmer voll nur mit Pokalen und Trophäen deines Vaters.“ Kurz sah er Kaya an, um seine Worte zu bestätigen. „Damals hat er es jedem gezeigt, der einen Schritt ins Haus gemacht hat“, erinnerte er sich kopfschüttelnd.


„Dann muss er meinen Vater ja gemocht haben“, nahm Kaya zweifelnd an. Dr. Schmidt blickte wieder nach vorne auf die Straße.

 

„Ja, das hat er“, bestätigte der Tierarzt. „Aber was weiß ich schon, nicht wahr? Bin nur ein Viehdoktor“, ergänzte er lächelnd, und Kaya musste grinsen. Aber schon fiel der letzte Rest Ruhe von ihr ab, als der Wärter an der Schranke Dr. Schmidt durchwinkte. „Keine Sorge, Kaya. Du weißt doch, Hunde, die bellen beißen nicht“, erklärte er.

 

„Ich glaube, Hunde, die bellen, beißen erst Recht, Dr. Schmidt“, murmelte sie ängstlich. Dr. Schmidt schien darüber nachzudenken.

 

„Na gut, vielleicht. Aber dann nur aus Angst“, räumte er lächelnd ein, als er den Wagen an einigen Stallungen vorbeifuhr und auf dem Parkplatz parkte. Einige andere Autos standen dort auch, alles Marken, die Kaya von den Eltern ihrer Mitschüler her kannte.

 

Nervös stieg sie aus. Ach, hätte sie doch nicht die zerrissene Hose angezogen!

 

Sie erkannte eine Koppel von weitem, auf der eine Gruppe Reiter anscheinend trainierte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Dr. Schmidt kam um den Jeep herum und stellte sich abwartend neben sie.

 

„Jetzt bin ich zum dritten Mal hier, in drei Tagen“, flüsterte sie heiser. „Ich hoffe, ich… bin heute das letzte Mal hier.“ Der Tierarzt musterte sie, und hastig schüttelte sie den Kopf, um die Angst zu verscheuchen.

 

„Na komm“, sagte er gutmütig, und gemeinsam beschritten sie den Weg aus Steinplatten. Erde, Kies und Stroh waren hier und da auf dem Weg verteilt und knirschten unter ihren Turnschuhen. Sie erreichten die Koppel. Heute stand eine junge Frau dort, mit einer langen Peitschte in der Hand. Sie hielt inne, als sie Dr. Schmidt wohl zu erkennen schien.

 

„Herr Doktor, Herr Doktor!“, rief das Mädchen lachend. „Sie haben sich nicht verändert! Reitet weiter im Kreis und versucht, einfach ein einziges Mal nicht auszubrechen“, bemerkte sie spöttisch an die Reiterinnen gewandt. Sie hatte lange schwarze Haare in einen Zopf gebunden, oder sie waren so dunkelbraun, dass sie schwarz wirkten. Sie hatte ein freundliches Gesicht, aber ihre Züge waren scharf geschnitten. In ihrem linken Nasenflügel glitzerte ein weißer Stein.

 

„Neue Schülerin? Reichlich spät. Da wird der gnädige Herr nicht erfreut sein!“, sagte sie in Richtung Kaya, und so wie sie sprach klangen die Worte eher ironisch, stellte Kaya fast erleichtert fest.

 

„Frau Werdelmeier, ich dachte schon, Sie kämen dieses Jahr nicht mehr“, begrüßte sie der Tierarzt. „Und das hier ist keine Schülerin im traditionellen Sinne“, fuhr er fast geheimnisvoll fort. „Das hier ist Kaya, und sie hat einen Termin“, erklärte er verschwörerisch. Das Mädchen hob eine akkurat gezupfte Augenbraue.

 

Ihr Oberteil war eng, aber auch sie trug das eingestickte Zeichen des Gestüts, stellte Kaya fest. Ihre Reitstiefel waren dreckverschmiert, und auch die schwarze Reiterhose schien bereits bessere Tage gesehen zu haben. Kaya erkannte auch ein Tattoo auf dem Oberarm des Mädchens, aber der Ärmel des Shirts verbarg die Hälfte davon.

 

„Aha, einen Termin? Wie edel“, bemerkte das Mädchen, und sie schien immer spöttisch zu lächeln. „Ich bin Vanessa, und vielleicht interessierst du dich ja für Rennsport?“ Und Kaya klang das Wort viel zu gefährlich in Verbindung mit einem Pferd, aber dieses Mädchen schien wenigstens nicht vollkommen furchtbar zu sein.

 

„Ich kann nicht reiten“, stellte Kaya also sofort resignierend fest, ohne dem Mädchen Hoffnungen zu machen. Diese zeigte nun lachend ihre weißen Zähne.

 

„Und was willst du dann hier, wenn ich fragen darf?“

 

„Reiten lernen“, antwortete Kaya hoffnungslos.

 

„Ja? Bist du reich?“ Das Mädchen schien sich nicht um Höflichkeiten zu kümmern.


„Kann man so sagen“, bemerkte der Tierarzt plötzlich neben ihr. „Wo ist der Herr des Hauses?“

 

„Der schreit gerade Paul den Hufschmied in den Paddocks an“, bemerkte die schwarzhaarige Reitlehrerin trocken.

 

„Das trifft sich gut. Dorthin führt mich mein Weg ebenfalls“, verabschiedete sich Dr. Schmidt lächelnd, mit angedeuteter Verbeugung. „Sie waren wie immer eine Augenweide, Frau Werdelmeier.“

 

„Sie sind ein alter Schleimer, Dr. Schmidt. Und Kaya, wenn du überlebst, besuch uns hier mal wieder!“, rief die junge Frau und wandte sich dann mit einem leisen Peitschenknall wieder ihren Schülerinnen zu. „Das soll hier kein Paarreiten werden, meine Damen. Reißt euch mal ein bisschen zusammen, wir sind nicht auf dem Scheunenball!“

 

Kaya fand sie nett. Wirklich nett. Und lustig. Und sie war gepierct und tätowiert. Gerne hätte sie das Tattoo gesehen! Sie wollte schon so lange eins haben, aber… ihre Mutter sah das leider etwas anders.

 

Sie ging neben Dr. Schmidt, bis sie zu einem weiteren Stall kamen, mit besonders hoher Decke, und er ihr bedeutete, vorzugehen. Sie sah ihn gequält an, aber er lächelte wieder.

 

„Na los.“

 

Kaya seufzte und fragte sich, mit wie viel Jahren man eigentlich keine Angst mehr haben durfte. Denn sie hatte immer noch Angst. Und jetzt gerade hatte sie Angst vor dem Mann, der im Inneren dieses Gebäudes wartete.

 

Aber sie betrat das Gebäude und fühlte sich wie in einem Horrorfilm, wo sie vorher genau wusste, dass sie gleich umgebracht werden würde.

 

„Also, alle acht?“, fragte ein rothaariger Mann etwas ratlos und eingeschüchtert. Sie nahm an, es handelte sich um Paul, den Hufschmied.

 

„Ja, alle acht Hengste. Die beiden Stuten will ich noch nicht neu beschlagen lassen, wegen des bevorstehenden Turniers. Kendra tut sich schwer mit neuen Beschlägen“, schien er dem Hufschmied ein weiteres Mal zu erklären.

 

„Aber die Lipizzaner-Stute bräuchte auch neue Beschläge, oder irre ich mich?“, mischte sich Dr. Schmidt schließlich ein, und beide Männer wandten den Blick.

Kaya war stehen geblieben. Ob aus Furcht oder aus Ratlosigkeit wusste sie nicht genau. Ihr Großvater trug heute eine hellere Reithose, dazu ein dunkles Hemd. Wieder kam er ihr überhaupt nicht wie ein Großvater vor. Eher wie ein strenger Lehrer.

 

Er betrachtete ihre Erscheinung missbilligend, wie ihr schien.

 

„Du bist zu spät“, sagte er nur. „Und das letzte, was die verdammte Stute braucht sind neue Beschläge, Dr. Schmidt. Was verschafft mir überhaupt die Ehre Ihres Besuchs? Ich dachte, sie kämen erst in einer Woche wieder?“ Immerhin hatte er Kayas Erscheinen kurz und knapp abgehandelt. Vielleicht konnte sie jetzt schon gehen?

 

„In erster Linie bin ich gekommen, um Kaya abzusetzen, Dr. Rothenberg. Und dann habe ich mir gedacht, dass ich mir die Stute heute noch einmal ansehen werde.“

 

„Sie scheinen zu viel Freizeit zu haben, Dr. Schmidt“, bemerkte ihr Großvater scharf.

 

„Nun“, begann Dr. Schmidt lächelnd, „manchmal muss man sich für die wichtigen Dinge im Leben eben die Zeit nehmen, nicht wahr?“ Dr. Schmidt lächelte wieder. Kaya konnte nicht begreifen, dass er keine Angst vor ihrem Großvater hatte.

 

Kurz kräuselte sich die Oberlippe ihres Großvaters in völliger Ablehnung.

 

„Ich habe jetzt keine Zeit mehr, mir deine nichtvorhandenen Reitkünste anzusehen, Mädchen“, erklärte er mit einem Blick auf sie.

 

„Aber ich denke, Sie haben mit Paul alles besprochen, oder nicht?“, mischte sich Dr. Schmidt wieder ein.

 

„Im Gegensatz zu Ihnen, erstreckt sich mein Zeitplan nicht nur auf die Bauernhoftiere der Umgebung, Dr. Schmidt“, erwiderte er kühl.

 

„Ich bin sicher, Sie können zehn Minuten Zeit einschieben. Ich habe noch keinen Ihrer Prachtberater an Ihrem Rockzipfel hängen sehen“, bemerkte er lächelnd. Ihr Großvater atmete langsam aus.

 

„Ihre Augen sind noch erstaunlich gut“, schloss er knapp. Kurz herrschte Stille. „Die Koppeln sind belegt“, ergänzte er schließlich. „Ich wüsste nicht, wo sie würde reiten können. Ich sehe nicht ein, für Verspätungen-“

 

„-ich denke, um einen guten Sitz zu erkennen, braucht sie keine ganze Koppel, oder irre ich mich?“ Kaya glaubte, gleich würde der Mann vor ihr explodieren.


„Was sind Sie? Der Anwalt des Mädchens?“

 

„Nein. Das dürften Sie wohl eher werden“, schloss Dr. Schmidt belustigt.

 

Ihr Großvater schien die Fäuste zu ballen.

 

„Sie sollten sich mit Frau Fiets zusammentun, Doktor“, knurrte er praktisch als er an ihnen beiden vorbeischritt. Kaya sah ihm ratlos nach. Dann schoss sein Kopf zu ihr zurück.

„Am besten bewegst du dich, Mädchen. Noch eine Extraeinladung wirst du nicht bekommen!“

 

Kayas stolperte hinter ihm her. Hunde, die bellen… - angespannt folgte sie ihrem bissigen Großvater.

 

„Am besten nehmen wir ein bereits gesatteltes Pferd“, sagte er knapp, ohne wirklich mit ihr zu reden. „Würdest du zu mir aufschließen? Es macht mich nervös, verfolgt zu werden“, bemerkte er jetzt, und widerwillig schloss sie zu ihm auf. Er ging schnell. So schnell, dass sie schon bald außer Atem war. „Wo ist deine Ausrüstung?“, fragte er anschließend, und sein Blick glitt erneut an ihr hinab. Sie sah zu ihm auf, aber er hielt ihrem Blick nicht stand und blickte wieder missbilligend nach vorne. „Du hast keine Ausrüstung. Aber um deinen Sitz zu beurteilen brauchst du das wohl auch nicht“, sagte er, wohl wieder mehr zu sich selbst.

 

Kaya sagte gar nichts. Sie erreichten die Halle, in der sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Er betrat die offenen Türen, und Kaya vernahm ein Lied, dass sie aus dem Radio her kannte. Aber sie konnte gerade nicht sagen, was es war. Es war schnell und sehr elektro-lastig.

 

„Leonard!“, rief ihr Großvater über die Musik hinweg, aber der gemeine, blonde Reitlehrer hatte ihn schon erkannt. Und wieder fiel sein Blick auf sie. Und es war kein netter Blick. Die Musik wurde angehalten. Anscheinend hatte der Reitlehrer eine Fernbedienung. „Ich brauche ein Pferd für einige Minuten“, erklärte er kurz angebunden.

 

Kurz schien der Reitlehrer nicht zu reagieren, dann wandte er sich ohne eine weitere Frage an die versammelten Mädchen auf ihren Pferden. Er schien zu überlegen und deutete auf ein Mädchen am Ende. „Nummer Zwölf, absteigen“, rief er, ohne jeden Funken Höflichkeit. Kaya hätte am liebsten die Augen verdreht. Das Mädchen stieg unsicher ab. „Bring das Pferd nach vorne.

 

Kayas Herz raste. Das war kein Pferd! Das war ein Elefant! Das war viel zu hoch! Viel zu, viel zu hoch! Sie hätte sich praktisch unter die Schnauze von diesem Tier stellen können!

 

„Aufsitzen“, sagte der Mann neben ihr jetzt. Sie hob langsam den Blick zu seinem Gesicht. Meinte er das jetzt wirklich ernst?! „Worauf wartest du?“, fragte er tatsächlich gereizt. „Hier wird gerade eine sehr teure Dressurstunde gehalten, also schlage ich dir vor, du sitzt auf!“ Er betonte jedes Wort.

 

Die Mädchen sahen sie alle an. Keine sagte etwas, keine lachte, aber Kaya sah, dass sie sie wohl allesamt nicht leiden konnten. Am wenigstens wohl Nummer Zwölf, die ihr Pferd hatte hergeben müssen.

 

Wie ging das? Linkes Bein, rechter Steigbügel? Oder so?

 

„Herr von Rothenberg?“, mischte sich der junge Mann jetzt ein und kam näher. „Warum soll das Mädchen reiten?“

 

Das war eine sehr gute Frage. Weil Herr Steiner sie dazu zwingen wollte, wäre ihre ehrliche Antwort gewesen. Weil sie eine Nachprüfung in Sport machen musste. Weil sie einfach mehr Pech als Verstand hatte.

 

„Sie soll nicht reiten. Ich will mir ihren Sitz ansehen“, erwiderte ihr Großvater streng. „Meine Güte, steig endlich auf das Pferd!“, knurrte er sie an. Sie trat hastig an das Tier heran. Es war zu groß! Viel zu groß! Der Steigbügel hing auf Brusthöhe. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie da rein kommen sollte. Sie wandte sich etwas ratlos zu den entnervten Männern um.

 

„Gibt es… einen Stuhl hier, oder so?“ Sie klang genauso unfreundlich. Ihr Großvater verdrehte zornig die Augen.

 

„Leonard?“, wandte er sich ungeduldig an den Reitlehrer, und Kayas Augen weiteten sich panisch, als der junge Mann auf sie zuschritt. Er stellte sich jetzt neben sie und Kaya blickte hoch in sein Gesicht. Sie spürte schon jetzt, wie sie rot wurde. Sein Gesicht war sehr kantig, und sie erkannte viele Bartstoppeln auf seiner unteren Gesichtspartie. Seine Nase war sehr gerade und er kämmte sich mit den Fingern die blonden Wellen zurück.

Er sah gut aus, aber freundlich war er bei weitem nicht.

 

„Ja?“, wagte sie zu fragen, als er langsam eine Augenbraue verständnislos in die Höhe zog.

 

„Ich gebe dir jetzt Hilfestellung?!“, informierte er sie ungläubig.

 

„Aha? Inwiefern?“, entfuhr es ihr tonlos und sie hätte jetzt im Boden versinken können. Sein Mund öffnete sich einen Spalt, als würde er sie nicht verstehen. Dann atmete er langsam aus.

 

„Heb dein linkes Bein an!“, befahl er jetzt. Er hatte die Handfläche ausgestreckt und neigte sich vor. Sie konnte auf seinen Kopf gucken. Seine Haare waren sehr dicht, stellte sie fest. Er machte ihr wohl einer Art Räuberleiter. Bevor er noch schreien würde, hob sie ihr Bein, er knickte es ohne weiteres an der Kniebeuge, legte die Hand unter ihr linkes Scheinbein, und hastig sprang sie mit rechts ab, um seinen gebotenen Schwung zu nutzen. Dann wurde sie in die Höhe gehoben. Panisch hielt sie sich nun am Pferderücken fest, als er mit geschicktem Griff auch ihr rechtes Bein mit Schwung auf die andere Seite beförderte.

 

Mit angehaltener Luft saß sie nun hoch oben. Der Sattel war weich unter ihren Fingern. „Die Steigbügel sind lang genug, und ich habe nicht den ganzen Tag Zeit“, sagte der Reitlehrer schließlich, als sie fahrig versuchte, ihren linken Fuß in die Steigbügel zu bekommen. Gar nicht so einfach. Hoffentlich bewegte sich das Vieh nicht auch noch.

Endlich hatte sie es geschafft. Oh, wie vermisste sie das Ballen stemmen bei den Ohlkamps! Lieber das, als zu versuchen, auf ein Elefanten-Pferd zu kommen!

 

Ihr rechter Fuß fand ebenfalls richtigen Halt. Alle Mädchen starrten sie mit riesigen Augen und spöttischen Blicken an. Sie stellte besorgt fest, dass sie hier nie wieder runter kommen würde.

 

Was für eine Scheiße! Ihr rechter Fuß suchte nun verzweifelt nach dem nächsten Steigbügel. Ihre Hände klammerten sich an den Sattelrand. Aber das Tier bewegte sich nicht. Gott sei Dank nicht!

 

„Rühr nicht die Zügel an“, sagte der Reitlehrer drohend zu ihr. Ihr Großvater kam näher. Kaya war leicht nach vorn gebeugt. Panisch bemerkte sie, wie weit der Boden entfernt war. Es war wie im Schwimmbad auf dem Dreimeterbrett zu stehen. Von unten sah es aus wie nichts, und wenn man erst mal oben war, sah die Welt ganz anders aus.

 

Sie schluckte schwer. Sie wollte einfach nur noch nach Hause. Gut, dass sie keine Kamera mitgenommen hatte, denn diesen glorreichen Moment wollte sie nicht auf Video haben!

 

„Setz dich gerade hin, meine Güte noch mal“, fuhr ihr Großvater sie an. Kaya atmete abgehackt. Und langsam, sehr langsam, richtete sie sich auf. Ihr Großvater betrachtete sie eine Sekunde lang. „Das ist deine entspannte Haltung?“, erkundigte er sich abfällig. Kaya sah ihn mittlerweile wütend an.

 

„Nein!“, zischte sie ebenfalls gereizt. „Das ist meine Panik-Haltung auf einem Elefanten!“ In luftigen Höhen wurde sie also reizbar. Gut zu wissen, nahm sie an. Ihr Großvater hob eine Augenbraue.

 

„Dann nimm einen entspannten Sitz ein. Du musst auf dem Rücken des Pferdes balancieren können. Und nimm nicht die Zügel in die Hand!“, wiederholte auch er.


„Ja, ja! Keine Zügel!“, murrte sie, während sie versuchte, irgendein Gleichgewicht zu finden. Es fühlte sich so seltsam an. Es war als würde sie breitbeinig auf einer Tonne sitzen. Nicht nach unten sehen. Du kannst das. Einfach nicht nach unten sehen! Deine Mama fährt Rollschuh auf einer Bühne vor hunderten von Leuten im Glitzerkostüm. Da wirst du wohl auf einem blöden Pferd sitzen können, ohne albern auszusehen.

 

Es ging nicht, also schloss sie die Augen. Sie stellte sich vor, sie würde wirklich auf dem Boden auf einem breiten Fass sitzen. Und sie durfte nicht runterfallen. Das war schon alles.

Es war relativ unbequem. Aber sobald sich ihre Augen geschlossen hatten, war die Höhenangst verschwunden.

 

Ihr Vater soll ein guter Reiter gewesen sein? Sie hatte ihn noch nie davon sprechen gehört. Aber am Telefon sprachen sie auch für gewöhnlich nur über das Wetter, die Gesundheit – und das war’s. Alles war still, und sie spürte, wie sie sich entspannte, wie sie einfach ausatmete. Ihre Hände lagen ruhig auf dem Leder. Sie nahm erst jetzt den Geruch der Tiere wirklich war. Sie rochen… nach Fell, nach Erde, nach Pferd. Und es roch nach Leder. Es war nicht unangenehm.

 

„Führen Sie sie ein Stück“, hörte sie die Stimme ihres Großvaters. Sie öffnete blinzelnd die Augen. Schon sah sie, wie der Reitlehrer das Pferd an den Zügeln gegriffen hatte und sich das riesige Tier bewegte! Panisch klammerte sie sich an den Sattel. „Locker sitzen bleiben und tief einsitzen, Mädchen!“, dröhnte die Stimme ihres Großvaters durch die Halle. Sie sah den blonden Mann vor sich den Kopf schütteln. Zum Trotz setzte sie sich wieder aufrechter hin, versuchte sich wieder vorzustellen, sie säße auf ihrem Fass und spürte plötzlich, wie sie wieder ruhiger wurde. Sie ließ die Augen diesmal geöffnet und sah sich in der Halle um.

 

Die Welt wirkte anders von hier oben. Sie wurde von dem Reitlehrer fast eine ganze Runde geführt. Der Pferdekörper schwang von rechts nach links, wann immer die Hinterbeine nach vorne kamen. Wenn sie locker blieb, wiegte sich auch ihr Körper und passte sich den Bewegungen an. Der Reitlehrer kürzte die Runde etwas ab, und ihr Großvater kam wieder in ihr Sichtfeld. Sie konnte seinen Ausdruck nicht völlig deuten.

 

„Nimm die Zügel“, begann ihr Großvater langsam, als denke er noch darüber nach. „Aber nicht daran ziehen. Das Pferd trägt eine Kandare im Mund. Nimm die Zügel in die Hand, nicht zu locker“, fuhr er tatsächlich ruhiger fort.

 

Kaya ergriff die vielen Zügel. Sofort kam der Reitlehrer zu ihr und ergriff ihre Hand. Sie zuckte vor Schreck zusammen, aber er stellte lediglich mit geschickten Griffen ihre Hände auf, führte die Zügel an ihren kleinen Fingern vorbei. Das eine Paar Zügel legte er vor ihr ab. Seine Finger waren warm, stellte sie unpassenderweise fest, während ihre kalt und starr vor Angst waren. Er sah sie nicht an. Sie roch sein Parfüm oder eben seinen Duft, oder was es war. Anscheinend trug nicht nur Bastian irgendeinen Duft, dachte sie unwillkürlich.

 

„Gut, führen Sie sie noch mal“, vernahm sie die gespannte Stimme ihres Großvaters. Sie wurde wieder geführt. „Nicht am Zügel festhalten, hörst du?“, ermahnte er sie erneut, dabei hatte sie ihre Hände nicht bewegt. „Hm“, machte er abschließend tatsächlich eine Spur verblüfft. Sie verblieb weiterhin in der Bewegung des Pferdes, während sich ihre Daumen auf die Zügel legten, damit sie nicht rutschen würden. Sie gab automatisch nach, wenn das Tier den Kopf in nickender Bewegung neigte und ruhig folgten ihre Schenkel den Vorwärtsbewegungen des Tieres. „Seltsam. Der Sitz ist gut“, räumte er schließlich ein, und sie wandte den Kopf in seine Richtung. „Machst du Sport? Gymnastik? Irgendwas?“, wollte er jetzt von ihr wissen, während der Reitlehrer das Pferd zum Stehen brachte, und sie die Zügel wieder losließ, um bloß nichts falsch zu machen. Sie wusste auch nicht, was eine Kandare war, aber es klang kompliziert und nicht sehr nett.

 

Ja, würde sie sportlich irgendwie begabt sein, müsste sie keine Nachprüfung machen, also schüttelte sie wahrheitsgemäß den Kopf.

 

„Nein, ich…- nein“, fasste sie ihre Sportlichkeit in drei Worten zusammen und schüttelte den Kopf. Fast gereizt atmete ihr Großvater aus.

 

„Du kannst absitzen“, sagte er nur.

 

Resignierend atmete sie aus. Könnte das Tier sich nicht hinsetzen dafür? Elefanten setzten sich hin, dachte sie verzweifelt. Sie strampelte ihren Fuß aus dem Steigbügel. Schon war der Reitlehrer zur Stelle.

 

„Ich halte dich“, sagte er nur, als sie das Bein wieder über den Pferderücken schwang. Er hielt sie? Wie das?! Ihr Herz klopfte wieder laut, und schon spürte sie seine Hände um ihrer Hüfte, spürte, wie er ihr Gewicht trug. Schon glitt ihr zweiter Fuß aus dem Steigbügel und sanft setzte er sie auf dem Hallenboden ab. Kurz lagen seine Hände noch auf ihrer Hüfte, dann war der Druck verschwunden.

 

Hochrot wandte sie sich um und mied jeden Blick in sein Gesicht. Sie konzentrierte sich auf ihren Großvater, der zu überlegen schien.

 

„Ich halte mich an mein Wort“, erklärte er schließlich, mehr als unschlüssig. „Welche Helmgröße hast du?“, fuhr er fort, als er sich bereits abwandte. Kaya stand auf wackligen Beinen in der Halle, wurde von den übrigen Mädchen angestarrte und hatte keine Ahnung, was er meinte. „Mädchen?“ Er hatte inne gehalten und sich ungeduldig umgewandt. „Ich habe dich vorhin schon gebeten, nicht hinter mir herzulaufen!“

 

Ihre Füße setzten sich in Bewegung, um aufzuholen. Hastig wandte sie sich um zu Nummer Zwölf, die ihr Pferd wieder abholte.

 

„Danke“, murmelte sie dem Mädchen zu, welches sie entgeistert anstarrte. Dann beeilte sie sich, ihrem Großvater zu folgen.

 

 

Neuntes Kapitel

– Das weiße Pferd –

 

„Fertig für heute?“, hörte Leonard die Stimme des anderen Reitlehrers hinter sich. Er vergewisserte sich, dass auch die letzte Box fest verschlossen war, ehe er sich umwandte.

 

„Ja“, erwiderte er kurz angebunden. Er hatte genug von Smalltalk, von Unterhaltungen, die man nur führte, um zu reden. Er konnte nicht sagen, dass er mit Tom befreundet war. Er wollte es auch gar nicht. Er kannte ihn. Sie waren zusammen Turniere geritten, und der Mann konnte gut springen, aber von Dressur hatte er keine Ahnung.

 

Vorgestern war er mit ihm im Dorf gewesen, hatte den ersten Feierabend mit Bier besiegelt, und damit war die Tradition, die sie vielleicht hatten, auch schon vorüber gewesen. Leonard wischte sich die Hände an der dunkelbraunen Reithose ab. Der Gürtel saß immer noch fest, und das olivgrüne Poloshirt steckte fest im Bund. Es war heute wieder unglaublich heiß gewesen, und es hatte ihn alles an Kraft gekostet, die Pferde davon abzuhalten, sich im Sand der Halle zu wälzen.

 

Zwar war es nicht seine Aufgabe, die Tiere sauber zu bekommen, dafür war das Stallpersonal schließlich da, aber es war schon ein Akt, die Pferde wieder zum Aufstehen zu bewegen, nachdem sie sich erst mal in den Sand fallen gelassen hatten.

 

„Anstrengender Tag“, fuhr Tom nickend fort und hing anscheinend ein letztes Zaumzeug neben eine Paddock-Box.

 

„Hm“, erwiderte Leonard unkommunikativ. Er wusste nicht, ob Tom noch auf irgendeine Antwort seinerseits wartete.

 

„Das neue Mädchen“, begann Tom schließlich, als Leonard bereits auf dem Weg nach draußen war, und er hielt widerwillig inne. „Ist sie die Enkeltochter?“, fragte er, und Leonard hob den Blick.

 

„Wessen?“, fragte er doch, denn er konnte sich kaum vorstellen, dass Herr von Rothenberg eine Enkeltochter hatte. Er selber ritt seit zehn Jahren hier auf dem Gestüt und wusste nichts von der Existenz einer Enkeltochter.

 

„Von Herrn von Rothenberg“, bestätigte Tom seine Vermutung. Aber Leonard kürzte das Raten ab.

 

„Wohnt sie auf dem Gestüt?“

 

„Nein, sie ist wieder ins Dorf zurück“, erwiderte Tom und kratzte sich am Kopf.

 

„Dann nehme ich an, sie ist die Tochter von irgendwem“, schloss Leonard gereizt. Er wandte sich wieder ab. Er hatte die Stallungen verlassen, ehe Tom noch irgendetwas sagen konnte. Er war froh, auf dem Gestüt schlafen zu können. Zumindest zum Teil, denn er wusste, Tom wohnte in der Stadt mit seiner Mutter. War es nicht demütigend bei seinen Eltern zu wohnen, überlegte er bitter und schritt mit langen Schritten über den Kiesweg hoch zum Anwesen, das hell erleuchtet war.

 

Er kam zu spät zum Essen, aber dann war vielleicht ein Großteil der Mädchen schon auf ihren Zimmern, hoffte er. Er kam sich vor wie ein Hahn inmitten eines Stalls voller unbegabter Hühner. Wäre die Bezahlung nicht so lukrativ würde er von diesem Job Abstand nehmen. Er hatte während der Semesterferien genug zu tun.

 

„Hey“, begrüßte ihn Jessica Weber. Sie stand vor dem Anwesen an der Wand gelehnt. Ihr Handy leuchtete noch in ihrer Hand. Glühwürmchen schwirrten ziellos durch die Rosenbeete, und Jessica lächelte zu ihm auf, als er auf ihrer Höhe war. „Hast du noch Hunger?“, fragte sie rau, und er ruckte mit dem Kopf.

 

„Werde schon noch was bekommen“, sagte er nur. Sie folgte ihm nach drinnen, als sie bemerkte, dass er nicht stehen blieb, um sich mit ihr zu unterhalten.

 

„Das war vielleicht peinlich heute mit dem Mädchen, oder?“, bemerkte sie abfällig und strich sich den langen blonden Zopf über die Schulter. „Also ich fand es einfach nur schlimm von dem Mädchen, sich hier reinzumogeln.“ Leonard ließ zu, dass Jessica zu ihm aufschloss.

 

„Mir ist es egal. In meinem Kurs ist sie nicht“, entgegnete er, genauso desinteressiert, wie er es schon bei Tom gewesen war.


„Ja, klar. Ich meine, ich bin auch froh, dass Herr von Rothenberg sie nicht zu uns steckt. Was soll sie da auch? Kann nicht mal ein Pferd besteigen“, beschwerte sich Jessica lachend. „Hey, lauf nicht so schnell“, ergänzte sie, holte weiter aus und kam vor ihm zum Stehen. Leonard hob sofort den Blick, und spähte in die Flure. „Wir sind allein“, deutete Jessica sein Verhalten richtig.

 

„Ich habe dir schon gesagt, ich kann nicht-“

 

„-ja, ich weiß“, unterbrach sie ihn stiller. „Aber niemand ist hier. Keiner sieht uns…“, flüsterte sie verschwörerisch, als sie näher zu ihm kam und den Kopf in den Nacken legte.

 

„Wir sind mitten auf dem Flur!“, knurrte er und schob sie ein Stück von sich. Ja, er hatte sie geküsst. Letztes Jahr. Und vielleicht hatte er ihre Nummer eingespeichert und reagierte ab und zu auf ihre Nachrichten, aber…-

 

„Ich glaube nicht, dass es irgendwen interessiert“, schnurrte sie leise, griff in sein Shirt und zog in zu sich hinab.


„Chrm chrm…“, vernahm er eine Frauenstimme, und sofort richtete er sich auf. Vanessa lächelte ihnen zu. Aber es war kein freundliches Lächeln. Das war es nie. „Vielleicht solltest du in dein Zimmer verschwinden. Kleine Schülerinnen haben im Bett zu sein, oder nicht?“, schlug sie Jessica mit zuckersüßer Stimme vor. Jessica warf ihr noch einen giftigen Blick zu, ehe sie davon stolzierte. Ja, sie sah gut aus von hinten. Und sie warf sich ihm praktisch an den Hals. Und er war schwach geworden.

 

„Du wirst so dermaßen hier rausfliegen. Ich hoffe wirklich, das passiert früher als später.“

 

Sie biss in einen grünen Apfel, den sie wohl vom Abendessen mitgenommen hatte. „Und glaub mir, ich werde den Tag so abfeiern, wenn er endlich kommt!“, versprach sie ihm mit einem kalten Lächeln.

 

„Keine Ahnung, wovon du redest, Vanessa, aber das weiß ja niemand so wirklich, oder?“, gab er trocken zurück.

 

„Pass lieber auf, wo du deine Finger hast, Leo. Magst du auch noch der schicke Vorzeigejunge vom alten Rothenberg sein – ich versichere dir, damit ist Schluss, wenn er mitbekommt, dass du seinen Schülerinnen Privatunterricht gibst…“

 

„Halt deinen Mund und verschon mich mit deiner Scheiße, ok?“, knurrte er und ließ sie stehen. Er hasste Vanessa. Sie war eine verdammte Schlange! Und sie würde schon beim leisesten Verdacht zum Boss gehen. Ohne zu zögern. Und er war sich sicher, Herr von Rothenberg würde kein Auge zudrücken.

 

Würde sich Vanessa doch einfach in Luft auflösen!

 

~*~

 

Müde sank sie bereits im Schlafshirt auf ihr Bett. Es war nach neun. Letztlich war sie nicht mehr dazu gekommen, mit ihrem Großvater ihre Helmgröße herauszufinden, denn er war von seinen Beratern abgefangen worden. Aber es war nicht weiter schlimm. Sie hatte in den Tagesablauf nicht hinein gepasst, aber das hatte ihr die Möglichkeit gegeben, Frau Ohlkamp zur Hand zu gehen. Sie hatte bereits das Geschirr im Essenssaal abgeräumt und machte jetzt eine Art Ferienjob. Morgen früh würde sie die Betten beziehen, die Tische decken und gerne weitere Arbeiten machen, die Frau Ohlkamp für sie fand. Ihre Mutter sagte stets, man solle nichts umsonst annehmen.

 

Und Kaya war ziemlich aufgeregt. Es war ein aufregender Tag gewesen. Sie würde den Reitunterricht bekommen, weswegen sie hier war. Sie arbeitete sogar für ihren Aufenthalt.

Und eigentlich wollte sie nichts lieber, als Alina davon erzählen.

 

Und sie beäugte ihr Handy misstrauisch, denn würde ihre Mutter anrufen, wusste sie noch nicht, wie sie Frau Wagner wieder einmal verleugnen sollte. Aber das musste sie. Genauso, wie sie sich mit Alina vertragen musste.

 

Sie atmete aus, und scheinbar hatte sie das Handy zu lange angesehen, denn es vibrierte auf dem Nachttisch. Sie lehnte sich über die Matratze und angelte es vom Nachttisch. Ruhig lag es in ihrer Hand und summte leise.

 

Bastian.

 

Einen Moment lang schlug ihr Herz schnell. Sie starrte auf seine Nummer hinab, biss sich auf die Lippe und in Windeseile bewertete ihr Gewissen die Situation. Sie könnte klingeln lassen, bis die Mailbox dranging. Aber zurzeit stritt sie sich ja sowieso mit Alina. Schlimmer konnte es also nicht werden. Außerdem schlug ihr Herz viel zu schnell, und sie musste mit irgendwem über die neue Situation reden. Vielleicht nicht gerade mit ihm, aber… er war gerade der einzige, der sie anrief!

 

Hastig nahm sie das Gespräch entgegen, bevor es doch noch auf die Mailbox ging.

 

„Hey“, sagte sie ein wenig atemlos.

 

„Hey, lange nichts gehört“, vernahm sie seine Stimme, die sie mittlerweile schon blind erkannte. Sie wusste nicht, wie sie die Worte deuten sollte. Gestern war sie nicht ans Handy gegangen, als er angerufen hatte. „Bist du noch dort?“, fragte er. Und sie wusste nicht, ob er einfach so fragte, oder im Auftrag von Alina. Sie hoffte, letzteres.

 

„Ja, bin ich“, antwortete sie also.

 

„Und?“

 

„Ich werde Reitunterricht bekommen“, räumte sie schließlich ein. Sie hörte ihn überrascht einatmen.

 

„Wirklich? Das ist gut! Ich dachte schon, es hätte alles nicht geklappt. Dann hast du meine Cam ja nicht umsonst mitgenommen!“ Er wirkte ehrlich erfreut.

 

„Jaah“, sagte sie gedehnt.

 

„Und? Wie ist dein Großvater?“, fragte er schließlich gespannt. Und sie überlegte, was sie sagen sollte. Er hatte sie als Erbschleicherin bezeichnet, wollte ihr keine Almosen schenken, und eigentlich wollte er sie überhaupt nicht dort haben.

 

„Ok“, sagte sie also, denn wenn man nichts Nettes über jemanden sagen konnte, sollte man besser nichts sagen, sagte ihre Mutter. „Hast du mit Alina gesprochen?“, wechselte sie sofort das Thema, und kurz zögerte er.

 

„Heute noch nicht“, sagte er tatsächlich. Sie schwieg verblüfft. „Warum?“, ergänzte er. Und sie sprach, ohne nachzudenken.

 

„Also hast du eher mich angerufen als sie?“, entfuhr es ihr verwundert. Sie schloss die Augen, als er daraufhin schwieg.

 

„Ich dachte mir, deine Situation ist ungewisser als ihre auf einem Kreuzfahrtschiff. Außerdem kann ich nur auf das Handy ihres Vaters anrufen, und das ist etwas peinlich. Und ich war bis vorhin arbeiten“, schloss er seine Rechtfertigung hastig. Richtig, heute war sein erster Praktikumstag gewesen, fiel Kaya wieder ein.

 

„Und? Wie war die Sklavenarbeit?“, fragte sie, ein wenig neugierig.

 

„Papierkram und Kaffee kochen“, schloss er resignierend. „Morgen gibt’s ´ne Knie-OP“, ergänzte er trocken. Ihre Mundwinkel hoben sich bei seinem Sarkasmus.

 

„Du darfst zusehen?“, flüsterte sie ehrfürchtig und hörte ihn ein unverbindliches Geräusch machen.

 

„Klar, mein Vater operiert“, erwiderte er nur. Und Kaya begriff, Bastian würde wahrscheinlich Arzt werden, oder? Sein Vater schien es darauf anzulegen. Ob er es dann auch einfach tat? War es manchmal so, dass aus den Kindern genau das wurde, was die Eltern wollten? Wie häufig kam das wohl vor?

 

Und dann sprach er weiter. „Alina hat gestern Abend noch angerufen“, sagte er leichthin. „Alles ok bei euch?“, fragte er dann. Sie zögerte kurz.

 

„Was hat sie denn gesagt?“, wollte Kaya verschlossen wissen, und Bastian räusperte sich.

 

„Nicht viel“, erwiderte er. „Aber… es klang irgendwie… durch, dass ihr streitet?“, schien er nach den richtigen Worten zu suchen. Und sie seufzte auf und steckte sich eine glatte, blonde Strähne hinter ihr Ohr, nur um sie dann um ihren Finger zu wickeln.

 

„Ja, ich glaube, wir haben uns gestritten. Und ich glaube, ich müsste mich entschuldigen“, räumte Kaya zerknirscht ein.

 

„Echt? Worüber?“ Er fragte, als könne er es sich gar nicht vorstellen. Sie verdrehte die Augen, denn schließlich ging es um ihn. Und dann beschloss sie, das einzig richtige zu machen, wenn sie es sich mit ihrer besten Freundin nicht versauen wollte. Und sie hasste es, das richtige zu tun. Jetzt gerade hasste sie das.

 

„Weißt du, vielleicht… sollten wir nicht mehr telefonieren“, sagte sie behutsam. Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.

 

„Was?“, fragte er, ehrlich verwundert, und sie presste kurz die Lippen aufeinander, und bereute die Worte, die sie sagte. Aber anders ging es doch nicht, oder?

 

„Ruf mich… einfach nicht mehr an, ok?“

 

Und es dauerte noch einen kleinen Moment länger, ehe er wohl begriffen hatte und seine Stimme verschlossen klang.

 

„Oh“, entfuhr es ihm knapp. „Hast du ihr gesagt, dass wir telefonieren?“, wollte er plötzlich wissen, und sie öffnete entrüstet den Mund. Als ob!

 

„Nein“, erwiderte sie ein wenig angriffslustiger, „sie hat mir gesagt, dass du es ihr erzählt hast!“ Kurz schwieg er, dann sprach er in ätzendem Tonfall weiter.

 

„Keine Ahnung, was sie denkt, aber ich rede mit dir bestimmt nicht, wie ich mit ihr rede! Was denkt sie denn bitteschön?“ Und Kaya wusste nicht, warum, aber etwas in seinen Worten versetzte ihr einen Stich.

 

„Na ja“, sagte sie kühl, „vielleicht wäre es besser, wenn wir nicht mehr… reden. Ich will Alina nicht deshalb verlieren, weil du ständig anrufst.“ Und sie begriff, sie stritt sich schon nach zwei Tagen mit Bastian.

 

„Sorry, wenn du ihr irgendetwas erzählst, was absolut nicht stimmt, dann ist das echt nicht mein Problem.“

 

„Schön“, sagte sie wütend.

 

„Schön“, erwiderte er ebenfalls eine Spur zorniger.

 

Sie legte nicht auf. Er legte auch nicht auf, denn sie hörte seinen Atem am anderen Ende der Leitung. Sie sollte jetzt wirklich auflegen. Was hatte sie dem Freund ihrer besten Freundin schon zu sagen? Sie sollte gar nicht privat mit ihm reden. Alina hatte Recht. Es war schon schlimm genug, dass sie Herzklopfen bekam, wenn er anrief.

Und sie wollte nicht mit ihm streiten. Vor zwei Tagen hatte sie noch gehofft, er wäre zu ihrer Wohnung gekommen, weil er sie insgeheim mögen würde. Sie schloss die Augen, als sie sprach.

 

„Hör zu, ich – danke, dass du dein Wort gehalten hast und bei mir vorbeigekommen bist, und… danke für die Cam, ich bringe sie dir heile zurück, und… ich will nicht auch noch mit dir streiten über irgendetwas, was überhaupt nicht stimmt, und… ich mag dich, Bastian, und deshalb kann ich nicht mehr mit dir telefonieren!“, schloss sie beschämt, mit hochrotem Kopf und legte auf, bevor sie hören konnte, dass er etwas erwiderte.

 

Ihr Herz schlug schnell, und hoffentlich verstand er das nicht alles vollkommen falsch.

Sie mochte ihn?! War sie verrückt geworden, ihm das zu sagen?

 

Eilig ergriff sie ihr Handy und rief Alinas Vater an. Sie ließ es klingeln und wartete. Und sie wusste, es würde sie all ihr Guthaben kosten.

 

„Wagner?“, meldete sich Alinas Vater mit Baritonstimme, und Kaya räusperte sich.

 

„Hallo, Herr Wagner, entschuldigen Sie die Störung. Hier ist Kaya Rothenberg, ist Alina da?“, fragte sie hoffnungsvoll.

 

„Kaya?“, wiederholte Alinas Vater verwundert, aber sie hörte Alinas Stimme, und schon schien sich Alina das Handy gegriffen zu haben.

 

„Kaya?“, wiederholte sie ungläubig, und Kaya nickte.

 

„Ja, hey, ich wollte mich melden, weil-“

 

„-das ist viel zu teuer, wenn du anrufst!“, maßregelte Alina sie sofort.

 

„Alina, ich wollte mich entschuldigen!“, wandte Kaya ein. Kurz schwieg Alina. Dann hörte sie, wie Alina nachgab. Ihre Stimme klang gepresst.

 

„Hör zu, wie sind auf so einem dämlichen Schiffsball. Ich rufe dich morgen an, versprochen!“, flüsterte sie, und Kaya hörte, Alina war nicht mehr halb so böse mit ihr.

 

„Ich kriege den Reitunterricht“, sagte Kaya schnell. „Ich bleibe in Hamburg.“

 

„Was?“, flüsterte Alina. „Super!“ Sie hörte die Stimme von Alinas Vater im Hintergrund.

„Morgen früh! Ich rufe dich morgen früh an!“, versprach ihre beste Freundin zuversichtlich. Dann war das Gespräch vorbei.

 

Sie legte auf und bekam direkt eine SMS. Ein Anruf in Abwesenheit von Bastian K. teilte ihr Handy ihr mit. Und noch eine SMS. Mit zittrigen Fingern öffnete sie die Nachricht von Bastian.

 

Wir können telefonieren, ohne dass was zwischen uns läuft, Kaya.

Ich mag dich auch. Rufe dich morgen wieder an.

Bastian :>

 

Sie schloss resignierend die Augen. Er hatte es also nicht verstanden. Sie mochte-mochte ihn. So richtig. Sie würde einfach nicht abnehmen, wenn er anrief, versprach sie sich. Alina war wichtiger! Kurz verfing sich ihr Blick fast ein bisschen sehnsüchtig an den Worten ‚Ich mag dich auch‘, und dann löschte sie die SMS. 

Trotzdem schlug ihr Herz noch immer schnell.

 

Sie würde schlafen, denn morgen früh musste sie noch viel tun, ehe sie aufs Gestüt konnte, um Reiten zu lernen. Sie bezweifelte, dass sie es lernen würde, wenn sie ehrlich war. Aber vielleicht reichte es ja, sich auf einem Pferd zu filmen, überlegte sie dumpf, als sie sich auf dem Bett ausstreckte.

 

Sie hatte keine Zeit, sich irgendwelche Hoffnungen in Bezug auf Bastian zu machen. Es war dumm von ihr, überhaupt über ihn nachzudenken und Herzklopfen zu bekommen. Sie wollte nicht so ein Mädchen sein, was hinter dem Rücken ihrer besten Freundin heimlich deren Freund anschmachtete. Und deshalb würde sie nicht mehr mit ihm sprechen. Nicht allein zumindest. Er würde in einem Jahr Medizin studieren. Er passte ohnehin nicht zu ihr.

 

Er passte zu Alina. Und Alina war das Mädchen, was er mochte. Es half also nichts. Sie vermisste ihre Mutter. Mit ihr hätte sie vielleicht sogar darüber gesprochen. Ihre Mutter wusste bestimmt, was zu tun war!

 

Und mit diesem Gedanken schloss sie die Augen. Sie träumte von ihrer Mutter und einem riesigen Rollschuh.

 

~*~

 

Sie war zu spät. Und sie war gähnend von dem klapprigen Fahrrad gesprungen, was Herr Ohlkamp ihr aus dem Schuppen geholt hatte. Sie lehnte es an den niedrigen Zaun, der den Parkplatz umgab und eilte den Weg empor zu der Koppel. Ihre Umhängetasche schlug gegen ihre Beine. Sie war alt und aus buntem Leinen. Ein Einzelstück, was sie und ihre Mutter im Humana Second-Hand-Laden gefunden hatten. Nicht zu groß, aber mit einem Riemen, der lang genug war, um praktisch zu sein.

 

Sie wusste nur nicht genau, wo Tom und die anderen waren. Hastig suchte ihr Blick das Gelände ab. Aber niemand führte das Pferd, niemand war mehr außerhalb der Koppel.

 

Als sie ankam, schwitzte sie bereits. Sie pustete sich die Strähnen aus der Stirn.

 

„Du bist zu spät“, klärte Tom sie auf. Sie nickte nur und kletterte über das Gatter. „Und du hast keine Ausrüstung und kein Pferd“, stellte er mit einem knappen Blick das Offensichtliche fest.

 

„Wo… wo sind die Pferde?“, fragte sie außer Atem.

 

„Die Pferde sind da, wo sie immer sind. Und das wüsstest du, wärst du zeitig hier gewesen, damit ich es dir hätte zeigen können, damit du das Pferd hättest satteln können. Aber jetzt… bist du zu spät“, wiederholte er knapp und deutete um sich. „Alle anderen sind fertig“, schloss er.

 

„Ich habe nur ein Fahrrad, Tom. Und ich brauche zwanzig Minuten hierhin.“

 

„Dann wirst du morgens eher aufstehen müssen, oder nicht?“ Alle Freundlichkeit schien von ihm abgefallen zu sein. Kaya verdrehte die Augen. Sie hatte heute duschen müssen und endlich etwas Richtiges gegessen. Außerdem hatte sie noch die Betten machen müssen. Sie fühlte sich in ihrem Gewissen beruhigter, wenn sie für das, was sie bekam auch eine Arbeit leisten konnte. Deshalb hatte sie heute Morgen noch die Tische gedeckt, weil sie sich so immerhin nicht wie ein ungebetener Gast fühlte und war eben zu spät gekommen.

 

Und sie könnte Alina schon etwas Geld zurückzahlen. Aber Alina hatte sie nicht wie versprochen angerufen. Vielleicht war es eine andere Uhrzeit, wo sie war. Oder Alina war doch noch sauer. Und sie wusste auch nicht, was sie aus der Bastian-Situation machen sollte. Denn mit ihm wollte sie auch nicht mehr reden. Aber dann sprach keiner mehr mit ihr.

 

Und bei diesen tristen Gedanken hatte sie wirklich keine Lust, sich vor Tom zu rechtfertigen.

 

„Und jetzt?“, fragte sie trotzig, und er atmete aus.


„Tja, jetzt wirst du eine Stunde gar nichts machen, während ich die anderen unterrichte, bis zur Pause.“ Er wirkte viel zu streng. Zornig kletterte sie wieder über das Gatter zurück. Dann hätte sie auch noch weiter bei Frau Ohlkamp arbeiten können, um sich ihr Zimmer zu verdienen, dachte sie trotzig.

 

Schon flog die Tür zu den Paddocks auf. Sie hörte ein schrilles Wiehern.

 

„Halt sie doch fest, Mensch!“, rief ein Mann laut. Kaya betrachtete das weiße Pferd. Es bockte, dann stieg es mit den Vorderbeinen in die Höhe. Das geflochtetene Band, was es um das Maul trug, flog lose durch die Luft. Langsam kam sie auf das Pferd zu.

 

„Mädchen, bleib weg da! Das Biest ist gemeingefährlich!“, rief der andere Mann laut, aber Kaya runzelte die Stirn. Das Pferd schnaubte auf, tänzelte nervös auf der Stelle, und Kaya streckte die Hand aus, als sie wenige Meter vom Tier entfernt war. Das Tier war nicht gefährlich, es hatte einfach Angst. Und Kaya konnte das sehr gut verstehen. Sie hatte hier nichts anderes auf dem Hof als Angst!

 

„Hey! Die wird auf dich losgehen!“, wiederholte der erste Mann wütend und kam näher gelaufen. Das Pferd fuhr herum und stieg erneut in die Höhe.

 

„Bleiben Sie einfach ruhig!“, befahl Kaya verzweifelt. „Das Pferd hat Angst!“ Die Männer hielten verblüfft inne. Sie schienen nicht genau zu wissen, was sie tun sollten. Wieder hob Kaya die Hand. Das Tier war schön. Das Fell war teilweise schmutzig, aber Kaya sah, dass es kein Apfelschimmel oder so etwas war. Nein, das Tier war einfach wunderschön weiß.

 

Und langsam hörte die Stute auf zu tänzeln. Ihre Nasenflügel blähten sich nervös, als sie den Kopf wieder und wieder in die Höhe reckte.

 

„Schon gut“, murmelte Kaya nur. „Ich tu dir nichts“, versprach sie, obwohl sie wusste, dass das Tier sie nicht verstand. Tom stand plötzlich neben ihr.

 

„Am besten gehst du hier weg, Kaya. Das Tier ist krank. Es ist unberechenbar“, erklärte er still, während er das Pferd misstrauisch beäugte. Kaya schüttelte ungläubig den Kopf.

 

„Mein Gott, sind alle krank, die Angst haben?“, wollte sie zornig wissen, und machte einen Schritt vor. Ohne Zögern griff sie nach dem geflochtenen Band.

 

„Nein!“, entfuhr es den Männern vor ihr, und beide wichen zurück. Aber das Tier tat gar nichts. Es stieß noch ein paar Mal die Luft aus, aber es ließ sich von Kaya halten.

 

„Tom!“ Ihr Großvater kam vom Parkplatz mit einigen Männern in schwarzen Anzügen. „Was geht hier vor?“ Er erfasste die Situation sehr schnell und seine Augen weiteten sich. „Was tust du?“, fuhr er sie an und entriss ihr nahezu augenblicklich den Strick. Kaya sah, wie einige Muskeln nervös unter dem Fell des Tieres zuckten.

 

„Sie hat Angst!“, sagte sie wieder. „Wieso könnt ihr nicht-?“

 

„-das Tier ist verdammt noch mal gefährlich!“, unterbrach ihr Großvater sie zornig.  Die Stute bockte wieder, aber er zog hart am Strick. „Pferde sind keine Kuscheltiere, verstehst du das? Du hast nicht die geringste Ahnung von Pferden, also halte dich gefälligst von ihnen fern, hast du das verstanden?“

 

Kaya verstummte und ihr Herz schlug laut. Ihr Großvater reichte den Männern barsch den Strick. „Hier! Und passt besser auf!“, setzte er wütend hinzu, und die Männer nickten hastig mit den Köpfen und zerrten das wehrige Pferd mit sich.

 

„Was ist mit ihm?“, wollte Kaya kleinlaut wissen.

 

„Es ist eine Stute. Und sie ist krank. Und mehr musst du nicht wissen!“, schnauzte er. „Und jetzt komm mit. Meine Berater möchten mit dir sprechen“, ergänzte er schlecht gelaunt. Sie sah auf die ängstlichen Männer in den unbequemen Anzügen. Heute trug ihr Großvater selber einen Anzug, stellte sie nebenbei fest. „Tom, Sie können sie entbehren, nehme ich an?“, fragte er, also wäre Kaya ohnehin nur eine Last.

 

„Sicher, sie kam ohnehin zu spät und hat kein Pferd“, erwiderte er, und Kaya verzog den Mund. Haute Tom sie auch noch in die Pfanne! Sie schoss ihm einen bösen Blick zu. Aber Tom reagierte darauf gar nicht erst.

 

„Ist das so?“, wollte ihr Großvater abschätzend wissen.

 

„Ich musste erst aus dem Dorf kommen!“, beschwerte sie sich wieder. „Ich war so früh hier, wie ich konnte!“ Ihr Großvater verzog den Mund.

 

„Gut, wir kümmern uns darum später“, knurrte er. „Jetzt komm mit“, sagte er nur, und die Berater setzte sich gleichzeitig mit ihm in Bewegung. Kaya hatte Mühe, mitzuhalten. Sie traute sich nicht, zu fragen, was passierte. Sie folgte einfach und schloss dieses Mal rechtzeitig zu ihrem Großvater auf, ehe er sie wieder maßregeln konnte.

 

Aus der Ferne hörte sie die Stute wieder wiehern und es klang wie ein lautes Wehklagen.

Und sie verstand das Tier. Sie verstand es sehr gut….

 

 

Zehntes Kapitel

– Olivers Hengst –

 

Sie betraten schließlich das Anwesen, gingen durch neue, fremde Flure und dann zwei Treppen hoch, in den zweiten Stock. Die Wände waren holzgetäfelt, überall hingen riesige Bilder in goldenen Rahmen oder es standen riesige grüne Pflanzen in schweren Töpfen an der Wand. Vor einer hübschen Holztür blieben sie stehen. Es waren wieder Flügeltüren, wie sie sie nur aus dem Fernsehen her kannte. Ihr Großvater öffnete die Türen.

 

Sie bemerkte erst jetzt, dass die Männer sie musterten. Den einen kannte sie vom Sehen, fiel ihr auf.

 

Das Zimmer war groß und ruhig. Eine goldene Standuhr tickte laut, und Kaya betrachtete sie ausgiebig. Sie fragte sich, was so etwas wohl wert sein musste, denn sie war aufwendig verziert und wirkte schon sehr antik.

 

Die Berater setzten sich an den Tisch um ihren Großvater herum, der sich an das breite Ende setzte. Er deutete auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches. Sie setzte sich neben einen Mann, der viel zu schwitzen schien, fiel ihr auf. Ihre Tasche legte sie nicht ab. Sie fühlte sich nicht gerade so, als wäre sie unter freundlich gesinnten Menschen gelandet.

 

Sie fragte sich, was das alles wohl sollte. Sie konnte sich nur vorstellen, dass sie schon wieder Ärger bekommen würde. Beim Sitzen spürte sie bereits den Muskelkater vom ungewohnten Fahrradfahren und dem Hin und Herrennen der letzten Tage, vom Heu stapeln, vom Leben ohne öffentliche Verkehrsmittel. Sie war schrecklich bequem, stellte sie ernüchternd fest. Absolut unsportlich. Sie hob den Blick zum Gesicht ihres Großvaters, aber dieser bedeutete einem Berater mürrisch, zu beginnen. Dieser räusperte sich. Es war der Mann, den sie schon gesehen hatte.

 

„Frau Rothenberg“, begann dieser förmlich, und Kaya war bisher nur in der Schule gesiezt worden. Noch nie außerhalb, stellte sie peinlich berührt fest. Sie fand es etwas albern. „Mein Name ist Dr. Hansen und wir haben einen Vertrag vorbereitet – nur zu Ihren Gunsten natürlich“, ergänzte er schnell, als sie ratlos die Stirn runzelte.

 

„Einen Vertrag?“, wiederholte sie unschlüssig. „Ich… ich habe kein Geld“, entfuhr es ihr, denn ein Vertrag klang nach einer Menge Geld, fand sie. Kurz wechselten die Berater Blicke mit ihrem Großvater, dann fuhr Dr. Hansen fort.

 

„Es… es geht nicht um Geld, Frau Rothenberg“, erläuterte er. Er reichte ein Blatt weiter, bis es vor Kaya abgelegt wurde. „Wenn Sie unterschreiben, stimmen Sie zu, den Reitunterricht, der Ihnen hier geboten wird, als einmaliges Angebot anzunehmen“, fuhr er fort. Kaya hob den Blick.

 

„Umsonst?“, vergewisserte sie sich und sah ihren Großvater wieder an, aber er sprach nicht mit ihr.

 

„Ja, sicher. Ohne eine Gegenleistung“, erwiderte Dr. Hansen. Ein Tierarzt schien er nicht zu sein, stellte sie nachdenklich fest.

 

„Muss meine Mutter nicht über so etwas benachrichtigt werden?“, wollte sie fast ängstlich wissen, denn sie glaubte, noch nie etwas alleine unterschrieben zu haben. Neben ihr räusperte sich jetzt noch ein Mann.

 

„Frau Rothenberg, mein Name ist Körner, Dr. Körner“, stellte er sich heiser vor, und Kaya runzelte die Stirn. Es gab ziemliche viele Doktoren hier, und keiner wirkte wie ein echter Arzt. Sie fragte sich, was es für Doktoren waren. „Dies ist ein Geschäft, was für Sie lediglich rechtlich vorteilhaft ist“, erklärte er ernst. Sie verstand nicht ganz, was er meinte. „Sie müssen keine Gegenleistung entrichten, bekommen diese Reitstunden sozusagen als… Geschenk“, fasste er zusammen.

 

„Ja“, griff Dr. Hansen seine Worte auf, „wenn Sie unterschreiben, versichern Sie lediglich, dass Sie keine weiteren Geschenke von Dr. Rothenberg verlangen werden“, schloss er streng.

 

„Welche weiteren Geschenke?“, wollte sie stirnrunzelnd wissen. „Geburtstagsgeschenke oder was meinen Sie?“ Kurz wechselte Dr. Hansen mit ihrem Großvater einen fragenden Blick.

 

„Keinen Vorteil jeder Art“, schien er schließlich näher zu erläutern.

 

„O-k?“, erwiderte sie unsicher, und wusste nicht, wen sie ansehen sollte. Sie wollte nicht mal den blöden Reitunterricht haben. Und sie wollte ihn nicht mal umsonst. Sie hob den Blick vom Vertrag, um wieder ihren Großvater anzusehen.

„Also, ich… weiß nicht genau, um was es geht“, räumte sie langsam ein, „aber vielleicht können wir einen Preis vereinbaren? Ich bin mir sicher, ich könnte niemals zahlen, was der Reitunterricht hier kostet, aber ich arbeite im Dorf und… könnte zumindest einen Teil davon bezahlen?“, schlug sie unsicher vor. Endlich hob er den Blick. Sie wusste nicht, was er dachte, aber kurz herrschte Stille.

 

Er wandte sich an Dr. Hansen und sagte sehr leise etwas, was Kaya nicht verstand.

 

„Also, Sie müssen nicht für den Unterricht bezahlen, aber Sie versprechen, nach Ablauf des Unterrichts nichts weiter von Dr. Rothenberg zu verlangen“, wiederholte er, eine Spur verunsichert. Und Kaya glaubte, sie verstand. Ihr Großvater wollte nicht, dass sie danach noch einmal wieder hierhin kam oder sich überhaupt noch einmal meldete.

 

Ihr Blick senkte sich beschämt wieder auf den Vertrag. Sie fragte sich, wie abstoßend sie ihm wohl vorkommen mochte. Sie schluckte das bittere Gefühl runter. Sie las den Text. Sie bekam für einen Monat Reitunterricht. Fünfmal die Woche. Sie musste bestätigen, dass sie nichts weiter verlangen oder einfordern und das Gestüt Rothenberg anschließend verlassen würde.

 

Sie hob den Blick nicht mehr. „Ich… ich habe keinen Stift“, sagte sie leise, und sofort reichte ihr der Mann neben ihr einen dunkelglänzenden Füllfederhalter.

 

„Bitte sehr, Frau Rothenberg“, erwiderte er prompt.

 

Kaya ergriff den Füller und schrieb ihren Namen auf die gepunktete Linie.

Er wollte sicher gehen, dass sie wieder ging. Als ob er sich darauf nicht auch so würde verlassen können! Sie wollte jetzt schon kaum hier sein.

Sie gab Dr. Körner seinen Füller zurück.

 

„Dann wäre das geklärt. Wir behalten den Vertrag hier, wenn es Ihnen nichts ausmacht? Sie bekommen dann eine Kopie“, fuhr Dr. Hansen abschließend fort. Kaya ruckte mit dem Kopf. Sie hob den Blick nicht mehr. Sie wollte genauso dringend hier weg, wie er sie loswerden wollte.

 

„Frau Kramer bringt dich raus“, sagte ihr Großvater ohne erkennbaren Ausdruck in der Stimme. Die Tür öffnete sich und eine Frau steckte den Kopf herein. Das schien Frau Kramer zu sein.

 

Kaya erhob sich, denn anscheinend hatte sie ihre Schuldigkeit hier getan. Sie verabschiedete sich nicht und fühlte sich seltsam als sie der Frau folgte.

Sie war leicht rundlich, aber eher kurvig als dick. Sie sprach nicht mit Kaya, aber ging langsam genug, als dass sie nach wenigen Schritten neben Kaya ging. Kaya war nicht gewohnt, dass Menschen von ihr erwarteten, dass sie aufschloss oder auf gleicher Höhe war.

Die Frau kannte sich gut in diesem Irrgarten aus Fluren und endlosen Zimmern aus.

 

„Arbeiten Sie schon lange hier?“, wollte Kaya nun unverfänglich wissen. Sie hasste die unangenehme Stille, die sie befiel, wenn sie hier war.

 

„Seit einigen Jahren, ja“, bestätigte die Frau. Kaya atmete sehr lange aus. Sie wusste das Gefühl nicht recht einzuordnen. Sie wollte nicht irgendwo sein, wo sie nur unter dem Vorbehalt eines Vertrags geduldet wurde. Aber sie wollte ihre Mutter nicht enttäuschen und die Nachprüfung bestehen.

 

Sie waren in der großen Halle angekommen. „Sie finden den Weg, Frau Rothenberg? Ich treffe Sie gleich an der Koppel, dann kümmern wir uns um Ihre Ausrüstung?“, vergewisserte sich die Frau höflich, und Kaya nickte knapp. Gut, dann musste sie nicht selber irgendwelche Räumlichkeiten durchstöbern. Mit energischen Schritten verschwand die Frau, und Kaya betrachtete wieder einmal die röhrenden Hirsche und Bergaufnahmen an der Wand.

 

Sie schien allein zu sein. Sie drehte sich um die eigene Achse und ging schließlich weg von der Haustür, tiefer ins Haus. Das musste das Zimmer sein, wo die Schüler aßen, nahm sie an. Tische reihten sich hier aneinander, und es war auch kein Zimmer. Es war eher ein Saal.

 

Es war schwer. Sie fühlte sich nicht zuhause hier. Sie fühlte sich wie ein unwillkommener Gast.

 

„Kaya?“

 

Sie wandte sich um. Frau Fiets sah sie an. „Ich habe schon gehört, dass du reiten lernen wirst. Es tut mir leid, dass du… hier nicht untergebracht wirst, aber wenn du Hunger hast, dann-“

 

„-nein, nein!“, sagte Kaya eilig. Sie hatte mit Frau Fiets nicht mehr gesprochen, nachdem sie hier abgehauen war. Es war ihr unangenehm. „Wegen letztens… - tut mir leid, dass ich weggelaufen bin“, schloss sie kleinlaut, aber Frau Fiets lächelte nur.

 

„Schon gut. Hauptsache, du bist gut zurückgekommen. Und es ist schön, dass du hier bist, Kaya“, sagte sie.

 

„Ich… sollte wieder rausgehen. Ich bin sicher, Frau Kramer wartet schon“, sagte sie leise. Denn sie wollte hauptsächlich raus aus diesem unfreundlichen großen Haus.

 

„Gut. Ich wünsche dir ganz viel Spaß“, erwiderte Frau Fiets freundlich. Kaya wandte sich eilig um. Ach, es war ihr alles unangenehm. Alles!

Und vielleicht war sie es falsch angegangen, überlegte sie plötzlich. Egal, wie dringend sie die Nachprüfung bestehen wollte, vielleicht hätte sie ihren Vater besuchen sollen, anstatt ihren Großvater.

Sie entfernte sich so eilig vom Haus, als wäre es giftig. So schnell sie ihre Beine tragen konnten. Sie presste die Lippen aufeinander. Sie wusste nicht, warum sie nicht schon längst gegangen war. Sie vermisste Alina, sie vermisste jemanden, der ihre Entscheidungen für gut hieß. Jemand, der sie verstand.

 

Sie fühlte sich nutzlos und unerwünscht. Alles hier trug ihren Namen und dennoch hatte es nichts mit ihr zu tun. Bastians Kamera steckte in ihrer Umhängetasche und wartete nur auf ihren ersten Einsatz, nahm sie an.

 

Sie schritt zur nahe gelegenen Koppel. Sie war rund und zurzeit leer. Sie hatte noch nicht begriffen, wofür sie gut war.

 

„-und beeil dich, ja?“

 

Kaya wandte den Blick. Ein Mädchen kam um die nächste Kurve hinter einer der Stallungen gebogen. Kaya erkannte sie erst, als sie auf ihrer Höhe war. Es war Nummer Zwölf, die ihr das Pferd geliehen hatte. Sie wirkte gehetzt. Kurz ruhte ihr Blick auf Kayas Gesicht, aber sie lief einfach weiter, sah Kaya solange an, bis sie den Kopf hätte drehen müssen, und lief, den Blick wieder streng nach vorne geheftet, weiter hoch zum Haus zurück.

 

Kaya legte den Kopf in den Nacken, sah den Vögeln zu, die über den Himmel kreisten, und schloss schließlich die Augen und ließ die Sonne auf ihr Gesicht scheinen. Sie blieb, wo sie war, bis sie hörte, wie das Mädchen zurückkam. Sie fragte sich, wie sie wohl hieß, und ob sie das Mädchen einfach ansprechen konnte. Wahrscheinlich nicht, nahm sie an. Wahrscheinlich unterschieden sich die Mädchen hier nicht von den Mädchen auf ihrer Schule.

Sie fühlte sich beobachtet und ließ ihren Blick über die fremden Mädchen gleiten, die weiter ab, in ihrer Reituniform standen. Ihre Blicke waren eher abfällig, sie waren auch überwiegend blond, und sie trugen alle einheitliche Klamotten. Reithosen in lila, Shirts, Blazer, manche trugen eine Art Schutzweste, andere hatten richtige Stiefel an, wieder andere trugen Schuhe mit Gamaschen bis unters Knie.

 

„Sprich sie nicht an, und komm endlich!“, wurde das Mädchen von der blonden Tussi angefahren, die Kaya schon am Bahnhof gesehen hatte. Gut zu wissen, dass manche Dinge immer gleich bleiben würden, überlegte sie dumpf. Sie stieß sich vom Zaun ab und machte einige unschlüssige Schritte auf dem weiten Platz. Von irgendwoher vernahm sie wieder das Wiehern, was sie der armen Stute zuordnete, die Angst gehabt hatte. Aber sie könnte sich irren. Pferde klangen bestimmt alle gleich.

 

Der Weg nach rechts fiel abschüssiger und ihr entgegen kam plötzlich die junge Frau, die ebenfalls Reitlehrerin hier war.

 

„Hey! Kaya, richtig?“, erkundigte sich die Frau grinsend, während sie sich bückte und ihre Zigarette auf den Steinen ausdrückte, um den Stummel anschließend in einen metallenen Behälter zu werfen, den sie wieder in ihrer Hosentasche verschwinden ließ. Kaya beobachtete sie stirnrunzelnd, aber die Frau zuckte die Achseln.

 

„Der gnädige Herr kümmert sich um vieles, aber für die Suchtkrankheiten seiner Angestellten hat er keinerlei Verständnis“, erläuterte sie und verdrehte die Augen. Kaya musste ebenfalls grinsen. „Rauchst du?“, fragte die junge Frau fast aufmunternd, wohl bereit, ihr eine Zigarette anzubieten, aber Kaya lehnte in Ehrfurcht ab. Sie hatte nie geraucht, obwohl sie bestimmt mehr als einmal die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Aber Alina hielt ihr auch ständig Moralpredigten, und auf der neuen Schule… ergab sich so etwas einfach nicht.

 

Sie war dem Gruppenzwang nicht erlegen, stellte sie immer wieder fest. Ihre Mutter hatte es ihr immer wieder eingetrichtert, dass es wichtig war, für sich selber zu denken. Sie schüttelte also den Kopf.

 

„Nein, tu ich nicht“, erwiderte sie. Die Frau nickte wissend.

 

„Du glückliche“, bemerkte sie zwinkernd. „Und? Wohin des Wegs?“, fuhr sie schließlich fort, fuhr sich durch den endlos langen Pferdeschwanz, und Kaya fand sie ziemlich cool. Wie alt sie wohl war?

 

„Zu Tom“, schloss Kaya fast resignierend. Die Frau grinste wieder.

 

„Muss ja ziemlich furchtbar sein“, deutete sie ihre Worte. Kaya schüttelte hastig den Kopf.

 

„Ach nein, so ist es nicht. Ich… habe ja keine Ahnung von Pferden, vom Reiten – von überhaupt irgendetwas hier!“, schloss sie schließlich dunkel.

 

„Ja… wieso willst du es überhaupt lernen, wenn es dir keinen Spaß macht? Zwingt dich dein reicher Vater dazu oder so was?“, wollte sie wissen, und Kaya blickte gen Boden.

 

„Nein. Ich bin nicht reich“, widersprach Kaya lächelnd. Und einen Vater hatte sie auch nicht. Nicht wirklich. Mit dieser Information schien die Frau wenig anfangen zu können.

 

„Nicht? Also, das hier ist ein ziemlich teurer Schuppen. Bist du eine Art Sozialprojekt vom Alten?“, machte sie einen Scherz, aber Kayas Blick erhellte sich. Nach diesem Vertrag, den sie unterschrieben hatte – und dessen Kopie sie hätte mitnehmen sollen, wurde ihr jetzt klar – kam sie sich tatsächlich so vor! Sie nickte also.

 

„Kann man so sagen, ja. Ich habe einen Vertrag unterschrieben, und der Alte war so gütig, mir Reitunterricht zu schenken“, griff sie die Worte der Frau jetzt lächelnd auf, und ihr Herz schlug schneller bei diesem Ungehorsam. Aber sie konnte so über ihn reden. Er sprach ja nicht anders mit ihr!

 

„Cool“, erwiderte die Frau anerkennend. „Gib Tom eine Chance, ok? Eigentlich ist er schwer in Ordnung. Halt dich nur von dem Arsch fern“, gab die Frau mit einem bedeutungsschweren Blick zu bedenken. Kaya nahm an, der Arsch war der blonde Reitlehrer. Aber sie wollte nicht aus Unwissen nachfragen und nickte also nur wissend. Oder sie tat zumindest so.

 

„Gut, dann verstehen wir uns ja!“ Die Frau schüttelte sich scheinbar vor Ekel.

 

Der blonde Reitlehrer schien ohnehin die Fortgeschrittenen hier zu unterrichten. Dass Kaya Gefahr lief und ihn noch mal sehen würde, war wohl mehr als unwahrscheinlich, überlegte sie dumpf.

 

„Ich wünsch‘ dir was“, beendete die Frau lächelnd ihr Gespräch.

 

„Danke – äh…“ Kaya hatte ihren Namen wieder vergessen.

 

„Vanessa“, erinnerte sie die Frau. „Einfach Vanessa. Wir sehen uns!“ Damit war sie weiter gegangen. Kaya mochte sie. Ja, sie war ein Sozialprojekt. Und es war ihr egal. Sie war dankbar. Es wurde langsam Zeit, ein Meistervideo zu drehen! Frau Kramer kam ihr nun ebenfalls mit schnellen Schritten entgegen, als würde sie jeden Schritt bezahlt bekommen. Aber das war wahrscheinlich auch so, überlegte Kaya schließlich.

 

„So, ich habe den Schlüssel für die Räumlichkeiten. Dann kann es losgehen?“, erkundigte sich die Frau geschäftig und schritt bereits voran, so dass Kaya ihr hastig folgen musste.

 

„Ja. Ich habe aber keine Ahnung von meiner Helmgröße oder… irgendetwas anderem“, bemerkte sie knapp.

 

„Da werden wir schon etwas Passendes finden“, sagte Frau Kramer lächelnd.

 

„Reiten Sie?“, fragte Kaya unverwandt, und Frau Kramer schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln.

 

„Nein, Frau Rothenberg, ich arbeite hier nur im Büro“, erklärte sie. Kaya zuckte die Achseln.

„Das ist keine Schande.“ Kaya gefiel die Aussicht auf ruhige Büroarbeit um einiges besser als anstrengender, gefährlicher Reitunterricht. „Und nennen Sie mich ruhig Kaya. Sonst komme ich mir vor wie in der Schule, und so möchte ich mir gerade gar nicht vorkommen“, ergänzte sie resignierend. Frau Kramer lachte.

 

„Na gut, sehr gerne, Kaya“, erwiderte sie höflich. Sie hatten ein Gebäude erreicht, was älter wirkte, weniger modern als die schicke Reithalle, in der sie ihren nicht vorhandenen Sitz hatte zeigen müssen. Frau Kramer schloss auf und Kaya konnte die vielen Ständer mit maßgeschneiderten Hosen des Gestüts und Blusen an Hängern kaum zählen. Auch Spezial-Sättel sowie Zaumzeug hingen an jeder Ecke des riesigen Raums. Alles versehen mit dem hauseigenen Emblem. Ein verschlungenes R, überstickt mit einem steigenden goldenen Pferd. Allerdings führte Frau Kramer sie weiter, bis sie einen Teil mit provisorischen Kabinen erreichten.

 

„Ich bin angewiesen, dich komplett auszustatten, also beginnen wir mit der Kleidung“, erklärte sie. Frau Kramer trug einen strengen blonden Dutt, eine schmale Perlenkette, eine glänzende Bluse und dazu einen Rock. Ihre Schuhe wirkten auch nicht gerade für die Stallarbeit geeignet, stellte Kaya fest. Sie sah sehr schick aus. Kaya überlegte immer wieder, ob man als Mädchen irgendwann zur Frau wurde und automatisch wusste, welche Art von Kleidung man tragen musste, um besonders elegant und schick zu wirken. Bisher hatte sie noch keinen Gedanken an elegante Kleidung verschwendet, ging ihr auf. Sie wusste nicht mal, was sie später werden wollte – oder überhaupt konnte, wenn sie nicht einmal ihr Abitur bestand.

 

Frau Kramer schritt zu einem der vollen Kleiderhänger, wie sie Kaya vom Theater her kannte.

„Wir bestellen immer einiges an Kleidung zusätzlich. Der Absatz ist immens, und manche Schülerinnen wachsen sehr schnell“, fuhr sie fort, als sie an einen der Ständer herantrat und mit den Händen nach ihrer Größe zu suchen schien. „Vielleicht ändert sich das Gewicht der Schülerinnen auch noch kurz vorher“, ergänzte sie und sah sie dann direkt an. „Größe?“, fragte sie schließlich, ehe Kaya sich darüber wundern konnte, weshalb sich das Gewicht plötzlich ändern sollte, und sah an sich herab.

 

„Eigentlich trage ich immer 36?“, erwiderte sie achselzuckend, und Frau Kramer zog ein dunkles Ensemble hervor.

 

„Man muss bei Reitbekleidung immer eine Größe zuzählen“, erwiderte sie und hielt ihr die Hose entgegen, welche hinten weiches Leder eingenäht hatte. Es folgte ein dunkles Poloshirt, mit eingesticktem Emblem, und ein passender Blazer. Sie würde sich also tot schwitzen, nahm sie dumpf an.

 

„Wenn du magst, kannst du dich hier umziehen“, erklärte ihr Frau Kramer lächelnd und deutete auf einen der Raumtrenner in der Ecke. Kaya nickte und nahm den Kleiderbügel entgegen.

 

Die Hose stellte sich als besonders eng heraus. Sie schmiegte sich um ihre Beine und das Leder schmiegte sich an die Innenseite ihrer Schenkel. Das Shirt passte ebenfalls sowie der Blazer. Sie fühlte sich schon wie ein Reiter, stellte sie fest. Und so arrogant sah sie wahrscheinlich auch aus.

 

Sie kam hinter der Wand hervor, um sich zu zeigen.

 

„Na, das sieht doch alles wunderbar aus!“, bemerkte Frau Kramer zufrieden. „Ich gebe dir dasselbe Outfit noch in beige, damit es nicht zu langweilig wird. Kommen wir zum Helm und zu den Stiefeln“, schloss sie und schritt zur anderen Wand. Dort reihten sich einhundert Helme aneinander, ebenfalls vom Gestüt. Frau Kramer zückte ein Maßband, was im Regal lag, trat an sie heran und legte es um ihre Stirn. „Wahrscheinlich sollte dieser hier passen“, erläuterte sie anschließend, als sie einen beliebigen Helm aus dem obersten Fach holte. „Und der Helm kann auch noch verstellt werden, falls er locker sitzt“, ratterte sie herunter, als würde sie diesen Satz mehr als nur einmal verwenden. Aber wahrscheinlich musste sie allen Schülerinnen die Kleidung organisieren, wenn diese unbedingt welche vom Gestüt haben wollten, überlegte Kaya mitleidig. Kaya setzte den Helm auf, und Frau Kramer stellte ihn ihr ein. Er saß ganz gut. Nicht zu eng zumindest. Es fühlte sich komisch an. Nicht ganz wie ein Fahrradhelm, aber so ähnlich. Wahrscheinlich etwas komfortabler als ein Fahrradhelm. Er war samtiger.

 

Jetzt kamen die Schuhe an die Reihe.

 

Gespannt gingen sie zum nächsten Regal an der Wand, und erst jetzt bemerkte Kaya die Preisschilder an den verschiedenen Kartons.

 

„Das ist der Preis für die Stiefel?“, entfuhr es ihr tonlos, denn vielleicht handelte es sich ja doch nur um eine Bestellnummer.

 

„Ja“, bestätigte Frau Kramer und winkte ab. „Keine Sorge, du musst die Ausrüstung nicht bezahlen. Du bekommst sie geliehen“, fuhr sie fort, aber Kaya schüttelte den Kopf.

 

„Gibt es… das nicht in… etwas billiger?“, flüsterte sie panisch, und Frau Kramer runzelte die Stirn.

 

„Billiger?“, wiederholte die Frau ratlos, und Kaya musste schlucken, denn das Paar Stiefel, was Frau Kramer ihr hatte geben wollte, kostete 1.200 Euro, und Kaya wollte es weder anfassen, noch anziehen. Das waren zwei Monatsmieten. „Hm, na ja. Es ist Sommer, und vielleicht sind die Stiefel etwas warm“, lenkte die Frau neben ihr verwirrt ein. „Ich könnte dir halbe Stiefel anbieten?“, schlug sie schließlich vor. „Dazu kannst du Strümpfe oder Chaps tragen“, fuhr sie nachdenklich fort. „Haben wir alles“, schloss sie und ging weiter. Kaya folgte ihr sehr dankbar, weit weg von den teuren Stiefeln und dem teuren Ledergeruch, der von ihnen ausging.

 

Frau Kramer machte Halt vor halben Stiefeln. Diese kosteten auch mehrere hundert Euro, aber wenn Kaya die Wahl zwischen zwei Monatsmieten oder billigeren Schuhen hatte, dann nahm sie billigeren! Kaya registrierte, dass es sich auch hier um neue Stiefel handelte, denn im Innern steckte noch Papier, was Frau Kramer aus einem Paar entfernte.

„Größe 38, probieren Sie einfach mal. Die fallen immer ein Stück größer aus.“

 

Mit vereinten Kräften schafften sie und Frau Kramer es, die Schuhe anzuziehen.

 

Sie passten. Sie waren mattschwarz und schlicht und hatten einen schmalen Absatz.

 

„Und? Die Zehen kannst du bewegen?“, wollte sie wissen, und Kaya ruckte mit dem Kopf.

 

„Ja, alles ok“, erwiderte sie nur.

 

„Wunderbar.“ Sie bückte sich. „Und hier sind schwarze Chaps, kleinste Größe.“ Kaya betrachtete sich die schwarzen Gamaschen, die das andere Mädchen getragen hatte. Sie hatten einen Reißverschluss, und wirkten kompliziert. „Ich helfe dir“, sagte Frau Kramer anschließend lächelnd, und Kaya merkte sich gut, wie man diese Dinger anzog, damit sie nicht noch einmal würde fragen müssen. Ihr war warm.

 

„Was ist mit einer Schutzweste?“, fuhr Frau Kramer fort, und Kaya hielt sie auf.

 

„Ich glaube, heute brauche ich keine?“, sagte sie hoffnungsvoll, denn es war zu heiß. Viel zu heiß dafür!

 

„Es wäre sicherer?“, erwiderte Frau Kramer ernster, und Kaya gab nach.

 

„Ok?“, entfuhr es ihr müde und schon hatte Frau Kramer sie stehen gelassen.

 

So stand sie nun alleine da, eingeschnürt in enge Gamaschen, mit Helm auf dem Kopf, Shirt und Blazer, und sie wollte einfach nur noch in den kühlen See der Ohlkamps springen.

 

„Bitte sehr!“ Frau Kramer half ihr in die Schutzweste, klettete die Schulterschnallen neu, zog den Reißverschluss hoch, und nun konnte sich Kaya gar nicht mehr bewegen.

 

 Und dann war der Zauber schon vorbei. Vorsintflutlich legte Frau Kramer ihre Sache zusammen. „Die werde ich mit zum Haus nehmen“, erklärte sie. Später kannst du sie dir abholen. Genauso wie das zweite Outfit. Sie verließen das riesige Lager, und Kaya konnte nur steif hinter Frau Kramer hereiern, ihre Umhängetasche, ungelenk über der Schulter.

 

„Ich kann deine Tasche nehmen, Kaya“, sagte sie, aber Kaya schüttelte den Kopf.

 

„Nein, schon in Ordnung. Ich behalte sie lieber“, räumte sie kleinlaut ein. Nicht, dass sie Frau Kramer nicht vertraute, aber… - sie war hier eben nicht Zuhause. Und sie wollte schon nicht, dass ihre Sachen aus ihren Augen verschwanden.

 

„Gut, dann nehmen wir dir direkt noch einen Sattel mit und Zaumzeug“, bemerkte sie suchend und kurz vor dem Ausgang hielt sie inne. Sie legte Kayas Sachen ab und zog eine stoffbezogene Tonne mit Rollen aus einer Ecke hervor. Staunend sah Kaya ihr zu. Frau Kramer, die scheinbar nur für Verwaltungsaufgaben zuständig war und dennoch über ein immenses Wissen, was Reiterbedarf anging, verfügte, kam mit einem schicken glänzenden Sattel zurück. „Das Problem ist, dass die Schülerinnen hier ihre eigenen Sättel für ihre eigenen Pferde haben. Es werden keine Schulpferde gestellt“, erklärte sie, während sie den Sattel über die dafür gemachte Tonne legte. „Deshalb gibt es für die Pferde keine Sättel.“ Nicht, dass Kaya begriff, wovon die Frau sprach, aber sie kam näher und legte ihre Tasche ab. „Dann sitz mal auf“, forderte Frau Kramer sie auf, und Kaya konnte kaum ihr Bein bewegen, denn die Schutzweste schnürte ihre Bewegungsfreiheit erheblich ab.

 

Mühsam schwang sie das Bein über die niedrige Tonne und setzte sich.

 

„Und?“, erkundigte sich Frau Kramer, als Kaya hilflos aufblickte. „Unbequem?“ Kaya bewegte sich, streckte den Rücken durch, aber es war nicht unbequem, nur ungewohnt.

 

„Ich glaube, der ist ok?“, erwiderte sie, und war vollkommen überfordert.

 

„Schön“, bestätigte Frau Kramer, und Kaya hatte Mühe, von der Tonne wieder runterzukommen. Sie schwitzte mittlerweile unter dem Helm und in den Schuhen. Sie schwang sich die Tasche wieder um und nahm Frau Kramer dann den Sattel ab. Der Sattel war ziemlich schwer, stellte sie fest. Er glänzte schwarz in ihren Armen. Dazu gesellte sich jetzt noch ledernes Zaumzeug mit einer polierten Trense, wie ihr Frau Kramer erklärte.

 

Kaya hoffte, sie würde das Pferd nicht selber satteln müssen. Sie hatte ja nicht mal ein Pferd! Bis jetzt hatte sie die gesamte Ausrüstung und keine Ahnung.

 

Schwitzend verließ sie hinter Frau Kramer das Lager. Diese machte das Licht aus und schloss wieder ab. „Den Weg zu Herrn Kiergarten findest du, Kaya?“, fragte sie freundlich, und Kaya nickte ächzend. „Dann sehe ich dich später. Viel Spaß!“, wünschte nun auch Frau Kramer, und Kaya ging seufzend den Weg runter zur ersten Koppel.

 

Sie erkannte, dass wohl gerade Pause war, denn es war niemand mehr auf der Koppel. Die Pferde standen davor angebunden. Tom lehnte allerdings am Gatter und schien bereits zu warten. Ein Grinsen erhellte seine Züge, als sie näher kam.

 

„Ein Reiter ohne Pferd“, begrüßte er sie, nachdem er irgendetwas auf einem Klemmbrett notiert hatte. Kaya hatte keine Kraft zu lachen, und ihr stand auch nicht der Sinn danach, in diesen heißen Klamotten. „Den Sattel und das Zaumzeug kannst du über das Gatter legen“, gebot er ihr. „Jetzt besorgen wir dir erst mal ein Pferd.“ Er wirkte wieder ein wenig freundlicher. Sie sah ihn missmutig an. Sie wäre gerne schon fertig mit ihrer ersten Reitstunde.

Dabei hatte es noch nicht einmal angefangen.

 

Sie gingen weg von der Koppel, schlugen einen anderen Weg ein, den man nicht mit dem Auto befahren konnte.

 

„Wir holen dir ein Pferd von der Weide. Oder besser gesagt, du wirst dir eins holen“, korrigierte er sich lächelnd. Kaya starrte ihn an.

 

„Ich?“, wiederholte sie ungläubig. „Wie mache ich das?“, entfuhr es ihr, und Tom schenkte ihr einen entsprechenden Blick.

 

„Wie du das machst? Du gehst auf die Weide und fängst dir ein Pferd“, erklärte er, als wäre sie dumm. Er streckte ihr ein Band mit weiteren Schnüren entgegen. „Das ist ein Halfter, das legst du dem Pferd an und führst es mit der Führleine von der Weide“, eröffnete er ihr, und Kaya blieb stehen.

 

„Allein?“ Sie starrte ihn an.

 

„Ja? Allein“, bestätigte er. Kurz verging ein panischer Moment in ihrem Kopf. Aber Tom tat ihr keine Gefallen. Er ging weiter und panisch folgte sie ihm, bis er vor einer großen Weide anhielt. Bestimmt zehn riesige Pferde grasten hier.

 

„Und was… soll ich jetzt tun?“, entfuhr es ihr ratlos, und er deutete auf die Weide.

 

„Jetzt suchst du dir ein Pferd aus“, schloss er, als wäre es so einfach.

 

„Was?“ Sie sah ihn offen an. „Ich… soll mir einfach eins aussuchen?“

 

Er nickte den Pferden auf der Weide zu, und sie wandte sich ihnen langsam zu. Die waren bestimmt drei Meter hoch! Vielleicht nicht ganz, aber sie waren enorm hoch! Wie sollte sie jemals eines von diesen riesen Viechern an dieses Band in ihrer Hand bekommen?!

 

„Und… wenn ich es nicht schaffe?“, wagte sie hoffnungsvoll zu fragen. Aber er bot ihr nicht seine Hilfe an.

 

„Dann glaube ich nicht, dass du es in dir hast, reiten zu lernen“, erwiderte er schroff. Er lehnte sich auf den breiten Holzzaun, stellte einen Fuß im polierten Stiefel auf den untersten Balken und schien darauf zu warten, dass sie die Weide betrat. Und sie war sich im Übrigen sicher, dass sie es nicht in sich hatte, reiten zu lernen. Aber sie sagte nichts. „Du siehst aus wie eine Reiterin“, bemerkte er fast spöttisch. Also gib mir deine seltsame Tasche und fang an“, befahl er. Und ihr kam ein Gedanke.

 

„Sag mal, würde es dir vielleicht etwas ausmachen, mich zu filmen? Dabei?“, ergänzte sie mit einem Kopfnicken in Richtung Weide. Kurz runzelte sich seine Stirn.

 

„Wozu?“, wollte er knapp wissen, aber sie lächelte einfach nur.

 

„Es… es ist einfach ein besonderer Moment, den ich schon immer festhalten wollte. Der erste Kontakt mit… einem Pferd und so“, log sie ins Blaue hinein, und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. Aber ohne Umstände holte sie einfach die Kamera aus der Tasche.

„Einfach auf Power drücken, dann auf Aufnahme und draufhalten“, erklärte sie ihm mit einem Lächeln, was hoffentlich überzeugend genug wirkte, damit er keine Fragen mehr stellte.

 

„Keine Ahnung, warum du das willst, aber ich bin klug genug, seltsame Vorlieben nicht zu hinterfragen“, bemerkte er nur, nahm die Kamera und tat, was sie gesagt hatte. Dann kletterte sie kurzerhand über den Weidezaun. Sie wollte schließlich den Akku schonen. Sie würde es schon schaffen, sich ein Pferd auszusuchen. Aber sie klickte den Verschluss des Helmes auf und stülpte ihn über einen der Pfosten. Es war definitiv zu heiß dafür. Und sie kämpfte sich aus der Schutzweste, die sie anschließend ins Gras warf. Und auch der Blazer folgte anschließend, und sie legte ihn über den Zaun. Viel besser!

 

„Egal, welches Pferd?“, fragte sie noch einmal, und Tom nickte überfreundlich hinter der Kamera. Er hielt sie für verrückt, so viel stand fest. Sie hätte ihn gerne gefragt, ob die Pferde austraten oder beißen würden, wenn man zu nahe kam, aber das würde auf dem Video nicht professionell wirken. Und gerne hätte sie auch nach der weißen Stute gefragt, aber schon ihr Großvater hatte sie deshalb so angeschrien, also sah sie davon ab.

 

Sie atmet gepresst aus, während sie durch das niedrige Gras stapfte.

 

Einfach das Kleinste nehmen, entschied sie dumpf. Leider schienen sie alle viel zu groß zu sein. Einige hatten bereits die Köpfe interessiert gehoben. Oh nein! Hoffentlich kamen sie jetzt nicht auf sie zugestürmt, betete sie panisch! Ein hellbraunes Pferd fiel ihr ins Auge. Es war das einzige, was sich nicht auf sie zubewegte. Sie fasste Mut.

 

Sie atmete aus, wich den schnuppernden Gesichtern der riesen Pferde aus und erreichte das starre Tier. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um in sein Gesicht sehen zu können. Es wirkte vollkommen desinteressiert.

 

„Hey“, sagte sie schließlich fast erleichtert, als es keine Anstalten machte, sie zu beißen oder zu treten. „Ich bin Kaya. Nett, dich kennenzulernen“, ergänzte sie ruhig. Langsam hob sie ihre Hand. Sehr, sehr langsam, damit es nicht erschrecken würde und sie doch noch biss!

Es hielt still, bis sie seine weiche Nase berührte. Es war ein verrücktes Gefühl. Es fühlte sich weicher an als Watte oder Samt. Vorsichtig fuhren ihre Finger sein samtenes Fell hinab.

„Darf ich dir dieses unschöne Ding umlegen?“, fragte sie, nachdem sie den hochgereckten Arm wieder hatte sinken lassen. Aber natürlich antwortete es nicht.

 

Sie betrachtete stirnrunzelnd die vielen verknoteten Seile. Wie sollte sie es um seinen Kopf bekommen? Das war doch wirklich lächerlich! Es hatte ein oder zwei Schnappverschlüsse, aber Kaya hatte keine Ahnung, was sie tun musste.

 

„Ok“, begann sie von neuem. „Magst du einfach mit mir kommen?“, versuchte sie es mit einem verzweifelten Lächeln und machte einen Schritt zurück. „Ok?“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. Das Tier musterte sie verstört. Kaya konnte es nur zu gut verstehen.

„Komm doch einfach mit, Kleiner“, sagte sie sanft. Klein war das Tier zwar überhaupt nicht, aber im Moment setzte sie alles daran, es zu überzeugen.

 

Und tatsächlich! Es machte einen unsicheren Schritt in ihre Richtung.

 

„Ja! Gut so!“, munterte sie es auf. „Komm, noch ein bisschen weiter, ok?“ Sie bewegte ihre Finger und mit einem leisen Schnauben reckte das Pferd den Kopf in ihre Richtung und folgte ihr zögerlich. Kaya machte vorsichtige Schritte rückwärts, darauf bedacht, mit keinem weiteren Pferd zusammenzustoßen und womöglich doch noch getreten zu werden!

Ihr Arm wurde schon langsam taub, aber das Tier folgte ihr nun mittlerweile recht zügig und nach zehn weiteren Schritten war sie wieder am Zaun angekommen.

 

Das Pferd hielt schließlich vor ihr an. Sie hörte, wie Tom die Kamera ausschaltete.

 

„Sehr eindrucksvoll“, bemerkte er knapp. „Hast du Leckerlies dabei?“, erkundigte er sich spöttisch bei ihr, aber sie wandte den Blick entgeistert in seine Richtung.


„Nein? Wieso? Gibt es dir hier?“ Sie blickte am Zaun hinab, und der Spott verschwand aus seinem Gesicht.

 

„Du hast ihn einfach hergelockt? Mit was? Gut zureden?“, wollte er jetzt ungläubig wissen. Kaya ruckte mit dem Kopf.

 

„Schätze schon“, räumte sie ein. „Ich wusste nicht, wie ich dieses Ding aufsetzen sollte“, erklärte sie, mit Blick auf den Halfter. „Wie… wie heißt er?“, fragte sie schließlich, als Tom sie einfach nur gemustert hatte.

 

„Atreyu“, erwiderte er, und sie sah ihn verblüfft an.

 

„Atreyu? Wie… aus dem Märchen?“, vergewisserte sie sich.

 

„Welches Märchen?“, wollte er verständnislos von ihr wissen.


„Egal“, erwiderte sie knapp. Wahrscheinlich war es peinlich, dass sie das Märchen kannte. Sie wollte nicht wirken wie ein Kind. Aber sie fand den Namen sehr schön. Wirklich schön! Vielleicht war es Schicksal, dass sie dieses Pferd ausgesucht hatte?

 

„Hier“, sagte er schließlich, ohne noch einmal nachzuhaken, nahm ihr das Halfter ab, umarmte praktisch den Pferdekopf und zog den Kopf ein Stück hinab. Er knickte ihm die Ohren zur Seite und schob das Halfter einfach über den Kopf, als ginge es kinderleicht. „Das ist jetzt dein Pferd“, erklärte er lächelnd. „Er ist fünfundzwanzig Jahre alt, gut trainiert und sollte dir keine Probleme bereiten als Anfängerpferd“, schloss er und tätschelte Atreyu den Hals. Eigentlich hätte er doch Artax heißen müssen, überlegte sie fast mit einem Lächeln.

 

„Danke“, sagte sie schließlich und nahm die Führleine in die Hand. Das Pferd musterte sie aus dunklen Augen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses gutmütige Tier Lust darauf hatte, im Kreis zu reiten. Den ganzen Tag lang!

 

„Ist fünfundzwanzig nicht etwas alt?“, wollte sie scheu wissen, aber Tom ruckte mit dem Kopf, so dass sich die Sonne in seinen dunklen Haaren fing.

 

„Nein, überhaupt nicht. Es wird nicht mehr für Turniere genutzt. Nur noch ab und an zum Reiten für die Lehrer“, sagte er leichthin. „Er ist praktisch in halber Rente. Ein bisschen Reiten schadet ihm überhaupt nichts.“ Sie nickte langsam, während sie seinen Nacken tätschelte. „Na los, wir putzen, und dann satteln wir auf. Du musst es lernen, denn ab morgen helfe ich dir nicht mehr“, erklärte er, wieder ganz der unfreundliche Reitlehrer. Sie folgte ihm seufzend, nachdem sie sich die Tasche wieder umgehangen und den Helm und die Weste unter den Arm geklemmt hatte.

Sie hielt ein Pferd an einer Leine. Es war ein epischer Moment, befand sie.

 

Nur das Pferd tat ihr leid. Sie hoffte, sie würde ihm nicht allzu viel zusetzen.

 

 

Elftes Kapitel

– Hunde die bellen –

 

Es war ihr vorgekommen wie eine Ewigkeit, bis Atreyu sauber genug war, alle Hufe ausgekratzt waren, was erstaunlich schnell gegangen war, denn das Tier hatte wie ein Hund, brav alle Hufe von selbst gehoben, bis der Sattel richtig auf dem Pferd gelegen hatte, bis alles sicher verschnallt worden war und vor allem bis sie es endlich geschafft hatte, das Zaumzeug anzulegen. Immer wieder hatte er die Trense aus dem Mund geschoben, bis es ihr irgendwann zu bunt geworden war, und sie das Zaumzeug einfach festgezogen hatte, egal, ob es ihm nun gefiel oder nicht.

 

Tom hatte mehr oder weniger belustigt zugesehen.

 

„Er ist an die Messing-Trense gewöhnt“, erläuterte ihr Tom, während sich die Mädchen wieder bei ihm einfanden. Die gesamte Pause über hatte Kaya ihr Pferd geputzt und gesattelt. Sie schwitzte immer noch, obwohl sie schon auf Helm und Blazer und Weste verzichtet hatte.

 

„Warum?“, fragte sie halb interessiert, halb fertig mit den Nerven. „Ich dachte, die Pferde haben hier kein eigenes Zaumzeug?“, wiederholte sie, was ihr von Frau Kramers Ausführungen im Gedächtnis geblieben war.

 

„Sie schmeckt für ihn besser. Sie ist süßer. Und manche Pferde haben eigenes Zaumzeug sowie einen Sattel. Aber das weiß Frau Kramer ohnehin nicht.“ Wer wusste so etwas schon, überlegte Kaya dumpf.

 

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass so etwas überhaupt schmeckt“, bemerkte Kaya erschöpft, während sie sich gegen das Gatter lehnte, die Zügel locker in der Hand, wie Tom es ihr gezeigt hatte, damit das Pferd nicht auch noch davon spazieren konnte. Wenn Atreyu den Kopf senkte, dann wirkte er zumindest nicht mehr so übermenschlich groß, fand Kaya.

 

„Pferde haben die Trense nicht ungern, verstehst du? Es sind Nutz- und Lastentiere“, fuhr Tom mit einem Lächeln fort. „Sie dienen dem Menschen gerne, wenn man sie denn richtig behandelt“, schloss er strenger. „Und dazu gehört das richtige Auftrensen genauso wie das Putzen!“ Diesen Satz richtete er auch an die Mädchen, die mit fast beiläufiger Eleganz auf den riesigen Tieren aufsaßen. „Das hier ist Kaya. Sie gehört ab heute zu unserer Gruppe, allerdings…“, kurz machte er eine etwas ratlose Pause, „hat sie noch weniger Erfahrung als ihr, sie fängt also langsam an.“

 

Kaya kam sich vor wie ein besonders dummes, neues Kind in der Krabbelgruppe, so wie Tom sie betrachtete.

 

„Führ das Pferd auf die Koppel“, befahl er schließlich, und sie setzte sich in Bewegung. „Ähm, Kaya?“, hielt er sie auffordernd auf, und sie wandte den Blick. Er deutete auf den Helm, den sie auf dem Pfosten vergessen hatte. Richtig! Hastig griff sie nach dem samtenen Helm. „Ein Pferd ist nur so gut, wie es sein Reiter ihm erlaubt. Und wenn du keinen Helm hast, kann es sehr gefährlich enden“, maßregelte er sie sofort. Kaya bemerkte, wie die Mädchen schnell und unauffällig den Gurt ihrer eignen Helme überprüften. Sie entschied sich gegen die Weste. Es war zu heiß. Und wenn sie fiel und starb – dann war es ihr nur recht.

 

Aufsitzen. Kaya hasste das. Mutig stellte sie also voller Elan den Fuß in den Steigbügel. – Oder zumindest versuchte sie es. So leicht war er nämlich gar nicht zu erreichen. Hüpfend konnte sie mit der Fußspitze schließlich in den Bügel.

 

„Möchtest du rückwärts aufs Pferd?“, erkundigte sich Tom spöttisch, während er sich auf dem Zaun abstützte, die Sonne im Nacken, widerlich überheblich. Kaya betrachtete ihr Werk und stellte fest, dass sie den rechten Fuß im linken Steigbügel hatte. Sie atmete resignierend aus, und einige Mädchen kicherten verhalten. Ok, linker Fuß, linker Steigbügel. Es war doch ganz einfach! Kaya wiederholte ihre mühsame Arbeit, wofür die anderen Mädchen keine Sekunde gebraucht zu haben schienen.

 

„Möchtest du eine Aufstieghilfe?“, fragte er. „Da die Mädchen ihre eigenen Pferde mitbringen, sehen wir davon ab, denn es schadet dem Pferderücken nicht, wenn es nur einen Reiter hat“, erklärte er, was sie nicht ganz verstand.

 

„Äh… ich weiß nicht?“ Sie dachte an den blonden Reitlehrer, der ihr so nahe gekommen war, dass sie rot geworden war, und wollte sich vor Tom nicht genauso blamieren. Aber schon holte er ihr eine Art Trittbrett. Das gefiel ihr fiel besser.

 

Eilig kletterte sie die Stufen hoch. Tom zeigte ihr, wie sie die Zügel halten musste, damit ihr Pferd nicht Reißaus nahm. Dann schwang sie ihr Bein über den Pferderücken und saß! Beiläufig korrigierte Tom die Haltung ihrer Finger.

 

„Frau Kramer hat dir keine Handschuhe gegeben“, kommentierte er anscheinend diesen Zustand. „Sprich mit ihr. Handschuhe schützen deine Hände vor Schwielen und dem Geruch des Leders.“ Aha. Ok? Sie hatte gerade andere Probleme als Ledergeruch. 

 

Jetzt müsste sie nur noch reiten. Ihr Vater hatte es gekonnt.

 

Wurde es nicht… vielleicht vererbt? Genauso wie mathematische Unfähigkeit? Wieder einmal ging ihr auf, dass sie auch hier die schlechteste im Kurs war. Aber Pferdesport hatte wieder einmal etwas mit Sport zu tun, also wunderte es sie nicht.

 

Aber das hier war alles, was ihr Großvater ihr zugestand. Mehr würde er nicht für sie tun.

Und wahrscheinlich sollte sie dieses Angebot wahrnehmen. Was blieb ihr übrig? Sie stellte die Füße in die glänzenden, silbernen Steigbügel, die Tom für sie in die richtige Lochlänge gebracht hatte.

Der Sattel besaß keinen Knauf, wie sie ihn bei Jolly Jumper aus den Lucky Luke Comics kannte. Der Sattel wirkte eher schmal und stromlinienförmig. Alles wirkte moderner, als es Kaya sich vorgestellt hatte.

 

Sie musste es versuchen. Für die Nachprüfung. Für Alinas Mühen.

 

Für ihre Mutter, die sich dann erst mal weniger Sorgen machen musste, wenn Kaya mit Biegen und Brechen ihre Nachprüfung bestand.

 

„Ausgezeichnet steif“, kommentierte Tom sehr trocken ihre Haltung. Kaya war schon wieder nass geschwitzt. „Jetzt reih dich ein, locker sitzen“, ergänzte er, und Kaya hob den Blick. Sie und das Pferd standen erdenklich weit abseits.

 

Wie bewegte man ein Pferd?

 

„Weißt du, was eine halbe Parade ist?“, fragte er, mehr oder weniger ernstgemeint. Ja, sie konnte sich vorstellen, was eine halbe Parade war. Aber sie wollte es nicht laut sagen. Sie dachte an Karnevalsumzüge, ohne Verkleidungen. Er nickte dann und kam wieder näher.

„Du drehst den rechten Zügel nach außen“, erläuterte er, „dann weiß das Pferd, dass ein Befehl folgt. Dann gibst du eine Schenkelhilfe. Du übst Druck knapp hinterm Sattelgurt aus“, fuhr er ruhiger fort.

 

Zügel drehen, Schenkeldruck. Das Pferd erwachte zum Leben, als hätte sie einen Schlüssel gedreht. Überrascht versteiften sich ihre Hände.

 

„Nein, du musst nachgeben. Wenn du die Zügel nachgibst, versteht das Pferd, dass es etwas richtig gemacht hat. Gib der natürlichen Nickbewegung des Kopfes nach“, fuhr er fort, und Kaya schwirrte der Kopf. „Noch mal“, befahl er, und Kaya drehte den Zügel und drückte die Schenkel sanft in den Unterbauch des Tieres. Wieder bewegte es sich. Allerdings geradeaus.

 

„Die verwahrende Schenkelhilfe ist wichtig für den Richtungswechsel“, rief er jetzt. „Lass dein rechtes Bein überm Sattelgurt liegen, Kaya“, rief er ihr zu, „und treib leicht mit dem linken Schenkel, gib eine halbe Parade mit dem äußeren Zügel und zeig ihm die Richtung an.“

 

Ja. Aha. Was?! Sie wusste nicht mehr, welcher Schenkel was tun sollte, aber sanft zog sie den Zügel nach rechts. Das Pferd tat ihr den Gefallen.

 

„Hände runter, Kaya, halt die Linie zum Pferdemaul, Zügel kürzer fassen!“, rief er jetzt. „Ganze Parade zum Stehen!“, sagte er, als Atreyu am nächsten Pferd vorbei marschieren wollte. „Beide Zügel drehen, Kaya!“, erläutere er hastig, und sie übte Druck auf beide Zügel aus, und ruckartig hielt das Tier. „Nicht zu heftig. Bereite ihn vor. Er kennt die Signale. Er ist kein abgestumpftes Schulpferd, was du treten und ziehen musst!“

 

Sie war erschöpft und unbegabt. Und sie wollte nach Hause. Sie sah die anderen Mädchen betreten zur Seite blicken, während sie sich gegenseitig anfeixten.

 

„Gleich fällt sie runter“, hörte sie ein Mädchen hinter sich murmeln. Wahrscheinlich hatte sie Recht, dachte Kaya betrübt.

 

Sie machte alles falsch, nahm sie an. Sie hätte lieber ein abgestumpftes Schulpferd, was sie treten und ziehen konnte.


„Ruhe, Mädchen!“, rief Tom wieder, die Peitschte bereit in der Hand. „Kaya!“, ermahnte er sie erneut und kam näher.

Tom sah sie nicht an, als er sie erreichte und gewissenhaft ihren Sitz und die Haltung der Zügel korrigierte. Wie schon der blonde Reitlehrer zuvor, legte er die Zügel an ihren kleinen Fingern vorbei, denn sie hatte vor Panik wieder die Zügel mit der ganzen Hand ergriffen. Dann legte er tatsächlich seine Hand auf ihren Oberschenkel. Sofort schoss ihr Blick zu seinem Gesicht, aber er schien in dieser Geste nichts Schlimmes zu sehen.

 

Kaya schluckte schwer. „Zieh deine Knie nicht an“, sagte er ruhiger und drückte ihre Schenkel in eine unangenehme Position, so dass es anstrengend war, „du willst nicht springen“, schloss er. „Deine Ferse muss der tiefste Punkt sein“, erklärte er weiter. „Guck über die Pferdeohren hinaus, gerade sitzen, gib klare Führungen und kontrolliere deinen Körper genau.“ Kaya spürte, wie sie sich verkrampfte, als er einen Schritt zurückmachte.

 

„Wieso sitzt sie auf diesem Pferd?“, vernahm sie plötzlich die Stimme ihres Großvaters. Fast wäre sie zusammen gezuckt. Eine kurze Unruhe glitt über die Schülerinnen, und Kaya schluckte schwer. Alle sahen ihren Großvater an, der am Gatter lehnte.

 

„Sie sollte sich eines von der Weide holen, oder nicht?“ Tom klang eine Spur unsicher, als er antwortete.

 

„Ja“, entgegnete ihr Großvater missmutig. Es schien ihm zu missfallen, dass sie auf diesem Pferd saß. Oder vielleicht missfiel es ihm generell, dass sie auf einem seiner Pferde saß. Sie nahm es an. „Sie sollte nicht mit den anderen reiten. Sie macht die anderen Pferde nur scheu mit ihrer Unerfahrenheit.“ Super. So fühlte man sich gleich besser.

 

„Noch ist sie nicht gestürzt“, antwortete Tom vage, als würde das noch in Aussicht stehen.

 

„Sie gibt ein miserables Bild ab. Haben Sie die Zeit für Privatunterricht?“

 

Kaya hob den Blick. Nein! Es wäre so demütigend, und alleine mit Tom zu sein wäre noch schlimmer, denn sie glaubte nicht, dass sie unter seiner gesamten Aufmerksamkeit irgendeinen Fortschritt machen würde. Ihr Großvater stand mit zwei überforderten Beratern am Gatter, welche die Pferde beide mit Abscheu und Unverstand betrachteten. Kaya gab es ungern zu, aber sie konnte diese Gefühle beide nachempfinden. Tom schien abzuwägen.

 

„Es ist dieses Jahr ein enger Zeitplan. Mit dem Basic-Kurs und den Springreitern“, sagte er langsam. „Ausgelastet ist meine Zeit schon jetzt. Wenn es Ihnen ein Anliegen ist, dann… wäre es am Wochenende möglich“, erläuterte Tom kühler. Oh ja, das wäre super! Tom hatte ohnehin keine Lust, ihr Reiten beizubringen und dann müsste er sein Wochenende opfern!

 

„Die Wochenend-Prämien sind mir zu hoch“, sagte ihr Großvater lediglich, und Kaya wusste nicht, ob das ein Scherz war. Wahrscheinlich nicht. „Wie sieht Leonards Plan aus?“, wollte er wissen.

 

„Voll“, erwiderte Tom sofort. „Außerdem glaube ich nicht, dass sie Reitkenntnisse erlangen würde, wenn sie heulend auf dem Pferd sitzt“, ergänzte Tom lediglich mit einem eindeutigen Blick. Kaya begriff nicht ganz, nahm aber sehr plötzlich an, dass ‚der Arsch‘, wie Vanessa ihn nannte, bestimmt keine Sekunde Geduld aufbringen würde, um ihr aus dem Staub zu helfen, würde sie fallen. Tom drehte nachdenklich die Peitsche in der Hand. Nein, sie wollte dem blonden Reitlehrer nicht mehr begegnen. Und bestimmt nicht allein! Dann räusperte sich Tom verhalten. „Ich nehme an, Sie selber haben keine Zeit, Herr von Rothenberg?“, schien er die Frage zu wagen, und ihr Großvater runzelte die Stirn.

 

„Ich?“, wiederholte er freudlos. „Ich glaube, ich habe die Zeiten hinter mir, in denen ich unbegabten Schülern meine Zeit schenken muss.“ Kaya fühlte sich noch elender als ohnehin schon. Warum stellte sie sich nicht in die Mitte, und alle durften sie mit Obst bewerfen?!

 

„Gut, es tut mir wirklich leid, Tom, aber ich werde Sie und Leonard einteilen müssen, nach Ihrem regulären Plan noch ein bis zwei Stunden täglich einzuschieben“, fiel das Urteil gnadenlos.

 

Oh so ein Mist, dachte Kaya nur, und war sich sicher, Tom würde sie dafür hassen. Dieser nahm es stumm zur Kenntnis, aber Kaya glaubte, dass er ein wenig schlechtere Laune hatte als zuvor. „Fangen Sie heute nach den Springstunden an!“, befahl er. „Morgen übernimmt Leonard“, beschloss er dann. Sein Blick fiel schließlich auf sie. „Und du schaffst am besten das Pferd vom Platz, bevor die anderen Tiere ihren Reiterinnen noch ausbrechen.“

 

Kaya hatte keine Ahnung, wann die Springstunden zu Ende wären. Und sie wusste nicht, wohin mit dem Pferd. Aber nur zu gerne glitt sie aus den Steigbügeln und hievte sich ungeschickt von Atreyus riesigem Rücken. Ihre Beine zitterten als sie endlich wieder Sand unter den Füßen hatte. Sie griff eilig nach den Zügeln und zog das Pferd mit sich.

 

Ihr Blick senkte sich automatisch, denn der Blick ihres Großvaters war nicht gerade freundlich.

 

„Gib das her“, schimpfte er schließlich, als sie am Gatter angekommen war, und er seinen Beratern befohlen hatte, es zu öffnen. „Du brichst ihm noch die Zähne raus, wenn du so zerrst“, blaffte er sie an und nahm ihr die Zügel ab. Tränen stachen bereits hinter ihren Augen.

 

„Es ist das erste Mal, dass ich auf einem Pferd sitze!“, murmelte sie zornig und beschämt. „Und es wird nicht besser funktionieren, wenn Sie mich anschreien!“

 

„Mädchen, du bist hier her gekommen. Ich tue dir einen Gefallen, es ist ganz bestimmt nicht umgekehrt!“ Und er hatte kein Problem, lauter zu werden. Es schien ihn nicht zu stören, sie vor fünfzehn Leuten anzuschreien. Und zu gerne hätte sie erwidert, dass sie keine Gefallen von ihm wollte! Aber sie dachte daran, dass sie ihre Nachprüfung tatsächlich bestehen könnte, würde sie sich nur eine Stunde lang filmen, wie sie sich im Sattel hielt und vielleicht trabte, vielleicht irgendetwas zu Stande brachte! Sie wusste nicht, ob es das wert war, aber sie wusste, zurzeit sah es in ihrem Leben nicht gerade gut aus.

 

„Es ist nicht nötig, dass mich Ihre Leute jeden Tag unterrichten. Darauf haben die keine Lust und ich ganz bestimmt auch nicht!“, sagte sie böse.

 

„Du bist eine undankbare Göre“, entfuhr es dem Mann vor ihr kopfschüttelnd. „Du solltest lieber-“

 

„-ich bin nicht undankbar!“, fuhr sie ihn an, während sie ihre Hände in die Hüften stemmte. „Aber ich denke, ich muss mich nicht beleidigen und demütigen lassen, weil ich ein klein wenig Reitunterricht haben möchte! Ich will keine Turniere gewinnen, ich will kein Zimmer mit Pokalen füllen, wie es hier vielleicht üblich war!“ Seine Augen hatten sich merklich geweitet. „Sie hätten auch ablehnen können! Und wissen Sie was, das können Sie auch immer noch tun. Wenn es so eine Last und so eine Qual ist, dass ganze Dienstpläne geändert werden müssen, dann lassen wir es einfach!“, rief sie zornig aus.

 

„Ich kann nicht fassen, wie viel Unverstand mir von dir entgegen gebracht wird! Bei deiner Erziehung wundert es mich natürlich nicht!“, ergänzte er boshaft.

 

„Meine Erziehung ist vollkommen in Ordnung! Meine Mutter ist die beste Mutter der Welt, aber woher sollten Sie das wissen?!“, rief sie, und sie glaubte schon, weinen zu müssen, denn niemand beleidigte ihre Mutter! Niemand! Und schon gar nicht er!

 

„Ich werde darüber ganz bestimmt nicht streiten! Und ich halte mich an Vereinbarungen. Du wirst hier heute Abend und jeden weiteren Abend der Woche um zwanzig Uhr auftauchen. Du wirst jeden Tag eine Reitstunde bekommen, und wenn du nach einem Monat das Pferd noch immer rückwärst besteigst ist es mir auch egal! Damit ist der Vertrag erfüllt, damit bist du endgültig und für immer von hier verschwunden! Mir egal, wie du deine Tage füllst, aber du wirst dich nicht auf meinem Gestüt aufhalten, hast du das verstanden? Du wirst mir nicht mehr unter die Augen kommen, und mein Personal wird sich darum kümmern, dass du hier nach deinen Reitstunden direkt wieder verschwindest! Kein Putzen, kein Aufsatteln!“

 

Es war unglaublich still geworden und jeder hörte ihnen zu, sogar die Stalljungen waren aus den angrenzenden Gebäuden gekommen. Und Kaya war es egal, ob die ganze Welt zuhören würde. Sie griff sich ihre Umhängetasche von dem Pfosten zu ihrer Linken.

 

„Hast du mich verstanden?“, vergewisserte er sich tatsächlich bei ihr, und seine Stimme zitterte vor Zorn. Ihr Blick war trotzig und gehässig, sie verhielt sich so, wie Alina und sie geschworen hatten, sich nie mehr zu verhalten, nachdem sie beide einen Heulkrampf bei Alinas Eltern bekommen hatten, weil sie um halb zwölf an Silvester nicht mehr nach draußen gedurft hatten, obwohl sie schon sechszehn und erwachsen gewesen waren! Es war genauso demütigend gewesen, aber Kaya verhielt sich jetzt gerade wie ein bockiges Kind, und sie hatte kein Problem damit!

 

„Glauben Sie mir, das habe ich. Ich hatte sowieso nicht vor, noch einmal mit Ihnen zu sprechen!“, presste Kaya unter Tränen hervor.

 

„Gut, dann scheinst du meine Worte ja begriffen zu haben!“, entgegnete er, und sie bohrte ihren Blick nur zu gerne in seinen. Sie hatten scheinbar nichts mehr zu sagen. Es wunderte sie nicht, dass ihr Vater abgehauen war! Sie glaubte nicht, dass irgendjemand ihn mochte! Er war einfach nur grauenhaft!

 

Und sie war wütend. „War’s das?“, wollte sie tatsächlich patzig von ihm wissen, und seine Mundwinkel zuckten vor Zorn.

 

„Ja. Das war’s“, bestätigte er herablassend ihre Worte in genau ihrem Tonfall, und Kaya stürmte an allen glotzenden Zuschauern vorbei.

 

Mit jedem Schritt stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht, und sie hasste ihr Temperament, von dem ihre Mutter behauptete, sie müsse es von ihrem Vater haben, aber sie kannte die Momente, wenn ihre Mutter wütend war, und kurzerhand Blumentöpfe aus dem Fenster warf!

 

Beim Gehen schloss sie peinlich berührt die Augen. Gott, sie hatte sich vor zwanzig Leuten zum Affen gemacht und hatte ihren unbekannten Großvater angeschrien. Super.

Gut, dass das niemand gefilmt hatte!

 

Und sie war sich nicht völlig sicher, aber… wenn er sich nach diesem Streit immer noch an seinen Vertrag hielt, dann… war er vernünftiger als sie. Austesten würde sie es auf jeden Fall! Wenn er sie dann vom Gestüt warf – dann würde sie endlich nach Hause fahren.

 

 

Zwölftes Kapitel

– Bastians Hilfe –

 

Erschöpft lag sie flach auf dem Bett und wartete, dass es halb acht sein würde.

 

Sie musste nicht mal ihr Pferd satteln. Sie kam nur dorthin für die Reitstunden. Es würde nichts Spektakuläres passieren, ging ihr auf. Kein Turnier bei dem sie sich filmen würde, bestimmt nicht mal irgendein Bock, über den sie springen müsste.

 

Sie müsste sich also tatsächlich von Tom beim Galoppieren filmen lassen, und das müsste reichen. Sie glaubte mittlerweile nicht mehr, dass es reichen würde. Nicht, dass sie glaubte, dass sie jemals galoppieren können würde. Unglücklich starrte sie an die vertäfelte Decke. Ihr Handy vibrierte auf dem Nachttisch neben ihr, und hastig rappelte sie sich aus den Kissen.

 

War es Alina? Denn die hatte sich noch nicht gemeldet!

 

Nein, stellte sie mit Schrecken fest. Es war ihre Mama. Sollte sie rangehen, überlegte sie tatsächlich. Denn sie würde Frau Wagner wieder nicht ans Handy holen können. Aber sie verwarf ihre Sorgen, denn sie wollte ihre Mutter hören!

 

Hastig ging sie ran.

 

„Mama!“, rief sie und hörte im Hintergrund ohrenbetäubenden Lärm.

 

„Hey, Kurze!“, begrüßte ihre Mutter sie laut. „Wie geht es dir?“

 

„Gut, Mama!“, log Kaya übertrieben munter. „Alina und ich sind… im Zoo“, log sie schnell. „Allein“, ergänzte sie, falls ihre Mutter dachte, sie wären dort mit Alinas Eltern, aber ihre Mutter schien nicht wirklich mit der Absicht angerufen zu haben, nach Alinas Mutter zu fragen.

 

„Schön, Kurze. Sag mal, kannst du mir einen Gefallen tun? Herr Puslowski hat mich angerufen“, sagte sie, und sie sprach in der Stimme, die Kaya das Herz brach, denn ihre Mutter klang entschuldigend und untröstlich. Herr Puslowski war ihr Hausverwalter. Er wohnte im Erdgeschoss. „Es fehlen für den Monat noch fünfzig Euro. Aber… ich hatte nicht genug auf dem Konto, wegen der Reparatur für die Waschmaschine?“, erinnerte sie ihre Mutter, und Kaya nickte, ohne dass ihre Mutter es sehen konnte. „Könntest du später nach Hause in die Wohnung gehen und aus dem Sekretärschrank im Wohnzimmer 50 Euro nach unten bringen? Ich kann mir denken, dass Herr Puslowski uns wegen 50 Euro sonst richtige Probleme machen wird, der alte Erbsenzähler.“

 

Und Kaya nickte wieder, während sie auf ihrer Lippe kaute.

 

„Kein Problem, Mama“, sagte sie sofort. Wenn ihre Mutter mit dieser Stimme sprach, dann tat Kaya eigentlich alles sofort!

 

„Ich danke dir, Kaya! Tut mir so leid, dass ich dich damit belästigen muss, aber ich bekomme meine Gage erst nach der Show. Dann haben wir auch erst mal keine Sorgen mehr! Dieses Jahr zumindest“, ergänzte sie wieder entschuldigend.

 

„Mach dir keine Gedanken. Ich mach das schon“, versicherte Kaya ihr, und ihre Mutter atmete dankbar auf.


„Du bist mein liebes Mädchen. Tut mir leid, wir müssen weiter machen. Es wird langsam was, Kaya. Ich lerne dazu. Ich werde eine wunderbare Background-Rollschuhfahrerin sein“, versprach ihre Mutter lachend, und Kaya fühlte sich ein wenig leichter ums Herz. Sie vermisste ihre Mutter so sehr!

 

„Das glaube ich, Mama.“

 

„Mach’s gut! Ich ruf wieder durch. Und Danke, Kurze!“

 

Damit war das Gespräch vorbei. Kaya seufzte auf, denn sie wünschte sich wirklich, länger mit ihrer Mutter sprechen zu können. Sie vermisste ihre Stimme so, und –

 

Oh großer Gott! Was?!

 

Herrn Puslowski die Miete bringen?! Sie konnte ihm die Miete gar nicht bringen! Heiß kochte die Panik in ihr hoch. Oh nein! Sie hatte ganz vergessen, dass sie gerade überhaupt nicht in Berlin war! Was sollte sie jetzt machen? Was sollte sie tun? Wem sollte sie Bescheid sagen? Alina war nicht da, und selbst wenn – sie hatte den Schlüssel hier!

Oh Gott! Sie musste nach Hause! Dann wäre sie aber nicht hier! Und dann müsste sie wieder zurück, wenn sie sich beim Reiten filmen wollte!

 

Oh Gott. Kaya atmete schneller, begann durchs Zimmer zu laufen, während Tränen ihre Augen füllten. Was sollte sie tun? Würden sie aus der Wohnung geworfen werden, wenn Kaya das restliche Geld nicht brachte? Wahrscheinlich! Wieso rief Alina nicht an? Alina würde wissen, was zu tun war, dachte Kaya unglücklich, und schon vibrierte ihr Handy erneut.

 

Alina! Hastig griff sie es sich vom Bett, aber… es war nicht Alina.

 

Oh nein. Es war Bastian. Der sie tatsächlich schon wieder anrief, weil er sie auch mochte, und weil sie nichts miteinander haben mussten, um zu telefonieren, oder so was, wiederholte sie in Gedanken die Worte seiner SMS und wurde wieder rot.

 

Mist. Resignierend ging sie ran.

 

„Hi“, begrüßte sie ihn erschlagen.

 

„Hey, alles ok? Du klingst… sauer? Bist du sauer wegen gestern, Kaya? Ich wollte-“

 

„-nein, nein“, unterbrach sie ihn, denn sie befürchtete, dass er sich entschuldigen wollte, oder so etwas ähnliches. „Ist alles ok“, murmelte sie abwesend. Gar nichts war ok! Sie hatte ihren Großvater angeschrien und ihrer Mutter versichert, die Miete nach unten zu bringen.

 

„Was ist los?“ Er schien ihr ihre Worte nicht abzukaufen. Sie atmete langsam aus und sank auf das Bett.

 

„Ach gar nichts. Ich… muss wieder nach Hause“, erklärte sie also deprimiert. Anders ging es nicht.

 

„Was?“, entfuhr es ihm. „Was hast du gemacht? Das Gestüt abgebrannt?“, wollte er ungläubig wissen, und sie verzog unglücklich den Mund.

 

„Nein. Nein, ich muss einfach wieder zurück.“

 

„Wieso?“ Er ließ nicht locker.

 

„Wieso? Weil meine Mutter vergessen hat, die restliche Miete runter zum Verwalter zu bringen und sie mich gerade angerufen hat, um zu fragen, ob ich es eben machen könnte, weil ich ja sowieso in Berlin bin!“, erklärte sie ihm gereizt.

 

„Oh“, bestätigte er knapp. Kaya fuhr sich durch die Haare. Sie musste morgen früh abreisen. Dann wäre sie morgen Nachmittag in Berlin und konnte Herrn Puslowski das Geld geben. Vielleicht sollte sie Bastian nach seiner Nummer googeln lassen, damit er ihre Wohnung nicht zwangsräumen ließ? Aber hatte sie überhaupt noch genug Guthaben, um mit Herrn Puslowski zu sprechen? Vielleicht gab es eine Telefonzelle im Dorf, die – „Ich kann das machen“, unterbrach Bastian kurzerhand ihre Gedanken.

 

Was? Sie zog die Stirn in Falten. Was hatte er gesagt?

 

„Kaya?“, entfuhr es ihm unsicher, und sie schüttelte knapp den Kopf. Es war unmöglich.


„Nein, kannst du nicht. Du hast keinen Schlüssel, und wenn ich ihn schicke, dann… wäre er zu spät da. Außerdem müsstest du in unsere Wohnung, und der Verwalter kennt dich nicht. Ich müsste Herrn Puslowski anrufen, und-“

 

„-Kaya, ich kann das auslegen“, erklärte er ernst. Sie schwieg abrupt.

 

„Nein!“, widersprach sie und schüttelte heftig den Kopf, ohne dass er es sehen konnte.


„Was? Warum nicht?“, entfuhr es ihm ungläubig. Weil sie schon von Alina mehr als genug Geld bekommen hatte! Da brauchte sie nicht auch noch Geld von Alinas Freund!

 

„Ganz einfach Nein, Bastian!“, fuhr sie ihn jetzt wütend an. „Ich mach das schon!“

 

„Du bist in Hamburg! Du bekommst Reitunterricht, und wenn du jetzt abreist, dann… wie willst du dann deine Nachprüfung bestehen?“, wollte er aufgebracht von ihr wissen.

 

„Dann fällt mir eben was anderes ein. Oder ich bestehe sie einfach nicht, mein Gott! Dann wiederhole ich. Es ist mir egal. Aber niemand zahlt mehr irgendetwas für mich. Ich habe das nicht nötig, ok? Es ist nicht so, dass meine Mutter und ich die Miete nicht zahlen könnten!“, empörte sie sich nur noch mehr und stellte fest, die Worte ihres dummen Großvaters setzten ihr zu. Sie kam sich vor wie ein schlechter Mensch, weil er ihr sagte, wie arm und nutzlos und unbegabt sie war.

 

Und jetzt weinte sie nicht!

 

„Kaya-“, versuchte es Bastian erneut, die Stimme ruhiger, um Vernunft bemüht, aber Kaya widersprach.

 

„Danke, Bastian, aber es ist ok. Ich brauche dein Geld nicht. Ich komme nach Hause.“ Damit legte sie auf. Hätte sie es ihm doch überhaupt nicht erzählt!

 

Almosen…. Das Wort klingelte in ihren Ohren. Sie brauchte keine Almosen. Von keinem.

 

Es wurde Zeit, stellte sie abgelenkt fest, als sie die Zeit auf ihrem Handy bemerkte. Sie könnte gleich los zum Gestüt. Sie nahm an, sie würde sowieso keine gute Zugverbindung mehr erwischen heute. Sollte sie wirklich noch mal da hin?

Aber was sollte sie sonst tun?

 

Sie atmete resignierend aus.  

Ja. Ihre Reise war nun doch kurz gewesen.

 

Bevor sie ging, packte sie das Nötigste bereits ein. Wenn sie wiederkam würde sie Frau Ohlkamp direkt Bescheid geben, dass sie kein Frühstück brauchte. Für eine Sekunde war sie sauer auf ihre vergessliche Mutter. Aber nicht länger als eine Sekunde, denn… sie fühlte sich hier sowieso unwohl.

 

Mit einem knappen Blick zurück, verließ sie ihr Zimmer. Noch eine Nacht wäre sie hier.

 

~*~

 

Sie stieg vom alten Fahrrad und lehnte es gegen die Koppel, an der sie sich heute den Showdown mit ihrem Großvater vor dem versammelten Gestüt geliefert hatte.

Statt eines Fahrradhelms hatte sie den Reiterhelm getragen. Sie würde die Sachen direkt hier lassen müssen, aber ihre normale Kleidung war ja auch immer noch hier. Sie nahm die Umhängetasche nicht ab. Vielleicht konnte sie die Kamera irgendwie noch mal zum Einsatz bringen.

 

Sie wusste nicht, warum sie plötzlich schwermütig wurde. Die Sonne versank bereits hinter den Bäumen. Die Luft war lau und Vögel zwitscherten an diesem heißen Tag.

 

„Wieder da?“, erkundigte sich Tom bedächtig bei ihr, als er mit zwei gesattelten Pferden hinter den Ställen abgebogen war und in ihre Richtung kam. Sie erwartete, dass er so schlechte Laune hatte wie sie. Sie konnte sein Gesicht nicht lesen.

 

„Es tut mir leid, dass du länger arbeiten musst“, entschuldigte sie sich sofort.

 

„Weißt du Kaya Rothenberg“, begann er, während er ihr seufzend die Zügel reichte, „ich glaube, du hast es nicht viel leichter als ich“, schloss er knapp, während er sie nicht aus den Augen ließ. Sie konnte sich einbilden, geweckte Neugierde in seinem Blick zu erkennen, aber stellte keine weiteren Fragen mehr. Er wusste jetzt scheinbar auch, wer sie war. Es war alles nicht mehr wirklich wichtig, nahm sie an.

 

 „Wer ist das?“, fragte sie schließlich, um irgendetwas zu sagen, denn das hier war ein anderes Pferd. Es war nachtschwarz.

 

„Das… ist Gusto“, stellte er ihr das Pferd vor. „Dein Großvater hat es nicht für angebracht gehalten, dir Atreyu zu geben“, erklärte er, ohne großartig zu verschleiern, dass er diese Entscheidung wohl nicht nachvollziehen konnte.

 

„Oh“, sagte sie nur und fühlte sich schon wieder schlecht. Sie senkte den Blick auf die Zügel in ihren Händen.

 

„Dieses Pferd ist so gut wie verkauft. Also… wirst du auch ihn nicht besonders lange reiten“, fuhr er kopfschüttelnd fort. Sie würde ohnehin nicht mehr reiten, dachte sie gleichmütig. „Wollen wir… anfangen?“ Er sah sie auffordernd an.

 

„Ok.“ Sie wollte ihm auf die Koppel folgen, aber er führte sein Pferd an der Koppel vorbei. Jetzt erst war ihr aufgefallen, dass er zwei Pferde gebracht hatte. Ritt er… auch? Wollte er sie demütigen?

 

„Was tust du?“, rief sie ihm nach und folgte ihm mit Gusto.

 

„Ich habe nicht wirklich so große Lust, auf der Koppel Unterricht zu geben“, erwiderte er lapidar und schenkte ihr einen entsprechenden Blick, der kurz ihre Knie weich werden ließ. Oh je. Sie mochte ihren Reitlehrer. Das ging nicht. Das ging wirklich nicht. Sie mochte die Koppel auch nicht wirklich. „Zwar bietet sich Longenunterricht bei dir an, aber…“ Er beendete den Satz nicht und zuckte die Achseln. „Leonard wird dich morgen noch genug mit klassischem Reitunterricht quälen. Da dachte ich mir… wir sind heute unkonventionell.“

 

Sie hatte ein wenig Angst. Und Tom sagte nichts dazu, dass ihre Umhängetasche umließ. Er hatte – als wäre es kinderleicht – bereits sein Pferd bestiegen. Kaya seufzte auf und wandte sich dem Pferd zu.

 

„Neues Spiel, neues Glück“, sagte sie achselzuckend. Sie blickte zum Rücken des Tieres empor. Es war eine bedrückende Aussicht. Aber sie riss sich zusammen.

Und nach dem zweiten Anlauf, schaffte sie es, sich in die Höhe zu ziehen. Triumphierend lächelte sie, zog ihr Bein über den Rücken und fand die Steigbügel vielleicht sogar eine Idee schneller als noch zuvor. Vielleicht bildete sie es auch nur ein.

 

Tom hatte einige Meter weiter vorne gewartet.

 

„Zügel locker, leichter Schenkeldruck“, sagte er knapp und Kaya tat wie ihr geheißen. Das Tier bewegte sich beim zweiten Schenkeldruck. Als sie auf Toms Höhe war, fiel er mit ihr in einen Gleichschritt.


„Sehr gut“, lobte er sie tatsächlich, und sie stellte fest, dass er sie nun schon mehrfach angelächelt hatte. Etwas, was sie vorher nicht bei ihm zu Gesicht bekommen hatte. Er wirkte anders, stellte sie fest. Und es war… nett. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn zu lange ansah. Hastig wandte sie den Blick nach vorne, während beide Pferde träge einen Seitenweg, weg von dem Weg zum Parkplatz, entlang schritten.

Schon bald lag rechts nur noch die weite Wiese und links ebenfalls eine Schneise weites Grün, bis die hohen Büsche, die das Grundstück von der Straße trennten, in die Höhe ragten.

 

„Ist das alles, was wir tun?“, fragte sie, ein wenig enttäuscht und gleichzeitig erleichtert. Sie sah Tom nicht direkt an, denn sie befürchtete, zu offensichtlich zu starren.

 

„Ich denke, für deine erste Reitstunde ist es nett, ein Gefühl für das Pferd zu bekommen“, erklärte er zufrieden. „Für gewöhnlich reite ich manchmal selber alleine noch aus, nach einem anstrengenden Tag. Heute kommst du mit. Du kannst es gebrauchen“, sagte er nur. „Tief einsitzen, Kaya“, ergänzte er, ehe sie auf seine Worte eingehen konnte. „Schwing mit den Bewegungen deines Pferdes mit“, fuhr er fort.

 

Es war ihre erste Stunde und gleichzeitig ihre letzte. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Und dann räusperte sie sich. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte sie ihn, und bereute es direkt. Es sollte nicht so dumm klingen, wie sie es sagte.

 

„Wie kommst du darauf?“ Tatsächlich klang er verblüfft. Sie wurde schon wieder rot!

 

„Ich… nur so. Du hast es mich auch gefragt, als ich das erste Mal hier war!“, rechtfertigte sie sich sofort, obwohl sie gerade tatsächlich aus einem Impuls heraus gefragt hatte. Weil sie ihn angesehen hatte, weil sie ihn vielleicht ein bisschen mochte. Weil sie sich fragte, ob er so alt war, dass sie ihn unmöglich mögen durfte. Das ging durch ihren dummen Kopf, aber sie sagte etwas anderes. „Und mich interessiert, wie alt die Reitlehrer hier sind“, setzte sie hastig hinterher. Sein Lächeln entging ihr nicht. Und sie hatte Mühe, zwanglose Konversation zu betreiben, während sie darauf achten musste, gerade und tief einzusitzen, während sie keinen Druck mit den Schenkeln ausüben durfte, es sei denn, sie wollte, dass das Tier ging, dass sie ihre Hände nicht auf dem Sattel ausruhen durfte, und dass sie eine gerade Linie zum Pferdemaul hielt. Es war eine Menge. Und sie meisterte es nicht schlecht, fand sie.

 

Wahrscheinlich war das Tier aber auch treudoof und lammfromm, nahm sie an. Sie hoffte es zumindest.


„Ok“, erwiderte er nickend. „Also Vanessa hast du schon kennengelernt?“, vergewisserte er sich, und Kaya nickte. Ja, Vanessa mochte sie. „Vanessa ist 23 und ist die älteste von uns“, bemerkte er mit geduldiger Stimme, und Kaya kam sich vor wie ein dummes, pubertierendes Kind.

 

„Wow. Sie sieht nicht so alt aus“, bemerkte Kaya, um irgendetwas zu sagen.

 

„Pferdesport hält jung“, antwortete Tom spöttisch. „Ich bin einundzwanzig“, fuhr er schließlich fort. Vier Jahre Unterschied. Und sie wurde dieses Jahr noch achtzehn. Dann nur drei Jahre, rechnete ihr dummer, dummer Kopf eilig aus. Dann war es nicht unmöglich, dass sie ihn mochte. Sie nickte stoisch dem Pferdekopf entgegen. „Und Leonard ist neunzehn“, schloss er knapp. Sie hob den Blick.

 

„Wirklich?“, entfuhr es ihr ungläubig. „Er wirkt so…“ Unschlüssig zögerte sie.

 

„Was?“, wollte Tom gespannt von ihr wissen. Böse und gemein, dachte sie. Sie schüttelte nur den Kopf.


„Er wirkt älter“, entgegnete sie knapp. Sie hatte geglaubt, der blonde Reitlehrer wäre der ältere von ihnen.

 

„Es liegt an seiner Art“, bestätigte Tom nachdenklich und sah sie endlich nicht mehr an. „Aber er ist nicht wirklich unfreundlich, er ist nur…“ Er schien zu überlegen, schien aber zu keinem guten Schluss zu kommen. Dann zuckte er die Achseln. „Oder vielleicht ist er einfach nur unfreundlich“, schloss er mit einem schmalen Lächeln. Kaya musste ebenfalls lächeln.

 

Und sie entspannte sich tatsächlich. Wenn sie nicht darauf achten musste, wann sie wo Schenkeldruck anzuwenden hatte, wie sie zu sitzen hatte, dann kam es von ganz alleine, stellte sie fest. Sie konnte die Bewegungen des Pferdes erahnen, sie spürte, wie sich ihr Sitz ganz von selbst anpasste, und Tom kritisierte sie kein einziges Mal.

 

„Wohnst du hier?“, fragte sie ihn schließlich, als sie ein ganzes Stück schweigend geritten waren. Er schüttelte den Kopf.

 

„Nein, ich wohne in der Stadt“, erwiderte er.

 

„Allein?“ Sie hatte gar nicht fragen wollen. Aber dumme Fragen verließen ihren Mund heute wohl ständig in seiner Nähe.

 

„Allein?“, wiederholte er. „Nein. Ich wohne mit meiner Mutter zusammen“, ergänzte er schließlich, vielleicht etwas zögerlich. Für sie war das nichts Neues. Sie wohnte auch mit ihrer Mutter zusammen. Wahrscheinlich würde sie das auch tun, wenn sie einundzwanzig wäre, überlegte sie dumpf.

 

„Ok“, erwiderte sie nickend. Sie wusste nicht, ob sie erwartet hatte, dass er mit… seiner Freundin zusammen wohnte oder so etwas. Vielleicht. Und dann fand sie es wohl besser, dass er mit seiner Mutter wohnte.

 

„Sie… sie kann sich eine eigene Wohnung zurzeit nicht leisten“, schien er fortfahren zu müssen. Kaya hob den Blick. „Es ist nicht so, dass wir… arm wären, es ist nur-“

 

„-ich verstehe“, sagte Kaya bloß, vielleicht ein wenig verständnislos, weil er sich wohl rechtfertigte.

 

„Sobald ich arbeiten kann, werde ich meine Mutter definitiv unterstützen. Dann zahle ich die Hälfte der Miete“, murmelte Kaya, und dachte wieder an die blöde Miete, wegen der sie nach Hause musste. Und wieder ruhte Toms Blick auf ihr.

 

„Kaya“, begann er wieder, und sie konnte nicht umhin, festzustellen, dass sie mochte, wie er ihren Namen sagte. Gott, sie war dumm. Wirklich ein dummer Teenager. Gerne wäre sie wie Vanessa, an der Komplimente und solche Sachen wie, wie jemand ihren Namen aussprach, einfach abprallten.

 

„Ja?“, erwiderte sie, weil er nicht weiter sprach.

 

„Was ich nicht verstehe, ist…“ Aber er sprach wieder nicht weiter. Sie sah ihn langsam verwundert an.

 

„Ja?“, wiederholte sie mit mehr Nachdruck, während ihre Hände ruhig den Nickbewegungen des Pferdes folgten. Sie machte das gut, fand sie. Die Pferde liefen gemütlich, als würde sie nichts anderes im Leben lieber tun. Sie ritt tatsächlich aus. Mit einem gutaussehenden Reitlehrer. Es war nett.

 

„Wieso… hast du kein Geld?“, fragte er direkt. Sie blinzelte verblüfft. „Ich meine“, ruderte er hastig zurück, „dein Großvater ist… der reichste Mann, den ich persönlich kenne“, sagte er schließlich. Und Kaya zuckte die Achseln.

 

„Er mag meine Mutter und mich nicht. Und seinen Sohn auch nicht“, erwiderte sie achselzuckend.

 

„Aber… wieso nicht?“ Tom schien es nicht zu verstehen. Und vielleicht war es nicht zu verstehen. Und Kaya biss sich auf die Unterlippe. Und sie fragte sich, warum sie Tom ihr Geheimnis erzählte, was sie sonst niemals öffentlich machte, was nur Alina wusste. War sie wirklich verschossen in den Reitlehrer? Es wäre so erbärmlich, weil er wahrscheinlich dachte, dass sie nur ein dummes kleines Mädchen war, was Reitunterricht wollte. Aber sie sprach tatsächlich.

 

„Mein Vater“, begann sie zögerlich, und fand es jedes Mal lächerlich, wenn sie von ihm erzählte, denn sie kannte ihn überhaupt nicht. „Meine Eltern haben mich mit sechzehn bekommen“, setzte sie anders an. „Und mein Großvater… fand das nicht besonders gut“, vermutete sie mit einem traurigen Lächeln. „Die beiden sind abgehauen nach Berlin. Und…“ Sie überlegte, ob ihre Mutter diese Geschichte sonst noch ausgeschmückt hatte, aber sie glaubte nicht. „Dort haben sie ein Jahr gewohnt, und dann… hat mein Vater festgestellt, dass er schwul ist“, schloss sie achselzuckend. Tom sah sie an. Mit großen Augen.

 

„Oh“, entfuhr es ihm peinlich berührt. Und Kaya seufzte auf.

 

„Ja. Meine Eltern haben sich getrennt, und… seitdem wohne ich mit meiner Mutter in Berlin, und meinen Großvater habe ich jetzt zum ersten Mal gesehen“, erklärte sie gleichmütig.

 

„Oh“, wiederholte Tom wieder, ein wenig aus der Bahn geworfen. „Das tut mir leid“, sagte er sofort, aber Kaya zuckte wieder die Achseln.

 

„Muss es nicht.“ Ihr fiel auf, dass das ihre Standard-Reaktion war. Schon immer. Immer, wenn jemand Mitleid bekundete. Und tatsächlich sah Tom sie ernster an.

 

„Tut es aber“, wiederholte er mit mehr Nachdruck. Sie sah ihn wieder zu lange an. Hastig sah sie über die Pferdeohren nach vorne, wie er gesagt hatte. Dann verzog er ungläubig die Mundwinkel. „Ich wusste gar nicht, dass Herr von Rothenberg überhaupt einen Sohn hat“, fuhr er fort. Kaya sagte nichts dazu. Es wunderte sie nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann es den Leuten gerne auf die Nase band, vermutete Kaya. Wahrscheinlich war er enttäuscht. Er mochte weder sie, noch ihre Mutter. Wahrscheinlich gab er ihnen die Schuld daran, dass sein Sohn abgehauen war.

 

„Danke“, sagte Tom plötzlich. Kaya hob irritiert den Blick.

 

„Wofür?“, fragte sie entgeistert.


„Dafür, dass du mir so was anvertraust“, erwiderte er ernst. Aber für sie war es kein wirklich schlimmes Geheimnis. Für sie war es einfach, wie es war. Manche Familien waren eben nicht wie all die anderen. Sie zuckte lediglich die Achseln

 

„Es ist kein Staatsgeheimnis“, wiederholte sie seine Worte von ihrer ersten Begegnung vor einigen Tagen.

 

„So wie dein Alter?“, verstand er ihren Wink, und sie musste wieder lächeln.

 

„Ja“, bestätigte sie. Er hatte so ein nettes Lächeln. Hastig blickte sie wieder nach vorne.

 

Und sie zuckte zusammen, als ihr Handy virbrierte. Tom sah sie entsprechend tadelnd an.

 

„Ich hätte dir die Tasche doch verbieten sollen“, bemerkte er kopfschüttelnd. Sie wartete mehrere quälend lange Sekunden. „Dann zeig mal, ob du beides kannst“, bemerkte er auffordernd. Ihre Augen wurden groß.

 

„Was?“, piepste sie verunsichert, während sich das Pferd von ihrem Vibrationsalarm nicht stören ließ.

 

„Reiten und telefonieren“, antwortete er spöttisch. Sie fiel aus ihrer Starre, hielt sie Zügel mit einer Hand und angelte sich ihr Handy aus der Tasche. Peinlich. Wirklich peinlich. Gut, dass Tom scheinbar gute Laune hatte, dachte sie dumpf.

 

Sie kannte die Nummer nicht. Aber… sie hatte 030 als Vorwahl. Der Anruf kam aus Berlin. Zögernd strich sie über das Display.

 

„Ja?“ Sie hielt die Zügel weiter mit einer Hand und völlig unbeeindruckt schritt das Tier unter ihr dem Sonnenuntergang entgegen, während Tom kopfschüttelnd nach vorne blickte.

Ihre Augen weiteten sich, als sie die Stimme erkannte.

 

„Kaya, hier ist Herr Puslowski“, sagte ihr Verwalter in seinem breiten polnischen Akzent, den sie und ihre Mutter manchmal nachahmten. Und er klang genervt. Oh nein! „Dein Freund ist hier. Die Miete ist bezahlt. Und das soll ich dir sagen“, schloss der Mann verständnislos.

 

„Mein Freund?“, wiederholte Kaya tonlos und begriff. „Bastian? Bastian ist… bei Ihnen?“, entfuhr es ihr fast hysterisch, und die Zügel sanken in ihrer Hand. Das Pferd blieb stehen, ohne dass sie es merkte. „Nein! Nein, wirklich er kann nicht-“

 

„-nächsten Monat bitte pünktlich. Sag das deiner Mutter“, war alles, was Herr Puslowski nach sagte, ehe er klanglos auflegte.

 

„Nein! Herr Puslowski!“, widersprach Kaya eilig, aber die Verbindung war unterbrochen. „So eine Scheiße“, murmelte sie unglücklich und hatte ganz vergessen, wo sie war und was sie tat.

 

Tom hatte ebenfalls angehalten und sah sie an. Sie schnappte aus ihrer Abwesenheit. Sie wurde rot.

 

„Ich… Entschuldigung“, sagte sie, ließ ihr Handy verschwinden, fasste die Zügel kürzer und übte kurz Schenkeldruck aus. Sie bemerkte gar nicht, dass er sie von der Seite musterte. Sie würde ihn umbringen! Sie würde Bastian vierteilen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Sie hatte sein blödes Geld nicht gewollt. Und er war nicht ihr Freund! Sie war wütend. Sie war wirklich-

 

„-Kaya?“, schien Tom zu wiederholen und sie hob verstört den Blick.

 

„Was?“, fragte sie hastig, und seine Stirn legte sich in Falten.

 

„Geradesitzen“, befahl er ihr strenger und sie gehorchte eilig. Er sprach sie nicht auf ihr Gespräch an. Sie bogen anschließend ab und scheinbar waren sie eine Runde geritten. Sie kamen wieder an der Koppel an.

 

Sie hievte ihren Körper aus dem Sattel, während Tom elegant abgestiegen war. Es war eine halbe Stunde vergangen, stellte sie mit Blick auf die Uhr über dem Stall fest. Sie merkte, dass ihre Oberschenkel ziemlich wehtaten. Es war doch anstrengend gewesen. „Du hast eine guten Sitz“, bestätigte auch er schließlich, was ihr überhaupt nichts sagte.

 

„Äh danke?“, erwiderte sie.

 

„Morgen ist Leonard dran“, schien er sich selber zu erinnern. Und scheinbar wäre sie morgen doch noch hier, ging ihr schließlich auf. Und Tom sagte die Worte mit Bedauern. Kaya hatte auch schon Angst vor dem blonden Reitlehrer. „War das dein Freund?“, fragte Tom schließlich beiläufig, während er ihr die Zügel ihres Pferdes abnahm.

 

„Mein…?“ Sie sah ihn verständnislos an.

 

„Am Handy“, erinnerte er sie knapp. Sie wurde rot. So ziemlich übergangslos.

 

„Nein! Nein, das war… nicht mein Freund. Das war der Hausverwalter von meiner Mutter und mir aus Berlin“, sagte sie schnell. Aber auch das war keine gute Antwort. „Ich habe keinen Freund“, stellte sie klar und kam sich noch dämlicher vor. Was ging es ihn an? Hätte sie nicht sagen können, es wäre ihr Freund gewesen? Wirkte sie damit nicht tausendmal interessanter? Ach, sie war ein hoffnungsloser Fall.

 

„Tja, dann…“, sagte er nur, und sie wollte weg. Sie wollte Bastian anrufen und ihn anschreien, aber leider würde ihr Guthaben dafür nicht reichen, überlegte sie verzweifelt.

 

„Ok“, erwiderte sie nichtssagend und er nickte ihr zu.

 

„Wir sehen uns übermorgen“, verabschiedete er sich. Und sie fragte, teilweise, weil sie helfen wollte, teilweise, weil sie noch gerne länger mit ihm sprechen würde.

 

„Soll ich dir wirklich nicht helfen?“ Und fast hoffte sie, dass er Ja sagen würde. Aber er schüttelte nur knapp den Kopf.

 

„Ich halte es auch für sinnvoller, wenn du es selber machst, aber… Befehl ist Befehl“, erwiderte er achselzuckend.

 

„Dann mach’s gut“, verabschiedete sie sich, mit einem dümmlichen Lächeln auf den Zügen. Und dann war Tom verschwunden.

 

Und ihr Handy vibrierte erneut.

 

Alina!

 

Wehmut erfasste sie, und egal, was Bastian getan hatte, sie freute sich unermesslich darüber, dass Alina anrief! Endlich!

 

Sie ging eilig ran, während sie ihr Fahrrad mit einer Hand schob.

 

 

Dreizehntes Kapitel

– Leonard –

 

Und Kaya hatte Alina alles berichtet. Von ihrem unfreundlichen Großvater, dem Rauswurf in der Nacht, wie leid ihr alles mit Bastian tat, und dass sie Alina ihr Glück bestimmt nicht streitig machen würde. Sie hatte von den Ohlkamps erzählt, von Frau Fiets, von ihrer ersten Reitstunde und dem seltsamen Vertrag.

 

„Und? Ist er süß?“, erkundigte sich Alina, während Kaya das Fahrrad um die Kurve des Bushäuschens schob.

 

„Was? Wer?“, wollte Kaya ertappt wissen.

 

„Der Reitlehrer von dem du die ganze Zeit schwärmst“, spottete sie, während Kaya die Möwen im Hintergrund schreien hören konnte. Selbst am Handy wurde sie rot.

 

„Ich… schwärme nicht!“, behauptete sie verzweifelt.

 

„Wie alt ist er?“, wollte Alina sofort wissen.

 

„21, ich wüsste nicht, warum das wichtig ist!“, sagte Kaya sofort.

 

„Vier Jahre Unterschied. Drei, nächsten Monat“, überschlug Alina nachdenklich sowie es auch Kaya schon getan hatte. „Das ist kein Problem.“ Kaya verdrehte die Augen.

 

„Alina, er ist mein Reitlehrer“, erinnerte Kaya sie streng. Und sie konnte Alinas Grinsen praktisch durchs Handy hören.

 

„Ist es nicht romantisch? Und er hat einen Führerschein und kann mit dem Auto nach Berlin kommen!“, rief sie fröhlich aus.

 

„Ja, da hat er bestimmt Lust drauf“, murrte Kaya. „Und er ist nicht mein Freund oder so was! Und das wird er auch nicht!“, beharrte sie vehement auf ihren Worten.

 

„Kaya, du sagst, dein Großvater ist scheußlich zu dir und du bleibst, weil du wenigstens versuchen willst, deine Nachprüfung zu bestehen, also gönn dir ruhig ein bisschen Spaß Flirte mit dem heißen Reitlehrer. Mach heimlich ein Foto, ok?“

 

„Er ist überhaupt nicht mein Typ, Alina!“ Kaya bereute, Alina alles erzählt zu haben. Und anscheinend alles überwiegend von Tom.

 

„Gutaussehend, älter und sportlich ist nicht dein Typ?“, vergewisserte sich Alina spöttisch. „Aha, gut zu wissen“, spottete sie jetzt grinsend.

 

Und eigentlich wollte Kaya mit ihr über irgendetwas anderes reden. Irgendwie waren Verliebtheiten nicht ganz so wichtig, oder? Sie schob das Fahrrad weiter Richtung Dorf.

 

„Alina?“, wagte sie zu fragen, und ihre Freundin wurde ernster.

 

„Ja?“

 

„Ich hatte es mir anders vorgestellt“, begann sie deprimierter. Alina schwieg kurz.

 

„Ja, ich auch“, räumte ihre beste Freundin zerknirscht ein. Sie schwiegen beide einen Moment lang. „Sonst… komm nach Hause“, bat Alina sie. „Wenn es so schlimm ist, lass es einfach.“ Kaya dachte über die Worte nach. Aber Alina hatte dann so viel Geld umsonst ausgegeben.

 

„Ja-nein, ich… ich muss das jetzt machen“, beschloss Kaya ruhig.

 

„Bist du sicher?“, wollte Alina mitfühlend wissen, und Kaya nickte.

 

„Ja. Ja, ich… werde das schon schaffen. Es sind nur vier Wochen.“ Sie hatte mit Frau Ohlkamp schon darüber gesprochen. Es würde kein Problem sein, denn der Gasthof sei selten ausgebucht, hatte Frau Ohlkamp ihr zwinkernd versichert.

 

Und sie erzählte Alina nicht davon, dass Bastian den Rest ihrer Miete für sie bezahlt hatte. Sie beschloss, Alina nichts mehr von Bastian zu erzählen. Es wäre besser so, nahm sie an. 

 

Bastian. Was sollte sie wegen ihm nur machen? Jetzt stand sie in seiner Schuld. Tief in seiner Schuld.

 

Und dann sprachen sie wieder wie Freundinnen. Kaya erzählte Alina von ihren verworrenen Träumen, die keinen Sinn ergaben, Alina erzählte, wie Timo versucht hatte, über Bord zu springen, weil er nach Hause wollte. Sie erzählte Kaya auch, dass ihre Mutter sich nun ausschließlich von Reisetabletten ernährte und Alinas Vater schon gesagt hatte, dass er das nächste Mal nur noch mit Alina allein eine Kreuzfahrt machen würde.

Das war Alina auch recht, die weder viel mit ihrem kleinen Bruder, noch ihrer Mutter anfangen konnte.

 

Kaya erzählte ihr, dass sie ihre Mutter vermisste, was Alina nicht völlig nachvollziehen konnte. Aber Kaya erklärte es ihr auch nicht weiter. Was gab es da zu erklären?

Und dann beendeten sie das Gespräch, nachdem Kaya den Gasthof erreicht hatte.

Alina versprach, morgen anzurufen, und Frau Ohlkamp empfing sie an der Tür.

 

„Na, Kaya?“, fragte sie lächelnd. „Wie war deine erste Stunde, mein Kind?“

 

Kaya kam es schon so vertraut hier vor. Und sie musste lächeln, als sie das Fahrrad an die Hauswand lehnte. Sie schloss nicht ab, denn es war nicht nötig, hatte Frau Ohlkamp ihr versichert. Es kam ihr hier vor wie in einem Märchenland. In Berlin wäre das Fahrrad nach drei Sekunden weg, wusste Kaya.

 

„Es war gut“, bestätigte sie zufrieden. „Aber ich bin nur Schritt geritten“, ergänzte sie, und Frau Ohlkamp ruckte mit dem Kopf.

 

„Natürlich, es war ja auch deine erste Stunde. Bei Tom?“, fragte sie, und Kaya nickte, als sie der Frau nach drinnen folgte und half, die Tische abzudecken. Das Essen war vorbei, und Kaya sah, dass ihr Frau Ohlkamp am Fenster einen Platz freigehalten hatte, wo ein abgedeckter Teller stand.

 

„Dachte mir, du hast noch ein wenig Hunger?“, erklärte sie mütterlich, und Kayas Magen knurrte zur Bestätigung.

 

„Bärenhunger“, erwiderte sie nickend.

 

„Du bist ein gutes Mädchen“, sagte Frau Ohlkamp, ohne ersichtlichen Zusammenhang. Kaya sagte daraufhin nichts und setzte sich an den Tisch. An ihren Großvater dachte sie schon gar nicht mehr. Sie würde sich hüten, ihm noch mal über den Weg zu laufen.

 

Wenn es sich vermeiden ließ, wollte sie ihn nie wieder sehen müssen.

 

Balu kam hechelnd zu ihr und legte sich neben ihren Stuhl. Sie kraulte den Hund abwesend und blickte über den See, hinter dem die Sonne gerade blutrot versank. Es war ein schöner Abend. Sie hoffte, ihre Mutter hatte auch einen schönen Abend. Sie aß die Scheiben Brot, trank den Tee und fragte sich, was die Jugendlichen im Dorf wohl an den Ferienabenden machten. Nicht dass sie vorhatte, dabei zu sein. Dafür war sie zu schüchtern. Und sie glaubte, dass die Jugendlichen sie nicht mochten, wegen ihres Nachnamens.

 

Ihr war nicht entgangen, wie Konstantin sie angesehen hatte. Sie seufzte leise, denn noch nie hatte sie irgendwer danach beurteilt, wie ihr Nachname war. Zumindest glaubte sie das.

 

Sie wusste nicht, ob sie sich hier Freunde suchen musste. Sie fühlte sich nicht einsam. So betrachtete, war sie eigentlich immer einsam. Sie kannte es kaum anders. Ohne Alina fühlte sie sich sowieso nicht wohl unter gleichaltrigen. Kaya hatte schon immer Probleme gehabt, sich in bestehende Gruppen einzufinden.

 

Aber so war es wohl immer.

 

„Heute ist ein ruhiger Abend“, begrüßte sie Herr Ohlkamp als er von draußen reinkam. „Lust auf Doppelkopf oder Skat? Vielleicht spielt Monika mit“, fragte er sie hoffnungsvoll, und Kaya musste lächeln.

 

„Ich kann weder das eine, noch das andere“, sagte sie entschuldigend.

 

„Kein Problem. Es ist so einfach, sogar Balu könnte es lernen, wenn er sich nur ein bisschen mehr anstrengend würde“, versicherte er ihr. „Hast du Lust?“ Und Kaya nickte, denn Herr Ohlkamp kam ihr viel eher wie ein Großvater vor.

 

Und voller Elan verbrachte Herr Ohlkamp die nächste Stunde damit, ihr Skat beizubringen, ohne dass sie wirklich spielen konnten, denn man brauchte drei Personen. Ihr schwirrte der Kopf von all den Regeln, vom Stich, vom Trumpf, vom Schneider – aber sie musste zugeben, es klang nicht allzu kompliziert.

 

Ein Gast gesellte sich zu ihnen. „Werner, setz dich. Die Kleine spielt zum ersten Mal. Das wird ein Spaß“, behauptete Herr Ohlkamp. „Das ist Werner Voss“, ergänzte er, während er die Karten austeilte. Der Vater von Konstantin und Christian, wusste sie. Sie begrüßte ihn, und dann befand sie sich mitten im Spiel.

 

„24“, wurde sie von Herrn Voss recht klanglos gereizt. Sie wechselte einen Blick mit Herrn Ohlkamp, denn sie hatte bereits wieder vergessen, was welche Karte und welche Farbe zählte. Aber sie hatte zwei Buben. Sie glaubte, das war gut?

Aber Herr Ohlkampf wartete gespannt.

 

„Ja?“, sagte Kaya, nicht sicher, ob sie richtig lag.

 

„27“, reizte sie Herr Voss weiter, und Kaya glaubte nicht, dass sie das überbieten konnte.

 

„Passe“, sagte sie, und auch Herr Ohlkampg hielt sich zurück. Herr Voss wurde Solist, und Kaya hielt sich gut im Stechen. Kreuz war Trumpf, und das kam ihr auch nur gelegen, denn sie hatte viel Kreuz.

 

Mit dem Skat in der Mitte hatte sich Herr Voss verschätzt, und die Worte Spitzen, Schneider und Schwarz fielen dann und wann.

 

Ehe Kaya sich versah, hatte sich Herr Voss überreizt und Herr Ohlkamp freute sich diebisch, während Frau Ohlkamp ihnen drei Bier brachte.

 

Kaya trank dankbar, während sie versuchte, zu rechnen, wie viele Spitzen sie am Ende auf der Hand hatte.

 

Es wurde ein langer Abend. Und Kaya hatte immer mehr als 60 Augen, als sie als Solist gespielt hatte, was ihr von Herrn Ohlkamp mehrere Schulterklopfer einbrachte, vor allem, weil sie damit kein ‚Spaltarsch‘ war. Kaya fragte nicht nach, was es hieß. Sie war froh, begriffen zu haben, was man von ihr wollte, und ihre Wangen waren gerötet, als Frau Ohlkamp ihnen bedeutete, für heute Schluss zu machen. Herr Voss ließ zehn Euro am Tisch für die Skatkasse.

 

„Meine Jungs haben mir erzählt, dass du hier wohnst“, sprach Herr Voss endlich mit ihr, denn er schien nun aufgetaut zu sein. Und er lächelte. „Komm doch mal rüber. Ich bin sicher, du kannst mit den Jungs mehr anfangen als mit uns alten Bauern“, bemerkte er knapp, aber Herr Ohlkamp winkte ab, als Herr Voss sich erhob.

 

„Mädchen, du bringst uns Glück“, bemerkte Herr Ohlkamp erfreut. „Hörst du, Monika?“, rief er lauter, während Kaya sich vor Anspannung streckte.

 

„Ja, ja, Bernd“, rief Frau Ohlkamp nachsichtig.

 

„Die Kleine sticht wie ein Weltmeister!“, sagte er kopfschüttelnd. „Du bist eine Spielernatur. Häng die Pferde an den Nagel“, schlug ihr Herr Ohlkamp vor, während Kaya sich gähnend erhob und sich von Herrn Voss verabschiedete.

 

„Liebend gern“, erwiderte sie nur, denn müsste sie Skat in der Nachprüfung spielen, würde sie haushoch gewinnen und versetzt werden. „Und ich denke, ich kann vorbeikommen, wenn ihre Söhne daran Interesse haben, Herr Voss.“ Sie glaubte es nicht wirklich.

 

„Aber sicher“, bestätigte Herr Voss leichthin. „Am Freitag ist Scheunenfest bei uns auf dem Hof. Sind ohnehin alle aus dem Dorf da. Da lade ich auf einen Scheunenschnaps ein. Ich vergesse dich ganz bestimmt nicht mehr, nachdem du mich im Skat geschlagen hast“, bemerkte er lächelnd.

 

„In Ordnung“, erwiderte sie. „Dann bis Freitag“, verabschiedete sie sich von ihm und spürte die Müdigkeit in den Knochen, als hätte sie den ganzen Tag geschuftet. Reiten und Skatspielen waren sehr anstrengende Dinge, überlegte sie, während sie sich oben die Zähne putzte.

 

Und so spielten sich auch ihre Träume in der Nacht ab, denn sie gewann beim Stechen gegen Herrn von Ende und Herrn Steiner.

Es war ein guter Traum. Wirklich gut.

 

~*~

 

Sie hatte den ganzen Tag über ein flaues Gefühl in der Magengegend. Zum einen, weil sie keinen Unterricht bei Tom hatte, zum anderen weil sich Bastian auf ihre SMS nicht mehr meldete. Sie hatte ihn gebeten, anzurufen. Denn sie musste mit ihm über das Geld reden.

 

Sie musste einfach.

 

Aber er hatte sich erfolgreich vor dem Gespräch gedrückt.

 

„Lass dich nicht unterkriegen!“, rief ihr Herr Ohlkamp zu, als sie aufs Fahrrad stieg. Er war mit ihr sehr warm geworden, nachdem sie sich beim Skat gestern verbrüdert hatten.

 

„Natürlich nicht!“, versprach sie und radelte los. Sie hatte Frau Ohlkamp heute viel geholfen und hatte sich ablenken müssen, denn es waren lange Stunden, bis zu ihrem Reitunterricht. Sie hatte die Kamera dabei, und wusste, sie musste bei Gelegenheit im Haus von ihrem Großvater ihre Sachen abholen, ehe sie jemand entsorgen würde.

 

Sie kam zehn Minuten später an, winkte dem Mann im Wachhäuschen zu, der sie passieren ließ und stellte ihr Fahrrad am Platz ab. Sie setzte den Helm auf und sah sich um. Sie trug bereits die Hose, die Schuhe und ihre Chaps und wartete nur noch darauf, dass der andere Reitlehrer um eine Ecke bog.

 

Aber sie war alleine vor der Koppel. Langsam ging sie den Weg nach oben. Aß er noch? Wohnte er hier oder fuhr er abends wie Tom zurück in die Stadt? Sie wusste nichts über ihn, und sie schaute noch einmal aufs Handy. Aber sie war pünktlich.

 

Sie ging weiter den Weg hoch, der zum Anwesend führte. Alles um sie herum war wie ausgestorben. Sie konnte sich nicht vorstellen, sechs Wochen lang hier her zu kommen, nur um jeden Tag zu reiten. Es musste furchtbar sein, nahm sie an.

 

Sie spähte um die Ecken hinter den verschiedenen Gebäuden, bis sie kurz vor der Reithalle ankam, in die sie an ihrem ersten Tag geführt worden war. Und scheinbar wartete er bereits auf sie. Als er sie erkannt hatte, kam er mit zornigen Schritten näher.

Oh nein. Sie wappnete sich innerlich. Schlimmer als ihr Großvater konnte dieser blonde Typ nicht sein.

 

„Du bist zu spät“, begrüßte dieser sie knapp und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Er ging schnell, und sie hatte Mühe, mitzuhalten. Seine Reithose war hell, und er trug ein enges Poloshirt. Keiner schien hier auch nur ein Gramm Fett zu viel zu besitzen, fiel ihr wieder auf. Und sie ertappte sich dabei, wie sie seine Oberarme mit Toms Oberarmen verglich. Hastig blinzelte sie und blickte in eine andere Richtung.

 

„Tom hat mich an der Koppel abgeholt“, sagte sie, denn sie wusste nichts anderes zu sagen.

 

„Aha“, sagte der Reitlehrer nur. „Das ist mir egal. Ich bin nicht Herr Kiergarten, und ich hole dich bestimmt nicht an der Koppel ab. Ich unterrichte ausschließlich in der Halle, und ich sattel dir auch nicht das Pferd“, knurrte er praktisch, als hätte sie das auch nur mit einem Wort angedeutet.

 

„Äh-?“, begann sie überfordert, folgte ihm aber in den nächsten Stall, wo die Boxen voller Pferde standen, die gespannt die Köpfe reckten.

 

„Die Namen stehen an den Boxen, Putzzeug, das Zaumzeug und die Sättel liegen dort hinten in der Kammer. Steht ebenfalls der Name dran“, erklärte er nur. „Nächstes Mal kommst du eher, holst dir ein Pferd, putzt es, zäumst es auf und sattelst es, damit wir zeitig beginnen können.“ Und damit hatte er sich abgewandt.

 

„Warte!“, rief Kaya ihm panisch nach. Der blonde Reitlehrer verharrte in der Tür.

 

„Was?“, kam es eisig über seine Lippen.

 

„Wie… äh wie sattel ich denn ein Pferd?“, fragte sie, und er sah sie ausdruckslos an. Dann atmete er aus und schenkte ihr einen abschätzenden Blick. Sie hatte alles vergessen, was Tom ihr gesagt hatte.

 

„Du holst es aus der Box, putzt es, machst die Hufe sauber und sattelst es“, erklärte er mit gefährlicher Ruhe in der Stimme.

 

„Aha, ok“, sagte sie nur und betrachtete sich die hohen Biester, die sie immer noch neugierig ansahen. „Und kannst du mir einmal zeigen, wie es geht?“, erkundigte sich Kaya so unschuldig sie konnte. Und sie hatte seine Antwort bereits erahnt, denn er schüttelte lediglich den Kopf.

 

„Nein“, antwortete er und verließ den Stall.

 

Sie atmete aus. Unschlüssig schritt sie an den Boxen vorbei, ignorierte alle privaten Pferde, bis sie Atreyu erkannte.

 

„Hey“, begrüßte sie ihn scheu. „Wie geht’s dir?“, flüsterte sie, streckte die Hand durch die Stäbe und streichelte sein weiches Maul. Vor der Tür hing das Halfter, und sie nahm es zögernd in die Hände. „Ok, dann…“ Sie schob den Riegel auf und ignorierte, dass ihr Großvater nicht wollte, dass sie dieses Pferd ritt. Es blieb wenigstens ruhig, als sie das Halfter mehr schlecht als recht anlegte. Dann klickte sie die Führleine in einen der Metallringe und führte ihn aus der Box.

 

Und sie war kurz überrascht, als sie den Reitlehrer draußen an der Wand lehnen sah. Er wirte so gereizt, als müsse er sie umsonst unterrichten. Was er nicht mal tat! Aber immerhin war er hier. Er deutete auf einen Balken, wo mehrere Ringe befestigt waren. Anscheinend, um die Pferde anzubinden. Atreyu knuffte sie leicht in die Seite. Und Kaya zog die Führleine durch einen der Ringe.

 

„Schlaufen“, sagte der Lehrer bloß, und Kaya versuchte, eine Schlaufe zu machen.

 

„Mein Gott“, entfuhr es ihm ungeduldig, als hätte sie anstatt Händen, zwei linke Füße. Er nahm ihr grob die Leine aus der Hand und machte eine Vielzahl an Schlaufen, wie ein Seemann Knoten machte.

 

„Ich mache das zum ersten Mal!“, erinnerte sie ihn entnervt.

 

„Ich dachte, du hättest gestern schon Unterricht gehabt?“, entgegnete er entsprechend, und Kaya biss sich auf die Lippe. „Oder hat Herr Kiergarten dich lediglich die Koppel fegen lassen?“, ergänzte er spöttisch, und sie schwieg. Kaya mochte ihn nicht. Überhaupt nicht. Sie sagte gar nichts, denn sie war zu sauer. „Putzzeug“, unterbrach er ihre bösen Gedanken, und sie fiel aus ihrer Starre. Hastig lief sie in den Stall zurück und suchte nach dem richtigen Putzzeug. Sie fand es, denn die Namen standen tatsächlich überall, und eilig lief sie zurück.

 

„Was ist mit dem Rest?“, wollte er sichtlich gereizt wissen.

 

„Der Rest?“

 

„Hast du vor indianisch zu reiten?“, erkundigte er sich glatt, und sie begriff, er sprach wohl von Zaumzeug und Sattel. Seufzend beeilte sie sich, die Sachen zu holen und legte sie anschließend über den Balken, an dem Atreyu begonnen hatte zu knabbern.

 

„Erst die Kardätsche“, sagte der Lehrer, als sie sich wahllos eine der Bürsten gegriffen hatte. Sie sah ihn entsprechend ratlos an. Sie sah, er hielt sich gerade so davon ab, zu schreien, als er sich bückte, um ihr eine weiche Bürste in die Hand zu drücken. „In langen Zügen“, sagte er, und langsam strich Kaya dem Tier über das glänzende Fell. Es schien ihm zu gefallen. Danach musste sie seine Flanken putzten und anschließend Hufe auskratzen. Sie hatte es bei Tom bereits gelernt, aber Kaya war kein Schwamm, der Informationen behalten konnte. Und es ging wieder einmal sehr schnell, denn Atreyu gab ihr die Hufe brav in die Hand.

 

Sie hatte vergessen, wie der Sattel richtig lag, aber der Lehrer half ihr nicht, als sie das Ding mit Decke über den hohen Rücken des Tiers wuchtete. Immerhin rührte sich der arme Hengst nicht. Sie verschnallte den Gurt so gut es ging, aber der Lehrer kritisierte sie nicht weiter, stand nur gelangweilt am Balken und schien voller Ungeduld zu warten.

 

Und Atreyu öffnete den Mund nicht für die Trense.

 

„Ist das eine Messing-Trense?“, fragte sie, die Information von Tom, dass diese Trensen süßer waren, im Hinterkopf.

 

„Mhm“, machte der Lehrer nur und kam näher.

 

„Wieso haben manche Pferde eigenes Zaumzeug und manche nicht?“, fiel ihr ein, was Frau Kramer und Tom erzählt hatten.

 

„Ein paar haben das, ein paar nicht“, erwiderte er uninformativ, und plötzlich stand er nahe neben ihr. „Wenn er sie nicht nimmt, schiebst du ihm den Daumen hier in die Mundlücke“, erklärte er, fast ruhig, und Kaya sah ihm gespannt zu, wie er einfach so den Daumen ins Pferdemaul schob.

 

„Beißt er nicht?“, entfuhr es ihr ängstlich, und dann sah der Lehrer sie an. Seine Augen waren grün und kurz glaubte sie, seine Mundwinkel zucken zu sehen.

 

„Er hat dort hinten keine Zähne“, erläuterte er, fast sanft. Sie war überrascht, dass seine Stimmung sich so abrupt gewechselt hatte. Es verwirrt sie. „Hier“, fuhr er fort und verschnallte einen Riemen. „Nicht zu eng. Das ist der Nasenriemen, das hier der Kehlriemen und der letzte ist der Sperrriemen, damit er den Mund geschlossen hält.“ Tom hatte es ihr schon beim letzten Mal erklärt, aber sie hatte auch das wieder vergessen. Bei Tom hatte sie sich auf andere Dinge konzentriert. Seine Grübchen, das Licht der Sonne auf seinen dunklen Haaren. Sein Lächeln….

 

„Hm“, machte sie und versuchte sich zu merken, wie man sie verschnallte.

 

„Fertig“, bemerkte er und reichte ihr einen Zügel. „In der Halle kannst du nachgurten.“

 

Sie folgte ihm eilig, das Pferd am Zügel. Aha. Nachgurten? Sie beschloss, nicht zu fragen.

 

In der Halle brannte das künstliche Licht, und es war nicht besonders angenehm. Er holte ihr die Aufstiegshilfe, und sie war froh, dass die Steigbügel für sie lang genug waren, und sie nicht auch hier noch irgendetwas anders schnüren musste. Sie konnte tatsächlich den Sattelgurt enger gurten, nachdem er ihr knapp gesagt hatte, dass das unter Nachgurten zu verstehen war, und dass der Lehrer sich nicht weiter bei ihr beschwerte, hieß sie für gut. Sie stieg auf das riesige Tier.

 

Aber Atreyu blieb artig und ruhig. Und bei dem blonden Lehrer entschuldigte sie sich nicht dafür, dass sie ihn von seinem Feierabend abhielt. Dafür entschuldigte sie sich nur bei Tom. Schade, dass Tom nicht da war.

 

Der Lehrer schritt neben ihr her, während Atreyu ruhig durch die Halle schritt.

 

„Was tust du?“, wollte Kaya beunruhigt wissen, und erntete den nächsten bösen Blick.

Es verging ein qualvoller Moment, denn sein böser Blick verschaffte ihr ernsthafte Bauchschmerzen.

 

„Du sitzt zu steif“, bemerkte er knapp und hastig versuchte sie, ihre Haltung zu korrigieren.

 

E kannte ihren Namen, nahm sie an. Sie hatte gedacht, vielleicht etwas mehr Respekt von ihm zu bekommen, aber da hatte sie sich wohl geirrt.

 

Und dann griff er nach ihren Händen, so dass sie zusammenzuckte. Ungerührt stellte er ihre Hände auf. Seine Finger waren warm, seine Handgriffe saßen wie mechanisch programmiert.

 

„Gerade sitzen“, entfuhr es ihm wieder barsch. Meine Güte, wie gerade sollte sie sitzen? „Tiefer einsitzen“, ergänzte er. Und sie versuchte, keine Fehler zu machen. Schweiß trat ihr langsam auf die Stirn. „Schultern zurücknehmen“, bellte er den nächsten Befehl, und sie nahm an, das würde jetzt weiter gehen. „Wenn ich tiefer einsitzen sage, dann sage ich das nicht für mich zum Spaß“, sagte er nach einer kleinen Weile. Er hielt das Pferd an, lediglich mit einer Handbewegung. Dann holte er die Aufstiegshilfe und stellte sich auf ihre Höhe. Er drückte grob ihre Schultern zurück. „Diese Position halten!“, befahl er vorsintflutlich, und Kaya verzog schmerzhaft das Gesicht.

 

„Das ist unbequem!“, entfuhr es ihr, während er ihren Rücken aus dem Hohlkreuz gerade bog.

 

„Dann ist es richtig“, erwiderte er barsch und übte Druck auf ihre Schultern aus, so dass sie es im Gesäß spüren konnte. „Manche Mädchen machen Pilates? Da lernt man den Rücken korrekt zu entlasten?“, entfuhr es ihm fast vorwurfsvoll.

 

„Ja, manche Mädchen haben auch einen Schaden“, murrte sie angestrengt und sah ihn nicht an, während er die Aufstiegshilfe runterkletterte.

 

„Auf seinen Körper zu achten, gehört zur Gesundheit. Regelmäßiger Sport verhindert eine schlechte Körperhaltung.“ Er sprach wie ihre ätzenden Sportlehrer.

 

„Ich mag eben keinen Sport“, entfuhr es ihr ungeduldig.

 

„Das ist nicht zu übersehen“, konterte er nur. „Und es ist eine dumme Einstellung. Alle Mädchen hier-“

 

„-sind reiche, dumme, verzogene Mistkühe!“, beendete sie den Satz gereizt für ihn, und er schwieg daraufhin. Gott, wieso war sie so sauer? Gleich würde er sie alleine lassen, nahm sie an. Unsportlich und zickig, wie sie war.

 

„Das mag stimmen“, erwiderte er irgendwann leichthin, und sie wandte überrascht den Kopf in seine Richtung. „Aber sie können alle reiten“, schloss er abschätzend. „Und das ist es doch, was du lernen willst?“, ergänzte er, mit einem vielsagenden Blick.

 

Und gerne wollte sie sagen, sie wollte es gar nicht lernen! Sie musste, weil es vielleicht ein Ausweg war, mit Alina in einer Klasse zu bleiben. Und sie fragte sich, was er von ihr halten musste, der arrogante Typ neben ihr, der nur ein Jahr älter war als sie. Wahrscheinlich war sie für ihn ein Job, der erledigt werden musste. Ein unsportlicher, manierloser, unbegabter Job.

 

Ihr Blick senkte sich müde. Ihr Rücken schmerzte in dieser Position.

 

Ihre Stirn runzelte sich plötzlich. In den Rand des Sattels war ein Name ins Leder gestickt.

Oliver. Sie blinzelte überrascht. War es… das Pferd ihres Vaters gewesen? Wenn es eigenes Zaumzeug besaß? Alt genug wäre es, überlegte sie langsam.

 

Und dann wusste sie auch, warum sie das Tier nicht reiten durfte.

 

Ihr Mund verzog sich angespannt.

 

„Muss ich die Aufstieghilfe holen, oder nimmst du deine Schultern selber zurück?“, unterbrach seine ätzende Stimme ihre Gedanken. Hastig rückte sie die Schultern wieder in die unangenehme Position. Er schüttelte nur den Kopf über sie. Langsam sah sie ihn wieder an.

 

„Das ist meine zweite Stunde“, erinnerte sie ihn ungläubig. „Ich bin kein Profi.“

 

„Und ich bin kein Kindergärtner“, gab er kalt zurück, ohne sie anzusehen.

 

„Nein, du bist Reitlehrer. Du bringst Leuten reiten bei?“, entfuhr es ihr bitter, und sein Blick traf sie. Wow. Selten hatte sie jemand so böse angesehen. Noch nie, wenn sie drüber nachdachte. Vielleicht ihr Großvater. Sie bekam ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

 

„Nimm deine verdammten Schultern zurück und richte deinen Blick gerade aus!“, knurrte er schließlich, nach dem sie schon dachte, er würde sie vom Pferd ziehen und verprügeln wollen, für ihren Ungehorsam. Es war so schrecklich unbequem.

 

„Ich dachte, mein Sitz wäre gut“, entkam es ihr schlecht gelaunt. Er machte ein abwertendes Geräusch.

 

„Ja, wenn das Pferd stillsteht und du nichts weiter tun musst, als sitzen zu bleiben, ohne die Zügel zu halten“, entgegnete er. „Ich persönlich würde sagen, du zeigst keine Begabung. Du zeigst nicht mal die Motivation, simplen Befehlen zu folgen“, fuhr er fort, während er neben ihr herlief und sie verbissen versuchte, gerade zu sitzen.

 

„Ach ja?“, hörte sie ihren eigenen Trotz deutlich. „Und du hast keine Begabung dafür, Lehrer zu sein!“, sagte sie nur, und aus den Augenwinkeln sah sie tatsächlich, wie seine Mundwinkel zuckten. Was? Fand er das witzig? Sie nämlich nicht.

 

„Weißt du“, begann er offen, „du kannst gerne gehen. Ich zwinge dich nicht!“

 

Gott, sie mochte ihn nicht. Und gehen konnte sie nicht. Verbissen sah sie wieder nach vorne.

 

„Du wirst jetzt traben“, sagte er schließlich. Erschrocken sah sie ihn an.

 

„Das kann ich nicht!“, entfuhr es ihr, und sie vergaß, dass sie nicht mehr mit ihm hatte reden wollen.

 

„Ja, deswegen lernst du es ja“, kam es überheblich über seine Lippen. „Leichttraben ist keine Kunst“, bemerkte er. „Der Trab ist ein Dreitakt, ok? Das heißt, ein Bein befindet sich immer in der Luft beim Trab. Wenn die äußere Schulter – die an der Bande – vorne ist, hebst du dich aus dem Sattel.“ Er erklärte es, als wäre es simpel. „Du brauchst keine Hilfen, ich halte es im Trab, bemerkte er, während sie am Rand der Halle vorbeikamen, wo er sich eine Peitschte aus dem Ständer angelte.

 

„Bereit?“, fragte er, als er in die Mitte der Halle gegangen war.

 

„Nein?“, entkam es ungläubig ihren Lippen, aber er knallte die Peitschte in den Sand, und Atreyu änderte wie von selbst sein Tempo. Kaya begann unkontrolliert auf und ab zu hüpfen.

 

„Sieh dir seine Schultern an!“, rief der Lehrer ihr zu. Kaya senkte mühsam den Blick, damit beschäftigt, nicht runterzufallen. Tatsächlich sah sie die Schultergelenke. „Wenn die rechte vorne ist, hebst du den Oberkörper, wenn sie zurückgeht, setzt du dich!“

 

Und das tat sie. Sie spürte praktisch, wie der Schwung des Tieres sie automatisch anhob. Bei den ersten paar Malen fiel sie ungelenk wieder zurück, aber langsam, nach vielem Aufstehen, bekam sie ein Gefühl für die Bewegung. Sie hob den Blick automatisch, sah nicht mehr nach unten, und es war nicht unangenehm. Es war… unheimlich gut.

 

„Aus den Knien!“, rief er ihr zu. „Oberkörper weiter zurück – ja!“, entfuhr es ihm, als sie plötzlich verstand, was er wollte. „Ja!“, wiederholte er noch einmal, als sie an ihm vorbeiflog. Wie von selbst nahm sie die Zügel an, und sie spürte, wie der Trab schneller wurde, wie das Aufstehen immer besser ging.

 

Und ungerne gab sie es zu. Aber… diese Stunde war besser als die erste. Weil sie den blonden Reitlehrer nicht mochte und sich aufs Reiten konzentrieren konnte.

 

Nach unzähligen Runden verringerte er den Abstand zu ihr, nahm die Peitschte zurück und Atreyu fiel wieder in den Schritt zurück. Fast enttäuscht nahm sie die Schultern zurück, während ihr Atem schneller ging.

 

„Das war… ziemlich cool“, entfuhr es ihr.

 

„Es war nichts weiter“, erwiderte er. Gott, er musste alles kaputt reden! Für sie war es eine Menge! Tom hätte ihr gratuliert! Aber nein, der blonde Mister Ober-Cool natürlich nicht. Sie sah ihn nicht mehr an, aber wirklich sauer war sie nicht, denn das Gefühl war zu gut gewesen. „Es reicht für heute“, beschloss er schlicht. Aber sie widersprach nicht, denn sie hatte genug von ihm, und außerdem spürte sie den Muskelkater schon jetzt in den Beinen.

 

Und nachdem Atreyu gehalten und sie die Füße aus den Steigbügeln genommen hatte, tat er, was er letztes Mal getan hatte, Sie hatte es schon fast vergessen, aber als sie mit Schwung das Bein über den Rücken nahm und nach unten glitt, fingen sie seine Hände auf, legten sich fest um ihre Hüften, und dieses Mal war es wirklich gut, dass er es tat, denn ihre Knie knickten weg. Anscheinend hatte sie Muskeln beansprucht, von denen ihr Körper gar nicht mehr wusste, dass er sie besaß.

 

Beschämt wandte sie sich in seinem Griff, aber noch fand sie keinen festen Stand. Fast wäre sie voran in ihn hineingefallen, aber sein Arm legte sich um ihre Taille. Er blickte spöttisch auf sie hinab.

 

„Schwächeanfall?“, erkundigte er sich, und ihr Herz schlug noch schneller als zuvor. Gott, wie peinlich! Sie schob ihn von sich und taumelte hastig zurück.

 

„Nein!“, brachte sie atemlos hervor. Sie wusste, hätte Tom sie gehalten, wäre sie wahrscheinlich in seinen Armen geblieben. Und dem Lehrer schien es herzlich egal zu sein, dass sie kaum stehen konnte.

 

„Du weißt, wo alles ist. Absatteln, abzäumen, Politur steht beim Putzzeug, Putzen, in die Box bringen, Halfter abnehmen und verschließen? Schaffst du das?“ Nein. Wahrscheinlich würde sie alles vergessen haben, bis sie draußen wäre, aber sie ruckte nur mit dem Kopf, zu beschämt, um zu sprechen.

„Dann bis übermorgen“, verabschiedete er sich, und Kaya war allein.

 

Allein mit dem Pferd. Und es juckte sie in den Fingern, weiterzumachen. Seltsam. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie tatsächlich Spaß bei etwas empfinden würde, was sie eigentlich nie leiden konnte. Sanft legte sie ihre Hand auf Atreyus Nüstern.

 

„Wollen wir noch üben?“, fragte sie ihn leise, aber er antwortete nicht, stand entspannt vor ihr, und sie sah sich um. Niemand war mehr in der Halle. Niemand war draußen. Alle waren im Haus. Ihre Mundwinkel hoben sich. Und seit einer Weile hatte sie vergessen, sich Gedanken zu machen. Über ihre Mutter, ihre Nachprüfung, Bastian, das Geld.

Jetzt gerade wollte sie reiten.

 

 

Vierzehntes Kapitel

- Kalt erwischt –

 

Völlig erschöpft wachte sie auf. Sie spürte schon jetzt, dass ihre untrainierten Oberschenkel wie Feuer brannten. Zwar hatte sie Atreyu gestern nicht mehr überzeugen können, erneut zu traben, nachdem der schreckliche Reitlehrer gegangen war, aber sie war noch einige Runden im Schritt geritten, ehe sie ihn mit Müh und Not abgesattelt und geputzt hatte, in der lauen Dämmerung.

 

Und sie wusste, heute Abend würde sie noch mehr Schmerzen haben, wenn sie wieder reiten musste. Sie hatte es gewusst. Jeder Sport war Mord!

 

Sie lag flach auf dem Rücken in ihrem gemütlichen Bett, und es konnte noch nicht spät sein, denn die Sonne brach noch nicht durch die Vorhänge vor dem Fenster. Aber die Schmerzen hatten sie doch tatsächlich geweckt. Unfassbar, was sie alles auf sich nahm. Sitzenbleiben klang wesentlich gemütlicher, als dieser Stress.

 

Aber heute sah sie Tom wieder. Ihn mochte sie. Alinas Worte schwirrten in ihrem Kopf umher. Aber nein! Alleine daran zu denken, Tom auch nur als irgendeine Art Freund zu sehen, ließ ihr Herz unangenehm schnell schlagen. Kaya war nicht unbedingt eines dieser Mädchen mit Erfahrungen. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie überhaupt keine Erfahrung. Sie hatte keine Ahnung, was man tun musste, damit aus einer Bekanntschaft mit einem Jungen überhaupt so etwas wie eine Freundschaft, geschweige denn eine Beziehung wurde.

 

Das eheste was sie als Freundschaft mit einem Jungen bezeichnen konnte, war die Verbindung zu Bastian. Und nun hatte sie geschworen, den Kontakt zu ihm, Alina zuliebe, einzustellen. Also war dieser Vergleich auch nicht hilfreich.

 

Aber noch einmal würde sie mit ihm reden müssen! Wegen des verdammten Geldes. Ächzend versuchte sie, sich aufzurichten, aber scheiterte kläglich.

 

Sie fiel zurück ins Kissen.

 

Sie hasste Reiten. Definitiv. Die Pferde waren ganz nett, aber… Reiten an sich – darauf konnte sie getrost verzichten! Wie lange dauerte so ein Muskelkater, fragte sie sich unwillkürlich. Zu allem Überfluss knurrte ihr Magen besonders laut. Sport machte auch noch übermäßig hungrig. Es half nichts. Irgendwann würde sie aufstehen müssen.

 

Müde schwang sie die Beine mit aller Kraft aus dem Bett, verzog den Mund und richtete sich schmerzerfüllt auf. Wovon bekam man bitteschön solche Schmerzen? Sie schob es auf den blöden Reitlehrer, den sie nicht leiden konnte. An ihm musste es liegen. Arsch.

 

Immerhin saß sie nun aufrecht. Sie würde heiß duschen. Vielleicht half es gegen die Schmerzen? Schwankend erhob sie sich. Unter schmerzhaftem Gestöhne schaffte sie es, ins Badezimmer zu gelangen und das Wasser anzustellen, während sie sich ungeschickt von ihrem Schlafshirt befreite.

 

Nie mehr würde sie traben, denn sie nahm an, davon kamen die Schmerzen! Nie mehr wieder! Das würde sie Tom auch sagen. Für ihre Nachprüfung musste reichen, dass sie im Schritt um das Anwesen ritt. Dass sie sich auch nur ausgemalt hatte, sie würde vielleicht über Hürden springen! Gott, was hatte sie nur gedacht?!

 

Und es kam ihr vor, als hätte sie Stunden unter der Dusche gestanden! Sie öffnete blinzelnd die Augen unter dem Wasserstrahl, als sie das Vibrieren ihres Handys aus dem Schlafzimmer vernahm. Wer war es? Ihre Mutter? Alina? Bastian? Ansonsten rief sie keiner an.

Niemand rief sie an. Sie verdrehte fast die Augen über ihre Melodramatik.

 

Aber ihr Herz klopfte, denn vielleicht war es ihre Mutter. Und sie wollte ihre Stimme gerne hören!

 

Hastig stellte sie das Wasser ab, griff sich unter Schmerzen ein Handtuch, wickelte es sich um, ohne sich abzutrocknen und humpelte aus der Duschkabine.

 

„Au, au, au“, murmelte sie bei jedem nassen Schritt, zurück ins Zimmer, und mit feuchten Fingern angelte sie sich das Handy vom Nachttisch, während ihre Haare klatschnass ihren Rücken hinab hingen. Es war eine unbekannte Nummer. Sie runzelte die Stirn. War es England? Und eilig nahm sie ab.

 

„Hallo?“, rief sie außer Atem, und es herrschte Stille am anderen Ende.

 

„Kaya?“, hörte sie die männliche Stimme, die sie sofort erkannte. Ihre Augen fokussierten keinen bestimmten Punkt, und sie runzelte die Stirn.

 

„Oliver?“, erwiderte sie die Frage, höchst ungläubig.

 

„Ja, hey, ich dachte, ich rufe mal durch“, hörte sie ihren Vater unschlüssig antworten. Dumpf fielen die Tropfen auf den Teppich, als sie verblüfft schwieg. Sie hatten doch erst diesen Monat gesprochen?

 

„O-k?“, sagte sie dann, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

 

„Wie… wie geht es Vivian in London?“, fragte er schließlich, und Kaya nickte nur.

 

„Gut. Es ist wohl alles anstrengend, aber… gut“, erwiderte sie, völlig überfordert.

 

„Und dir? Wie geht es dir? Du bist bei… Mariele?“, wollte er wissen, und ihr Mund öffnete sich ratlos. Richtig. Sie hatte ihm erzählt, dass sie zu ihrer Großmutter gefahren war. Sie war überrascht, dass er es sich gemerkt hatte.

 

„Nein, das hat nicht funktioniert. Oma Mariele hat sich das Schienbein gebrochen. Ich bin in Hamburg.“

 

…- Sie war was?!

 

Und kaum, dass sie die Worte gesagt hatte, wollte sie sich direkt erschlagen. Hitze stieg in ihre Wangen. Das schlechte Gewissen kochte sofort in ihr hoch. Was tat sie denn da?! Sie war nicht in Hamburg! Wie konnte sie so dumm sein? Wie konnte sie ihm das sagen?

 

„In Hamburg?“, griff er sofort ihre Worte auf. Ganz klar war der Muskelkater schuld, dachte sie, böse mit sich selbst, während sie mit geschlossenen Augen angestrengt überlegte, welche Ausrede sie hatte, in Hamburg zu sein.

 

„Alina und ich sind… hier. Mit ihren Eltern!“, ergänzte sie hastig.

 

„Ah“, erwiderte er, etwas unschlüssig. „Ich… dachte, sie ist auf Kreuzfahrt?“, bemerkte er dann, und Kaya entwich die Luft aus ihren Lungen. Sie nahm an, ihr Vater hatte keinen Schimmer, wann sie Geburtstag hatte, aber er hatte sich gemerkt, dass Alina auf Kreuzfahrt war und sie eigentlich bei ihrer Großmutter sein sollte?

 

„Ja. Nein. Nicht mehr. Ihr Vater wurde nach Berlin zurückgerufen, wegen der Arbeit“, reimte sie sich zusammen. Und immerhin hatte sie das auch ihrer Mutter erzählt. Aber wie hoch standen die Chancen, dass ihr Vater ihre Mutter anrief? Wirklich gering, nahm sie an.

 

„Oh, na das ist schade“, fuhr er beinahe belanglos fort. Aber nur beinahe, und das verwirrte sie doch. „Und was macht ihr in Hamburg? Ihr habt doch den Wannsee direkt vor der Tür?“, schien er eine Art Scherz zu machen, aber Kaya war sich nicht sicher, denn er klang nicht amüsiert, nein. Er klang sehr angespannt, wenn sie das denn beurteilen konnte. Vielleicht war das auch nur, was sie fühlte, und sie unterstellte es ihm ebenfalls. Sie war sich sowieso nicht sicher, weshalb er anrief.

 

„Ähm… Alinas Eltern dachten sich, es kann nicht schaden, wenn… wir mal was anderes sehen würden“, begann sie sich tiefer in ihre Lügen zu verstricken.

 

„Ach so. Und Alinas Vater kann mitten in der Woche nach Hamburg fahren?“, stellte er wohl die nächste Frage, wie ein Erwachsener sie stellen würde, der einem Kind kein Wort glaubte. Ihr Herz schlug mittlerweile doppelt so schnell. Was war das? Ein Verhör?

 

„Ahem… ja. Also…“

 

„Kaya?“, begann er wieder, und jetzt war ein Ton in seine Stimme getreten, den sie nicht kannte. Nicht von ihm zumindest. Oh, sie kannte ihn von ihrer Mutter. Aber… nicht von ihm. Und atemloser antwortete sie.

 

„Ja?“

 

„Bist du auf dem Gestüt?“, fragte er dann, nach einer knappen Pause, und sie hatte keine Ahnung, wie ihr Vater ihre Gedanken lesen konnte! Es war unmöglich. Es war als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.

 

„Was?“, entführ es ihr direkt abwehrend. „Nein, ich-!“Sie würde alles abstreiten! Sie musste ihm gar nichts sagen! Und er riet ja nur! Er konnte es nicht wissen, er-

 

„-Frau Fiets hat mich angerufen“, unterbrach er sie ruhiger. Und ihr Mund klappte zu. So ein Mist! Verdammt! Sie schloss verzweifelt die Augen. Damit hatte sie kaum gerechnet.

 

„Wer?“, wagte sie einen schwachen Versuch, ihren Hintern zu retten, aber sie hörte ihn lediglich ausatmen. Er atmete tatsächlich aus! So wie ihre Mutter, wenn sie enttäuscht von Kaya war.

 

„Kaya, bist du auf dem Gestüt?“, wiederholte er die Frage, immer noch ruhig.

 

„Nein“, erwiderte sie immerhin ehrlich. Aber was half es noch, wenn die einzige Person, der sie hier keine hinterhältigen Motive unterstellt hatte, tatsächlich so etwas tat wie, sie zu verpetzen! „Nicht direkt“, gab sie nach, und atmete ergeben aus.

 

„Nicht direkt?“, wiederholte er, fast vorsichtig. Und sie sah keinen Grund, weshalb sie noch lügen sollte. War es nicht sowieso zu spät? Und vielleicht stand ihr Vater ja auf ihrer Seite? Wahrscheinlich nicht, kam sie zu dem ernüchternden Schluss.

 

„Nein. Er – also… Alexander“, benutzte sie den Vornamen ihres Großvaters, wie sie den Vornamen ihres Vaters benutzte, weil sogar das Wort ‚Großvater‘ zu unpassend erschien, „hat mich vom Gestüt gejagt“, schloss sie, ein wenig bitter.

 

„Was?“ Zum ersten Mal klang ihr Vater aufgebracht ihr gegenüber. „Er… er hat was?“

 

Und sie schluckte voller Angst.

 

„Also… nein. Es war nicht… so schlimm. Ich… wir…“ Und sie sank auf die Bettkante, denn sie konnte nicht mehr stehen, vor Anspannung und Schmerzen. Mittlerweile war sie sogar relativ trocken, abgesehen von den Haaren. „Ich komme abends zum Reiten dorthin.“

 

Und dann war es raus. Ihr Geheimnis war kein Geheimnis mehr, stellte sie mit klopfendem Herzen fest. Und ihr Geheimnis war nicht einmal besonders spannend, stellte sie mit verzogenem Mund fest.

 

„Du tust was?“, wiederholte Oliver völlig entgeistert.

 

„Ich… habe einen Vertrag mit ihm. Dass ich sechs Wochen lang reiten lernen kann, um… um meine Nachprüfung in Sport zu bestehen“, räumte sie zerknirscht den letzten Rest ihres Geheimnisses ein. Und ihr Vater schwieg. „Hallo?“, wagte sie nach einer Weil zu fragen, und sie hörte ihn ausatmen.

 

„Ich bin noch dran“, schloss er still. „Ich… hatte gedacht, es wäre… ein Missverständnis. Oder ein Witz“, sagte er dann, beinahe ungläubig. „Weiß deine Mutter, dass-“


„-nein, sie weiß es nicht“, unterbrach Kaya ihn eilig. „Und du kannst es ihr nicht sagen!“, ergänzte sie noch, ehe er sprechen konnte. Sie hörte ihn wieder ausatmen. „Bitte, du kannst es ihr nicht sagen! Und ich wäre ganz bestimmt nicht hier, wenn ich einen Ausweg gewusst hätte!“, rechtfertigte sie sich noch schnell, obwohl sie nicht wusste, ob sie es musste. Und sie hatte geglaubt, mit ihm diskutieren zu müssen, warum es besser wäre, ihrer Mutter alles zu erzählen.

 

Aber er sagte etwas ganz anderes.

 

„Was für ein Vertrag ist das, den du hast?“, wollte er plötzlich wissen. Und er klang nicht mehr freundlich.

 

„Was?“ Kurz war Kaya verwirrt.

 

„Das hast du gesagt, oder nicht?“, sagte er dann. „Ich kann mir vorstellen, dass du nach den sechs Wochen nie mehr wieder kommen darfst?“, vermutete er gereizt, und Kaya ruckte mit dem Kopf.

 

„So ähnlich“, bestätigte sie. „Und das will ich auch nicht!“, beteuerte sie direkt wieder. „Wirklich! Ich mache es nur, weil… weil Herr Steiner auf Pferde und sowas steht, und ich mich dabei filmen kann, wie ich reite, und vielleicht… vielleicht muss ich dann nicht-“

 

„-ich verstehe schon, Kaya“, unterbrach ihr Vater sie gereizt. „Ich muss es Vivian sagen“, fuhr er fort.

 

„Was? Nein! Bitte, das darfst du nicht. Du kannst es ihr nicht sagen. Mama würde ausrasten und mich einschließen und-“


„-und vielleicht wäre das auch besser!“, unterbrach er sie ärgerlich.

 

„Aber-“

 

„-du solltest nicht dort sein“, schnappte er barsch. „Das ist kein guter Ort. Dieser… dieser Mann hat nichts mit uns zu tun und will es auch nicht“, sagte Oliver bitter. Was? Selbst Oliver hatte nichts mit ihnen zu tun! Und wollte es ebenfalls nicht! Was dachte er, was sie von ihm hielt? Ungefähr genauso wenig!

 

„Ja, aber-“

 

„-und ich weiß nicht, was ich tun soll! Ich dachte, Frau Fiets kann sich nur vertan haben! Und weiß Gott was für ein Mädchen sei aufgetaucht! Und jetzt bist du tatsächlich dort!“, rief er wütend, und Kaya biss sich auf die Lippe.

 

Und dann sprach er weiter.

 

„Du wirst nach Hause fahren.“

 

Und es waren seltsame Worte, denn… sie passten nicht zu ihm. Und die Wirkung, die hinter diesen Worten vielleicht stehen würde, würden sie sich kennen, wäre er tatsächlich jemand, der sie sagen durfte, blieb aus.

 

„Nein?“, widersprach sie ungläubig. „Ich muss das machen.“

 

„Kaya, du wirst nach Hause fahren“, sagte er dann. „Ich werde Vivian anrufen.“

 

Und sie spürte die Tränen in sich aufsteigen.

 

„Nein!“, rief sie verzweifelt aus. „Du hast kein Recht das zu tun! Du hast überhaupt kein Recht, irgendetwas zu tun!“ Sie hatte sich noch nie mit gestritten, hatte ihn noch nie angeschrien, denn es hatte nie ein Gespräch gegeben, was lang genug gewesen wäre. Denn sie hatte genügend Gründe, ihn anzuschreien! Dafür dass er ihre Mutter verlassen hatte! Dafür dass er sie verlassen hatte!

 

„Kaya!“, sagte er überfordert, aber sie war noch nicht fertig!

 

„Und du kannst nicht verlangen, dass ich nach Hause fahre! Du bist nicht mein Vater! Du bist nämlich gegangen, und es ist mir egal, was du denkst oder sagst! Ich bleibe hier und werde versuchen, meine Mutter nicht zu enttäuschen. Und ich werde meine Nachprüfung bestehen, auch wenn der Preis ist, bei jemandem zu sein, der uns auch nicht wollte!“, schloss sie und konnte das Schluchzen nicht unterdrücken. „Und ich verlange nichts von dir, ok? Ich will nichts von dir haben! Keine Aufmerksamkeit, keine Telefonate – gar nichts! Ich will nur, dass du es nicht Mama sagst. Das ist alles, was ich jemals von dir verlange!“

 

Die Hand, die ihr Handy hielt, zitterte bereits.

 

Und dann hörte sie gar nichts mehr. Es klickte und die Verbindung war unterbrochen. Und jetzt weinte sie nur noch mehr.

 

~*~

 

Würde er es ihrer Mutter sagen?

 

Das war alles, was sie dachte. Es war alles, was sie nur noch denken konnte.

 

Deshalb hatte sie auch niemanden angerufen, hatte bei niemandem angeklingelt, starrte alle paar Minuten auf ihr Handy, während sie wartete. Wartete, dass der Name ihrer Mutter auf dem gesprungenen Display erschien. Während sie gleichzeitig darauf wartete, dass ihre Mutter mit dem Taxi ankam, sie anschrie und mitnahm.

 

Sie war regelrecht paranoid. Denn sie zuckte bei jedem Fahrzeug, was durch die Straße fuhr zusammen. Und es waren nicht viele Fahrzeuge.

 

„Lust auf ein Spiel?“, riss Herr Ohlkamp sie aus ihren trüben Gedanken, und sie hob den Blick verständnislos. In der Hand hielt er ein Deck Karten, und ihr Mund öffnete sich überfordert.

 

„Ich… ich habe gleich meine Reitstunde, Herr Ohlkamp“, erwiderte sie lustlos. Und dann setzte sich der Mann neben sie auf die Holzbank, die vor dem Gasthaus stand und begann, seine Pfeife zu stopfen. Er trug meist eine schmale Ledertasche mit sich, in der sich sein Pfeifenequipment befand. Die Karten legte er neben sich.

 

„Mh mh…“, machte er schwerfällig neben ihr. Balu lag neben ihnen auf dem warmen Boden und döste, ließ sich von Kayas nervöser Stimmung überhaupt nicht anstecken. „Und? Wie läuft es mit deinem Großvater?“, wollte Herr Ohlkamp schließlich wissen, als er sich die Pfeife ansteckte. Kaya sah ihn verblüfft an.

 

„Ich… habe ihn nicht mehr gesehen, seit…-“ Seit sie sich auf der Koppel angeschrien hatten.

 

„Mh“, machte er Herr Ohlkamp schließlich, als sie nicht weitersprach. Er schien nachdenklich auszuatmen. „Weißt du“, begann er dann bedächtig und sah sie an, mit warmen braunen Augen, „Monika und ich wären dankbar… für eine Enkelin wie dich“, schloss er, und Kaya war fast so überrascht über seine Worte, dass sie geneigt war, erneut zu weinen.

 

„Oh“, sagte sie beschämt und blickte hinab auf die Erde zu ihren Füßen. Was sollte sie sagen? Aber sie wusste, was sie sagen wollte. Und sie blickte nicht auf, als sie es tat. „Ich hätte auch gerne Großeltern wie Sie“, antwortete sie ehrlich, und auch aus den Augenwinkeln sah sie, wie Herr Ohlkamp lächelte, ehe er den Blick nach vorne richtete und neben ihr schwieg.

 

Kaya vermisste ihre Mutter. Und gleichzeitig hatte sie Angst, dass Oliver sie verpetzen würde. Und warum eigentlich war es nicht einfacher? Warum waren nicht die Ohlkamps ihre Großeltern? Wieso konnten sich alle in ihrer Familie nicht ausstehen?

 

„Bernd-? Ach, hier bist du!“, erkannte Frau Ohlkamp, die nach draußen getreten war. „Na, genießt ihr die Abendsonne?“, wollte sie lächelnd wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Und Herr Ohlkamp nickte neben ihr.

 

„Ja, tun wir“, bestätigte er paffend. Kaya gewöhnte sich an den Geruch der Pfeife. Es hatte etwas Tröstliches an sich, etwas Altertümliches, fast. Etwas, was sie sich vorstellen konnte, was Großväter taten. Pfeife rauchen.

 

„Kaya, musst du nicht los?“, erkundigte sich Frau Ohlkamp stirnrunzelnd, und Kaya erhob sich seufzend. Ihre Telefon-Wache endete wohl oder übel. Beim Reiten würde sie keine Zeit dafür haben.

 

„Jaah“, erwiderte sie mit einem schmalen Lächeln. „Ich würde lieber hier bleiben“, murmelte sie ertappt. Ihre Beine schmerzten noch immer, aber immerhin schien der Muskelkater schnell zu verschwinden, hatte sie erleichtert festgestellt. Vielleicht war sie doch kein so unsportlicher Kloß, wie sie angenommen hatte. „Herr Ohlkamp?“, wandte sie sich um, als sie das Rad von der Wand geholt hatte.

 

„Ja?“, entgegnete er mit einem freundlichen Lächeln.

 

„Spielen wir später?“, wagte sie zu fragen.

 

„Aber sicher“, erwiderte er zwinkernd, und Frau Ohlkamp verdrehte kopfschüttelnd die Augen.

 

„Da freust du dich, dass du wen gefunden hast, der freiwillig mit dir spielt, hm?“, neckte sie ihren Mann, den sie schließlich von der Bank hochscheuchte, damit er einen der Esszimmerstühle reparierte, der heute unter dem Gewicht von Frau Grevens zusammengebrochen war. Frau Grevens gehörte der Gemischtwarenladen weiter unten im Dorf, und Kaya hatte sehr wohl gehört, wie Herr Ohlkamp unter seinem Atem sein Beileid gegenüber dem armen Stuhl beteuert hatte, dem er, wie er gesagt hatte, wirklich keinen Vorwurf hatte machen können, dass er 200 Kilo nicht mit Leichtigkeit stemmen konnte.

 

Mit einem Lächeln schwang Kaya ihr müdes Bein über das Rad und strampelte heute bedeutend langsamer die Straße hinab, die menschenleer vor ihr lag. Ja, sie würde diesen Ort vermissen. Es war so urig hier. Viel schöner als in der Stadt. Wie in einem Kinderbuch. Die Sommerluft war bereits schwer und üppig gefüllt, mit dem Duft blühender Wildrosen, und Kaya befiel ein seltsamer Schwermut, denn sie hatte das ungute Gefühl, dass Oliver ihr bestimmt keine Gefallen tat.

 

Der Weg kam ihr heute kurz vor. Schon war sie angekommen, hatte dem freundlichen Wächter im Häuschen gewunken, der kaum etwas anderes tat, als Zeitungen zu wälzen, war ihr aufgefallen. Er hatte einen dichten Schnauzer und es dampfte zu jeder Zeit eine Tasse vor ihm auf dem Tresen. Sie konnte nur annehmen, dass es schwarzer Tee war. Kaffee tranken die Leute hier nicht wirklich viel.

 

Und Tom wartete auf sie am Gatter. Nicht wie der andere Lehrer, versteckt in der Halle, ohne ein Pferd. Nein, auch Gusto wartete gesattelt neben Tom. Diesmal allerdings hatte er kein zweites Pferd dabei.

 

Sie kam näher, und ihre Laune hob sich tatsächlich, sogar ihr dummes Herz schlug wieder schneller.

 

„Hey!“, begrüßte sie ihn fast schon fröhlich, obwohl ihr überhaupt nicht nach Lächeln zumute war. Eigentlich. 

 

„Hi“, erwiderte er, und er sah so süß aus, dachte sie unwillkürlich. Die dunklen Haare, die Grübchen um die Mundwinkel, bereit, ihr Reiten beizubringen. „Wie war deine Stunde gestern?“, wollte er gespannt wissen.

 

„Oh… gut“, sagte sie dann. Aber sie sagte ihm nicht, dass sie Atreyu selber hatte satteln müssen. Und sie sagte ihm nicht, dass sie überhaupt Atreyu genommen hatte. Sie wusste nicht, ob es deshalb war, weil sie Angst hatte, dass er den anderen Reitlehrer zur Rede stellte und sie dann Ärger bekam, oder weil er es vielleicht ihrem Großvater sagen würde.

 

„Na dann. Das klingt ja gar nicht mal so schlimm“, bemerkte er, als sie ihre Tasche über den Pfosten gehangen hatte, und die Zügel entgegennahm. „Heute mal ohne Helm?“, ergänzte er spöttisch, und ihre Augen weiteten sich. Mist. Den hatte sie natürlich in ihrem Zimmer liegen lassen….

 

„Oh! Den hab ich vergessen!“, stellte sie bestürzt fest.

 

„Passiert“, bemerkte er immer noch grinsend, wandte sich ab und joggte die paar Meter zur nächsten Sattelkammer. Sie war rot geworden. Meine Güte! Sie vergaß ihren Helm zum Reitunterricht. Manchmal glaubte sie, würde sie tatsächlich Kopf, Arme und Beine vergessen, wenn sie nicht angewachsen wären.

 

Gelassen kam er mit Helm unter dem Arm zurück gelaufen.

 

„Das ist zwar einer meiner alten, aber er wird passen“, erklärte er achselzuckend. Kaya nahm ihn dankbar an, und Tom deutete auf die Koppel. „Wie geht es deinem Muskelkater? Ich nehme mal nicht an, dass Leonard gnädig war, und dich nur im Schritt hat reiten lassen?“, erkundigte er sich, und Kaya ruckte mit dem Kopf.

 

„Ist schon fast wieder weg. Ich werd es schon schaffen“, beteuerte sie, mit dem schlechten Versuch, selbstbewusst zu klingen.

 

„Ok, klingt gut“, sagte er nur. „Dann zeig mir, was du kannst“, forderte er sie auf, und gehorsam stellte sie den Fuß in den hohen Steigbügel, und ihr Oberschenkel zog unangenehm. Tom schritt auf die andere Seite des Pferds und hielt den anderen Steigbügel gegen. Und es ging leichter, als sie befürchtet hatte. Kaum saß sie, ließ Tom sie auch schon alleine, schritt zum Gatter und holte sie die lange Peitsche, die locker in seiner Hand lag.

 

„Unser Ausritt war nur zum Warmwerden“, bemerkte er, und klang nicht mehr so kommunikativ wie vor zwei Tagen. Sie schluckte schwer. Sie hatte etwas Angst. „Weißt du, wie viele Muskeln du zum Reiten anspannst?“, wollte er schließlich wissen, ganz der Lehrer, und Kaya zuckte die Acheln, überlegte, betrachtete kurz ihre Beine und hob den Blick wieder.

 

„Vier?“, riet sie unschlüssig, während das Tier ruhig im Schritt in der Runde lief.

 

„Netter Versuch. 63 Muskeln werden beim korrekten Sitz angespannt“, erläuterte er ihr knapp, und sie glaubte nicht, dass sie persönlich über so viele Muskeln verfügte. Was wohl den Muskelkater nur zu gut erklärte.

 

„Oh“, erwiderte sie bloß.

 

„Und jetzt möchte ich, dass du dem Pferd zeigst, was es machen sollen.“ Es waren kryptische Worte, und sie sah ihn herausfordernd an.

 

„Was will ich denn, was es machen soll?“, wagte sie unschlüssig zu fragen.

 

„Na ja“, begann er und kam näher, „jetzt gerade möchtest du, dass es so läuft, wie du es willst. Leg deine Knie ans Pferd.“ Es klang einfach. Aber es sandte tausend Schmerzen durch ihre Schenkel. Sie verzog unwillkürlich den Mund.

 

„Au“, entkam es ihren Lippen, und Tom musste lächeln.

 

„Wenn es weh tut, machst du es richtig. Zumindest noch wird es wehtun. Bald nicht mehr“, versprach er lapidar. „Durch die Körperspannung hältst du das Pferd wachsam. Es wanderte nicht einfach nur über die Koppel, sondern erwartet einen Befehl“, fuhr er fort. „Nicht locker werden“, maßregelte er sie, als ihre Schenkel zu zittern begannen. Verdammt, das war wirklich anstrengend. Sie hielt die Knie geschlossen.

 

„Und ausatmen“, sagte Tom schließlich. Und ja, sie hatte die Luft tatsächlich angehalten. „Und den Rücken gerade, Kaya – genau so!“, lobte er sie, während sie Krämpfe in Höhe des Steißbeins und ihren Waden bekam. „Spürst du die dickste Stelle des Pferdebauchs?“

 

Nein. Tat sie nicht. 

 

„Da sollen deine Unterschenkel liegen, dort musst du dem Pferd signalisieren, was du willst.“ Kaya wollte nur noch liegen und gar nichts tun. Ihre Beine pochten schon vor Schmerzen. „Bist du noch bei mir?“, erkundigte er sich lächelnd, während sie angespannt versuchte, ihre Knie nicht locker zu lassen.

 

„Mhm“, brachte sie gepresst hervor, und er lachte auf.

 

„Und ausatmen, Kaya“, sagte er grinsend. Und mit einem Ächzen ließ sie die Knie locker, sackte nach vorn, und spürte, wie das Tier wieder langsamer ging.

 

„Du kannst mir glauben, dass du in zwei Wochen nicht mal mehr daran denken musst, die Knie am Körper zu lassen. Es kommt von allein.“

 

Ja. Ganz bestimmt nicht. Kaya war sich sicher. Ihr rann der Schweiß bereits den Rücken hinab. Nein, so würde sie niemals einen guten Eindruck auf Tom machen. Oder einen sexy Eindruck, oder was auch immer sie tun musste, damit er sie nicht mehr auslachte. Ach, könnte sie doch schon reiten! Dann könnte sie gemütlich mit ihm ausreiten, seinen Geschichten zuhören, lachen und mit den Wimpern klimpern.

 

„Ich möchte, dass du rechts rum reitest“, sagte er nach einer Weile, und sie streckte den Rücken durch. Sie spürte, wie sich ihr Gewicht verlagerte, wie sie tiefer einsaß, fast automatisch. Mit einem Seufzer legte sie die Knie wieder eng ans Pferd, und sie spürte die komplette Veränderung des Tiers. Es war faszinierend. „Dafür hältst du den Inneren Zügel eng, so dass er Halt findet, aber nicht über den Hals, und am äußeren Zügel beugst du den Ringfinger lediglich in deine Hand. Die halben Paraden machen wir später“, ergänzte er, wohl nur für sich selbst, denn Kaya hatte keine Ahnung, was eine halbe Parade war. In ihrem Kopf war es ein halber Karnevalszug oder so etwas.

 

Und sie tat, was er sagte. Sie hielt den inneren Zügel weiter eng und gab beim äußeren Zügel leichten Druck mit dem Ringfinger. Schon änderte das Pferd seinen Weg, bog ab, und Tom lachte wieder auf. „Etwas abrupt, aber er tut, was du willst. Nächstes Mal etwas sanfter, ok?“

 

Es war so viel netter mit Tom, auch wenn sie schon jetzt nicht mehr konnte. „Absatz tief, Kaya, sonst ziehst du die Knie hoch!“, warnte er sie, aber sie hatte genug damit zu tun, ihre Knie geschlossen zu halten. „Ok, gut!“, sagte er, nachdem sie fast wieder einen halben Krampf bekam. „Jetzt möchte ich, dass du antrabst, alleine durch Schenkelhilfe. Keine Hacken in den Bauch hauen, ok?“, sagte er, und Kaya hatte das Gefühl, überhaupt nichts zu tun, während sie mit aller Kraft versuchte, dem Pferd zu signalisieren, dass sie durch Wadendruck schneller laufen wollte.

 

Es war absurd. Und Tom kam zu ihr, hielt das Pferd an, und griff nach ihrer Wade. Sie hielt wieder die Luft an. „Hier“, sagte er, schob sie ein Stück nach hinter, weiter hinter den Gurt. „Da muss sie liegen. Auf der anderen Seite auch. „Und den hier“, er griff nach ihrem Fuß, und Kaya war froh, ohnehin zu schwitzen, sonst wäre sie wieder rot geworden, „der schwebt frei“, erläuterte er. „Wenn der Wadendruck nicht reicht, legst du den Fuß sanft an. Aber mühelos, kein Treten. Das hier ist ein perfekt ausgebildetes Dressurpferd“, erinnerte er sie, und sie saß hochkonzentriert auf dem hohen Rücken, presste die Knie in den unbequemen Sattel, spannte die Wadenmuskulatur an, die sie nicht besaß, atmete aus und legte die Füße sanft in die Seiten des Tiers.

 

Und sie spürte die Schritte des Tiers, spürte, wie sie wohl eine Art Knopf gefunden hatte, denn das Tier richtete den Kopf hoch, und alle Muskeln seines Unterbauchs spannten sich an.

 

Und gerade als Kaya glaubte, vor Anstrengung vom Pferd zu fallen, fiel es in einen leichten Trab.

 

Erschöpft lockerte sie ihren Sitz und sofort war Gusto zurück in den Schritt gefallen.

 

„Genauso. Und die Körperspannung hältst du von jetzt an immer“, schloss Tom zufrieden.

 

„Ha ha“, machte Kaya nur tonlos, nahm die Zügel in eine Hand und wischte sich mit der anderen den Schweiß aus der Stirn.

 

„Na gut, aber… wir werden das schon schaffen“, versprach er ihr zwinkernd. „Versuch einfach, die Knie am Körper zu lassen und mach ein paar Handwechsel.“

 

„Handwechsel?“, fragte sie schwer atmend und Tom seufzte auf, als wäre sie ein Kindergartenkind, was nicht begriff, dass es die Farbe nicht essen sollte.

 

„Richtungswechsel, wie du es nennen willst“, entgegnete er achselzuckend.

 

„Ah“, machte sie, spannte die Knie an, was im Vergleich zum Rest doch schon fast einfach war und lenkte das Pferd in wirren Schleifen über die Koppel, immer um Tom herum, bis sie langsam ein Gefühl dafür bekam, wie sanft sie die Zügel tatsächlich nur bewegen musste, um einen Erfolg zu erzielen.

 

Sie glaubte, heute wieder hervorragend schlafen zu können. Sie hatte eher das Gefühl, Matrose auf einem Schiff zu sein und harte Arbeit zu leisten, als Reiterferien zu machen, dachte sie dumpf. Und noch hatte sie keine Lust irgendetwas auf der Cam festzuhalten, denn wie sie schwitzend scheiterte, war nichts, was sie Herrn Steiner gerne zeigen würde.

 

„Und? Morgen Scheunenfest?“, fragte Tom sie irgendwann. Sie wusste nicht, ob Stunden oder Minuten vergangen waren, in denen sie versuchte, das schnelle Schritttempo durch genügend Körperspannung zu halten, während ihre Schultern langsam davon wehtaten, die Zügel zu halten, aber gleichzeitig nachzugeben, während sie so gerade saß, als wäre sie in einer Benimmschule.

 

„Was?“, erwiderte sie abwesend, ehe sie ihre Konzentration ihm zuwandte.

 

„Das Scheunenfest beim Bauern Voss. Gehst du hin?“

 

Und sie war mehr als überrascht. „Ich…? Er hat mich eingeladen, also…- gehst du?“, entkam es ihren Lippen schneller, als sie geplant hatte, und er ruckte mit dem Kopf.


„Wir gehen jedes Jahr“, erwiderte er.

 

„Wir?“, wiederholte sie verwirrt, und er deutete um sich.

 

„Also Gestüt Rothenberg geht jedes Jahr“, schloss er eindeutig.

 

„Alle?“, vergewisserte sie sich, denn sie konnte sich kaum vorstellen, dass die schicke Reiter-Elite, die hier wohnte, etwas Banales wie ein Scheunenfest besuchte.

 

„Oh ja. Es gibt allen die Chance, sich besonders daneben zu benehmen“, bemerkte er, etwas zu scharf. Kaya sah ihn verdutzt an. „Oder einigen“, korrigierte er sich ernst. Und er schien diese Worte nicht ausführen zu wollen, schien nicht erklären zu wollen, was er meinte, obwohl es Kaya brennend interessierte. Seine Züge entspannten sich wieder und sie konnte die süßen Grübchen fast wieder erahnen.

„Du kommst nicht vom Land“, stellte er schließlich fest.


„Nein?“, bestätigte sie vorsichtig, und er lächelte schließlich.

 

„Weißt du, mein Leben wäre um einiges leichter, wenn die Mädchen hier auf dem Gestüt auf dem Scheunenfest nicht trinken würden. Aber leider… ist das Bier umsonst“, schloss er seufzend. Kaya begriff nicht wirklich, aber sie nahm an, die Mädchen hier schossen sich genauso ab, wie in den Diskos Zuhause. Nicht, dass sie schon mal in der Disko getrunken hatte, denn als Alina und sie versucht hatten, mit einigen Mädchen aus der Klasse in einen Club zu gelangen, war sie als einzige nach ihrem Ausweis gefragt worden.

 

Und Alina war netterweise bei ihr geblieben, nachdem feststand, dass Kaya ohne elterliche Begleitung, keinen Club in Berlin betreten würde. Sie hatten dann ihren Abend bei McDonald‘s verbracht. Aber sobald Kaya achtzehn war, würde sie auch in Diskos gehen und dann könnte sie Jungen wie Tom beeindrucken, weil sie eben kein Kind mehr war.

 

„Oh“, sagte sie nur und konzentrierte sich wieder aufs Reiten. Aber ihr Herz schlug wild, denn… Tom wäre morgen auf dem Scheunenfest! Vielleicht würde sie versuchen, ihre Haare in Wellen zu tragen! Sie könnte heute noch duschen und sie flechten, dann würden sie morgen den Tag durchhalten. Aber nein! Vorher musste sie ja noch Reitunterricht beim Arsch machen. Das würden ihre Haare nicht aushalten.

 

All ihre Hoffnungen sanken, dass sie vielleicht ansatzweise verführerisch aussehen würde. Außerdem hatte sie überhaupt nicht die Kleidung dabei. Sie würde in Jeans und Shirt, mit langweiligen glatten Haaren auftauchen, und niemand würde sie bemerken.

So wie immer. Ihre Gedanken waren wieder düster.

 

„Knie ans Pferd“, erinnerte Tom sie streng, und seufzend folgte sie und glaubte nicht, dass der Muskelkater sie morgen verschonen würde.

 

 

Fünfzehntes Kapitel

- Hallo Effie -

 

Noch vor acht weckte sie ihr Handy. Sie hatte sich von Herrn Ohlkamp gestern Abend noch Doppelkopf beibringen lassen, was genauso kompliziert war wie Skat, aber immerhin hatte sie nur nicken müssen, denn man brauchte vier Personen, hatte Herr Ohlkamp erklärt, während Kaya fast über ihrem Bier eingeschlafen war, was sie nur getrunken hatte, um ihre Nerven zu beruhigen.

 

Denn niemand hatte sie gestern angerufen. Und Alina hatte sie weggedrückt, um ja keinen Anruf ihrer Mutter zu verpassen. Aber der war ausgeblieben.

 

Bis jetzt….

 

Sie war müde gewesen, aber als ihre Augen das Foto ihrer Mutter auf dem Display erkannten, als diese anrief, war sie hellwach. Oh Gott! Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn ihre Mutter vor acht anrief! Es konnte nicht! Oliver hatte sie verpetzt!

 

Und mit heißen Schuldgefühlen und nagender Angst nahm sie ab.

 

„Ja?“, flüsterte sie fast und hielt den Atem an.

 

„Kaya?“, vergewisserte sich ihre Mutter.

 

„Ja?“, wiederholte Kaya ängstlich.

 

„Ich hör dich kaum! Alles in Ordnung bei dir?“, wollte sie wissen.

 

„Ja?“, sagte Kaya zum dritten Mal, diesmal lauter.

 

„Dann ist gut!“, rief ihre Mutter. Die Verbindung war mäßig schlecht. „Kurze, ich ruf dich so früh an, weil ich heute den gesamten Tag in den Proben hängen werde. Es ist furchtbar, und ich bin völlig geheilt davon, jemals wieder irgendeine Show spielen zu wollen. Es sei denn, sie bieten mir die Hauptrolle an!“, beteuerte sie genervt. Und Kayas Mund öffnete sich. Sie wusste nicht Bescheid! Ihre Mutter wusste nicht Bescheid! „Wie ist das Wetter bei uns?“, wollte sie laut wissen, und Kaya war so dankbar, dass sie erleichtert ausatmete.


„Herrlich, Mama. Einfach herrlich“, sagte sie lächelnd.

 

„Na, das ist gut. Wie geht es voran mit der Nachprüfung?“, fragte sie sofort.

 

„Alles bestens. Ich mache wirklich Fortschritte.“ Kaya wusste, für ihre Mutter warf dieser Satz Rätsel auf, aber sie fragte Gott sei Dank nicht nach.

 

„Das freut mich wirklich zu hören! Und wie ist es bei den Wagners? Haben sie dich schon über, Kurze?“, wollte sie spöttisch wissen, aber Kaya schüttelte den Kopf.

 

„Nein, auf keinen Fall. Vielleicht bleibe ich für immer bei Alina“, log sie munter. Und ihre Mutter stöhnte auf.

 

„Nein! Tu mir das nicht an!“, rief sie gequält. „Dann muss ich alleine Fastfood essen und dick dabei werden, weil mein einziges Kind mich verlassen hat!“ Und Kaya musste lachen.

 

„Nein, Mama. Wenn du wiederkommst, bin ich Zuhause“, versprach sie und meinte jedes Wort. Sie vermisste sie so sehr. Aber sie sagte es ihr nicht, denn sie wusste, ihre Mutter tat sich schwer mit diesen Worten.

 

„Ich hab dich lieb, Kaya.“

 

„Ich dich auch, Mama“, sagte sie leise, denn fast wollte sie wieder weinen, obwohl sie erleichtert war.

 

„Ich kann’s kaum erwarten, nach Hause zu kommen“, sagte ihre Mutter noch, ehe es im Hintergrund lauter wurde.

 

„Ich auch“, murmelte Kaya.


„Ich muss los, Kurze! Ich denk an dich!“, versprach sie ihr und hatte aufgelegt, ehe Kaya noch etwas erwidern konnte.

 

Oliver hatte nichts gesagt. Vielleicht tat er ihr ja tatsächlich den Gefallen?

 

Sie konnte es kaum glauben, aber… es wäre wirklich gut!

 

Und ihr fielen die zwei Dinge ein, die sie heute unbedingt tun wollte!

 

Sie wollte mit Vanessa reden. Und dann würde sie Frau Fiets suchen gehen. Denn mit ihr hatte sie auch noch ein oder zwei Worte zu reden!

 

Aber vorher musste sie Frau Ohlkamp helfen. Heute galt es die Betten zu beziehen, denn es reisten heute neue Gäste an, und den Tisch decken musste sie auch noch. Sie schwang ihre Beine aus dem Bett, die sich noch immer wie Pudding anfühlten, aber sie hatte gute Laune, denn ihre Mutter wusste nicht Bescheid!

 

Jetzt konnte sie auch wieder Alina anklingeln! Und sie würde versuchen, mit Bastian zu reden! Sie musste!

 

Ja, sie hatte viel vor heute. Und vor allem wollte sie versuchen, ihren Abend mit Tom zu verbringen. Vielleicht ein Bier mit ihm zu trinken, den Sonnenuntergang zu beobachten und vielleicht… verliebte er sich ja in sie? Passierte so etwas im echten Leben? Kaya wusste es nicht. Es passierte in Büchern und in den kitschigen Filmen, die ihre Mutter bei Amazon auslieh, und bei denen Kaya schon in den ersten zwei Minuten schlecht wurde, wenn klar war, mit wem Katherine Heigl am Ende glücklich werden wurde.

 

Es war immer dasselbe. Es war immer der Typ, den sie zu Anfang nicht ausstehen konnte. So etwas war nicht wirklich realistisch. Seufzend schlurfte Kaya ins Bad. Das war ihr Matrosendasein. Es hatte nichts mit Ferien zu tun. Nur mit harter Arbeit.

 

~*~

 

Sie war schon nachmittags zum Gestüt gefahren. Und sie kam sich vor, als würde sie einbrechen, denn sie hatte seine Worte nicht vergessen. Sie war hier nicht willkommen. Aber so war es eben, wenn sich Leute nicht an ihre Vorstellungen hielten. Außerdem wollte sie auch nicht zu ihm, sondern eigentlich zu Frau Fiets. Und zu Vanessa.

 

Der Wächter hatte sie einfach reingewunken. Zumindest ihn störte ihre Anwesenheit überhaupt nicht. Und noch schien noch kein reges Treiben zu herrschen. Sie hatte angenommen, um zwei Uhr wäre hier die Hölle los, und alle Mädchen säßen auf ihren Pferden. Vanessa war leider nicht auf der kleineren Koppel. Die war noch leer. Vielleicht blieb sie auch leer. Kaya wusste nicht, wie es an Freitagen aussah, aber sie nahm an, ein Freitag war hier ein normaler Arbeitstag. Für Mensch und Tier.

 

Sie lief weiter, fast joggte sie, denn sie hatte Angst, von irgendwelchen Kameras gefilmt zu werden, die vielleicht versteckt in den Bäumen hingen. Endlich erreichte sie das große Haus, was ihr ein schlechtes Gefühl brachte, und leider wusste sie den Code nicht für die Tür.

 

Denn die war verschlossen. Sie blickte mit Absicht nicht in die Kamera über der Tür. Und jetzt? Klingelte sie?

 

Aber die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Vielleicht meinte es das Schicksal einigermaßen gut mit ihr? Ihre Beine schmerzten nach dem langen Weg, den sie im Laufschritt zurückgelegt hatte.

 

„Frau Rothenberg?“ Frau Kramer wirkte überrascht, aber nicht unfreundlich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Kaya hätte ihr gerne vorgeschlagen, sie mit Kaya anzureden, aber sie verkniff es sich.

 

„Hallo Frau Kramer, sagen Sie, wissen Sie, wo ich Frau Fiets finde?“ Kaya machte Nägel mit Köpfen, denn sie hatte hier wohl kaum etwas zu verbergen.


„Ich bin gerade auf dem Weg ins Haus, allerdings nicht zu Frau Fiets, aber ich kann Ihnen den Weg zeigen?“, schlug die ahnungslose Frau Kramer vor, die wohl nicht wusste, dass sie des Hauses verwiesen worden war.

 

„Vielen Dank!“, sagte Kaya, und Frau Kramer tippte unter vorgehaltener Hand den Türcode ein. Ob die Mädchen, die hier wohnten den Code wussten, fragte sich Kaya unwillkürlich. Wahrscheinlich nicht.

 

Und sie wusste, warum draußen niemand war. Alle waren hier, stellte sie ängstlich fest.

 

Es herrschte lautes Geplapper und Stühlegerücke in dem großen Saal, den sie von der Halle aus einsehen konnte. Anscheinend aßen die Schülerinnen noch.

 

„Frau Fiets ist gerade in der Küche beschäftigt. Sie können den Weg durch den Saal nehmen“, schlug Frau Kramer ihr vor. „Immer geradeaus, bis zu den Flügeltüren, dann den langen Gang hinab und Sie erreichen die Küche“, erklärte sie lächelnd. Das musste dann wohl der offizielle Weg sein, und nicht der andere, den sie mit Frau Fiets das letzte Mal gegangen war. Und leider führte dieser Weg mitten durch den Saal, wo alle aßen.

 

„Ach, Frau Kramer“, hielt Kaya die junge Frau, die sich wieder freundlich umwandte. „Sagen Sie… mein – äh – Großvater isst nicht in dem Saal hier unten, oder?“

 

„Nein! Herr von Rothenberg nimmt die Mahlzeiten in seinen privaten Räumen zu sich“, erwiderte sie sofort. Ja, Herr von und zu saß nicht beim gemeinen Volk, nahm sie bitter an.

 

„Danke, Frau Kramer“, verabschiedete sich Kaya von der netten Frau, und sie wollte nicht weiter gehen. Aber sie konnte nicht stehen bleiben. Vielleicht traf sie Vanessa im Saal? Dann wären es zwei Fliegen mit einer Klappe. So ungefähr. Also atmete sie schwer aus. Ihr Großvater war nicht unten, also war es fast ungefährlich.

 

Sie hatte sich mal wieder keine Gedanken über ihre Kleidung gemacht, ging ihr auf, als sich ihre Beine in Bewegung setzten. Sie trug die zerrissene Jeans und ein weißes Shirt. Ihre Haare hingen offen über ihre Schultern und sie war ungeschminkt. Alles in allem stand sie in keiner Konkurrenz zu keinem der Mädchen hier. Es war ein Trauerspiel, wirklich. Sie hoffte nur, Tom aß hier nicht zu Mittag.

 

Und sie betrat den Saal. Das Geplapper wurde leiser, aber es verstummte Gott sei Dank nicht völlig. Sie kam sich ohnehin vor wie ein bunter Hund. An den Tischen, wo nur noch Nachtischschälchen standen, saßen bestimmt einhundert Mädchen, die sie alle anstarrten. Es war wie in der Schulcafeteria, wenn sie es mal wieder geschafft hatte, über ihren offenen Schnürsenkel zu stolpern, und die gesamte Tomatensuppe ihr Shirt tränkte. So fühlte sie sich.

 

Und sie hatte leider nicht das Glück, dass Tom nicht da war. Er saß mit dem anderem Lehrer und Vanessa am Rand, an einem kleineren Tisch, mit noch drei Leuten, die Kaya nicht kannte. Aber es waren keine Schülerinnen. Sie ignorierte das Getuschel und schritt auf Vanessa zu. Diese grinste ihr entgegen.

 

„Die Dame des Hauses“, begrüßte Vanessa sie lächelnd, und Kaya fühlte sich bestimmt nicht wohl hier und garantiert war sie nicht die Dame des Hauses.

 

„Hey“, begrüßte Kaya sie etwas atemlos. „Hi Tom“, wandte sie sich auch noch an den Reitlehrer, der wieder zum Anbeißen aussah, in seinem blauen Shirt.

 

„Hey Kaya“, erwiderte er die Begrüßung. „Du kommst zum Essen?“, wollte er wissen, aber Kaya sah über die Schulter, ob ihr Großvater auch wirklich nicht hier war.

 

„Nein. Ich denke, dann jagt mich der Alte mit der Mistgabel vom Hof“, wiederholte sie die Bezeichnung für ihren Großvater, die auch Vanessa benutzte. Tom schien ein wenig beeindruckt von ihren kühnen Worten zu sein. Und ihr fiel jetzt auf, dass sie den anderen Lehrer gar nicht begrüßt hatte. Dieser aß bereits seinen Nachtisch weiter und beachtete sie nicht mehr. Besser so, sagte sie sich. „Vanessa?“, wandte sie sich jetzt direkt an das Mädchen, mit dem dunklen Pferdeschwanz, was sie wohlwollend anlächelte.

 

„Ja, Kaya?“

 

„Hättest du einen Moment Zeit? Ich wollte dich etwas fragen“, druckste Kaya herum, denn sie wollte nicht direkt vor Tom fragen. Es war ihr unangenehm. Und da Alina nicht da war, musste nun Vanessa als eine Art Ersatz herhalten.

 

„Oh!“, rief Vanessa aus. „Du hast die Schnauze voll von Tom und Leo, weil beide einfach nur unfähig sind, und du möchtest, dass ich dir die Kunst des Rennreitens beibringe?“, erwiderte sie und nickte nachsichtig. „Männer haben keine Ahnung von Pferden, ich sage es immer wieder.“ Beide Männer hatten den Blick entrüstet gehoben, aber Vanessa beachtete weder den einen, noch den anderen.

 

„Wäre ich nicht so ein absoluter Versager auf dem Pferd, dann würde ich dein Angebot gerne annehmen“, erwiderte Kaya seufzend. Aber Vanessa erhob sich bereits.


„Na komm, wir unterhalten uns privat. Ich bin sehr gespannt!“, sagte sie und Kaya führte sie in den Flur, in den sie ohnehin gleich gehen musste. Die Flügeltüren schwangen zu, und Kaya atmete aus. Sie war froh, aus dem Saal entkommen zu sein, denn die Blicke der anderen hatten sie viel zu nervös gemacht. „Was kann ich für dich tun?“ Vanessa wirkte ehrlich gespannt. Ihr Nasenpiercing glitzerte auch hier im Flur.

 

„Gehst du heute auf das Scheunenfest?“, fragte Kaya etwas beschämt, und Vanessas Mund öffnete sich in stummem Verständnis.

 

„Ja, sollen wir uns dort treffen? Du hast noch keine wirklichen Bekanntschaften gemacht? Ich kann dir hier auch keine empfehlen“, ergänzte sie und verdrehte die Augen. „Jedenfalls keine von den Dressur- oder Springtussis“, schloss sie spöttisch. „Meine Rennreiter allerdings sind alle fabelhafte Personen!“, behauptete sie.

 

„Ja, ich… das wäre echt nett. Und ich hätte eine Frage“, fuhr Kaya peinlich berührt fort.

 

„Ja?“ Gespannt wartete Vanessa.

 

„Ich… hatte nicht wirklich geplant, auf ein Scheunenfest zu gehen. Und ich habe keine Sachen für so was eingepackt, und… ich dachte, bevor ich mein Geld für irgendetwas ausgebe, was ich mir nicht leisten kann, frage ich dich, ob du mir vielleicht was leihen könntest?“

 

Jetzt war es raus. Kaya biss sich auf die Lippe, und Vanessa musste wieder grinsen.


„Klar. Kein Problem! Du hast heute noch Reitunterricht?“, vermutete sie. „Bei Tom oder Leo?“

 

„Äh… bei Leo“, wiederholte sie den Namen des Reitlehrers, den sie niemals so anreden würde!

 

„Na ja, der lässt dich nicht eher weg. Aber komm doch danach in meinem Zimmer vorbei.“

 

„Wo ist das? Und ich muss echt aufpassen, denn… wenn mich der Alte erwischt…“, fuhr sie bedächtig fort, aber Vanessa machte eine wegwerfende Handbewegung.

 

„Um die Zeit ist er längst oben. Das Abendessen ist dann schon vorbei und alle anderen Tussis hier werden Stunden brauchen, um sich fertig zu machen. Ist jedes Jahr dasselbe. Als wäre es eine verdammte Modenschau“, echauffierte sie sich kopfschüttelnd. „Der Code für die Tür ist 8526. Du gehst am Saal vorbei bis zum hinteren Treppenhaus und das erste Zimmer auf der linken Seite im ersten Stock ist meins. Mein Name steht an der Tür.“

 

„Du… hast mir den Code gesagt“, wiederholte Kaya verblüfft.

 

„Klar. Ich meine, was sollst du damit schon anfangen? Macht ja keinen Sinn, dass du was stiehlst. Gehört doch ohnehin alles dir, wenn der Alte stirbt, richtig?“, wollte Vanessa achselzuckend wissen, und Kaya blinzelte einmal. Tat es das? Nein, tat es nicht. Aber sie hatte auch nicht vor, hier irgendetwas anzufassen. Sie prägte sich den Code ein, denn sie war unendlich dankbar, dass Vanessa ihr half.

 

„Danke, Vanessa. Ich muss weiter zu Frau Fiets“, verabschiedete sie sich.

 

„Wir sehen uns später. Und Kaya?“, hielt Vanessa sie doch noch auf. „Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb du dich schick machen willst?“, wollte sie mit erhobenen Augenbrauen wissen, und Kaya hoffte nur, sie wurde nicht rot.

 

„Nee. Ich… will einfach nur nicht immer Jeans tragen“, wich sie Vanessas Worten aus, und diese schenkte ihr noch ein Grinsen.

 

„Ok, bis später!“, verabschiedete sich Vanessa, und Kaya lief den Flur bis zum Ende entlang. Tatsächlich befand sich hinter der nächsten Tür die Küche. Wie kompliziert der andere Weg doch war, dachte Kaya, als die Küchenhilfen ihr schräge Blicke zuwarfen.

 

Vor einem hübschen Mädchen mit dunklen Haaren hielt Kaya inne.

 

„Hallo, ich suche Frau Fiets?“, sagte sie, und das Mädchen betrachtete sie fast abschätzend. Dann wandte sie sich um.

 

„Frau Fiets?“, rief sie, ohne Kaya weiter zu beachten. Die rundliche Frau bog um eine Ecke.

 

„Ja, Julia?“, rief sie zurück, aber dann erkannte sie Kaya. „Kaya“, ergänzte sie und kam auf sie zu. „Ich bin so froh, dass du-“


„-haben Sie meinen Vater angerufen?“, unterbrach Kaya die Frau etwas atemlos, und es war ihr egal, dass das Mädchen ihnen scheinbar zuhörte. Frau Fiets‘ Mund schloss sich fast ertappt, und die Frau seufzte schließlich.

 

„Ja, das habe ich, Kaya“, gestand sie ihren Verrat auch noch ein. Kaya hatte erwartet, dass die Frau wenigstens versuchen würde, eine Ausrede zu erfinden. Aber Erwachsene taten so etwas nicht wirklich, fiel ihr immer wieder auf. Sie gaben sich nicht mal die Mühe.

 

„Wieso haben Sie das gemacht?“

 

Und Frau Fiets‘ Worte nahmen Kaya fast jede Lust, wütend zu sein.

 

„Ich dachte, dank dir könnte die Familie wieder zusammenfinden“, erwiderte die Frau resignierend. Und so dumm es von Frau Fiets gewesen war, Kaya mit auf das Anwesen zu bringen, so dumm war es gewesen, dass sie Oliver angerufen hatte.

 

Und fast taten Kaya die nächsten Worte leid. „Das wird nicht passieren. Das wissen Sie, oder?“ Und Frau Fiets wirkte wirklich traurig.

 

„Nein“, räumte sie ein. „Dein Vater hatte mir nicht einmal geglaubt. Aber… anscheinend hat er dich erreicht?“, vermutete sie jetzt mit großen Augen, und Kaya nickte.

 

„Ja, hat er. Und er hat mir gesagt, ich solle sofort von hier verschwinden“, erwiderte Kaya kopfschüttelnd. „Bitte, machen Sie das nicht mehr“, bat sie jetzt, und das Mädchen schien das Interesse an diesem Gespräch gänzlich verloren zu haben, denn sie hatte sich bereits abgewandt und erledigte wieder ihre Arbeit, stellte Kaya fest. Ja, wahrscheinlich war es für jeden Außenstehenden langweilig, was sich für Abgründe in ihrer Familie auftaten.

 

„Ich wollte nur helfen“, beteuerte Frau Fiets entschuldigend. „Es tut mir leid, Kaya“, versicherte sie heftig. „Wirklich, ich dacht bloß-“

 

„-es ist nicht schlimm, aber… es ist vergeudete Zeit, Frau Fiets“, unterbrach Kaya sie. Und das war es schon gewesen, was sie wollte. „Ich… sollte gehen“, schloss Kaya.

 

„Hast du Hunger? Möchtest du eine Tasse Tee?“, fragte Frau Fiets sofort, und Kaya tat es leid, dass sie das Angebot nicht annehmen konnte. Es tat ihr wirklich leid.

 

„Nein, ich… muss wirklich los“, wiegelte sie ab, aber sie fühlte sich hier wirklich unwohl bei dem Gedanken, dass sie hier nicht willkommen war. Wirklich nicht. Und traurig nickte Frau Fiets, verabschiedete sie, und als Kaya den Gang zurückgegangen war, fand sie den Saal verlassen vor. Immerhin. Das Essen war vorbei. Wahrscheinlich mussten die armen Mädchen jetzt alle samt wieder auf die Pferde. Und das auch noch mehrere Stunden lang.

Kaya beneidete sie nicht.

 

Sie schlich sich durch den Saal zurück in die Halle. Niemand war hier, außer ein paar Damen, die fegten. Die würden Kaya nicht verpetzen. Sie verließ das kühle Haus. 8526 dachte sie, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

 

Aus der Ferne sah sie viele Mädchen bereits ihre Pferde aus den Boxen holen. Sie fragte sich, wie es wäre, wenn sie ihr eigenes Pferd hätte. Bestimmt wäre es völlig anders. Es wäre ja ihr Pferd. Vielleicht würde es mehr Spaß machen?

 

Sie wusste es nicht, und es lohnte sich kaum, sich darüber Gedanken zu machen. Und eilig lief sie an den Gassen zwischen den Ställen vorbei, damit die Mädchen hier sie nicht zu genau ansahen. Gerade als sie den Parkplatz weiter unten im Blick hatte, erkannte sie die Anzug-Männer aus ihren schicken Sportwagen steigen. Und sie nahm an, ihr Großvater befand sich unmittelbar unter ihnen, denn alle wirkten gescheucht, ein wenig unsicher, und sie wedelten mit Aktenordern und plapperten laut.

 

Kaya ergriff die nächste Chance und schlüpfte in den nächsten Stall und verbarg sich hinter den geöffneten Türen. Fast hielt sie sogar den Atem an, als die Meute an Anzugträgern den Weg zum Anwesen hinauf marschierte, während alle durcheinander sprachen.

 

„Ergreifst du die Flucht?“, hörte sie eine Stimme, und sie zuckte zusammen. Mit hochroten Wangen sah sie den Mann an.

 

„Dr. Schmidt!“, rief sie heiser aus.

 

„Hallo Kaya, schön, dich zu sehen“, erwiderte er lächelnd. Er trug ein grün-kariertes Hemd, braune Hosen in grünen Gummistiefeln, und seine Haare lagen heute besonders wild. Er war unrasiert, schien sich einen Bart stehen zu lassen, und Kaya sah, dass er vor der Box des weißen Pferdes stand, vor dem selbst Tom eine Heidenangst zu haben schien.

 

„Gleichfalls“, murmelte sie. Sie kam näher. Ihr Blick fiel auf die lange Spritze in den Händen des Tierarztes. Sie runzelte die Stirn.

 

„Ist sie krank?“, fragte sie vorsichtig, mit Blick auf das scheue Tier, das den Kopf immer mal wieder in den Nacken warf.

 

„Nicht… direkt“, antwortete Dr. Schmidt ernst. Kaya stellte sich neben ihn.

 

„Und wofür ist die?“, wollte sie stirnrunzelnd wissen. „Wenn ich fragen darf?“

 

„Sag mal, wohnst du noch bei den Ohlkamps?“, wollte Dr. Schmidt ein wenig gedankenverloren wissen und schien ihre Frage wohl nicht beantworten zu wollen. Kaya nickte langsam.

 

„Ja?“, antwortete sie mit gerunzelter Stirn, und Dr. Schmidt schien nachzudenken.

 

„Und was macht der Reitunterricht? Kommst du voran?“, fuhr er fort, wohl nicht erpicht, eine Unterhaltung über die Spritze zu führen.

 

„Na ja“, sagte Kaya ausweichend. Er drehte die lange Spritze abwesend in den Fingern. Und Kayas Atmung flachte ab.

 

„Ist das- wollen Sie das Pferd einschläfern?“, entkam es tonlos ihren Lippen, und Dr. Schmidt verzog die Lippen zu einer schmalen Linie.


„Das… ist der Plan, Kaya“, antwortete er tatsächlich.

 

„Aber wenn sie nicht krank ist-!“, rief Kaya aus, die nicht begreifen konnte, weshalb man ein Tier umbrachte, was gesund war!

 

„-sie hat keinen Nutzen mehr für deinen Großvater. Sie ist… unberechenbar, sie kann nicht geritten werden, sie ist sogar aggressiv“, fuhr er fort. Kaya schwieg betroffen.

 

„Aber bestimmt nicht ohne Grund!“, erwiderte Kaya stiller. „Müssen Sie sie wirklich einschläfern?“

 

„Ich persönlich glaube, dass… man diese Psychose, die die Stute hat, heilen kann. Aber hier hat niemand Zeit dafür. Und ich habe im Moment auch keine Zeit dafür. Und keinen Platz“, ergänzte er nachdenklich. Keinen Platz…- die Ohlkamps hatten alte Ställe. Dort lagerte zwar lediglich der letzte Rest Stroh, wie sie bei ihrem täglichen Gang mit Balu festgestellt hatte, aber an Platz wäre zu kommen!

 

„Ich könnte die Ohlkamps fragen!“, bot Kaya sofort an. „Das Gasthaus hat Ställe!“, fuhr sie eifrig fort.

 

„Nein“, entschied Dr. Schmidt kopfschüttelnd. „Die Ohlkamps haben kaum Platz für ein Pferd, und leisten können, werden sie es sich auch nicht“, fuhr er fort. Kaya runzelte die Stirn.

 

„Leisten? Aber sie soll doch getötet werden!“, sagte sie bitter. „Wieso sollen die Ohlkamps dafür bezahlen müssen?“

 

„Wenn dein Großvater wüsste, dass jemand bereit wäre, ihm das Tier abzunehmen, Psychose hin oder her, würde er seinen Profit damit machen wollen.“

 

Oh. War das so? Kaya wurde wütend. Und sie sah kein Problem.

 

„Na ja, dann sagen Sie ihm, sie hätten sie eingeschläfert, aber wir bringen sie einfach runter ins Dorf und verstecken sie bei den Ohlkamps.“

 

Dr. Schmidt sah sie an. Ein wenig nachsichtig, ein wenig traurig.

 

„Ach Kaya, leider geht das so einfach nicht. Leider“, wiederholte er seufzend. Es war ungerecht. Nur weil jemand Angst hatte, wurde er abgeschoben. Kaya hatte die Nase voll davon. Ihr Großvater war herzlos und böse.

 

„Sie sagen, man kann sie heilen?“, wollte Kaya behutsam wissen, während sie sich gegen das Holz lehnte, die Hände um die glänzenden Gitterstäbe gelegt, die die Stute abschirmten.

 

„Theoretisch, ja. Sie ist ein wenig unter Schock. Und depressiv, nehme ich an.“

 

„Pferde können depressiv sein?“, wollte Kaya wissen, ohne den Blick abzuwenden.

 

„Nun, die Stute hat ihr Fohlen getötet. Zwar aus Versehen, aber…“, erklärte er abwesend und rieb sich die Schläfe. Kayas Augen wurden groß.

 

„Oh. Das… ist ja furchtbar“, flüsterte sie.

 

„Mhm“, machte der Tierarzt resignierend. „Es ist nicht aufgestanden, nach der Geburt, und als die Stute helfen wollte, wurde sie nervös. Sie hatte Sorge, nehme ich an, und wurde zu hektisch. Sie hat es leider totgetrampelt.“

 

Kaya sah ihn fassungslos an. „Wieso hat keiner geholfen, oder war sie alleine?“

 

„Nein, ich war da. Es gab Komplikationen bei der Geburt. Die Beine des Fohlens hatten eine Fehlbildung. Wahrscheinlich durch einen Folsäuremangel aufgrund der Fütterung oder anderen genetischen Gründen. Ich hatte keine Zeit, das näher zu untersuchen“, fuhr er fort, sprach eher zu sich selbst. „Und es hätte keinen Sinn gemacht, das Fohlen zu retten, Kaya“, erklärte er, schien es sich selber von der Seele reden zu wollen. „Ein Pferd, was nicht aufstehen kann…“

 

„Aber es muss ja nicht totgetrampelt werden, nur weil es nicht laufen kann!“, entrüstete sich Kaya.

 

„Es war zu gefährlich in die Box zu gehen, nachdem es geboren war. Stuten können sehr unerschrocken sein, wenn es um die Verteidigung ihrer Fohlen geht, Kaya“, sagte er bedächtig. „Sie hat das Fohlen noch sauber geleckt, hat auch eine halbe Stunde später noch versucht, es zum Aufstehen zu bewegen. Sie hat es gar nicht registriert. Und ich habe sie anschließend aus der Ferne betäubt, damit ich das tote Tier aus der Box holen konnte.“

 

„Und jetzt sucht sie ihr Fohlen“, flüsterte Kaya traurig.

 

„Wahrscheinlich“, erklärte Dr. Schmidt und rieb sich die Stirn.

 

„Aber… man könnte sie heilen? Wenn wir… sie also wegbringen würden, sie therapieren, oder was auch immer, dann könnte sie ja wieder zurück?“, schlug Kaya mit großen Augen vor, und Dr. Schmidt sah sie abwägend an.

 

„Das könnte ich nicht verantworten“, erwiderte er seufzend und schüttelte den Kopf, ohne ihre Frage wirklich zu beantworten. Immerhin fand sie es nett, dass er zumindest nicht ohne Skrupel ein Pferd töten konnte.

 

„Und… wenn Sie es nicht wüssten?“, wollte Kaya jetzt leiser wissen und streckte die Hand einfach zwischen den Gitterstäben hindurch, hielt sie der Stute entgegen, die zusammen gezuckt war.

 

„Kaya, nicht!“, rief Dr. Schmidt sofort beunruhigt, aber Kaya hielt die Hand ruhig, während Dr. Schmidt näher kam. „Sie ist wirklich-“

 

„-einen Moment“, beruhigte Kaya ihn zuversichtlich, wartete, bis die Stute nicht mehr stocksteif vor ihr stand, ihre Ohren nicht an ihren Kopf gelegt waren, und sie langsam näher trat. Abwartend hielt Kaya die Hand ausgestreckt, denn sie konnte nicht glauben, dass dieses Pferd wirklich böse oder gefährlich war.

 

Die Stute schnaubte, wohl um zu testen, ob Kaya zusammenzucken würde, aber Kaya blieb ruhig, blickte der Stute nicht direkt in die Augen, und die Stute kam noch einen Schritt näher. Kaya spürte bereits die Wärme des Tiers. Es roch an ihrer Handfläche, und sanft legte Kaya die Hand auf die weiche Nase des Tiers. Angespannt atmete Dr. Schmidt neben ihr aus. Er zog sich ein Tuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich die Stirn ab, während Kaya die Stirn des Tieres tätschelte. Die Stute stand ruhig und ließ sich nicht anmerken, dass sie vielleicht nicht gerne berührt wurde.

 

„Du bist ganz lieb, nicht wahr?“, flüsterte Kaya dann. „Wie… wie heißt sie?“ Sie konnte kein Schild an der Box erkennen, die in völliger Dunkelheit lag, ohne ein Fenster.

 

„Effie“, sagte Dr. Schmidt nach einer ganzen Weile, während Kaya nicht auffiel, dass er sie musterte.

 

„Hallo, Effie“, flüsterte Kaya und kraulte den Kopf des Tieres unter der Stirnmähne. „Bis wann… müssen Sie ihr… diese Spritze geben, Dr. Schmidt?“, wollte Kaya fast beiläufig wissen.

 

„Wieso fragst du das?“, wollte der Tierarzt ein wenig zu schnell von ihr wissen.

 

„Nur so“, log Kaya ungerührt.

 

„Nun… spätestens Dienstag“, schien er zu überlegen. „Kaya, du kannst aber nicht-“

 

„-ich werde nichts tun“, versprach sie lediglich. „Aber dann kommen Sie erst Dienstag wieder?“, wollte sie sicherheitshalber wissen und hob vorsichtig den Blick zu seinem Gesicht. Und sie sah, er war nicht zufrieden, wirkte höchst besorgt.


„Ja? Versprich mir, dass du nichts tun wirst, Kaya! Nichts, was dich in Gefahr bringt, das Pferd oder… irgendwen sonst!“, verlangte er dann. Er schien sich zu ärgern, ihr all das erzählt zu haben. „Und bitte, fass sie nicht mehr an. Es ist nicht sicher!“, schloss er, und sie zog gehorsam ihre Hand zurück. Das Pferd wich ruhiger zurück in den Schatten der Box.

 

„Ok“, erwiderte sie.

 

„Ok?“, wiederholte er, nicht überzeugt. „Kaya, ich glaube dir nicht“, fuhr er besorgter fort.

 

„Machen Sie sich keine Sorgen!“, sagte sie mit voller Überzeugung. Und er seufzte lange, bevor er die Spritze wieder in seiner Tasche verstaute, nachdem er eine Plastikkappe auf die Nadel gesteckt hatte. „Ich würde nur noch einmal versuchen, mit meinem Großvater zu reden“, log sie dreist. Auch Dr. Schmidt schien diese Worte nicht völlig ernstzunehmen.

 

„Ich werde das bereuen“, murmelte er kopfschüttelnd, und Kaya ließ sich keine Regung anmerken. Sie würde die Ohlkamps noch heute Abend fragen, ihnen erzählen, dass ihr Großvater ein unschuldiges Pferd töten lassen wollte, weil es keinen Nutzen brachte, und sie würde ihnen versichern, dass sie und Dr. Schmidt das Pferd therapieren konnten, um es zurückzubringen. Sie wusste nur noch nicht, wie sie das Heu bezahlen sollte, was das Pferd brauchen würde, aber vielleicht fiel ihr noch etwas ein! Sie musste es zumindest versuchen. Sie hatte vier Tage Zeit.

 

„Danke, Dr. Schmidt“, flüsterte sie dann.

 

„Bedank dich ja nicht, Kaya Rothenberg“, beschwerte sich der Tierarzt äußerst unwohl. „Es gibt nichts, wofür du dich bedanken müsstest, oder? Ich verschiebe lediglich den Termin, das ist alles!“, warnte er sie ernst. „Verstehst du?“, ergänzte er mit Nachdruck, und sie nickte heftig. „Dass du nichts anstellst!“, fügte er sehr besorgt hinzu.

 

„Ich stelle nichts an“, versprach sie hastig. „Ich rede nur noch mal mit meinem Großvater!“ Sie wollte nur ein armes Tier retten. Ihre Mutter würde es tun! Ihre Mutter konnte nicht einmal eine lästige Mücke erschlagen, die sie in der Nacht viermal gestochen hatte. So war ihre Mutter nämlich. Die Mücke wurde gefangen und rausgebracht. So lächerlich das auch war, denn garantiert fand sie den Weg am nächsten Abend wieder in die Wohnung. Aber Kaya mochte es, dass ihre Mutter tierlieb war. Sogar auch gegenüber Mücken!

 

Und Kaya wollte auch so sein! Vor allem bei diesem armen Tier!

 

„Ich… muss los, Dr. Schmidt“, verabschiedete sie sich ernst, und der Tierarzt seufzte wieder.

 

„Mach’s gut, Kaya. Bis demnächst. Und versprich mir – keine Dummheiten!“, wiederholte er wieder mit stechendem Blick.

 

„Versprochen!“, antwortete sie feierlich über die Schulter, als sie wieder aus dem Stall schlich. Ein Tier zu retten war immerhin keine Dummheit, fand sie. Alina würde ihr zustimmen. Ganz sicher. Sie würde mit ihr telefonieren. Vielleicht hatte sie noch eine Idee, wegen des Heus….

 

 

Sechzehntes Kapitel

– Nicht Cinderella –

 

Kaya hatte es noch nicht über sich gebracht, die Ohlkamps zu fragen. Als sie Fau Ohlkamp geholfen hatte, den Tisch zu decken, hatte sie mehrere Anläufe gemacht, aber immer wieder hatte sie etwas abgehalten. Sie hatte schon genug Probleme, oder? Selbst, dass sie hier aushalf, Tische deckte, Betten machte, dass konnte ja unmöglich dafür bezahlen, dass sie hier praktisch umsonst wohnte. Sie musste auch darüber noch mit Frau Ohlkamp sprechen. Sie brauchte einen Geldautomaten! Sie würde ihr Gespartes abheben und Frau Ohlkamp geben. Das musste sie dringend tun.

 

Sie kam sich tatsächlich vor wie ein Schmarotzer. Nicht nur gegenüber Bastian und ihrem Großvater. Nein, auch gegenüber den Ohlkamps und Vanessa. Und den Reitlehrern, die sie unterrichteten, ohne dass Kaya dafür bezahlte.

 

Sie fühlte sich schlecht. Wirklich schlecht, als sie lustlos wieder zum Gestüt radelte, nachdem die Sonne sich ebenfalls gen Horizont wagte. Sie war fast froh, noch immer etwas Muskelkater zu haben. Es war wie eine Strafe, die sie verdiente, dafür, dass sie mit der verrückten Idee hier her gekommen war, umsonst zu reiten!

 

Ganz zu schweigen von den Problemen, die Dr. Schmidt wegen ihr bekommen würde, wenn sie ein Pferd stahl, was er töten sollte. Aber darum machte sie sich kaum Sorgen. Sie glaubte nicht, dass das Pferd sie auch noch tottrampeln würde. Sie glaubte es einfach nicht. Aber dann ging ihr Teufelskreis weiter, denn so nobel ihre Idee auch war – sie brauchte Futter für das Pferd! Und woher nahm sie das? Vielleicht machte sie noch irgendeinen unfairen Handel mit dem Bauern Voss! Und die Leute waren so nett zu ihr, und sie nutzte es aus.

 

Wäre sie doch reich. Ach, wäre sie doch einfach reich. Dann müsste ihre Mutter keine Mini-Rolle in einem dämlichen Stück spielen, weswegen sie nach England fahren musste. Dann müsste Kaya nicht hier sein, gut, vielleicht wäre sie immer noch dumm und müsste eine Nachprüfung bestehen, aber es wäre auch egal, denn wenn sie nicht versetzt wurde, wäre sie trotzdem noch reich.

 

Es waren triste Gedanken, und sie hatte das Gefühl, das reiche Gestüt machte sich nur über sie lustig. Sie lehnte das Fahrrad neben die Koppel, wo Tom sie sonst holte, aber Tom war heute nicht da. Kein Pferd war gesattelt, denn heute würde sie der böse Lehrer wieder foltern. Auch wenn Tom gestern ebenfalls nicht wirklich gnädig gewesen war.

 

Sie marschierte, mit stechenden Oberschenkeln, also geradewegs Richtung Halle, und es war alles wie leergefegt. Wahrscheinlich machten sich alle Mädchen gerade hübsch, nahm Kaya finster an.

 

Sie hatte Alina nicht erreicht. Sie nahm an, dass war das Problem. Sie brauchte irgendwen, der ihr sagte, dass sie kein Monster war, was sich überall dulden und bezahlen ließ. Aber Alina rief sie nicht zurück. Seufzend kam sie vor der Halle an.

 

Der Lehrer kam tatsächlich aus dem Schatten ins Sonnenlicht getreten. Er trug noch immer die Reithose und ein Poloshirt. Er hatte wohl den ganzen Tag unterrichtet, und ungefähr so sah er sie auch an. Er wirkte gereizt, aber er wirkte immer gereizt, oder nicht?

 

„Du weißt, was du tun musst, also starr mich nicht so an“, knurrte er lediglich, und mit großen Augen wandte sich Kaya von ihm ab. Kopfschüttelnd steuerte sie die Stallungen an, wo Atreyu stand. Hier war es viel netter, als dort, wo die Stute untergebracht war. Kurz überlegte Kaya, die Stute zu satteln, anstatt Atreyu, aber wahrscheinlich riss ihr der Lehrer dann den Kopf ab. Ganz bestimmt sogar. Sie war schon froh, dass er scheinbar nicht wusste, dass sie Atreyu gar nicht reiten durfte.

 

Und schon wieder dachte sie an Oliver. Denn es war ja sein Pferd gewesen. Und ihre Angst, dass er sie verraten würde, flaute aber mit jeder Stunde weiter ab. Sie hielt es ihm fast zugute. Und völlig stumm holte sie das Pferd aus der Box. Sie streichelte sein weiches Fell, was im Sonnenlicht glänzte, band ihn ohne Hilfe an, bewältigte sogar die Schlaufen, die der Lehrer gebunden hatte, putzte das Tier, sattelte es so gut sie konnte, und das Aufzäumen klappte immerhin beim dritten Versuch, nachdem Atreyu den Mund dankenswerterweise geschlossen ließ und ihn nicht mehr aufriss, aus Trotz. Das Biest wollte die Trense wirklich nicht! Und Kaya kostete es einiges an Überwindung, ihm anschießend auch noch den Finger schutzlos in den Mund zu schieben.

 

Aber er biss ihn nicht ab. Das war eine Erleichterung. Ein wenig lustlos führte sie das Pferd zur Halle. Sie hoffte, ihre schlechte Stimmung färbte nicht zu sehr auf Atreyu ab.

 

„Tut mir leid“, murmelte sie. „Heute ist ein schlechter Tag, mein Lieber“, flüsterte sie sanft. „Weißt du, wie blöd es ist, arm zu sein? Und es fällt einem nur dort auf, wo die reichen Leute sind“, murrte sie, ehe sie die kühle Halle betrat und mit einer Hand den Helm festschnallte – der ihr auch nicht gehörte. Nichts von den Sachen gehörte ihr, abgesehen von ihrem Shirt.

 

Das Tor der Halle stand offen, und müde führte sie das Pferd zur Aufstieghilfe. Ohne den Lehrer zu beachten, kletterte sie in den Sattel, nahm die Schultern zurück, saß tief ein, legte die Knie an den Körper, und Atreyu reagierte noch feiner als Gusto, denn er fiel sofort in den Schritt. Der Lehrer lief neben ihr, beobachtete sie, und sie konzentrierte sich darauf, auszuatmen, die Hände nicht zu versteifen, die Knie nicht anzuziehen und ihre Hacken tief zu lassen.

 

Und völlig still durfte sie Runde um Runde laufen. Ihre Oberschenkel schmerzten nach kurzer Zeit, und sie ignorierte es völlig. Sie verdiente die Schmerzen. Dem Pferd machte es bestimmt auch keinen Spaß, sie Freitagabends durch die Halle zu tragen, wenn alle anderen Pferde Feierabend hatten. Gott, war sie deprimiert. Es war kaum auszuhalten.

 

„Trab“, kam die knappe Anweisung von dem blonden Lehrer, den sie ebenfalls nicht leiden konnte und nicht mal ansehen wollte.

 

Und sie legte die Waden enger, gab eine knappe Hilfe mit dem Fuß und das Pferd sprang praktisch in den Trab. Ok. Das konnte sie noch nicht wirklich fließend, und mit aller Macht, ließ sie die Beine am Pferdeleib, damit er weiterlief. Wie von selbst hob sie sich aus dem Sattel, trabte leicht, wie er und Tom es nannten, und fand schnell ihren Rhythmus, auch wenn der Schweiß schon bald auf ihre Stirn trat.

 

Aber heute war sie nicht in der Stimmung, ihrem schwachen Körper nachzugeben. Und so liefen sie, Runde um Runde. Solange, bis es nicht mehr wehtat, bis Kaya nicht mal merkte, dass sie irgendwelche Muskeln anspannte. Sie flog regelrecht, passte sich den Bewegungen an, und es erfasste sie wieder dieses unbeschreibliche Gefühl von Freiheit.

 

„Versuch, auszusitzen“, rief der Lehrer dann, und sie konzentrierte sich auf das Pferd, wandte nicht den Blick, während sie zuhörte. „Beine am Körper lassen und beim Trab nicht mehr aufstehen. Geh in den Bewegungen mit“, gab er die knappe Anweisung, und beim nächsten Takt, den das Pferd lief, blieb sie sitzen. Mehr schlecht als recht. Sie hüpfte auf dem Rücken auf und ab und nahm an, das Pferd konnte sie jetzt noch weniger leiden.

 

„Tief einsitzen!“, sagte er nur. „Rücken gerade!“, ergänzte er, als sie ihr Gesäß mit aller Macht tiefer in den Sattel zwang, sich praktisch mit all ihrer restlichen Kraft um den Pferdeleib klammerte, und versuchte, die Bewegungen zu erahnen, die das Pferd machen würde. Und es vergingen schmerzhafte Runden, bevor sie auf einmal verstand.

 

Ihre Hüfte kreiste fast auf dem Rücken, während Atreyus Bewegungen durch sie hindurch gingen. Und sie bekam kein Lob, keine Aufmunterungen vom Lehrer. Sie bekam die ätzende Stille zu hören, von der sie annahm, dass sie wohl ansatzweise Zustimmung bedeuten konnte. Schweiß rann ihren Rücken hinab, während sie verzweifelt alles dran setzte, nicht zu hüpfen. Der Atem des Tiers ging lauter und er hatte sich wohl warm gearbeitet. Er trabte ohne Murren oder Unterlass. Langsam aber sich bekam sie Magenschmerzen, schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, und sie wusste, wahrscheinlich hatte sie es übertrieben.

 

Mit einem erschöpften Stöhnen gab sie die Körperspannung auf, legte kein Gewicht mehr auf den Sattel, und schon fiel Atreyu in den Schritt und Kaya lockerte die Zügel.

 

„Wir sind noch nicht fertig“, rief er ihr schlecht gelaunt zu, aber Kaya musste die Augen schließen, denn die Erschöpfung holte sie ein. Ihre Arme zitterten, und ihre Atmung ging flacher. Als er wieder sprach, war er näher als vorher. Scheinbar hatte er Atreyu angehalten.

 

„Wenn du mehr arbeitest als dein Pferd, dann machst du etwas falsch.“ Seine Stimme klang ätzend überheblich in ihren Ohren, aber sie öffnete die Augen nicht, sagte gar nichts, und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Ihr Körper war zum Zerreißen angespannt, und sie könnte weinen vor Schmerz. Sie war so dankbar, ein Wochenende Pause machen zu können. So dringend sie die blöde Nachprüfung bestehen wollte, umso dringender wollte sie jetzt gerade einfach nur noch sterben!

 

„Hey“, sagte er wieder, und seine Hand lag plötzlich auf ihrem Unterschenkel. Sie öffnete träge die Augen. Bei Tom hatte sie nicht das Bedürfnis, irgendwie zu beweisen, dass sie keine dumme Anfängerin war. Natürlich wollte sie Tom beeindrucken, aber bei dem blonden Lehrer war es etwas anderes, was sie antrieb. Sie mochte ihn nicht, und sie mochte es nicht, von ihm korrigiert zu-

 

-oh. Ihr Sichtfeld wurde erschreckend kleiner. Er schien es zu merken – was auch immer er merkte, denn plötzlich hatte sie seine Hand in ihrem Rücken, und er stabilisierte sie.

 

„Runter“, sagte er lediglich, und mühsam nahm sie ihre Stiefel aus den Steigbügeln. Es war zu heiß. Sie war erschöpft und ziemlich wütend, und… absolut fertig. Seine Worte bewegten sie dazu, sich nach vorne zu lehnen, und unter größter Anstrengungen schaffte sie es, ihr rechtes Bein über den Pferderücken zu bewegen. Sie glitt unsanft von Atreyu, aber schon hatte er sie aufgefangen. Er hob sie auf seine Arme, während Kaya schrecklich schwindelig wurde.

 

Sie erkannte seinen Geruch wieder. Und dann spürte sie kalten Boden unter sich, als er sie außerhalb des Sandes in der Halle abgelegt hatte. Sie öffnete wieder die Augen. Er hatte irgendetwas unter ihren Kopf geschoben, während er von irgendwoher eine Wasserflasche nahm und sie aufdrehte.

 

„Hier“, sagte er barsch, und träge hob sie den Arm. Dankbar trank sie das kalte Wasser, während er neben ihr kniete, sich angespannt die Haare hinters Ohr steckte und sie beobachtete. Sie setzte die Flasche nach ein Dutzend Zügen ab.

 

Sie sagte nichts, und er ebenso wenig.

 

Sie war ein Versager. Und sie war froh, dass sie nicht ohnmächtig geworden war. Sie hasste, dass er ihr geholfen hatte. Wieso unterrichtete Vanessa sie nicht einfach?

 

Sie vermisste sehr plötzlich ihre Mutter. Und sie fühlte sich sehr plötzlich sehr jung, als ihre Augen sich mit Tränen füllten. Hastig wischte Kaya sie mit dem Handrücken fort.

 

„Hast du Schmerzen?“, fragte er direkt, und ihm war kein Gefühl anzumerken.

 

„Nein“, murmelte sie beschämt. Sie setzte sich auf, trank noch einen Schluck Wasser, um sich selber von ihren Tränen abzulenken, und es war ihr alles peinlich. Es war ihr peinlich, was für eine Enttäuschung sie war. Wäre sie doch einfach jemand anders. Sie wäre so gerne jemand anders! Irgendwer. Nur nicht sie selbst.

 

Ihre Atmung hatte sich beruhigt. Sie sah ihn an. Seine grünen Augen musterten sie skeptisch. Dann schien er auszuatmen. Er erhob sich übergangslos.

 

„Das nächste Mal, wenn es dir zu viel wird, sagst du Bescheid, hast du verstanden?“, fuhr er sie tatsächlich an, und sie kämpfte wieder mit den Tränen. Aber es war ihr Stolz, der gekränkt den Kopf nach oben reckte, und nicht zuließ, dass noch eine weitere Träne auf ihre Wange fiel. Sie machte ebenfalls Anstalten, aufzustehen, aber sie war noch ein wenig wacklig auf den Beinen.

 

Seine Hand griff schnell nach ihrem Oberarm, und es war ihr peinlich, dass er ihr schon wieder half. Sie erkannte, dass Atreyu mittlerweile ruhig in der Halle stand und den Boden beschnupperte.

 

„Kannst du stehen?“, wollte er probehalber von ihr wissen, und sie ruckte vage mit dem Kopf. Sie war sich nicht wirklich sicher. „Warte hier. Ich sattel ihn ab. Wir machen Schluss für heute“, sagte er dann, führte sie zur Abgrenzung der Halle, und sie griff dankbar um das Holz, um sich festzuhalten.

 

„Danke“, murmelte sie, ohne dass er darauf überhaupt reagierte. Er marschierte in die Halle, griff sich die Zügel und führte das Pferd eilig hinaus. Als sie sich sicher war, dass sie nicht umkippen würde, folgte sie ihm nach draußen.

 

Es war angenehm warm. Ihr war doch ziemlich kalt geworden vor Schreck. Immerhin schien es dem Pferd nichts auszumachen, dass sie praktisch von seinem Rücken gefallen war. Und der Lehrer war wesentlich schneller als sie es war. Sie kam langsam zum Holzbalken, wo Atreyu angebunden war, während der Lehrer ihn schon abgesattelt und abgezäumt hatte.

 

Er bürstete stoisch das Fell des Tieres, was ziemlich entspannt neben ihnen stand. Und mehr als gereizt wandte er ihr den Blick wieder zu.

 

„Schaffst du es nach Hause?“, wollte er von ihr wissen, als bestünde die grauenhafte Möglichkeit, dass er sich womöglich darum kümmern musste. Aber sie hatte heute vor, auf ein Scheunenfest zu gehen. Denn sonst würde sie weinend auf ihrem Bett bei den Ohlkamps liegen und mit sich hadern, ein armes Pferd seinem Schicksal zu überlassen.

 

„Ich… bin mit Vanessa in ihrem Zimmer verabredet“, sagte sie also. Ihre Stimme klang wieder fester. Die Erschöpfung hielt sich wieder in verträglichen Grenzen. Sie würde definitiv noch zu Abend essen, ehe sie zum Scheunenfest ging. Und jetzt hob er fast überrascht eine Augenbraue.

 

„Wieso?“, wollte er tatsächlich wissen.

 

„Wir gehen auf das Scheunenfest“, sagte sie, fast trotzig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er dorthin gehen würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er überhaupt irgendetwas tat, was ihm Spaß machte. Er wirkte immer nur schlecht gelaunt. Er musterte sie kurz.

 

„Klingt nach einer spitzen Idee“, entkam es ihm mehr als ironisch, während er abschätzend den Kopf schüttelte. „Vielleicht kannst du dort beweisen, wie fantastisch du von einem Heuballen fallen kannst?“, schlug er ihr trocken vor und löste die Führleine vom Balken, um Atreyu in den Stall zu bringen.

 

Und sie antwortete nicht. Was auch? Wahrscheinlich war es nicht klug, ok. Wahrscheinlich war sie erschöpft, nach der anstrengendsten Woche ihres Lebens.

 

Aber das würde sie ihm nicht sagen! Eher fiel sie lieber tatsächlich von einem Heuballen.

 

Als er wieder aus dem Stall kam, schritt er an ihr vorbei. Sie folgte ihm, denn sie hatten denselben Weg. Er war ihr einige Meter voraus, aber sie wollte gar nicht aufholen. Sie wollte gar nicht neben ihm gehen. Sollte er ruhig vorrennen. Sie kannte schließlich den Türcode.

 

Das war schon erschreckend genug. Und es schien ihm egal zu sein, dass sie das Haus hinter ihm betrat, dass sie, wie ein Idiot, hinter ihm die Treppe hochlief, und sich bemühte, ihn zu ignorieren. Noch nie war ihr etwas so unangenehm gewesen, wie in seiner Nähe zu sein. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so unausstehlich sein, fragte sie sich kopfschüttelnd, als sie den ersten Stock hintereinander erreicht hatten.

 

Und tatsächlich schien sein Zimmer das erste auf der rechten Seite zu sein, stellte sie verblüfft fest, als er einen Schlüssel aus seiner Tasche beförderte und aufschloss.

 

Und er verschwand in seinem Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

 

War es nicht seltsam, dass wildfremde Leute im Haus ihres Großvaters wohnten, und sie war nicht einmal willkommen? Sie ignorierte die tristen Gedanken.

 

Schon öffnete sich Vanessas Tür.

 

„Hey! Schon hier?“, begrüßte sie sie strahlend, ehe ihr Gesicht sich verfinsterte. „Oh Gott, du siehst furchtbar aus“, entkam es ihr schockiert. „Was ist los?“

 

„Anstrengende Reitstunde“, lenkte Kaya achselzuckend ab.

 

„Das würde ich meinen. Was ist passiert? Hat Leo dich gezwungen zur Abwechslung mal das Pferd zu tragen, oder was?“, wollte sie bestürzt wissen, aber Kaya schenkte ihr ein müdes Lächeln.

 

„Ich bin ein Weichei“, sagte sie also, was definitiv stimmte.

 

„Komm rein. Wir suchen dir erst mal was zum Anziehen raus“, erwiderte Vanessa kopfschüttelnd und zog Kaya in das Zimmer.

 

~*~

 

Es war spät, als sie das Gestüt unauffällig verließ. Vanessa allerdings hatte ihr gesagt, dass sie selber nie vor elf Uhr eine Party besuchte. Der Spaß begann erst später am Abend. Kaya war für gewöhnlich ab elf schon so müde, dass sie kaum noch die Augen offenhalten konnte.

 

Heute allerdings hatte sie vielleicht bessere Chancen. Heute hatte sie sogar Probleme gehabt, sich zu lange im Spiegel anzusehen, denn Vanessa hatte nicht nur ihre Haare gemacht, sondern sie auch noch geschminkt. Und Kaya war bisher nur Alinas Opfer gewesen, wenn es um Makeup und Konturenzeichnen ging. Aber Vanessa schien dieses Handwerk zu verstehen. Vielleicht beherrschte man Makeup mit 23 Jahren einfach gut.

 

Und Kaya fand, sie sah heute so alt aus, dass niemand sie nach einem Ausweis fragen würde. Nicht einmal in Berlin. Ihre Haare dufteten, und sie sah nicht einmal mehr erschöpft aus. Und ihr fiel auf, dass sie noch nie im Kleid Fahrrad gefahren war. Vanessa hatte ihr ein blaues Kleid geliehen, was sie nur im Schrank behielt, weil sie hoffte, vielleicht irgendwann noch einmal hineinzupassen. Kaya passte es gut. Es ging kaum bis zu den Knien, hatte keine Ärmel, war um den Oberkörper eng und fiel luftig um ihre Oberschenkel, und sie kam sich vor wie Cinderella. Fast.

 

Und sie hatte einen Bärenhunger. Wenn sie auch noch nach elf Spaß mit Vanessa haben wollte, dann musste sie dringend essen. Und mit dem Alkohol sollte sie sich auch zurückhalten.

 

Darauf bedacht, dass der Wind ihr Kleid nicht hochwehte, erreichte sie das Gasthaus und sprang vom Sattel und lief ins Haus. Vielleicht hatte Frau Ohlkamp noch Reste für sie, schließlich war es nach neun. Und Vanessa hatte ihr sogar Schuhe geliehen, aber Gott sei Dank keine hohen! Vanessa meinte, Kaya wäre ohnehin groß genug, und sie hatten dieselbe Größe. Kaya trug weiße Ballerinas und genoss das Gefühl, mal keine Turnschuhe und Socken tragen zu müssen. Ihre Reitsachen hatte sie bei Vanessa gelassen, die ihr versichert hatte, alles bis Montag frisch gewaschen zu haben. Denn das taten die armen Angestellten im Haus ihres Großvaters auch noch. Unfassbar, fand Kaya.

 

Sie kam in den Speisesaal, der heute einigermaßen leer war. Sie nahm an, alle waren beim Bauern Voss.

 

„Kaya, du- oh!“, unterbrach sich Frau Ohlkamp überrascht. „Schau dich an! Wie hübsch du aussiehst“, ergänzte sie lächelnd. „Heute Abend geht es auf die Party?“, nahm sie mit vielsagendem Blick an.

 

„Ja“, bestätigte Kaya atemlos. „Aber… Frau Ohlkamp, hätten Sie vielleicht noch ein paar Brote?“, wollte sie vorsichtig wissen, aber Frau Ohlkamp lächelte breit.

 

„Natürlich Kind! Du bist ohnehin so dünn. Komm, setz dich, ich bring dir was“, schlug sie vor, und dankbar fiel Kaya auf den Stuhl. Sie überlegte, ob sie von oben ihr Handy mitnehmen sollte. Immerhin musste sie auch den Schlüssel für das Gästehaus haben, oder? Sie musste Frau Ohlkamp fragen.

 

„Kaya, bist du das?“, fragte Herr Ohlkamp sie, der gerade von draußen reingekommen war, und Kaya musste peinlich berührt lächeln.

 

„Ja, Herr Ohlkamp. Heute mal im Kleid“, erwiderte sie entschuldigend.

 

„Du bist ja eine Augenweide“, sagte Herr Ohlkamp kopfschüttelnd, und Kaya wurde rot. „Da werden die Jungs heute Schlange stehen, was?“

 

Frau Ohlkamp kam Gott sei Dank zurück und stellte ihr einen Teller mit Sandwiches vor die Nase. Kayas Magen knurrte direkt. „Bernd, du bringst sie in Verlegenheit. Aber Kaya, du musst wirklich aufpassen. Wenn du nachts zurückkommst, wer weiß, ob nicht irgendwer noch unterwegs ist. Und wenn du so aussiehst, also im Kleid und-“

 

„-Frau Ohlkamp“, unterbrach Kaya sie sofort, bevor es noch peinlicher wurde, „ich komme aus Berlin“, wiegelte sie ab. „Ich musste so viele Selbstverteidigungskurse belegen, ich glaube, ich kann mich wehren“, ergänzte sie mit einem schmalen Lächeln. „Sagen Sie, kann ich einen Schlüssel bekommen, oder-?“

 

„-ich leg ihn dir unter die Matte. Dann musst du ihn nicht mitnehmen, Kind“, unterbrach Frau Ohlkamp sie, immer noch besorgt. „Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Vielleicht kann dich einer der Jungs aus dem Dorf begleiten?“, wandte sie sich nun an ihren Ehemann, der sofort nickte, aber Kaya hob die Hände.

 

„Nein! Nein, wirklich nicht. Ich verspreche, ich passe auf.“ Fast war sie gerührt von der Sorge der Ohlkamps. „Ach, Frau Ohlkamp?“, fragte sie jetzt, wieder mal beschämt.

 

„Ja?“

 

„Hätten Sie vielleicht… eine Handtasche, die ich mir borgen könnte?“, wollte Kaya vorsichtig wissen, denn so etwas hatte sie natürlich auch nicht mit. Frau Ohlkamp musste so mütterlich lächeln, dass Kaya ganz warm ums Herz wurde.

 

„Na ganz bestimmt. Ich schau mal, ob ich was habe, was zu deinem Kleid passt!“ Ja, Kaya schnorrte sich durch diesen Abend wie ein Fisch im Wasser.

Sogar Herr Ohlkamp schien sich nicht wirklich zu trauen, Kaya direkt anzusehen.

 

„Dann spielen wir wohl heute nicht“, murmelte er neben ihr am Tisch, während Kaya die Brote aß, die ihr Frau Ohlkamp gebracht hatte. Kauend musste sie grinsen.

 

„Nein, heute nicht. Aber morgen, versprochen!“, sagte sie sofort. Er hob hoffnungsvoll den Blick.

 

„Du musst natürlich nicht, wenn du nicht-“

 

„-ich kann mir nichts besseres für einen Samstag vorstellen!“, unterbrach Kaya ihn sofort, und Frau Ohlkamp kam mit einer hübschen weißen Häkeltasche zurück, mit einem langen Träger. „Oh, die ist perfekt, Frau Ohlkamp!“, rief Kaya aus, schob sich den letzten Bissen in den Mund, und Frau Ohlkamp lächelte zufrieden.

 

„Die ist ein Geschenk, Kaya.“

 

„Oh nein! Das kann ich nicht annehmen. Sie geben mir ohnehin viel zu-“

 

„-papperlapapp! Das machen wir gerne, Kaya.“ Und Kaya schwieg dankbar. Nein, heute konnte sie nicht fragen, ob sie ein gestohlenes Pferd hier unterstellen durfte. Morgen. Morgen würde sie fragen. Vielleicht. Die Zeit lief ihr davon.

 

„Danke“, erwiderte sie schließlich voller Zuneigung. Still aß sie die letzten Krümel ihrer Sandwiches auch noch auf. Ja, das sollte vorhalten, nahm sie zuversichtlich an.

 

„Na, dann los! Sonst haben alle Jungs schon wen zum Tanzen“, beendete Frau Ohlkamp den unangenehmen Moment, und Kaya wurde wieder rot. Ja, sie konnte nicht tanzen und hatte es auch nicht vor.

 

„Gute Nacht schon mal!“, rief Kaya und beeilte sich von oben ihr Handy zu holen. Keine Anrufe. Keine Nachrichten. Was war los? War Alina jetzt so sehr mit Bastian beschäftigt, dass sie nicht mehr anrufen konnte? Und mied Bastian jetzt doch den Kontakt? Und immerhin keine Nachrichten von Oliver oder ihrer Mutter. Immerhin!

 

Sie war sich noch einmal einen Blick im Spiegel zu.

 

Sie erkannte sich kaum wieder. Und sie stellte etwas Faszinierendes fest. Sie trat näher an den Spiegel heran. Sie sah fast aus wie ihre Mutter. Sonst sah sie es nie, aber heute… da war es offensichtlicher. Und Kaya vermisste sie wieder.

 

„Keine Sorge, Mama“, sagte sie zuversichtlich. „Ich schaff das alles.“

 

~*~

 

Zuerst hatte sie Sorge gehabt, die Party nicht zu finden, wenn sie versteckt in irgendeiner Scheune stattfand, aber es war kein Problem. Bunte Lampions und laute Musik wiesen ihr den Weg. Am Ende der Dorfstraße lag ein großer Bauernhof, mitten in einer Kurve. Und zur Straße hin war ein riesiger Hof, wo so viele Menschen versammelt standen, dass Kaya Hemmungen verspürte, näher zu kommen.

Der Bauernhof reckte sich hinter dem vollen Platz in beachtliche Höhe, und Kaya wunderte sich nicht, dass ihr Großvater von hier Stroh bezog, denn Platz genug für mehrere Tonnen sollte hier wohl sein.

 

Neben dem Platz stand eine Reihe an restaurierten historischen Landmaschinen, deren Zweck Kaya nur erahnen konnte, während sie langsam näher kam, und sich unsicher die Oberarme rieb.

 

Es war nie schön, alleine irgendwohin zu gehen, und Vanessa käme erst in einer Stunde. Kayas Herz schlug schnell. Sie erkannte einige der Reitschülerinnen, die ausgelassen lachten und scheinbar mit den Jungen des Dorfes flirteten. Kaya hatte nicht gewusst, wie viele junge Leute hier tatsächlich lebten. Und auch wenn sie aus einer Großstadt kam, waren doch genug Leute hier, dass sie sich unwohl fühlte. Sie kannte niemanden.

 

Es war dasselbe Gefühl, was sie gehabt hatte, als sie in die neue Klasse gekommen war. Es war sogar sehr ähnlich, denn die Reitermädchen hier waren allesamt reicher als sie, wie ihre neuen Klassenkameraden es auch gewesen waren. Nicht dass Kaya wert darauf legte, wie viel jemand hatte, aber… es fiel manchmal auf.

 

Und dann hatte sie selbst im Schneckentempo den Platz erreicht. Sie atmete tief ein und wünschte sich, Alina wäre hier, ehe sie die Menge betrat. Einige Blicke folgten ihr, und ihr Weg führte unbeirrt tiefer ins Gedränge, denn sie erkannte weiter hinten eine provisorische Theke, wo Bier ausgeschenkt wurde. Alkohol half gegen Nervosität, wusste sie, denn er machte müde, und man war nicht mehr so aufgeregt.

 

Und tatsächlich erkannte sie den Jungen hinter der Theke.

 

„Konstantin?“, entkam es ihr, und der Junge musterte sie.

 

„Oh, Kaya, richtig?“, ordnete er sie richtig ein, und sein Blick wanderte kurz über ihre Erscheinung. „Wow, hätte dich fast nicht erkannt“, fuhr er fort.

 

„Ich hoffe, du bist nicht mehr böse?“, fragte sie sofort, denn sie erinnerte sich, dass ihr Nachname bei ihm keine Freude ausgelöst hatte.

 

„Quatsch, nein“, wich er ihrem Blick ertappt aus. „Mein… mein Vater hat mir gesagt, dass… der alte Rothenberg dich nicht mal leiden kann“, fuhr er beschämt fort. Kaya fragte sich, ob alle im Dorf Bescheid wussten.

 

„Oh. Ok. Gut, dann kannst du mir meinen Namen ja nicht mehr vorhalten!“, beschloss Kaya, munter zu sagen. Es machte ihr nichts aus, dass ihr Großvater sie nicht mochte. Es würde ihr keine schlaflosen Nächte bereiten.

 

„Nein! Bier?“, wollte Konstantin aufmerksam wissen, und Kaya nickte und war froh, einen Namen zu kennen. „Kennst du all die Reiter-Tussis?“, wollte er stiller wissen, den Blick auf niemanden Bestimmtes gerichtet. Kaya schüttelte den Kopf.

 

„Nein. Keine“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

 

„Die Jungs sind alle so blöd“, bemerkte Konstantin, nachdem er ihr das volle Glas, mit hoher Schaumkrone reichte. „Lassen sich beeindrucken, durch ein paar dumme Schnepfen“, schloss er kopfschüttelnd. Kaya musste grinsen. „Obwohl, das denken sie jetzt von mir bestimmt auch“, fuhr er unbedacht fort, ehe sich seine Augen weiteten. „Also – nur weil du so… so aussiehst wie… eine von denen!“, rechtfertigte er sich schnell. „Wegen…- nicht weil du dumm wärst!“ Er wurde rot, und Kaya musste grinsen.

 

Ein Junge war vor ihr noch nie rot geworden.

 

„Schon ok“, sagte sie lächelnd. Aber sie bemerkte die bösen Blicke wohl. Und sie wusste nicht, ob es Blicke von Reiterinnen oder Dorfmädchen waren. Aber eine Gruppe an Mädchen beäugte sie misstrauisch.

 

Und Konstantin sah es auch. „Du, entschuldige mich mal kurz“, sagte er hastig. „Meine Freundin bringt mich noch um, wenn ich länger mit dir rede“, ergänzte er leiser. Oh. Kaya war noch nie ein Mädchen gewesen, auf das andere Mädchen eifersüchtig waren. Er ließ sie an der Theke stehen, und sein scheuer Bruder löste ihn ab. Und der sah sie nicht mal an, so sehr schien er sich zu schämen.

 

Etwas verloren sah sich Kaya um und nippte an ihrem Bier.

 

Und dann hellte sich ihr Gesicht auf, denn sie erkannte Tom. Sofort setzte sie sich in Bewegung, um nach drei Schritten stehen zu bleiben. Auf der Tanzfläche, wo Menschen sichtlich genervt von ihr waren, denn sie stand im Weg. Aber Toms Arm war um ein Mädchen mit braunen Locken gelegt. Und es war als fiele ein Stein in ihren Magen.

 

Natürlich. Er hatte eine Freundin. Gott, sie war so dumm! So unfassbar dumm! Hastig, bevor er sich noch umdrehen konnte, drehte sie sich um. Ihr war nicht danach, sich zu blamieren. All der Aufwand, das Makeup, das Kleid – und Tom hatte schon eine Freundin. So war es doch immer.

 

Sie machte einen blinden Schritt und stieß unsanft mit jemandem zusammen.

 

Erschrocken hob sich ihr Blick und das bunte Licht spiegelte sich in allen Farben auf seinem Schopf.

 

Sein Blick fiel auf ihr Gesicht. Aber schlimmer war, dass sie sein Hemd in Bier getränkt hatte.

Ihre Hand zitterte förmlich.

 

„Das… tut mir so leid“, entfuhr es ihr heiser, während die Leute um sie herum tanzten, während der böse Reitlehrer einen angespannten Zug um die Mundwinkel bekam. Und Kaya glaubte, es war einfach Bestimmung. Sie würde es niemals fertigbringen, auf einer neutralen Ebene mit dem blonden Reitlehrer zu sein. Dann wiederum – wer schaffte das schon? Tom sprach nicht nett von ihm, Vanessa nicht. Und Kaya hatte Angst. Jetzt gerade. Vor allem fühlte sie sich ohnehin schlecht, ihm gegenüber. Ohne ihn, wäre sie heute bestimmt vom Pferd gefallen, nahm sie an.

 

„Gott, du bist so ungeschickt!“, fuhr sie ein blondes Mädchen von der Seite an und tötete immerhin die gefährliche Spannung, die immer von ihm auszugehen schien. Die Reiterin vom Bahnhof in Berlin, erinnerte sich Kaya. „Komm, Leo, wir machen das sauber“, fuhr sie hochnäsig fort, aber der Blonde schüttelte schroff den Kopf.

 

„Trocknet wieder“, informierte er entweder sie oder das gemeine Mädchen, was sie mit einem besonders giftigen Blick bedachte, als sie dem Lehrer folgte, der Kaya einfach stehen ließ. Kaya stellte das leere Glas seufzend zur Seite.

 

„Hey!“, sagte eine Stimme neben ihr und sie senkte verwundert den Blick. Es war ein kleines Mädchen. „Ich mag dein Kleid!“, rief ihr das Mädchen zu. Und Kaya lächelte schwach.

 

„Danke“, erwiderte sie resignierend. Sie bahnte sich einen Weg von der Tanzfläche zurück zur Theke, wo Konstantins schüchterner Bruder ihr sofort ein Glas mit Bier füllte. Kaya fragte sich unwillkürlich, wie der Bauer Voss es sich leisten konnte, umsonst Bier zu verschenken? Und dann verschwand sie mit ihrem Bier, entfernte sich von der lachenden Menge und setzte sich abseits auf einen, das Grundstück begrenzenden, Strohballen.

 

Sie zuckte praktisch zusammen, als das kleine Mädchen wieder neben ihr auftauchte.

 

„Hey!“, rief das Mädchen wieder und mit Anlauf sprang sie auf den Heuballen und setzte sich neben sie. Sie war ein wenig pummelig und ziemlich klein. Kaya schätzte sie auf zehn Jahre.

 

„Hey“, wiederholte Kaya nur. Sie starrte trübsinnig auf die unbekannten Leute.

 

„Wie heißt du?“, wollte das Mädchen scheinbar unermüdlich wissen. Kaya wandte den Blick.

 

„Kaya. Und du?“ Das Mädchen musterte sie neugierig.

 

„Hab ich noch nie gehört, den Namen“, sagte das Mädchen kopfschüttelnd. „Ich bin Gitty“, stellte sie sich vor. „Meinem Papa gehört der Hof“, ergänzte sie stolz. Kaya runzelte die Stirn. Und den Namen Gitty hatte sie auch noch nie gehört.

 

„Der Bauer Voss ist dein Papa?“, wollte sie wissen, und Gitty nickte. „Wie… wie alt bist du?“, fuhr Kaya fort.

 

„Elf!“, antwortete Gitty stolz. Kaya hatte das Alter von Herrn Voss ungefähr bei Mitte fünfzig eingeordnet. Wo sich Herr Ohlkamp alterstechnisch wohl auch befand. Wenn nicht beide sogar noch etwas älter waren.

 

„Dann… bist du die Schwester von Konstantin und Christian?“, vermutete Kaya weiter. Gitty nickte. Und dann ruckte sie mit dem Kopf.

 

„Halbschwester. Ich hab eine andere Mama“, erklärte sie unbedarft.

 

„Eine jüngere?“, vermutete Kaya, bevor sie sich halten konnte. Gitty ruckte mit dem Kopf, konnte ihr Frage wohl nicht wirklich einordnen. „Und du darfst so lange wach bleiben?“, wollte Kaya freundlich wissen, und Gitty grinste.

 

„Na ja, nur heute. Und auch nur noch eine halbe Stunde“, fuhr Gitty traurig fort. „Du bist auch von dem Ponyhof?“, erkundigte sich das Mädchen mit den kurzen Zöpfen gespannt und ließ ihre Beine baumeln.

 

„So ungefähr“, bestätigte Kaya.

 

„Du bist aber netter als die anderen“, behauptete Gitty dann.

 

„Wie kommst du darauf?“

 

„Du sprichst mit mir“, stellte Gitty achselzuckend fest. „Die anderen Mädchen gucken mich nicht mal an.“ Kaya schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln.

 

„Das tut mir echt leid, Gitty.“

 

„Weil ich so jung bin“, fuhr Gitty missmutig fort. Sie ließ ihre Hacken gegen den Heuballen schlagen.

 

„Kannst du reiten?“, wollte Kaya dann wissen, einfach, um irgendetwas zu fragen. GItty zuckte die Achseln.

 

„Nee, kann ich nicht“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Und Mama sagt, auf dem Ponyhof ist es sowieso zu teuer.“ Kaya nickte, denn das stimmte.

 

„Hör mal“, begann Kaya nachdenklich und nippte an ihrem Bier, „vielleicht können wir die Tage mal zusammen reiten, denn vielleicht bringe ich ein Pferd ins Dorf.“ Und als die Worte ihren Mund verlassen hatten, bereute Kaya bereits, sie gesagt zu haben. Kleine Kinder konnten kein Geheimnis behalten, aber Gittys Augen leuchteten bereits.

 

„Echt?“, wollte sie mit großen Augen wissen, und Kaya ruckte unverbindlich mit dem Kopf.

 

„Jaah, vielleicht“, ruderte sie zurück. „Aber sag es keinem“, setzte sie hinterher. Dieser Plan war auch noch nicht wasserdicht.

 

„Brigitte!“, hörte Kaya eine Frau rufen, und Gitty neben ihr reckte den Kopf. „Komm, es wird Zeit!“ Und Gitty sprang vom Heuballen.

 

„Meine Mama ruft. Du, ich muss schon gehen, aber… sag Bescheid, wenn du ein Pferd hast, ja?“, bat sie gespannt, und Kaya nickte ergeben.

 

„Klar, hab ich doch gesagt. Aber… kein Wort zu deiner Mama, ok?“

 

„Ok!“, flüsterte Gitty und reckte den Daumen nach oben, bevor sie über den Platz zurückrannte, auf die Frau zu, die ihren Namen gerufen hatte.

 

Und Kaya war wieder allein. Ein Blick auf ihr Handy sagte ihr, dass es kurz vor elf war. Keine Anrufe, keine Nachrichten, und sie fühlte sich ziemlich allein. Selbst auf dieser Party.

 

Und nein. Sie war nicht Cinderella, nahm sie an.

 

 

Siebzehntes Kapitel

– Falscher Prinz –

 

„Kaya, hey!“

 

Der Duft von Parfüm umgab sie. Sanft sprach eine Stimme auf sie ein. War es ihre Mama? Kam sie spät von der Arbeit wieder. Kaya befiel ein wohliges Gefühl, aber für gewöhnlich piekte ihr Bett nicht so sehr. Sie schlug blinzelnd die Augen auf.

 

Vanessa hatte sich vorgelehnt, und Kaya schreckte wieder in eine sitzende Position.

 

„Na, du bist eine Party-Maus, hm?“, vermutete Vanessa grinsend. Sie trug einen schwarzen Rock, ein tiefausgeschnittenes schwarzes Oberteil, hohe Schuhe, und ihr Zopf, der sonst ein strenger Pferdeschwanz war, war heute locker geflochten und fiel über ihre Schulter.

 

An ihrer Kette baumelte ein silbernes Schriftzeichen, wahrscheinlich chinesisch oder anders asiatisch, nahm Kaya müde an. Sie war tatsächlich auf dem Heuballen eingenickt.

 

„Wie… wie spät ist es?“, wollte Kaya verschlafen wissen. Sie strich sich die Haare über die Schulter.

 

„Halb zwölf, Schneewittchen“, bemerkte Vanessa grinsend. „Ich hoffe, du bist nicht schon betrunken. Weil mein toller Freund sich nämlich zu fein ist, herzukommen, musst du heute als mein Party-Ersatz herhalten“, klärte sie Kaya zwinkernd auf.

 

Kaya rutschte vom Heuballen und stand wacklig auf ihren Beinen. Die übrigens mal wieder mehr wehtaten, denn der Muskelkater setzte mal wieder ein.

 

„Du hast einen Freund?“, gähnte Kaya, und war nicht überrascht, denn alle hier schienen Partner zu haben.

 

„Ja. Einen müden, faulen Freund“, bestätigte Vanessa und Kaya folgte ihr zurück in die Menge zur Theke, wo Kaya ein weiteres Bier in die Hand gedrückt bekam. Den Alkohol merkte sie nicht wirklich. Sie hatte ihn schon fast wieder ausgeschlafen. „Du hast keinen Freund?“, vermutete Vanessa laut über die Musik hinweg, und Kaya schüttelte schlecht gelaunt den Kopf.

 

„Na, wenn du es darauf anlegst, dann dürften sich heute genügend Jungen nach dir die Finger lecken“, bemerkte Vanessa schnippisch, mit Blick auf Kayas Outfit. Und Kaya glaubte ihr nicht.

 

„Ich lege es nicht darauf an“, widersprach sie, ohne Vanessa anzusehen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Vanessa grinsen musste. „Sag mal“, fuhr Kaya fort, denn ihr war wieder was eingefallen, „warum ist das Bier umsonst? Warum macht der Bauer so eine Party?“ Vanessa zuckte die Achseln.

 

„Wahrscheinlich weil seine kleine Frau hip sein will. Oder weil der Alte ihm jährlich so viel Stroh abkauft, dass er sich revanchieren will und seine Reitertruppe hier duldet“, vermutete Vanessa unschlüssig. Richtig, ihr Großvater kaufte das Stroh. Und anscheinend wusste Vanessa von der jüngeren Frau des Bauern.

 

„Was ist mit seiner ersten Frau?“, wollte Vanessa wissen, während ihr Konstantin wieder ins Auge fiel, der sich am Rand mit seiner Freundin stritt.

 

„War ihm wohl zu alt?“, erwiderte Vanessa grinsend und zuckte die Achseln. „Keine Ahnung“, ergänzte sie. „Lass uns tanzen!“

 

Kaya trank noch einige tiefe Schlucke, weil sie Durst hatte, und weil sie befürchtete, dass sie ein zu volles Glas wieder verkippen würde. Sie konnte nicht tanzen, aber Vanessa ließ ihr da nicht viel Spielraum. Schon standen sie zwischen den anderen tanzenden Leuten, und Kaya musste zusehen, dass sie niemanden anrempelte. Vanessa tippte einem Jungen von hinten auf die Schulter, und zu Kayas Schock drehte sich Tom zu ihnen um.

 

„Hey!“, rief er strahlend, und Kaya erkannte das Mädchen neben ihm wieder. Um das hatte er seinen Arm gelegt gehabt. „Cool, dass ihr da seid!“, rief er laut. „Das ist die andere Reitlehrerin, Vanessa Werdelmeier“, erklärte er dem Mädchen lautstark. „Und das ist Kaya!“, ergänzte er, und Kaya mochte nicht, wie schön er ihren Namen sagte. Sie war eifersüchtig und sauer. Und schämte sich dabei. „Sie ist die Enkeltochter von Herrn von Rothenberg!“, schloss er heiser. Und jetzt sah das Mädchen sie an.

 

Sie war kleiner als Kaya und ziemlich hübsch. Ihre Brüste waren größer und generell war ihre Figur auch besser als Kayas. Das war es, was Kaya als erstes wahrnahm. Dann lächelte das Mädchen. Ihre Zähne waren schnurgerade.

 

„Hi, ich bin Marie!“, stellte sie sich laut vor. Kaya und Vanessa nickten beide. „Toms Freundin“, ergänzte sie unnötigerweise. Kaya spürte wie ihre Mundwinkel bitter zuckten. Sie war unmöglich.

 

„Hi“, erwiderte sie schließlich und zwang sich, zu lächeln. Dann glitt Toms Blick sorgenvoll über die Menge.

 

„Es ist wieder soweit“, sagte er schlecht gelaunt. Vanessas Blick wandte sich gereizt nach hinten. Kaya reckte den Kopf höher und erkannte, dass einige Mädchen ein anderes stützen mussten.

 

„Müssen wir das klären?“, wollte Vanessa genervt wissen.

 

„Na ja“, erwiderte Tom unentschlossen und sah sich um. „Wo ist Leonard?“, fügte er gereizter hinzu.

 

„Ich würde sagen, meistens ist Leonard für solche Abstürze verantwortlich, oder nicht?“, bemerkte Vanessa schlecht gelaunt. Tom verzog nur den Mund.

 

„Wir sehen mal eben nach, ok?“, rief Tom seiner Freundin zu, und Kaya beeilte sich, Vanessa und Tom zu folgen, denn sie wollte nicht alleine bei Marie bleiben. Sie mochte schon den Namen nicht. Sie hatte zwei Maries in ihrer Klasse, die sie nicht leiden konnte. Sie leerte hastig ihr Bier und merkte den Alkohol langsam aber sicher. Es war ein nettes Gefühl.

 

Sie schoben sich durch die Menge, an dem Heuballen vorbei, auf dem Kaya eingeschlafen war, bis sie um eine Ecke bogen. Tatsächlich war dort das Mädchen zehn Meter entfernt vom Hof, im Stehen vorn über gebeugt, während zwei andere Mädchen ihre Haare hielten. An der Scheunenwand standen der blonde Reitlehrer und das arrogante Mädchen, was Kaya vorhin beleidigt hatte. Beide wirkten nicht sonderlich gut gelaunt.

 

„Jessica Weber?“, wollte Vanessa scharf wissen, und Jessica verdrehte genervt die Augen. Kaya fragte sich, ob sie mit Stefanie aus ihrer Klasse verwandt war. Waren nicht alle reichen Mädchen irgendwie verwandt? War Kaya betrunken? Wahrscheinlich.

 

„Ja?“, erwiderte sie patzig und verschränkte die Arme vor der Brust.

 

„Habt ihr wieder Schnaps geschmuggelt?“, wollte Vanessa direkt wissen, und Jessica hob abwehrend die Arme.

 

„Ich habe garantiert gar nichts gemacht! Ich war hier bei Leo!“, rechtfertigte sie sich, woraufhin der Blonde gereizt ausatmete.

 

„Wie charmant“, bemerkte Vanessa mit einem kühlen Blick auf den bösen Reitlehrer, der ganz klar tausend Bände sprach, aber Kaya verstand nicht wirklich. „Wie wäre es, wenn du dich darum kümmerst, dass deine Freundinnen nach Hause kommen?“, wandte sich Vanessa mit gefährlicher Ruhe wieder an das Mädchen. Jessica wirkte bestürzt.

 

„Was kann ich dafür, dass Tina nichts verträgt?“, entrüstete sie sich.

 

„Das ist keine offene Diskussion!“, fuhr Vanessa sie an. „Mir reicht es mit euren Zickereien! Die Regeln waren klar und deutlich, Jessica! Ihr bleibt nüchtern genug, dass es zu keinem Absturz kommt! Ansonsten ist die Party für euch vorbei. Wenn ihr nicht nach Hause geht, gibt es Reitverbot für euch alle!“

 

Jessica starrte Vanessa fassungslos an. „Leo!“, wandte sie sich ungläubig an ihn, als würde er es richten können. Er sah aber nicht danach aus, als würde er für irgendwen in die Bresche springen, musste Kaya feststellen. Er könnte nicht gelangweilter aussehen.

 

„Oh, glaub mir, Leo wird dir ganz bestimmt nicht helfen!“, versicherte ihr Vanessa bissig. „Sobald es für unseren Goldjungen unbequem wird, zieht er den Schwanz nur zu schnell ein, nicht wahr?“, wollte sie gepresster wissen, und der Blonde schenkte ihr einen entsprechend eisigen Blick. Kaya war sich nicht sicher, ob irgendetwas hinter Vanessas Worten verborgen lag, aber sie musste es annehmen, bei Vanessas Zorn gegenüber dem anderen Lehrer.

 

„Du hast kein Recht, mir das Reiten zu verbieten!“, schimpfte Jessica schließlich haltlos und unterbrach die unangenehme Stille, die entstanden war, während sich Vanessa und der Lehrer ein Blickduell geliefert hatten. „Es ist mein Pferd! Und ich bezahle dafür!“ Kaya war es unangenehm, dass sie Zeuge dieser Auseinandersetzung wurde. Aber ihr Blick fiel auf etwas, was halb verborgen im Heuballen steckte. Vanessa reckte den Kopf in die Luft.

 

„Deine Freundinnen sind fertig“, bemerkte sie knapp. „Ich will euch hier nicht mehr sehen. Ihr verschwindet sofort oder ich sage euren Eltern heute Nacht noch Bescheid, dass sie euch abholen können.“ Und Kaya hätte Vanessa garantiert nicht mehr widersprochen. „Egal, wie viel Geld eure Papis dem Alten in den Hintern blasen“, ergänzte sie düster.

 

Jessica wandte sich tatsächlich an den blonden Reitlehrer. „Bringst du uns?“, wollte sie fast kleinlaut und verzweifelt wissen, aber Kaya kam es vor, als war es nur gespielt. Was es wahrscheinlich auch war.

 

„Vergiss es, Barbie“, sagte Vanessa nur. „Ich zeige euch gern die Richtung, Mädels“, rief sie herrisch, als die anderen Mädchen vom Feld zurückkehrten. „Euer Abend ist vorbei“, verkündete sie bitter und murrend stolperten die Mädchen vor ihr her. Vanessa wandte sich noch zu ihr um.

 

„Bin gleich wieder da, Kaya“, versprach sie und ihr nächster Blick galt dem Blonden, der an der Wand lehnte, als beträfe es ihn alles nicht und wäre einfach nur lästig. „Wieso wundert es mich nicht, dass alle dummen Hühner bei dir in der Gruppe sind?“, zischte sie, aber Tom trat vor.

 

„Ich regel das“, versprach Kayas Liebling plötzlich mit dunklem Tatendrang. Vanessa tauschte noch einen Blick mit ihm, ehe sie den Mädchen folgte.

 

Fast umspielte so etwas wie höhnische Erwartung die Mundwinkel des bösen Reitlehrers, während er Tom gespannt seine Aufmerksamkeit schenkte. Kaya kribbelten die Fäuste schon jetzt vor Wut über sein Verhalten.

 

„Wieso ist es jedes Jahr dasselbe?“, wollte Tom erschöpft und wütend wissen. „Wieso gibt es mit dir immer nur Stress?“ Und sofort sprang der Blonde darauf an, der wohl schon seit einer Weile unter Spannung stand. Eigentlich immer, wenn Kaya nachdachte.

 

„Sag mir einfach, was dir wieder mal nicht passt, damit ich diesen scheiß Abend beenden kann“, knurrte der Blonde praktisch, und Toms Lippen wurden schmaler, ehe er antwortete.

 

„Du wusstest, dass sie härteren Alkohol mitbringen, oder nicht?“, fuhr Tom ihn an. „Du bist verantwortlich für die Mädchen!“, fuhr Tom ihn haltlos an, aber der Blonde lachte hart auf.

 

„Ich bin für keine dieser Zicken verantwortlich, Kiergarten. Und nebenbei – es ist absolut egal, wer sich hier ins Koma säuft und wer seinen Stock in seinem Hintern behalten möchte“, ergänzte er mit einem entsprechenden Blick auf Tom. Kaya wollte am liebsten unauffällig verschwinden. Sie wollte dem Blonden eine reinhauen, ja. Und dann unauffällig verschwinden. Sein Blick fiel sehr plötzlich auf sie. Kaya spürte die Hitze in ihren Wangen sofort. Und sofort senkte sie den Kopf. „Und wieso schleppst du sie überall mit hin?“, ergänzte er am Rande jedes Verständnisses.

 

„Hast du Angst, Leo?“, vermutete Tom bitter. „Angst, dass sie dich vielleicht verpfeifen könnte? Weil Rothenberg wahrscheinlich seiner Enkelin eher glauben würde, als Leonard, dem Wunderhengst?“

 

Und Leonard setzte sich in Bewegung, und bevor Kaya wusste, was sie tat, war sie dazwischen gegangen. Der Blonde bremste sich noch geradeso, ehe er in Kaya gelaufen war.

 

„Ist sie dein Bodyguard?“, wollte er zornig wissen, aber Tom ging darauf nicht ein und wandte sich mit zitternden Fäusten von ihm ab.

 

„Du bist es echt nicht wert, Arschloch“, sagte Tom gepresst, ehe er sich vollends umdrehte und mit zornigen Schritten wieder in der Menge verschwand, die Gott sei Dank nichts hiervon mitbekommen hatte.

 

Ihr Blick hob sich schließlich – und tja…

 

Sie war immer noch hier. Sie hatte noch nie gewusst, wann es Zeit zum Gehen war.

 

Ihr Herz schlug schnell, und sie hatte wirklich Angst.

 

„Nett, dass er dich die Drecksarbeit erledigen lässt“, sagte er, und sie sah, wie er wohl um nötige Kontrolle ringen musste. Angespannt atmete Kaya aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie fand es alles so schrecklich ungerecht. Und sie war betrunken genug, tatsächlich zu antworten.

 

„Wieso bist du so scheiße?“, fuhr sie ihn mit schwacher Stimme an, fast den Tränen nahe, stellte sie ärgerlich fest. Sie konnte Auseinandersetzung noch nie gut verarbeiten, selbst wenn sie nicht wirklich beteiligt war.

 

Und alles Schöne um sie herum verlor durch diesen blöden Streit an Wert. Der Himmel war so klar, wie sie es selten gesehen hatte. In Berlin hatte sie es noch nie gesehen. Die Luft war hier eine völlig andere. Es wirkte, als würde selbst der Mond hier tiefer hängen. Alles war… schöner hier.

 

Aber seine Präsenz versaute den gesamten Abend!

Und sie war sauer auf ihn, weil er Tom beleidigt hatte, weil er Probleme machte. Weil Vanessa jetzt Wachhund spielen musste.

 

Und es wirkte als lege sich ein Schatten über sein Gesicht, als sein Ausdruck dunkler wurde.

 

„Was?“, fragte er, die Stimme gefährlich ruhig. Aber sie war nicht bereit, aufzugeben. Sie hatte eine schreckliche Woche gehabt, und er versaute ihr das einzige, worauf sie sich gefreut hatte! Und kurzerhand wandte sich Kaya um, marschierte zum Heuballen, bückte sich und zog die Flasche Likör aus dem Stroh hervor.

 

Sie hatte das glänzende Glas der Flasche vorhin schon bemerkt. Sie hielt sie ihm unter die Nase, und sehr kurz wirkte er tatsächlich überrascht über ihren eindeutigen Blick. Sanfter Unglaube trat auf seine scharfen Züge, als er wohl begriff, dass sie wollte, dass er sie nahm.

 

„Nicht meine“, sagte er kalt und schritt an ihr vorbei. Er log, nahm sie an. Zutrauen würde sie es ihm. Und selbst wenn es nicht seine war, ging sie davon aus, dass er Bescheid wusste, dass die Mädchen die Flasche gehabt hatten.

 

„Arsch“, murmelte Kaya kopfschüttelnd, aber leider nicht so leise wie sie dachte, denn er hatte innegehalten und wandte sich um. Kayas Herz sprang förmlich in ihren Hals. Er kam wieder auf sie zu, und sie kam in den Genuss seines vollständig abweisenden und abschätzenden Blicks.

 

Sie glaubte, er empfand Spaß dabei, Leute einzuschüchtern. Er überragte sie jetzt.

 

„Ich nehme an, dir fällt bestimmt auch noch irgendetwas ein, was du mir vorwerfen möchtest, obwohl keiner weiß, was du überhaupt hier willst?“, fuhr er sie tatsächlich an, und so viel hatte er noch nie zu ihr gesagt. Ihr wurde wieder heiß.

Und sie mochte ihn nicht! Gott, sie mochte ihn wirklich nicht!

 

„Du bist arrogant und scheiße!“, sagte sie plötzlich, sogar ziemlich wütend. Und er sah sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Mit seinen scheiß Haaren und seinem scheiß überheblichen Gesichtsausdruck! „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, sprach ihre Stimme fast hysterisch weiter. „Nur weil du vielleicht reiten kannst, hast du das Recht, Leute fertig zu machen?“ Oh wow. Sie sollte ziemlich bald ihre Klappe halten! „Außerdem – was soll das mit dieser Jessica? Hältst du sie hin, oder warum rennt sie dir hinterher?“, sprach sie zornig weiter. „Typen wie du…-“ Kurz war sie außer Atem und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. „Typen wie du…-!“, wiederholte sie mit mehr Nachdruck, aber… sie hatte keinen Ahnung von Typen wie ihm. Sie hatte nie die Erfahrung gemacht. Sie wusste nur, wie es sich verdammt noch mal anfühlte, Typen zu mögen, die absolut überhaupt nichts für einen übrig hatten! Und er gehörte nicht dazu. Tom gehörte dazu. Bastian gehörte dazu. Und er war einfach nur…-

 

„Ja?“, wollte er gespannt wissen, während sein böser Blick sie praktisch lynchte. „Kommt da noch was, oder wirst du gleich wieder ohnmächtig?“, spottet er kalt, und neue Wut rauschte durch ihren müden Körper.

 

„Ich war nicht ohnmächtig!“, fuhr sie ihn an. „Und wärst du nur im Ansatz ein so guter Lehrer wie Tom, dann wäre es nie-“ Und der Nerv, den sie getroffen hatte, schien über sämtliche Beleidigungen hinauszugehen, denn er schloss den Abstand und sie machte einen panischen Schritt zurück.

 

„-ich bin ein verflucht fantastischer Reitlehrer! Tausend Mal besser als dein scheiß Tom!“, knurrte er durch zusammen gebissene Zähne, und sie schluckte, als sie noch einen Schritt vor ihm zurückwich. Unangenehm stach sie der hohe Heuballen in den Rücken, als sie nicht weiter zurück konnte. „Und ich glaube nicht, dass ein dummes Mädchen, ohne jedes Talent, beurteilen kann, ob ich gut bin oder nicht, ob ich arrogant bin, ob ich scheiße bin, oder ein Arschloch, denn dafür bräuchtest du meine Aufmerksamkeit“, informierte er sie eiskalt. „Und glaub mir, die hast du nicht“, schloss er dunkel, sehr nah vor ihr, während sein Kopf praktisch über ihrem thronte.

 

Sie war atemlos, und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Ihre Hand umklammerte steif neben ihrer Hüfte noch immer den Flaschenhals, und sie glaubte nicht, schon mal so wütend gewesen zu sein. Noch nie war sie so wütend gewesen, und noch immer bohrte sich sein Blick in ihren. Er schien zu warten, ging ihr abwesend auf. Und sanft erkannte sie den getrockneten Umriss des Biers auf seinem hellblauen Hemd, was sie über ihn verschüttet hatte. Sie nahm alles rasend schnell auf. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, an seinem rechten Handgelenk trug er ein Lederarmband, eine wellige Strähne hing vor seinem Auge, und sie antwortete ihm tatsächlich. Denn… es stimmte nicht.

 

„Ach nein?“, entkam es ihr sehr heiser, und er blinzelte fast ein wenig überrascht, als wäre er selber abwesend und würde nicht damit rechnen, dass sie noch sprechen würde.

 

„Was?“, entgegnete er, beinahe atemlos.

 

„Wenn ich deine Aufmerksamkeit nicht habe, warum bist du dann noch hier?“ Sie konnte nicht wirklich glauben, dass sie noch immer auf zwei Beinen vor ihm stand, bei Bewusstsein war, und dass ihr Mund noch immer Fragen stellen konnte. Irgendetwas ging in ihrem Inneren vor, was sie nicht ganz zuordnen konnte, und sein Mund öffnete sich einen Millimeter weit und kurz wirkte er überrumpelt. Sein Blick flog über ihr Gesicht, und ihr Atem ging mit einem Mal flacher.

 

Sie spürte sogar die Wärme seines Körpers.

 

Und sie hatte keine Ahnung, woher ihr Mut kam. Sie wusste nicht, weshalb sie noch nicht in Tränen ausgebrochen war, denn er war nicht nett. Er war wirklich einfach nur furchtbar.

 

Unwillkürlich stockte ihr Atem, als sein Blick auf ihren Mund gefallen war. Sie merkte es alleine deshalb, weil er nicht mehr in ihre Augen sah, mit diesem unangenehm stechenden Blick. Sie bekam schreckliche Magenschmerzen. Es musste vom Bier kommen, nahm sie an, denn plötzlich zog es heftig in ihrer Magengegend.

 

Ihre Fingerspitzen kribbelten, als sein Blick sich langsam wieder hob, wieder auf ihren traf, und überfordert öffnete sich ihr Mund, um zu atmen, um etwas zu sagen, aber in der nächsten Sekunde detonierte ihr Gehirn, als sein Kopf sich senkte und sein Körper den Abstand zu ihr schloss.

 

Seine Lippen verschlossen ihre, und es war als wäre alles still geworden. Sie hörte nur noch ihren eigenen Herzschlag in ihren Ohren.

Noch immer hielt sie den Atem an, während sich ihre Augen vor Schreck fest geschlossen hatten, als wäre es nur ein Traum. Dann hoben sich seine Hände, und erschrocken atmete sie durch die Nase ein, als sie spürte, wie sich seine warmen Finger, um ihren Nacken schlangen, ihren Kopf weiter nach hinten neigten, und eine Gänsehaut jagte ihren kompletten Körper entlang.

 

Erinnerungen schossen wie Blitze durch ihren Geist. Max Schwerdtfeger war der erste – und einzige – Junge, der sie geküsst hatte. Und das war in der siebten Klasse nach der Schule auf dem Schulhof gewesen, weil sie eine Wette verloren hatte. Und der Preis war ein Kuss gewesen. Und er hatte seine Augen geöffnet, hatte unangenehm feuchte Lippen gehabt, und…-

 

Es war absolut kein Vergleich hierzu!

 

Der Flaschenhals entglitt ihren Händen, selbst ihre Tasche rutschte ihren Arm hinab, und ihre Hände hoben sich automatisch, berührten seine bloßen Unterarme, aber anstatt ihn von sich zu schieben, lagen ihre Finger nutzlos auf seiner Haut. Sensationen jagten durch ihren Körper, und war sie vorhin noch müde und angetrunken gewesen – so war sie jetzt hellwach!

 

Und blinzelnd öffneten sich ihre Augen, als er ihre Lippen mit seinen öffnete, sie teilte, und seine Zunge sich einfach so in ihren Mund schob.

 

Oh Gott!

 

Alina hatte es ihr erklärt. Kaya hatte davon gehört. Aber es war völlig anders, als sie gedacht hatte! Was sollte sie machen? Wie war es möglich, dass… er das tat?!

 

Seine Hände fielen von ihrem Nacken, und schon lagen sie fest auf ihrer Hüfte, und sie fühlte sich an den Reitunterricht erinnert, wenn er ihr beim Absitzen half, und-

 

Wieder stockte ihr Atem, denn fest zog er ihren Körper an seinen, und Kaya wurde sehr kurz schwindelig bei dem Gefühl, was sie erfasste. Es war wie… wie in der Achterbahn, wenn es steil nach unten ging. Ihre Augen schlossen sich automatisch, sie schnappte nach Luft, und seine Zunge traf auf ihre, massierte sie, zog sich wieder zurück, und bevor sie überhaupt begriff, was sie zu tun hatte, begegnete sie seinem Kuss, und ihre Zunge reagierte, ohne dass Kayas es beschreiben könnte. Ihre Hände ruhten mittlerweile auf seinen Schultern, griffen fast hart in den Stoff seines Hemdes.

 

Er schmeckte nach… Bier und… etwas anderem, etwas eigenem. Sein Duft war übermächtig, und sie glaubte nicht, dass sie ihn jemals loswerden würde, und plötzlich zog er sich zurück, und sie stürzte praktisch in die Realität zurück. Sie hätte wahrscheinlich niemals die nüchterne Idee gehabt, einfach aufzuhören. Ihre Sinne waren noch immer viel zu gefangen von seiner Nähe, und noch immer spürte sie den Druck seiner warmen Lippen auf ihren.

 

Die Geräusche der Party füllten wieder ihre Ohren, ihr Puls raste, und mit offenem Mund musste sie atmen, sah ihn mit weiten Augen an und musste den Kopf praktisch in den Nacken legen, so nah stand er noch vor ihr.

 

Sie hatte das Gefühl, das Grün seiner Iris hatte sich verdunkelt. Aber es war sowieso zu dunkel hier draußen, um das noch zu erkennen. Sie fühlte sich mit einem Mal völlig schutzlos und absolut verwundbar. Er musste wissen, dass sie noch nie einen Jungen geküsst hatte! Wahrscheinlich hatte sie sich grenzenlos dumm angestellt – aber selbst wenn! Ihn hatte sie… auch gar nicht küssen wollen! Oh je…. Sie spürte die Hitze in ihren Wangen. Ihr ganzer Körper stand in Flammen, hatte sie das Gefühl. War das normal? War jeder erster Kuss so? Ach, was würde sie geben, wenn doch Alina hier wäre!

 

Es vergingen mehr Sekunden, als sie hätte zählen können. Mehr Sekunden als überhaupt nötig waren, hatte sie das ungute Gefühl. Wie viele Sekunden brauchte man, um jemanden von sich zu schieben und abzuhauen, fragte sie sich unwillkürlich. Fünf? Vielleicht zehn? Aber fairerweise musste sie zugeben, sie hatte sich noch keinen Millimeter bewegt.

 

Ihre Brust hob und senkte sich abgehackt, und sie konnte ihn nur ansehen.

 

Und er war derjenige, der sprach. Er war es schließlich auch, der den Kuss beendet hatte.

 

„Das…“, begann er rau, und der Klang seiner Stimme allein, reichte, um ihren Herzschlag zu beschleunigen, „war ein blöder Fehler“, entfuhr es ihm heiser, und seine Hände übten keinen Druck mehr aus, verließen ihre Taille, und er fuhr sich abwesend durch die Haare, zog sein Hemd gerade, während Kaya froh war, dass der Heuballen in ihrem Rücken ihr Gewicht hielt.

 

Und was?! Es war ein blöder Fehler? Ja, das stimmte! Aber wenn, dann müsste sie das sagen. Ganz bestimmt nicht er! Er war es doch gewesen, der überhaupt näher gekommen war! „Wäre super, wenn du es keinem sagen würdest“, ergänzte er, fast schon mit neutraler Stimme, während Kayas Mund sich vor Überraschung und Unfähigkeit schloss. Er sah sich um, wollte sich wohl vergewissern, dass sie niemand beobachtete hatte, aber Kaya konnte sich darum gerade keine Gedanken machen.

 

Sag was. Irgendetwas Schlagfertiges. Irgendetwas, Kaya, ermahnte ihr Verstand sie, und Kaya schluckte schwer.

 

„Ok“, war alles, was sie hervorbringen konnte. Und nein! Sie sollte lieber so was sagen, wie, dass sie sowieso nicht wollte, dass irgendjemand hiervon erfuhr! Vor allem nicht Tom! Und auch nicht Vanessa! Aber ihr Mund sprach nicht mehr.

 

Er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen, mit ihr alleine, hinter dem Heuballen. Kayas Herz sank immer tiefer in ihrer Brust. Und sie bekam noch ein halbherziges Kopfrucken von ihm, ehe er mit schnellen Schritten verschwand.

 

Sie war so eine dumme Gans! Der Gedanke erschlug sie in diesem Moment mit aller Macht.

 

Und endlich – endlich – reagierten ihre Gliedmaßen wieder! Sie hatte keine Lust mehr, zu warten, dass Vanessa wiederkam. Sie wollte niemanden mehr sehen und sich einfach nur noch in Grund und Boden schämen, dafür, so dumm und wortkarg zu sein! Sie bückte sich nach ihrer Handtasche und nach kurzem Zögern auch nach dem halbvollen Likör.

 

Am besten vergaß sie alles, so schnell sie konnte – und wenn sie eins von den Theaterkollegen ihrer Mutter gelernt hatte, dann, dass man schlimme Dinge mit Alkohol am besten verdrängen konnte! Sie entfernte sich mit schnellen Schritten, lief neben dem Feld her, auf dem sich das Mädchen namens Tina übergeben hatte und lief nur noch schneller, bis sie die Geräusche der Party nicht mehr hören konnte.

 

Vor ihr lag die weitere Dorfstraße. Alle Häuser lagen dunkel und verschlafen in völliger Stille. Sie bog in eine Gasse ein, und nach wenigen Häusern gelangte sie hier an das Ende der Dorfbebauung, und weites Feld erstreckte sich vor ihr.

 

Es rauschte im lauen Nachtwind, und Kaya erlaubte sich endlich, stehen zu bleiben, und auszuatmen.

 

Sie sank völlig überfordert auf die letzte Bank vor dem Feld, die ‚Sonnenbank‘ hieß, wie sie im Dunkeln erkennen konnte. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen. Noch immer waren ihre Wangen glühend heiß, und noch immer konnte sie ihn an sich riechen. Wie blöd sie war! Sie drehte den Deckel der Flasche ab und nahm einen tiefen Schluck von dem lauwarmen ekligen Zeug, was auch noch in der Kehle brannte.

 

Sie hatte sich noch nie so sehr geschämt!

 

 

Achtzehntes Kapitel

– Besuch –

 

Alles drehte sich.

 

Einfach alles drehte sich.

 

Laute Motorengeräusche vor dem Haus hatten sie aus dem unruhigen Schlaf gerissen. Die Sonne tat weh in ihren Augen, und absolut alles drehte sich.

 

Ihr Handy vibrierte in die Stille hinein, ehe wohl der Akku aufgab und das Surren unterbrach, was Kaya nur recht war, denn… alles drehte sich!

Es war ihr allererster Kater, und sie hatte keine Ahnung, wann sie überhaupt wieder zum Gästehaus gegangen war?!

 

Sie hatte keine Ahnung, wo oben und unten war. Sie wusste nur, ihr tat alles weh. Ihr Kopf, ihr Magen, selbst ihre Haare taten weh, als sie den Kopf drehte, versuchte, ihn im Kissen zu vergraben, aber sofort wurde ihr noch schlechter.

 

Sie konnte nur eine wichtige Abwägung in ihrem Kopf treffen – übergeben oder nicht übergeben?

 

Wenn sie sich übergeben wollte, musste sie aufstehen, ins Bad gehen und sich vors Klo knien. Wenn sie das nicht wollte, dann musste sie für immer hier liegen bleiben. Liegen bleiben klang nach einer besseren Alternative. Vor allem spürte sie den verdammten Muskelkater wieder.

 

Unten wurden laute Gespräche geführt. Wie viel Zeit würde wohl vergehen, ehe Frau Ohlkamp hochkam, um nach ihr zu sehen?

Kaya schloss die Augen wieder, versuchte, sich davon abzulenken, wie schlecht ihr war, und nach hundert Minuten, so kam es ihr vor, driftete sie wieder ab, in einen sehr unruhigen Schlaf. Sie träumte von Heuballen, Likörflaschen, die hinter ihr herrollten, und sie träumte von Händen auf ihrer Hüfte, von Lippen auf ihrem Mund, von –

 

„-Kaya? Bist du wach?“

 

Es hatte sanft geklopft, und die Sonne strahlte nun vollends in ihr Zimmer, als ihre Augen aufflogen. Die Tür hatte sich einen Spalt geöffnet. Frau Ohlkamp lehnte im Türspalt, spähte in ihr Zimmer. „Kaya, alles in Ordnung bei dir?“, erkundigte sich die Frau wohl ernsthaft besorgt.

 

Kaya versuchte, sich zu orientieren. Sie blinzelte mehrfach, und immerhin war das Bedürfnis verschwunden, sich direkt zu übergeben. Ein leises Klingen war in ihren Ohren verblieben, und ihr Kopfschmerz war auf ein Mindestmaß zurückgegangen.

 

„Kaya?“, sagte Frau Ohlkamp wieder, und mit aller Macht rieb sich Kaya die Augen und stützte sich auf die Ellenbogen.

 

„Morgen, Frau Ohlkamp“, murmelte sie verkatert. Frau Ohlkamp runzelte die Stirn.

 

„Morgen? Es ist nach zwölf, Kaya. Zeit, zum Aufstehen. Du hast Besuch unten“, fuhr sie fast geheimnisvoll fort.

 

„Besuch?“, entfuhr es ihr tonlos.

 

„Ja, Besuch“, bestätigte Frau Ohlkamp, wieder besorgt.

 

Und ihr allererster, absolut dummer, Gedanke war, dass es der Reitlehrer sein musste.

 

Und dieser Gedanke stahl sich in ihren müden Geist, bevor sie sich überhaupt wieder an den peinlichen Kuss erinnerte. Hitze stieg übergangslos in ihre Wangen, und sie setzte sich auf. Ihr Kopf protestierte kurz, bei dieser abrupten Bewegung, aber Frau Ohlkamp schien es auszureichen, um wieder zu verschwinden, mit einem letzten tadelnden Blick.

 

War es Leonard? Und ihr Verstand dachte zum allerersten Mal seinen Namen, schlang sich praktisch um das neue, unbekannte Wort, und es hallte in ihrem Hinterkopf nach.

Leonard….

 

Wer sollte es sonst sein? War es Vanessa? Die wissen wollte, weshalb Kaya abgehauen war? Das war wahrscheinlicher, oder nicht?

 

Und das Adrenalin verscheuchte die Schmerzen in ihrem Kopf allmählich, als sie im Bad verschwand und feststellte, sie hatte sich nicht abgeschminkt.

 

Sie band sich die wirren Haare zurück und ließ Wasser in ihre hohlen Hände laufen, um ihr Gesicht zu waschen. Ungefähr eintausend Mal wiederholte sie die Bewegung, und langsam aber sicher, kühlte sich ihr Gesicht wieder ab. Das kühle Nass tat ihr gut, und irgendwann sah sie wieder normal aus. Sie band sich die Haare zu einem hohen Zopf, denn sie waren einfach nur unordentlich und schlapp.

 

Sie putzte die Zähne, genoss den frischen Duft der Zahnpasta und zog anschließend ihr Schlafshirt aus, um Katzenwäsche zu betreiben. Die Dusche war zu kompliziert heute Morgen. Oder heute Mittag. Und jetzt knurrte ihr Magen verhalten, wenn auch nicht wirklich hungrig. Wieder drüben zog sie die weite Hotpants aus der Tasche, die sie wirklich nur für gutes Wetter eingepackt hatte, aber scheinbar gab es hier nur gutes Wetter. Ihre Beine waren noch glatt und die frische Brise um die Haut tat ihr gut.

 

Sie entschied sich für ein Trägershirt, einfach weil weniger Kleidung ihren Körper besser kühlte. Vor allem, wenn sie gleich Vanessa Rede und Antwort stehen musste. Geistesgegenwärtig schloss sie ihr Handy noch an den Strom, ehe sie das Zimmer in Vanessas Ballerinas verließ.

 

Langsam überwand sie die Stufen, gähnte noch einmal herzhaft, und im Saal aßen bereits Gäste zum Mittag. Kaya sah sich um, und entdeckte Frau Ohlkamp, die mit einem Tablett zurückkam.

 

„Da bist du ja. Ich habe dir Wasser und Frühstück nach draußen gestellt. Dort wartet dein Besuch“, sagte die Frau und klang fast ein wenig schuldbewusst.

 

„Danke“, erwiderte Kaya und spähte durch die Fenster nach draußen, konnte aber Vanessa nicht entdecken. Sie durchquerte den Saal, ehe sie durch die geöffneten Türen nach draußen auf die Veranda trat, wo ebenfalls einige Tische gedeckt waren und sich Leute unterhielten. Wahrscheinlich Leute aus dem Dorf.

 

Kaya erkannte auf den ersten Blick niemanden. Niemand schien jünger als vierzig zu sein.

 

Ihre Stirn runzelte sich langsam. Wo war Vanessa?

 

Ein Mann sah sie an. An diesem Tisch war für drei gedeckt, aber er war allein. Und er sah sie noch immer an.

 

Und das heiße Gefühl überrollte ihren Magen so schnell, dass ihr praktisch wieder schlecht wurde. War das…? Konnte das…?!

 

Ihre Schultern sanken entgeistert, und langsam öffnete sich ihr Mund.

 

Er sah anders aus. Seine Haare waren kürzer als sie in Erinnerung gehabt hatte. Neben seinem Stuhl lag ein schwarzer Motorradhelm, und er trug eine schwarze Lederhose. Darüber ein weißes, relativ enges Shirt. Hard Rock Café New York stand auf der Brust.

 

Und vorsichtig kam sie näher. Unsicher und vollkommen überfordert. War er wirklich hier?

 

„Hey, Kaya“, begrüßte er sie, als sie vor dem Tisch stehen blieb. Seine Augen waren blau. Seine Zähne waren weiß. Und er erinnerte sie tatsächlich an seinen Vater. Sie erkannte seine Stimme von den Telefonaten wieder, und doch klang sie persönlich ganz anders.

 

„Oliver“, erwiderte sie kleinlaut.

 

„Setz dich“, forderte er sie ruhig auf, und sie widersprach nicht, folgte den Worten und setzte sich. Er sagte gar nichts mehr, schwieg beharrlich, während ihr auffiel, was für einen Durst sie hatte. Das letzte Gespräch zwischen ihnen, war nicht gut ausgegangen.

Und es war alles andere als gut, dass er jetzt hier war.

 

Aber sie kippte mit der Wasserkaraffe ihr Glas randvoll und trank es in großen Zügen leer, nur um es noch mal aufzufüllen. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Eine leere Tasse Kaffee stand vor ihm. Seit wann war er hier?

 

„Frau Ohlkamp sagte mir, du warst gestern spät zuhause?“, begann er scheinbar ein Gespräch, fast unverfänglich.

 

„Mh“, machte sie, während sie auch das zweite Glas leerte. Dann setzte sie es  ab. „Scheunenfest“, antwortete sie, ohne ihn anzusehen.

 

„Du bist… groß geworden“, schien er schließlich festzustellen. „Du siehst aus wie deine Mutter“, schloss er, fast überrascht.

 

„Tu ich nicht“, erwiderte sie direkt, denn sie fand, das tat sie nicht. „Mama hat… Locken“, murmelte sie beschämt. „Hast du mit ihr gesprochen?“, kam ihre größte Sorge über ihre Lippen und sie sah ihn zum ersten Mal an. Kurz hielt er ihrem Blick stand, ehe er schließlich seufzte und den Kopf schüttelte.

 

„Nein, habe ich nicht“, erwiderte er nach einer Weile. Und die angestaute Luft entwich ihren Lungen.

 

„Nicht?“, wiederholte sie tonlos.

 

„Nein“, bestätigte er dann und sah sie wieder an. Und sie verschränkte unbewusst die Arme vor der Brust.

 

„Und was machst du hier?“, fragte sie anschließend, fast abwehrend. „Ich komme nicht mit!“, ergänzte sie sofort, falls er hier war, um sie mitzunehmen.

 

„Ich würde dich auch nicht drei Stunden auf dem Motorrad mit nach Berlin nehmen“, entgegnete er mit erhobener Augenbraue.

 

„Nicht?“, entkam es ihr unsicher. Er schüttelte den Kopf. „Du… kamst von München mit dem Motorrad?“, bemerkte sie dann, und er ruckte mit dem Kopf.

 

„Wir machen eine kleine Tour und bleiben ein paar Tage hier“, sagte er dann.

 

„Wir?“, fragte ihr Mund schneller, als ihr Gehirn sie hätte abhalten können.

 

„Peter und ich“, antwortete er fast bereitwillig. Peter. War das sein Freund? Sie nahm es an. Musste sie fragen? Nein, musste sie nicht. Sie nickte verschlossen.

 

„Ok?“, erwiderte sie, aber es verließ als Frage ihren Mund. Sie sah sich trotzdem um. „Wo ist… Peter?“, wollte sie dann doch wissen.

 

„Er vertritt sich die Beine, sieht sich um. Er kennt Hamburg nicht“, bemerkte Oliver.

 

„Oh.“ Kaya biss sich auf die Lippe. War ihr Vater hier, um ein Auge auf sie zu haben? „Wart ihr… auf dem Gestüt?“ Und auch diese Frage bereute sie fast wieder. Sein Mund verzog sich bitter.

 

„Nein. Wir hatten mit dem ersten Anlauf hier Glück gehabt. Und ich habe auch nicht vor, dorthin zu gehen.“

 

Und sie musste fragen.

 

„Warum bist du dann hier?“

 

Er atmete lange aus. „Ich hatte noch Urlaubstage, die fällig waren, Kaya. Und wenn du mir nicht erlaubst, deiner Mutter zu sagen, wo du bist, dann sehe ich es zumindest als meine Pflicht, herzukommen und zu sehen, ob alles in Ordnung ist.“

 

Fast rührten diese Worte etwas in ihr. Und sie fragte, bevor sie nachgedacht hatte.

 

„Wie lange bleibst du?“

 

Klang es hoffnungsvoll? Sie hoffte nicht. Sie biss sich wieder gedankenverloren auf die Lippe.

 

„Ein paar Tage“, wiederholte er vage. Sie nickte nur. Sein Blick glitt wieder in die Ferne, und er setzte sich gerade auf. Kaya folgte seinem Blick. Ein Mann hatte scheinbar den See umrundet. Er war groß gewachsen, trug ebenfalls eine Lederhose, hatte etwas längere Haare als ihr Vater und eine leicht krumme Nase. Seine Mundwinkel hoben sich, als er näher kam.

 

„Ist das die junge Dame?“, wollte er wissen, und der Münchner Akzent war unschwer zu erahnen, stellte Kaya fest.

 

„Das ist Kaya. Kaya, das ist mein Freund Peter“, sagte Oliver schließlich, und Kaya erhob sich unwillkürlich. Der Mann streckte ihr freundlich die große Hand entgegen, und unbeholfen schüttelte Kaya die warme Hand.

 

„Hallo“, erwiderte sie scheu.

 

„Darf ich?“, fragte der Mann freundlich, deutete auf den Tisch, und Kaya wollte schon sagen, dass er bestimmt mehr Recht hatte, hier zu sitzen, als sie. Aber sie nickte nur und setzte sich, als der Mann es tat und sich streckte.

 

„Schön hier!“, sagte er lächelnd. „Na, wohnst du hier?“, rief er, als Balu auf ihn zugehechelt kam. Er streichelte den Hund, der sich neben ihn fallen ließ. „Wie kann man hier wegziehen?“, wandte er sich ungläubig direkt an Oliver.

 

„Man kann“, war alles, was er bitter antwortete, und Frau Ohlkamp unterbrach den Moment, indem sie sich vor den Tisch stellte.

 

„Alles in Ordnung hier? Kann ich den Herren noch was bringen? Kaya, bitte iss etwas!“, ermahnte die Frau sie, und Kaya griff artig nach dem Brötchen.

 

„Wasser, bitte“, sagte Peter lächelnd. „Und vielleicht eine Kleinigkeit zu essen?“ Auffordernd wandte er sich an Oliver. Dieser nickte unwirsch. „Was können Sie empfehlen?“

 

Und Kaya wusste nicht, warum, aber Peter hatte eine angenehme Art. Sie verzog unbemerkt den Mund. Wie sollte sie so jemanden nicht leiden können? Sie würde es versuchen müssen. Ihrer Mutter zuliebe.

 

Frau Ohlkamp zählte auswendig die Tageskarte auf, und Peter entschied sich für Omelette. Ihr Vater wollte nichts, und Kaya wurde von Frau Ohlkamp überredet, noch eine Kleinigkeit zu essen.

 

Während sie warteten trat wieder eine schreckliche Stille ein.

 

„Oliver sagt, du lernst reiten hier?“, wollte Peter plötzlich mit wachem Interesse wissen. Kaya hob schuldbewusst den Blick.

 

„Na ja, ich versuche es“, räumte sie ein, versuchte, so wortkarg wie möglich zu antworten.

 

„Ganz der Vater?“, vermutete er zwinkernd, während sie Oliver einen Seitenblick zuwarf. Er schien sich an diesem Gespräch nicht beteiligen zu wollen. Und auch Peter merkte, dass er wohl auf Granit biss. „Hör mal, Kaya, du kannst du uns jederzeit besuchen kommen“, ergänzte er nun ernster. „Wirklich. Wir zahlen dir die Fahrt“, fuhr er bestimmt fort, und Oliver wandte wieder den Blick.

 

Taten sie das? Kaya und Oliver schienen gleichermaßen überrascht.

 

„Ich meine, wann habt ihr euch überhaupt das letzte Mal gesehen? Oliver erzählt mir, ihr telefoniert alle paar Wochen?“

 

Das stimmte wohl. Kaya nickte nur. „Ja“, sagte sie dann unsicher.

 

„Versprich mir bitte, dass du uns besuchen kommst, ja?“ Peter sah sie so warm an, dass es Kaya völlig unangenehm war.

 

„Mhm“, machte sie ausweichend, denn es war ihr peinlich.

 

„Mein Gott, dass du schon eine richtige junge Dame als Tochter hast, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Machst du gerade Abitur?“, fuhr er das einseitige Gespräch fort, ohne zu merken, dass Kaya vielleicht nicht der beste Gesprächspartner war.

 

„Nächstes Jahr. Wahrscheinlich“, ergänzte sie nachdenklich.

 

„Und dann?“, überging Peter ihre Unsicherheit, und Kaya hob überrascht den Blick.

 

„Und dann?“, wiederholte sie etwas ratlos, aber Peter nickte.

 

„Ich meine, deine Eltern sind wohl nicht die besten Beispiele, aber du könntest studieren, wenn dir Theater und Gesang nicht liegen?“, schlug er vor, während Oliver ihm seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte. Peter stellte Kaya Fragen, die weder ihr Vater, noch ihre Mutter gestellt hatten.

 

„Ich glaube… nicht, dass ich es mir leisten kann, studieren zu gehen“, schloss sie achselzuckend und hielt nach Frau Ohlkamp Ausschau.

 

„Es gibt Studienkredite“, sagte er lediglich. „Vielleicht eine Ausbildung?“, fuhr er fort.

 

„Es gibt nichts, worin ich gut bin“, entfuhr es Kaya fast teilnahmslos. Und Peter musste lächeln.

 

„Das, meine Liebe, glaube ich nicht.“ Er ließ die Worte im Raum stehen, ohne sie zu erläutern, und Kaya dachte unwillkürlich nach. Worin war sie gut? Heimlich abhauen und reiten lernen, gehörten wohl nicht zu ihren Stärken, denn sie war eine grauenhafte Schülerin und wurde auch noch von ihrem Vater und seinem Freund gefunden. „Wenn du machen könntest, was du wolltest, was würdest du tun?“, hakte Peter unbeeindruckt nach, und Kaya biss sich auf die Lippe, während sie nachdachte.

 

Und das einzige, was ihr tatsächlich irgendwie Spaß machte, wenn sie darüber nachdachte, war wohl ansatzweise das, was Dr. Schmidt machte. Er half Tieren.

Und siedend heiß fiel ihr wieder ein, dass sie die Stute noch retten musste! Es war Samstag. Und es wurde langsam Zeit. Sie musste mit Frau Ohlkamp sprechen! Und zwar sofort!

 

„Entschuldigt mich kurz, ja?“, verabschiedete sie sich wortkarg von den beiden und erhob sich.

 

„Alles in Ordnung?“, vergewisserte sich Peter überrascht, und Kaya nickte unwirsch.

 

„Ja, ich… habe etwas vergessen! Bin… gleich wieder da“, machte sie ein vages Versprechen, verließ den Tisch und verschwand im angenehm kühlen Gästehaus.

 

Und Frau Ohlkamp war gerade an anderen Tischen beschäftigt. Sie haderte mit sich. War es wirklich die beste Taktik, einfach mit so etwas um die Ecke zu kommen?

 

„Kaya!“ Herr Ohlkamp rief sie aus der Kaminecke zu sich. Und erst mal ging Kaya zu ihm.

 

„Hallo, Herr Ohlkamp“, begrüßte sie ihn müde.

 

„Na? Wie war dein Scheunenfest?“, wollte er mit erhobenen Augenbrauen von ihr wissen. Sie verdrehte die Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung.

 

„Nicht der Rede wert. Ich hätte hier bleiben sollen“, murmelte sie kopfschüttelnd. Und dann lehnte er sich näher zu ihr. Sein Bart wirkte heute besonders buschig.

 

„Und die Herren da draußen?“, fuhr leise fort. „Man munkelt, einer wäre dein Vater?“, flüsterte er fast, und Kaya ruckte mit dem Kopf.

 

„Ja. Der… mit den kürzeren Haaren“, erwiderte sie leise. Und Herr Ohlkamp nickte zufrieden.

 

„Na, das habe ich mir gedacht“, bemerkte er, und seine Mundwinkel zuckten, während er die Zeitung zusammenfaltete. „Ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, Kaya“, ergänzte er lächelnd und schwerfällig erhob er sich aus dem Sessel. Kaya folgte ihm, halb neugierig, halb unsicher. Herr Ohlkamp hatte sich seinen Stock gegriffen und war draußen angekommen, stützte sich halb lehnend auf den Stock und fasste ihren Vater prüfend ins Auge.

 

Kaya lehnte in der Tür nach draußen und beobachtete Herrn Ohlkamp.

 

„Mein Junge“, begann Herr Ohlkamp tadelnd, „wir müssen noch ein Gespräch führen!“, sagte er dann. Und zuerst wirkte ihr Vater mehr als verwirrt. Dann glätteten sich die Falten auf seiner Stirn, und er erhob sich, während die anderen Gäste ihm zusahen. Und langsam kam ihr Vater auf Herrn Ohlkamp zu.

 

Und langsam trat ein Lächeln auf das Gesicht ihres Vaters.

 

„Onkel Bernd, das mit den Äpfeln war nicht meine Schuld“, beteuerte er schließlich, mit erhobenen Armen. Und auch Herr Ohlkamp lächelte plötzlich, und Kaya sah dieser Szene mit großen Augen zu.

 

„Lausejunge“, brummte Herr Ohlkamp kopfschüttelnd, und dann zog er ihren Vater für eine kurze Umarmung an die Brust. Ihr Vater lachte tatsächlich dabei und zog sich wieder zurück. Herr Ohlkamp betrachtete ihn.

 

„Du bist mit dem Motorrad hier? Sind Motorräder die neuen Pferde?“, wollte er spöttisch wissen, und ihr Vater nickte wissen.

 

„Oh ja, Onkel Bernd. Sauberer und viel schneller als jedes Pferd“, bestätigte er grinsend.

 

„Deine Tochter hat uns hier ziemlich überrascht“, fuhr Herr Ohlkamp fort und nickte in ihre Richtung.

 

„Ja, das glaube ich“, bemerkte ihr Vater wieder ernster. Herr Ohlkamp fasste Peter ins Auge.

 

„Und wer ist dein Begleiter?“

 

Peter erhob sich direkt und kam auf Herrn Ohlkamp zu. Kaya stand noch immer im Türrahmen.

 

„Das ist mein Freund, Peter Baumeister“, stellte er ihn vor. Peter schüttelte Herrn Ohlkamp die Hand.

 

„Willkommen bei uns in der Seebank“, begrüßte Herr Ohlkamp ihn ruppig, aber freundlich. Und wieder trat Stille ein. Und Kaya nutzte ihre Chance.

 

„Herr Ohlkamp?“, unterbrach sie die Stille vorsichtig, und zufrieden wandte sich der Mann um.

 

„Ja, Kaya?“

 

„Ich… habe ein Problem“, räumte sie ihn.

 

„Was für ein Problem?“, mischte sich Oliver sofort ein, aber sie verzog den Mund.

 

„Eines, was ich gerne mit Herrn Ohlkamp besprechen würde.“ Und Ihr Vater wirkte nicht zufrieden mit dieser Antwort.

 

„Aber sicher“, unterbrach Herr Ohlkamp den angespannten Moment zwischen ihr und Oliver. „Komm, wir gehen ein Stück“, forderte er sie auf. Dankbar folgte ihm Kaya.

 

Als sie außer Hörweite waren, atmete sie aus.

 

„Wie kann ich dir helfen?“, wollte er lächelnd wissen.

 

„Herr Ohlkamp, mein Großvater hat ein Pferd“, begann sie zögernd.

 

„Ich glaube, er hat mehrere Dutzend Pferde“, vermutete Herr Ohlkamp neutral.

 

„Ja“, bestätigte sie, „aber eines davon will er töten lassen. Und…“ Und sie überlegte, wie sie es angehen sollte. „Das nur, weil es ein klein wenig depressiv ist“, fuhr sie unschlüssig fort. Herr Ohlkamp runzelte die Stirn. „Und… ich würde es gerne wieder gesund machen. Mit Dr. Schmidts Hilfe“, ergänzte sie, auch wenn das ein wenig ins Blaue geraten war. „Aber dafür bräuchten wir eine Unterkunft“, schloss sie dann mit einem flehenden Blick. „Und sie haben doch die alten Stallungen da hinten“, ergänzte sie eilig. „Und… ich würde für das Futter aufkommen! Irgendwie!“, schloss sie hastig.

 

Herr Ohlkamp atmete langsam aus und stützte sich gedankenverloren auf seinen Stock.

 

„Du willst ein Pferd retten?“, fasste er ihre Worte zusammen. „Und du willst es hier unterstellen?“

 

Kaya nickte und biss sich erwartungsvoll auf die Lippe.

 

„Ich weiß nicht, Kaya.“ Er entzog sich ihrem Blick.

 

„Bitte, Herr Ohlkamp!“, flehte sie. „Es wäre nur für ein paar Wochen“, versprach sie blind. „Und wenn Dr. Schmidt und ich es geheilt haben, dann kann es zurück auf das Gestüt!“, beteuerte sie.

 

„Was sagt meine Frau dazu?“, wollte er unentschlossen wissen.

 

„Ich…habe sie noch nicht gefragt“, gestand Kaya ein. „Ich… will nur nicht, dass ein unschuldiges Tier stirbt, weil niemand die Zeit hat, ein bisschen nett zu ihm zu sein“, sagte sie stiller.

 

Herr Ohlkamp brummte in seinen Bart und räusperte sich dann.


„Na, wenn Monika sagt, dass du es unterstellen darfst, dann… dann hol es her“, murmelte er und wurde etwas rot unter seinem Bart. Kaya strahlte über das ganze Gesicht.

 

„Oh danke, Herr Ohlkamp! Ich frage sie sofort!“, rief sie aus, und umarmte Herrn Ohlkamp kurz, aber dafür heftig, denn sie konnte gar nicht anders. Sie hastete zurück zum Gasthaus, und Frau Ohlkamp kam gerade mit den Tellern zurück an ihren Tisch.

 

„Frau Ohlkamp!“, rief sie außer Atem. Die Frau sah sie besorgt an.


„Was ist, Kaya?“, wollte sie vorsichtig wissen.

 

Sie lehnte sich näher zu ihr, denn sie wollte nicht, dass die Männer sie hörten.

 

„Frau Ohlkamp, ich habe mit Herrn Ohlkamp gesprochen, und… er sagt, ich dürfte ein armes, krankes Pferd retten, was mein Großvater umbringen will, und hier für ein paar Wochen unterstellen und mit Dr. Schmidt wieder gesund machen, wenn Sie es erlauben“, flüsterte sie, und sie wusste, es war wahrscheinlich gemein, den einen gegen den anderen auszuspielen, aber sie wollte es wieder gut machen, sobald sie konnte.

 

Frau Ohlkamp sah sie überrumpelt an. „Für Futter werde ich sorgen! Ich suche mir noch einen Job im Dorf, vielleicht beim Bauern, aber… ich will nicht, dass es sterben muss! Es ist wirklich lieb!“, beteuerte Kaya. „Und in ein paar Wochen bringe ich es meinem Großvater wieder“, versprach sie erneut. Und Frau Ohlkamp wirkte gequält.

 

„Ein Pferd unterstellen? Weiß dein Großvater davon?“, wollte sie probehalber wissen. Kaya ruckte mit dem Kopf.

 

„Es ist ihm ohnehin im Weg. Und es ist aber ein zu liebes Tier, als dass es sterben muss“, sagte sie ernster.

 

Und Frau Ohlkamp wandte den Blick zu ihrem Mann in die Ferne. Sie verzog den Mund.

 

„Kaya-“, begann Frau Ohlkamp kopfschüttelnd, aber Kaya setzte einen so flehenden Ausdruck auf, wie sonst nur, wenn sie ihrer Mutter versicherte, dass sie drei Wochen den Hausputz übernehmen würde, wenn sie nur nicht das Wochenende bei einem der Theaterkollegen ihrer Mutter sein müsste, wenn diese mal wieder mit dem Wandernden Theater Werbung machen ging, um ein wenig Extrageld zu verdienen.

 

„-ich verspreche, Sie werden es überhaupt nicht bemerken, Frau Ohlkamp! Es wird praktisch unsichtbar sein!“, versicherte sie mit großen Augen, und Frau Ohlkamps ernster Ausdruck schmolz ein wenig.

 

„Ein paar Wochen, Kaya!“, gab sie sich augenverdrehend geschlagen. „Ich werde mit Bernd ein ernstes Wörtchen reden müssen“, murmelte sie und stellte die Teller ab.

 

„Danke, Frau Ohlkamp!“, sagte Kaya glücklich und drückte auch Frau Ohlkamp an sich, die die Umarmung seufzend erwiderte. Kaya ließ wieder von ihr ab. Frau Ohlkamp unterdrückte das Lächeln.

 

„So, genug jetzt. Jetzt wird erst mal gegessen, hörst du?“, ermahnte sie Kaya streng, und Kaya setzte sich sofort und machte sich über das Omelette her, was Frau Ohlkamp für sie ebenfalls gebracht hatte.

 

„Du willst ein Pferd unterstellen?“, fragte ihr Vater direkt, denn er schien gelauscht zu haben. Langsam hob sich Kayas Blick ertappt.

 

„Mhm“, machte sie nur.

 

„Weiß er das?“, wollte er direkt wissen, sehr ernst, mit einem Blick, der ihrer Mutter Konkurrenz machen konnte.

 

„Ja“, log sie kauend, ohne ihn anzusehen.

 

„Wirklich?“, wollte ihr Vater ziemlich unbeeindruckt wissen.

 

„Ja?“, wiederholte sie, mit weniger Nachdruck.

 

„Du bist auf dem Gestüt nicht willkommen, aber ein Pferd lässt er dich mitnehmen und unterstellen?“, erkundigte er sich glatt bei ihr, während Peter das Gespräch gespannt verfolgte.

 

„Ja?“, wiederholte sie kleinlaut.

 

„Du wirst das Pferd stehlen?“, schloss er schließlich aus ihren Worten und trank ein Schluck Wasser, ohne sie aus dem Blick zulassen, und sie seufzte auf.

 

„Ja“, bestätigte sie zerknirscht.

 

„Dann können wir direkt gucken, ob man mit dir Pferde stehlen kann, hm?“, bemerkte Peter neben Oliver und stieß diesem prüfend in die Seite. Oliver sah ihn schockiert an.

 

„Wir werden kein Pferd stehlen“, entfuhr es ihm gepresst.

 

„Du musst überhaupt gar nichts tun!“, beschwerte sich Kaya schlecht gelaunt. Und Oliver schenkte ihr einen eindeutigen Blick.

 

„Weil ich nicht dein Vater bin, meinen Mund halten soll, und Vivian darf kein Wort erfahren?“, vermutete er bitter, wiederholte ihre Worte, und Kaya spürte, wie sie rot wurde. „Kaya, du darfst kein Pferd stehlen“, schloss er leiser.

 

„Er will es umbringen! Es ist nicht mal krank!“, erwiderte sie gepresst. „Wenn du mein Vater wärst, dann würdest du mich unterstützen!“, entfuhr es ihr unbedacht, und er lächelte freudlos.

 

„Du kannst mich nicht erpressen, Kaya“, sagte er lediglich.

 

„Ich dachte, du kannst deinen Vater nicht leiden, und wir sind hier, um zu sehen, dass er deine Tochter gut behandelt, Oliver?“, merkte Peter gelassen an. Oliver wirkte gereizt, als er Peter ansah. Und er wirkte ertappt. Kaya war mäßig überrascht.

„Wenn Kaya ein Pferd stehlen möchte, was sonst ohne Grund umgebracht wird, dann sollte man ihr helfen, oder nicht?“, schlug er jetzt achselzuckend vor, und Oliver schüttelte fassungslos den Kopf.

 

„Ich werde kein Pferd vom Gestüt meines Vaters stehlen! Bist du von allen guten Geistern verlassen, Peter? Wir werden in unserem Urlaub noch verhaftet werden!“, knurrte er praktisch.

 

„Er wird es nicht merken. Der Tierarzt ist auf meiner Seite!“, versprach sie leise.

 

Ihr Vater sah sie wieder an. „Dr. Schmidt ist auf der Seite deines Großvaters. Auf keiner anderen, Kaya, täusch dich da nicht. Und ich verbiete dir, ein Pferd zu stehlen, und die Gutgläubigkeit dieser Leute hier auszunutzen!“, brachte er gepresst hervor.

 

„Dann verpetz mich doch!“, erwiderte sie mutiger, als sie es war. Sie witterte sein schlechtes Gewissen, und es gefiel ihr gut. „Ich werde es mit oder ohne deine Hilfe tun“, ergänzte sie trotzig und schnitt betont gleichmütig ihr Omelette. Sie sah Peters Lächeln aus den Augenwinkeln, und leider mochte sie Peter schon jetzt. Auch Oliver musterte Peter kopfschüttelnd, der ebenfalls unverfänglich aß.

 

„Unfassbar“, murmelte Oliver mit verschränkten Armen, ohne Kaya noch einmal anzusehen.

 

„Stur wie der Vater…“, murmelte Peter in sein Essen und erntete einen erneuten bösen Blick.

 

 

 

Neunzehntes Kapitel

– Mädchenkram –

 

Kaya lauschte Alinas Beschreibung. Alina hatte letztendlich doch Spaß an der Reise gefunden. Sie beschrieb, wie grün das Meer war, wie warm und wie nett all die Leute waren, die sie bisher kennengelernt hatte. Und irgendwie hatte Kaya es nicht über sich gebracht, Alina von Leonard zu erzählen. Es war wie die Sache mit Bastian. Als er versprochen hatte, er würde vorbei kommen. Irgendetwas hatte Kaya davon abgehalten, es Alina zu sagen.

 

Sie wusste nicht, was es war. War es die Distanz über das Telefon? Fühlte es sich falsch an und nicht persönlich genug? Oder war es wieder etwas, was sie selber nicht glauben konnte. Gut, bei Bastian hatte sie sich geirrt. Zwar war er zu ihr gekommen, allerdings nur, um Alina für sich zu gewinnen. Jetzt, bei Leonard sah es alles anders aus.

 

Aber… wieder mal war es wohl eine Sache, die nicht wirklich gut für sie ausgegangen war, oder? Sie hatte gehofft, Bastian käme zu ihr, weil er sie insgeheim mochte, aber es hatte sich herausgestellt, alles, was er mochte, war Alina. Und Leonard? Ihn hatte sie gar nicht auf ihrem Radar eingeordnet als jemanden, der sie vielleicht mochte. Und tat er ja nicht mal! Ja, er hatte sie geküsst, aber was hieß das bei Jungen schon? Sie war auch nicht Max Schwerdtfegers Freundin geworden. Und sie wollte eigentlich auch gar nicht mehr an Leonard denken oder an den blöden Kuss!

 

„Mhm“, machte Kaya wieder einmal, als Alina sich vergewisserte, ob sie noch in der Leitung war, ehe sie weiter schwärmte, von Delfinen und tropischen Inseln, der Hitze und ihrer Sommerbräune.

 

Kaya sah sich tatsächlich außerstande, Alina von dem Kuss zu erzählen. Sie schämte sich, dass es passiert war. Und er hatte ihr ja auch noch gesagt, sie solle es nicht weitererzählen. Als schäme er sich für sie, als wäre sie eine Peinlichkeit. Und das störte sie.

Aber eine Sache würde sie Alina erzählen müssen. Sie saß im gemähten Gras, direkt vor dem See der Ohlkamps, während sie ab und an einige übrig gebliebene lange Halme ausriss und ließ sie ins kühle Wasser gleiten ließ, wo sie träge auf der Oberfläche trieben, wie winzige, grüne Boote.

 

„Alina?“, sagte sie plötzlich, und Alina verstummte abrupt, denn wahrscheinlich erkannte sie an Kayas Stimme, dass es um etwas Ernstes ging.

 

„Was ist los?“, wollte Alina sofort wissen.

 

„Du, unsere Geschichte ist aufgeflogen“, rückte sie nun mit der Sprache heraus. Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.

 

„Was?“, entfuhr es Alina dann schockiert. „Wie meinst du das? Gott, Kaya, sitzt du bereits wieder im Zug nach Hause mit dem größten Hausarrest der Welt und lässt mich hier von Palmen und Delfinen erzählen?“, wollte sie panisch wissen, aber Kaya schüttelte den Kopf.

 

„Nein, ich bin noch hier“, versicherte sie Alina dann. „Aber… mein Vater hat es rausgefunden.“ Alina schwieg verblüfft. „Und er ist hier. Mit seinem Freund“, fuhr Kaya leiser fort.

 

„Ach du große Kacke“, flüsterte Alina völlig aufgelöst. „Und jetzt? Sagt er es deiner Mama?“, war Alinas erste große Sorge.

 

„Nein, ich… glaube nicht. Ich hoffe nicht!“, murmelte Kaya und schloss die Augen. Sie war noch immer angeschlagen von ihrem fiesen Kater. „Er sagt, er will hier ein Auge auf mich haben“, wiederholte sie Peters Worte.

 

„Oh?“ Alina klang so verwundert wie Kaya es gewesen war. „Und?“, fragte sie dann lauernd.

 

„Was und?“

 

„Wie ist er?“, flüsterte Alina fast. Und Kaya atmete aus, ehe sie ihrer besten Freundin ihren Vater im haarkleinsten Detail beschrieb. Das war etwas, was sie durchaus tun konnte. Und tatsächlich sprachen sie und Alina noch eine Stunde über Oliver. Und über Peter. Allerdings konnte Kaya über ihn nicht sonderlich viel sagen, außer dass sie mit ihm eher auf einer Wellenlänge lag, als mit Oliver, und das war schon seltsam genug. Vor allem, weil sie sich fest vornahm, ihn nicht ausstehen zu können.

 

Sie erzählte Alina nur vage vom Scheunenfest, erzählte von der kleinen Tochter des Bauern Voss, und dass sie sich gut mit ihr verstand, und ihr versprochen hatte, dass sie aufs Kaya gestohlenem Pferd reiten durfte.

 

Das brachte Kaya beinahe in Verlegenheit, denn Alina wusste natürlich noch nichts von diesen Plänen! Und Kaya musste ausholen. Weit ausholen. Sie erzählte von ihrem ungerechten Großvater, der plante, das Pferd von Dr. Schmidt töten zu lassen. Und sie erzählte, wie schrecklich sie es fand, und dass sie herausgefunden hatte, dass sie noch bis Dienstag Zeit hatte. Und deshalb hatte sie die Ohlkamps um Erlaubnis gefragt, und sie glaubte, Peter würde ihr unwahrscheinlicherweise sogar helfen.

 

Alina sagte eine ganze Weile gar nichts, und Kaya konnte praktisch hören, wie überrumpelt sie war.

 

„Du erlebst entschieden zu viel bei deinen Reiterferien“, sagte sie schließlich ungläubig. Und Kaya hatte ihr noch nicht einmal alles erzählt, dachte sie beschämt. „Verschweigst du mir sonst noch irgendetwas?“, wollte Alina scherzhaft wissen, und Kaya glaubte fast, Alina konnte Gedanken lesen.

 

„Äh… nein?“, erwiderte Kaya schnell, fast gekränkt.

 

„Ok!“, lenkte Alina eilig ein. „Es sollte nicht klingen, als-“

 

„-Alina?“, unterbrach Kaya sie dann doch, und kaute dabei nervös auf ihrem Fingernagel. Wieder einmal war ein idealer Moment gekommen. Und Kaya seufzte auf. Jetzt hatte sie Alina ohnehin schon alles erzählt. Sie konnte einfach kein Geheimnis vor Alina behalten. Nicht gut zumindest. Es sei denn, es ging um Bastian, denn da war Alina erstaunlich eifersüchtig, obwohl es keinen Grund dafür gab. „Da ist noch eine Sache“, begann Kaya unsicher, und Alina war mucksmäuschenstill geworden, lauschte gespannt, und Kaya atmete noch einmal aus, schämte sich schon wieder und spürte tatsächlich die Hitze ihrer Wangen. „Gestern, da… auf dem Scheunenfest…“, fuhr sie fort, und sie hörte Alinas Atem.

 

„Ja?“, warf diese vorsichtig ein.

 

„Du erinnerst dich an den Reitlehrer von dem ich erzählt habe?“

 

„Tom?“, riet Alina sofort, mit unverhohlener Freude in der Stimme, und Kayas Mundwinkel sanken. Ja, von ihm hatte sie definitiv nur Positives erzählt.

 

„Nein“, widersprach sie grimmig, „nicht Tom. Tom hat eine Freundin. Marie“, ergänzte sie den Namen verächtlicher als sie vorgehabt hatte. „Nein, ich meine… den anderen Reitlehrer.“

 

„Den Arsch?“, wollte Alina dann mit gewisser atemloser Verzögerung von ihr wissen, und Kaya nickte stumm.

 

„Ja“, bestätigte sie missmutig. So hatte sie ihn wohl überwiegend in ihren Gesprächen genannt – und tat es noch. Und Alina schwieg wieder. Kaya fasste sich ein Herz und sagte es einfach. „Er hat mich geküsst!“ Und nichts passierte. Alina sagte gar nichts. „Ali-“

 

„-Was?!“, schrie Alina praktisch ins Handy, und Kaya zuckte zusammen. „Oh mein Gott, Kaya! Ich fass es nicht! Ernsthaft?“ Aber bevor Kaya antworten konnte, wurde Alina sachlich. „Wie sieht er aus? Jedes Detail, Kaya! Jedes!“, warnte ihre beste Freundin sie, und Kaya war so viel Aufmerksamkeit nicht wirklich gewöhnt. Sie hatte nie irgendwelche Jungs-Geschichten zu erzählen, aber Alina hing an ihren Worten.

 

„Er ist… älter als ich?“, begann Kaya unsicher, und Alina hakte sofort nach.

 

„Wie viel älter?“

 

„Zwei Jahre älter“, sagte Kaya sofort. „Also, nicht wirklich. Er ist neunzehn, und ich werde ja achtzehn, also-“


„-uh! Neunzehn! Kaya, das ist aufregend!“, unterbrach Alina sie schwärmerisch. „Ist er größer als du?“, bohrte sie ungeduldig weiter.

 

„Ja“, entgegnete Kaya fast gereizt. „Bestimmt einen Kopf oder so.“

 

„Das ist gut“, bemerkte Alina, obwohl Kaya nicht genau wusste, wofür es gut sein sollte. „Haarfarbe? Mein Gott, Kaya, erzähl doch endlich!“

 

Kaya würde ja erzählen, wenn Alina sie mal ausreden lassen würde! „Er ist blond“, fuhr Kaya fort, aber Alina unterbrach sie schon wieder.

 

„Blond-blond oder richtig blond?“, stellte sie eine unfassbar dumme Frage.

 

„Was?“ Kaya war ehrlich überfordert.

 

„Blond, wie Bastian blond ist oder blond-richtig-blond?“ Kaya atmete überfordert aus. Bastian war eher dunkelblond.

 

„Nein, blond-blond?“, wiederholte sie das lächerliche Wort. So wie ihre Haare blond waren. Etwas heller, vielleicht? Sie war sich nicht mal mehr sicher.

 

„Frisur?“, kam die nächste einsilbige Frage.

 

„Alina, ich-“

 

„-Kaya, antworte einfach!“ Alina klang regelrecht verzweifelt.

 

„Längere Haare, mein Gott.“

 

„Wie wer? Wie Jared Leto?“, wollte sie ungnädig wissen. „Wie Legolas?“ Sie schien nicht zufrieden zu sein, mit Kayas Erzählkunst, und Kaya atmete genervt aus.

 

„Nein. Eher wie Aragorn“, blieb sie bei der Herr der Ringe Referenz.

 

„Oh“, murmelte Alina interessiert. „Die Länge geht noch“, bestätigte sie dann gönnerhaft. Kaya verdrehte die Augen.

 

„Welche Augenfarbe?“

 

„Ich-“ Sie wollte sagen, dass sie es nicht wusste, aber das stimmte nicht. „Grün“, schloss sie schließlich, und erinnerte sich wieder an seinen unheimlichen Blick aus seinen Augen.

 

„Und sieht er gut aus?“, fragte Alina schließlich, und Kaya wusste es nicht.

 

„Ich weiß es nicht“, sagte sie also wahrheitsgetreu und erntete einen ungläubigen Laut von Alina.

 

„Du weißt es nicht? Boah Kaya! Manchmal, da könnte ich dich-! Hat er Warzen im Gesicht? Ist er dick? Stinken seine Füße?“ Kaya musste lachen, und wünschte aber, er hätte Warzen im Gesicht. Dann wäre er nicht halb so arrogant.

 

„Er sieht gut aus“, bestätigte Kaya dann lachend. Erleichterung überkam sie, und das schlechte Gefühl, was sie wegen ihm hatte, wurde immer kleiner. Als wäre es nicht schlimm. Entspannt legte sie sich zurück ins kühle Gras. „Aber er ist ein Arsch“, schloss sie grinsend.

 

„Was? Warum?“ Alina wurde ernster.

 

„Weil er der böse Reitlehrer ist, und weil er – keine Ahnung – weil er mir nach dem Kuss gesagt hat, es wäre ein Fehler, und ich soll es keinem sagen“, räumte sie beleidigt ein. Alina schwieg einen Moment.

 

„Weil dein Großvater ihn entlassen könnte?“, schloss sie fast messerscharf, und es war etwas über das Kaya nicht nachgedacht hatte.

 

„Was? Wieso sollte das-?“

 

„-na, weil du eine Reitschülerin bist? Und er ist dein Lehrer? Gott, wie aufregend!“, rief Alina begeistert aus. „Und außerdem bist du die Enkelin seines Chefs!“ Kaya verdrehte im Gras wieder die Augen.

 

„Ich glaube nicht, dass es ihm darum geht, Alina“, wiegelte sie ihre Worte ab.

 

„Ach nein? Denkst du nicht, dass ein neunzehnjähriger Mann weiß, ob er jemanden küssen will, oder nicht? Und denkst du nicht, dass er denkt, du hättest Angst und würdest sofort zu deinem Opa rennen?“ Lauernd wartete sie.

 

„Opa?“, wiederholte Kaya grinsend das furchtbare Wort, aber Alina jaulte praktisch auf vor Ungeduld.

 

„Komm schon, Kaya! Das ist romantisch! Und aufregend!“

 

„Nein. Es war ein blöder Fehler. Und ich war traurig und sauer, weil Tom eine Freundin hat“, schloss sie dann. Und er war kein Mann. Er war der blöde Reitlehrer, den sie nicht leiden konnte.

 

„Erzähl von dem Kuss!“, verlangte Alina schwärmerisch.

 

„Alina!“, beschwerte sich Kaya mit beschämtem Grinsen, aber Alina widersprach ihr sofort.

 

„Oh nein! Du erzählst mir alles!“

 

Und während Kaya stockend erzählte, kam ihr unterbewusst der Gedanke, dass sich Alina nur deshalb so brennend interessierte und begeistert war, weil es bedeutete, dass Kaya ihr nicht Bastian streitig machen würde, so abwegig das auch war. Aber Kaya hütete sich davor, Alina zu fragen.

 

~*~

 

Er sah sie von weitem. Und er hatte absolut keine Lust. Deshalb hatte er seine Sachen auch gepackt, denn er konnte sich vorstellen, dass sie reden wollte. Er hasste sich manchmal. Er hasste sich dafür, dass er dumme Entscheidungen traf, die er immer nur bereute. Und er hasste, dass er sich nicht zusammenreißen konnte.

Das dämliche Taxi sollte endlich kommen.

 

Missmutig hockte er auf dem Gatterzaun, und fast war es angenehm, keine Reithose zu tragen, stellte er fest. Sobald man etwas zu oft tat, machte es keinen Spaß mehr. Und er hatte definitiv schon eine Woche zu lang, unfähige Mädchen unterrichtet.

 

„Leo“, sagte sie seinen Namen vorwurfsvoll. Er hob den Blick ausdruckslos zu ihrem Gesicht. Sie erwartete hoffentlich nicht, dass er antwortete. „Willst du dich eigentlich nicht entschuldigen?“, wollte sie beleidigt wissen, und er hob die Augenbraue.

 

„Weswegen?“, fragte er sie tatsächlich, und ihr Blick wurde noch finsterer.

 

„Tom und ich-“

 

„-Tom und du gehen mir am Arsch vorbei“, informierte er sie mit einem freudlosen Lächeln, was sie tatsächlich bestürzte. Sie wirkte verschlossen.

 

„Das ist nicht fair“, sagte sie dann. „Wir müssen zusammenhalten, wenn-“

 

„-Vanessa, nerv irgendwen anders mit deiner Meinung, ok?“, unterbrach er sie und wandte den Blick ab. Sie wirkte persönlich verletzt. Hätte er sie doch nie angerührt! Hatte sie nicht einen Freund? Konnte sie den nicht nerven? Was wollte sie von ihm?

 

„Du bist so ein Scheusal!“, fauchte sie ihn an. „Wieso gebe ich mir überhaupt die Mühe?“

 

„Ich weiß es nicht, Vanessa, ehrlich!“, bestätigte er abschätzend. „Lass mich in Ruhe, ja?“

 

„Ich hoffe, deine Arroganz bricht dir das Genick, Mistkerl!“, fuhr sie ihn tödlich beleidigt an. Sie stolzierte davon, und so viel Drama auf einmal hatte er noch nicht erlebt. Er schüttelte ungläubig den Kopf, während er ihr nachblickte. Aber er war verdammt dankbar, dass die alte Hexe gestern Abend nicht mehr da gewesen war, als….

 

Er schüttelte wieder den Kopf. Fast war er von sich selber schockiert. Klar, er flirtete mit den dummen Mädchen, die er unterrichtete. Denn es war leichter sie anzuschreien, wenn sie es ihm nicht übelnahmen. Und es machte ihm wenig, ab und zu mal was zu riskieren und die eine oder andere zu küssen. Es war jedes Mal dumm, und er bereute es, aber das gestern…! Das war einfach nur richtig dämlich von ihm gewesen!

 

Was hatte er sich gedacht? Er hatte sich gedacht, dass er selbst dieses Mädchen haben könnte, wenn er wollte. Selbst eine, die ihn offensichtlich verabscheute. Gerade so ein Mädchen! Und es war fast zu einfach gewesen. Keine Herausforderung für ihn. Sie sah nicht mal gut aus, war einfach nur ein dummes, kleines, unerfahrenes Mädchen gewesen.

Aber wenn sie zum Alten rannte, dann wäre es garantiert vorbei mit dem leichten Leben.

Und das war sein blöder Fehler gewesen.

 

Das Taxi fuhr endlich auf den Hof. Er sprang vom Gatter, schulterte seine Tasche und war froh, für zwei Tage wegzukommen. Er war heute mit Freunden in der Stadt verabredet. Und endlich würde er es wieder mit richtigen Mädchen zu tun haben. Nicht mit diesen Kindergartenkindern, die ihm zu Füßen lagen. Deshalb war er auch nicht wirklich besorgt. Er nahm an, mit seiner Aktion hatte er höchstwahrscheinlich nur ein weiteres Herz gewonnen.

 

Alle Mädchen waren gleich. Gleich dumm.

 

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