Kapitel
Kapitel 1 , Kapitel 2 , Kapitel 3 , Kapitel 4 , Kapitel 5 , Kapitel 6 , Kapitel 7 , Kapitel 8 ,
Kapitel 9 , Kapitel 10 , Kapitel 11 , Kapitel 12 , Kapitel 13 , Kapitel 14 , Kapitel 15 , Kapitel 16 , Kapitel 17 , Kapitel 18
Prologue
Die beiden Männer hatten sie entdeckt. Sie konnte sich
nicht bewegen. Sie starrte sie an. Der Bär war längst ihren Fingern entglitten
und auf den Boden gefallen. Ihre Zehen waren eiskalt, und sie wartete darauf,
dass Mrs Fabian aufwachte.
„Es wird Zeit“, sagte der eine Mann jetzt, und ihr Atem
beschleunigte sich sofort. Denn er sah in ihre Richtung. Alles war dunkel. Die
Männer hatten die Lampen zerschlagen, hatten Tische und Regale umgeworfen, und
sie wusste nicht warum. Sie versuchte, sich an Reime zu erinnern, Lieder, die Mrs Fabian ihnen beigebracht hatte, damit sie nicht weinen
würde.
Das lernte sie hier. Nicht weinen, sonst würden die
Paare keine Kinder adoptieren. Keiner wollte ein weinendes Kind.
„Bist du dir sicher, dass wir sie umbringen sollen?“,
fragte der andere Mann jetzt. Sie sahen nicht älter aus als Kenny der
Botenjunge, dachte sie. Waren sie auch Boten? Wieso hatten sie alles kaputt
gemacht, und wieso hatten sie Mrs Fabian in den Hals
gebissen? Wieso stand sie nicht auf?
Aber Joanna wusste, dass, wenn Mrs
Fabian nicht aufstand… dann würde sie auch nicht mehr aufstehen.
„Geh nach draußen, halte Wache!“, befahl der andere
jetzt wütend. Der erste Mann nickte nur, und der Blick, den er ihr zuwarf, ließ
sie zittern. Seine Augen schienen zu leuchten. Wie die Augen einer Katze. Sie
hielt die Luft an und kniff die Augen fest zusammen.
Einer der Männer ging. Sie wartete und hätte am liebsten
den Bären wieder aufgehoben.
„Boys are rotten, made out of cotton…“,
flüsterte sie, die Stimme fest, so dass sie nicht weinen musste. Paare
adoptierten keine weinenden Kinder, hörte sie Mrs
Fabian streng in ihrem Kopf sagen. Sie spürte einen kühlen Wind um ihr Gesicht,
kniff die Augen aber nur fester zusammen. Erst als sie das schmerzhafte Stöhnen
hörte, flogen ihre Lider wieder auf.
~*~
Er hatte den Pflock kommen sehen, noch ehe er sein Herz
durchbohrte. Unter Anstrengung zog er ihn aus seiner Brust und warf ihn achtlos
zu Boden.
„Verzeih, ich habe dich gar nicht erkannt, Cilian“, log
die hochgewachsene Gestalt über ihm, während er noch vor dem Kind kniete, was
zitterte vor Angst. Er konnte ihre Angst riechen. Neben allem anderem….
„Wirklich nicht?“, erkundigte er sich gepresst und
verharrte weiterhin vor dem Kind.
„Wer sich mit der schwächsten Allianz verbindet, hat nur
Nachteile davon“, unterrichtete ihn sein gegenüber und kniete sich ebenfalls
vor das Kind. „Hallo, Joanna. Mein Name ist Liam“, stellte er sich vor, und das
Mädchen starrte ihn an. Mit großen blauen Augen.
Ihr Duft traf sehr plötzlich Cilians
Nase, und er musste sich bemühen, sie nicht in Stücke zu reißen.
Er hatte viele Kinder getötet, aber keines hatte solch
einen Duft verströmt, keines war so gewesen wie dieses.
Waisenkinder waren anders. Kinder riefen nach ihrer
Mutter, weinten und flehten, solange sie es konnten. Aber Waisenkinder hatten
keine Mutter nach der sie rufen konnten.
Sie erwarteten keine Hilfe. Von niemandem. Liam neben
ihm griff nach dem Teddybären, den das Mädchen verloren hatte und reichte ihn
ihr. Langsam griff sie nach dem Stofftier und zog ihn dann heftig an ihre
Brust.
„Hab keine Angst“, beruhigte Liam sie, und seine Stimme
war in die Hypnose gerutscht.
„Was tust du?“, knurrte Cilian ungehalten, aber Liam
richtete den Blick auf ihn.
„Was denkst du? Ich möchte nicht, dass sie schreit und
wir heute Abend ein kleines Waisenkinder-Massaker anrichten! Wo ist dein
Handlanger?“, fügte er kalt hinzu, und Cilian atmete aus.
„Drake ist draußen, hält Wache. Und macht dabei einen
erdenklich schlechten Job“, fügte er mit einem eindeutigen Blick auf Liam
hinzu. Dieser lächelte fast, aber Cilian sah, dass sein Lächeln seinen Unmut
nicht zu verbergen mochte.
„Du denkst, ein Vampir
könnte mich aufhalten?“ Er betonte das Wort wie etwas Lächerliches. Cilian
atmete gereizt aus.
„Ich habe nicht wirklich mit deiner Erscheinung gerechnet“, gab er also zurück.
Liam erhob sich in einer fließenden Bewegung. Die langen Haare fielen im Zopf
seinen Rücken hinab. Sie waren länger geworden, stellte Cilian am Rande fest.
Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Es war fünf Jahre her.
„Nein? Du dachtest, du kommst hier her und hast leichtes
Spiel damit, das Kind umzubringen?“, fragte er knapp, und natürlich hätte
Cilian es besser wissen müssen.
„Wenn sie überlebt, dann haben wir einen weiteren Jäger,
um den wir uns kümmern müssen!“, beschwerte er sich. Aber Liam schüttelte nur
nachsichtig den Kopf.
„Ich habe dir erklärt, es hat mehr mit dem Kind auf sich. Ein Jäger zu werden,
ist nur eine der möglichen Optionen“, erklärte Liam gepresst.
„Ja? Ich weiß, aber wie viele kennst du, die kein Jäger
geworden sind?“, wollte er wissen, und Liam schien kurz nachzudenken.
„Natürlich, wenn die verdammten Druiden schneller sind
als wir, dann hat das Kind keine Chance, wird dem Ritual unterzogen, sobald es
das Alter erreicht hat, und wir haben einen weiteren Job. Aber…“, begann er
ruhiger und fesselte Cilian mit seinem Blick. „… du glaubst ja gar nicht, wie
es sich anfühlt ihre Macht zu besitzen!“, flüsterte er ehrfürchtig. Cilian
schluckte schwer und schüttelte dann den Kopf.
„Nein“, sagte er nur. „Sie würden uns keinen Tag lang in
Ruhe lassen. Sie würden uns jagen, sobald das Wort die Runde macht“, erklärte
er bitter.
„Wer? Die drei Jäger, die es noch gibt?“
„Nein, Liam!“, fuhr er ihn an. „Ich spreche von den
Clans! Von den anderen. Denkst du, sie wollen es nicht? Denkst du, es gibt
nicht einen einzigen von uns, der davon träumt über den anderen zu stehen? Eine
Macht zu haben, die alles in den Schatten stellt?“
„Sie lassen uns schon jetzt nicht in Ruhe, Cilian.
Denkst du etwa, deine kleine Allianz wird sich nicht irgendwann gegen dich
richten? Ich habe gesagt, du hättest bei mir bleiben sollen. All dein Unglück
legst du dir selber auf.“ Cilians Ausdruck wurde
finster.
„Lieber den Zorn aller Clans als unter deinem Befehl zu
handeln, Bruder“, erklärte er kalt, und Liam lächelte wieder ein gefährliches
Lächeln.
„Ich bitte dich. Ich bin froh, dass du weg bist. Ich bin
auch froh, wenn du zu Staub zerfällst, aber bis dahin… lässt du die Finger von
dem Kind.“ Cilian wusste, Liams Worte waren ernst gemeint. Sein Blick senkte
sich wieder auf das Kind.
„Und wieso tust du es jetzt nicht? Trink sie leer“,
befahl er nur. Liam schüttelte sachte den Kopf.
„Sie ist noch nicht reif. Das, was du jetzt riechen
kannst, ist nur eine Ahnung von ihrer Stärke. Sie ist wie ein guter Wein. Sie
reift mit dem Alter. Und ihre Macht stirbt, wenn sie es tut“, erklärte er
lächelnd. Cilian schüttelte den Kopf.
„Du kannst sie nicht versteckt halten. Du kannst sie
nicht mitnehmen. Selbst deine Männer würden einen Weg finden, sie zu holen“,
gab er zurück, und Liam nickte wissend.
„Ich bin nicht hier her gekommen, um zu essen, Cilian.
Das Kind wird adoptiert.“ Cilian starrte ihn an.
„Und wer soll der glückliche sein, der mit dieser Qual“,
er warf einen entsprechenden Blick auf das Mädchen, „leben muss, und sie
niemals leer trinken darf?“ Es war ein dämliches Unterfangen.
„Es soll nicht deine Sorge sein“, erklärte Liam ruhig
und betrachtete fast versonnen das junge Mädchen. Er wusste, sie war jetzt
sechs Jahre alt. Cilian schloss gereizt die Augen.
„Liam, du kannst nicht garantieren, dass sie überlebt.
Du kannst nicht garantieren, dass ein Druide sie nicht doch noch findet und zum
Jäger macht!“, fuhr er ihn zornig an. „Was ist dein Plan? Du willst sie wachsen
lassen und benutzen, wenn es soweit ist? Sie wird zu stark werden!“ Cilian fuhr
sich durch die blonden Haare, langsam am Ende seiner Beherrschung und rückte von
dem Kind ab, was immer noch hypnotisiert ins Leere blickte.
„Du solltest gehen. Ich kümmere mich um das Mädchen“,
erwiderte sein Bruder, ohne auch nur eine Frage zu beantworten.
„Und was dann? Was, wenn es soweit ist?“ Was passiert in
dreizehn Jahren?“ Cilian würde sich am liebsten auf ihn stürzen, würde ihn am
liebsten selber umbringen.
„In dreizehn Jahren werde ich sie mir holen kommen. Du
bist dann willkommen, dich wieder dem mächtigsten Clan anzuschließen, Cilian“,
entgegnete er mit einem überlegenen Lächeln. „Und jetzt rate ich dir, zu
verschwinden. Die Polizei ist auf ihrem Weg.“ Cilian schüttelte ungläubig den
Kopf.
„Du hast die Polizei gerufen?“
„Natürlich. Den Freund und Helfer“, erklärte er
lächelnd.
„Wo soll sie hin? Wenn sie ein Jäger wird, verspreche
ich dir, dass ich persönlich vor deiner Tür stehen werde, welches Schloss du
auch immer bewohnst, wie hoch der Berg, auf dem du dich versteckst, auch sein
mag!“, knurrte er zornig.
„Ist das so? Ich weiß, du vertraust keinem, aber es geht
dich ab hier nichts mehr an“, beendete er das Gespräch. Aber Cilian schüttelte
den Kopf.
„Wo soll sie hin? Sag es mir!“, forderte er gepresst. Und Liam lächelte wieder.
„Dahin, wo die Wölfe wohnen“, gab er zufrieden zurück.
„Bist du verrückt geworden?“, flüsterte Cilian jetzt und
wich zurück.
„Die Wölfe werden sie genauso lebendig wollen wie wir.“
„Was hätten die Wölfe davon?“ Und Cilian wusste, es gab
etwas wichtiges, was sein Bruder ihm verschwieg. Es gab noch eine weitere
Komponente, von der er keine Ahnung hatte. Er wusste selber nur, was Liam
willig war, preiszugeben – und das schien zu wenig zu sein!
„Unsere kleine Unterhaltung ist hiermit beendet. Ich
schätze, ich sehe dich in dreizehn Jahren, Bruder.“ Er betonte dieses Wort
abfällig, als wäre es eine Lüge.
„Liam!“, warnte ihn Cilian jetzt, aber Liam
hypnotisierte bereits das Mädchen, löschte die Erinnerung und erhob sich
schließlich. Er hörte das Summen der Motoren, als eine ganze Kolonne an
Fahrzeugen die Straße passierte.
„Vergiss das Mädchen. Ansonsten haben wir ein Problem“,
erklärte er offen. Mit einem Knurren wollte Cilian nach vorne stürzen, aber
Liam war verschwunden, ehe er die Luft zu fassen bekam, wo er gestanden hatte.
Die Sirenen dröhnten durch die Nacht, und das rotierende Licht der Polizeiautos
erfüllte das Zimmer auf gruselige Weise. Sie waren bereits im Gebäude und
stürzten die Treppe hinauf. Mit einem letzten Blick auf das Kind, wandte er
sich ab. Sie kam langsam wieder zu sich, und er wollte bestimmt nicht, dass sie
sich sein Gesicht einprägen würde.
Mit einem unterdrückten Fluch war er in der Sekunde
verschwunden, als die Beamten die Tür ins Zimmer auftraten.
Kapitel 1
~
Death is Cunning ~
Ihre
Augen lasen die Schlagzeilen abwesend und blieben schließlich an den
Wetterprognosen hängen. In der Cafeteria war es wie immer laut. Zu laut, als
dass man wirklich einen Artikel in Ruhe hätte lesen können. Ihr Finger glitt
gelangweilt über das kühle Glas des iPads, und neben
ihr las Blake mit.
„Wieder
ein Zugunglück“, hörte sie Blake sagen. Seit Wochen, so kam es ihr vor, häuften
sich die Katastrophen. Nichts ungewöhnliches, natürlich. Es kam häufiger vor,
dass Züge entgleisten, dass Autos ohne erkennbares Glatteis plötzlich auf die
andere Fahrbahn abkamen oder dass Camper im Wald von den Bären angegriffen
wurden.
Aber im
Moment machten ihr die Zeitungen und Nachrichten nur schlechte Laune.
„Ja, fast
alle sind umgekommen“, las sie die Hauptaussage des Berichts vor. Es war ein
Mitternachtszug in Richtung Vermont gewesen. Die Strecke war noch einen Tag
vorher ohne Probleme befahren worden, aber hier ist der Zug auf der Hälfte der
Strecke um vier Uhr nachts entgleist. Die Ursachen seien unklar. Sie schüttelte
langsam den Kopf.
„Es ist
furchtbar. Ich begreife nicht, wie viele Katastrophen in den letzten Monaten
vorgefallen sind“, erwiderte sie. Blake hob den Blick nicht, seufzte laut und
schien wieder abwesend zu sein.
Ja. Blake
war die meiste Zeit über abwesend. Er war nicht unbedingt ein Mann der vielen
Worte oder der sozialen Kontakte. Er war ein Mann der Bücher. Das konnte man
wohl so behaupten. Er zog sein riesiges Smartphone aus seiner Tasche und begann
selber im Internet zu surfen. Sie wusste nicht genau, was er tat, aber er
schien mächtig beschäftigt zu sein.
„Der
Kreis schließt sich“, sagte er plötzlich, und so kryptisch seine Worte waren,
so wenig Sinn machten sie. Er hob gedankenschwer den Blick. „Die Unglücke und
Verbrechen ziehen einen engeren Kreis im Norden“, fügte er hinzu.
„Ich
glaube nicht, dass Naturkatastrophen und Unfälle Kreise enger ziehen können,
Blake. Bist du wieder paranoid?“, erkundigte sie sich mit einem feinen Lächeln,
aber natürlich erwiderte er es nicht. Blake war schließlich auch Verfechter der
Weltuntergangstheorie. Sie ließ den Blick aus den langen Fenstern schweifen,
als klar war, dass Blake nicht mehr antworten würde.
Der
Herbst kam langsam, und die Tage wurden kürzer und dunkler draußen. Sie hatte
das Gefühl, je näher der Winter rückte, umso gefährlicher war es draußen. Aber
Montana war immer gefährlich, wenn man sich an den falschen Stellen aufhielt.
Vor allem die Verrückten, die ihre rituellen Trips in den Yellowstone
Park unternahmen brauchten sich nicht wundern, wenn sie von Bären oder Wölfen
angegriffen wurden.
Sie hatte
nie begreifen können, wie man sich freiwillig eine Campingausrüstung in Montana
kaufen konnte. Da würde sie lieber im Central Park campen gehen. In der
finstersten Nacht, in der schlimmsten Ecke. Three Forks in Gallatin County, Montana, war bestimmt nicht der
aufregendste Ort, bedachte man, dass die Küste endlos weit weg war.
Aber für
alle die, die Berge und Wälder mochten, war hier der ideale Ort, um sich alle
diese Träume zu erfüllen.
„Schon
aufgeregt?“, fragte sie schließlich, um das Thema zu wechseln. Blake hob
irritiert den Blick.
„Weswegen?“ Seine dunklen Augen verengten sich.
„Wegen
unserem neuen Kurs!“, erklärte sie jetzt, und er schien zu begreifen. Er
schüttelte nur den Kopf.
„Ich
werde ihn mir nur ansehen. Mehr nicht.“
Lucy
hatte sie alle angemeldet. Es war kein besonderer Kurs. Ein bisschen englische
Literaturgeschichte, was sie nicht weiter tragisch fand. Und Blake, von dem sie
überzeugt war, dass er seit einem Jahr in Lucy verliebt war, kam natürlich mit.
Und ein
neuer Professor leitete ihn. Sie war sehr gespannt.
Die
Lautstärke in der Cafeteria nahm zu. Sie hob den Blick, und wünschte sich, sie
hätte es nicht getan. Greyson Adler stolzierte zielstrebig auf seinen Tisch zu.
Die Sportler hatten ihren Stammtisch. Wahrscheinlich konnten sie so etwas nur
beanspruchen, weil sie die Muskeln hatten, ihn zu verteidigen, oder sonst
etwas.
Auch
Blake hatte ihn bemerkt.
„Ich habe
dir gesagt, du sollst dich bei der Schulleitung beschweren“, begann er wieder
das alte Gespräch. Sie blickte missmutig zurück auf ihr iPad,
ohne etwas zu lesen.
Sie hatte
keine Lust, sich jetzt damit zu beschäftigen. Greyson Adler terrorisierte sie,
seitdem sie am College hier angefangen hatte. Und er terrorisierte sie auf sehr
subtile Weise. Denn sie würde es nie beweisen können, da sowieso alle auf
seiner verdammten Seite standen.
Und sie hatte Angst vor ihm. Nicht wirklich
Angst, denn sie wusste, er war dumm, aber er strahlte etwas aus, was sie nicht
zuordnen konnte, und das kam ihr gefährlich vor.
Alleine
schon die Art, wie er Menschen ansah. Als wären alle Menschen, die er nicht
leiden konnte Schuld an einem persönlichen Übel, dass ihm somit irgendwie
widerfuhr.
„Ich
kümmere mich darum“, gab sie bitter zurück. Sie ignorierte, dass sie gestern
die Mitteilung erhalten hatte, dass der Fachschaftsurlaub
in die Klausurenzeit der Literaturfakultät gelegt
worden war. Somit konnte die gesamte Fachschaft nicht mit.
Und so
etwas tat er andauernd! Absolut andauernd! Sie hatte sogar das Gefühl, dass er
in ihren Gebäudekomplex auf den Campus gezogen war, nur um sicher zu gehen,
dass die Literaturstudenten so wenig Spaß wie möglich hatten!
Die
dämlichen Sportler, Wirtschaftswissenschaftler, sogar die Linguistiker,
Pädagogen und Biochemiker konnten fahren und schienen alle auch noch einstimmig
abgestimmt zu haben. Und das war verwaltungstechnisch gesehen einfach
widerrechtlich!
„Und es
geht wieder los“, hörte sie Blake knurren, und sie hob irritiert den Blick. Sie
seufzte, als sie erkannte, was er meinte. Das war noch so ein Problem. Sie
wusste nicht, weshalb es immer ein Problem war, aber beide schienen ihre Gründe
zu haben.
„Hey
Libby“, begrüßte sie ihre Freundin, die seit einem Jahr zu ihrer Gruppe
gehörte, obwohl Blake immer gleich feindlich gesinnt war. Blake hob nur einen
düsteren Blick, seine dunklen Augen gereizt, und sein Mund angespannt
verschlossen. Sie sah, er hatte sich wohl nicht rasiert, denn dunkle Stoppeln
bahnten langsam ihren Weg um seine Kinnpartie.
Sie unterdrückte
ein Lächeln. Er sah wirklich aus, wie ein besonders schlecht gelaunter
italienischer Mafiosi. Das sagte sie ihm natürlich nicht, denn auch nur eine
Referenz bezüglich seiner italienischen Wurzeln zu machen, war verboten.
„Hey Jo,
Blake! Na, aufgeregt?“ Sie klang ein bisschen angespannt, aber sie war häufig
angespannt, wenn es darum ging einen weiteren Schein zu bestehen. Ihre Bluse
war ein Hauch zu eng. Das schien Libby auch zu wissen, aber zu ignorieren. Jo
wusste, Libby war sich sehr über ihr Aussehen bewusst, und schämte sich wohl
mehr, als dass sie stolz und zufrieden mit sich war.
„Ja, ich
weiß nicht, ob ich die Spannung deine Bluse ertrage“, murmelte Blake, ohne den
Blick vom Bildschirm seines Smartphones zu heben.
Libby setzte sich beleidigt neben sie und zupfte sofort am Bund ihrer Bluse.
„Ich bin
sicher, Lucy kommt gleich, und dann bessert sich deine verdammt anstrengende
Laune vielleicht“, gab sie bissig zurück, und Jo schloss kurz die Augen. Bitte
nicht schon wieder! Nicht wieder in der Cafeteria!
„Meine
verdammt anstrengende Laune?“, wiederholte er gepresst. „Wenn du nicht ständig
mit mir sprechen würdest, wäre meine Laune vielleicht auch besser, meinst du
nicht?“, knurrte er, und ehe Libby wütend werden würde, räusperte sich Jo.
„Hey,
Libby, hast du von dem Zugunglück in Vermont gehört?“ Libby ließ sich
tatsächlich ablenken.
„Ja,
Vermont! Der Kreis schließt sich!“, sagte auch sie mit großen Augen und einem
heftigen Nicken. Fast zuckten Jos Mundwinkel, während sie Blake einen knappen
Blick zuwarf. Dieser verdrehte bloß gereizt seine Augen, und Libby setzte einen
beleidigten Ausdruck auf.
„Was?“,
fragte sie sofort.
„Nichts,
gar nichts“, entgegnete Jo lächelnd.
Als Lucy
die Cafeteria betrat hob sich sofort Blakes Blick, wurde entspannter, und
eigentlich alle Jungen in der Cafeteria bekamen einen entspannten, gönnerhaften
Blick. Es mochte daran liegen, dass Lucy der selbstbewussteste Mensch war, den
Jo kannte, oder es mochte daran liegen, dass Lucy der schönste Mensch war, den
sie kannte. Ihre roten Haare glänzten im Neonlicht der Lampen und wippten
gottgegeben bei jedem grazilen Schritt, den Lucy tat. Ihre roten Locken endeten
knapp über ihrer wohlgeformten Hüfte, und die hellblauen Augen funkelten amüsiert
in die Runde. Sie hatte immer etwas Leichtes an sich, fand Jo, und sie war
unglaublich dankbar, dass sich zumindest Blakes Laune bessern würde.
„Guten
Morgen, Freunde“, begrüßte sie die kleine Runde. „Ich denke, es war eine gute
Entscheidung, diesen Kurs zu belegen“, erklärte sie verschwörerisch, setzte
sich und holte einen Apfel aus ihrer Tasche. „Uh… Greyson Adler ist wieder
einmal böse auf uns?“, vermutete sie belustigt, und als Jo den Blick zum
Sportlertisch umwandte, sah sie gerade noch, wie sich Greysons Blick abwandte.
Sie
seufzte schwer.
„Libby,
ich sehe, es wird mal wieder Zeit für eine Pilates-Stunde? Ich gebe heute Abend
einen Doppelkurs“, bot Lucy mit einem Blick auf Libbys Bluse an. Schockiert
öffnete sich Libbys Mund und fahrig zupften ihre Finger wieder am Bund ihrer
Bluse.
Jo warf
Libby einen mitleidigen Blick zu. „Oh, du könntest dich auch mal mehr bewesen, Jo!“, wandte sich Lucy jetzt an sie. „Ihr seid
solche Couchpotatoes“, ergänzte sie kopfschüttelnd.
„Blake, alles klar?“, fragte sie jetzt lächelnd, aber Blake brachte nie viele
Worte raus, wenn Lucy anwesend war. Es war ein Jammer mit anzusehen. Er nickte
lächelnd. „Sehr viel Bart“, merkte sie an. Jo nahm an, sie war jetzt fertig,
ihre Freunde zu verurteilen. Gleich wurde es auch schon Zeit für den Kurs.
„Wir
sollten mal losgehen. Ich will vorne sitzen“, erklärte Libby gedämpft. Ihre
Laune hatte sich merklich abgekühlt. Jo tat sie leid. Wirklich leid. Aber sie durfte sich einfach nicht von Blake
provozieren lassen. Und sie durfte sich nicht mit Lucy vergleichen. Das hatte
Jo auch schon längst aufgegeben. Genauso wie Pilates. Jo fragte sich abwesend,
ob alle Mädchen, die Lucys Kurs besuchten, heimlich planten, sie irgendwann
umzubringen, denn Jo hatte keine Lust mehr auf Pilates gehabt, nachdem sie
einmal mitgemacht hatte, und Lucy hatte zusehen müssen, wie sie mit
Leichtigkeit, nur als Dehnungsübung, in einen Spagat gesprungen war.
Und als
wäre es unglaubliches Pech, erhob sich auch Greyson Adler, als sie es taten.
Alles,
was mit ihm zu tun hatte, war immer unglaubliches Pech, und Jo beschloss, es
einfach zu ignorieren, als die Sportlertruppe lautstark redend hinter ihnen die
Cafeteria verließ.
~*~
„Oh mein
Gott…“, hauchte Libby tonlos neben ihr, während ihr Kopf knallrot anlief. So
rot wie ihre neue Bluse.
Sie
konnte ihr Grinsen kaum unterdrücken, während Libby tiefer in den Stuhl neben
ihr sank. Eine Reihe hinter ihr stupste Lucy sie an. Sie lehnte sich unauffällig
zurück, während Libby den Kopf ein weiteres Mal auf die Platte fallen ließ.
„Er hat
noch nicht mal den Mund aufgemacht, und Libby ist fertig mit den Nerven“,
flüsterte Lucy lächelnd.
„Es ist
auch äußerst günstig, dass wir nur zehn Leute oder so sind“, beschwerte sich
Blake, der es sich neben Lucy gemütlich gemacht hatte. Er sah sich missmutig
um. Wahrscheinlich war ihm gerade aufgegangen, dass dieses Seminar weiblich
dominiert wurde, und er, neben dem Dozenten, der einzige Mann war.
„Du
wolltest teilnehmen“, erinnerte sie ihn leise. Blake ruckte grimmig mit dem
Kopf und warf Lucy abwesend einen Blick zu.
Lucy sprach seit Wochen von diesem historischen Seminar. Als ihr Mund
ganz fusselig geworden war, hatte sie sich entschlossen, dass ein weiterer Schein
nicht schaden könnte, wenn er leicht verdient war.
Und sie
hoffte, dass dieses Fach keine großen Schwierigkeiten bereiten würde. Es war
Englisch. Es war Literatur. Kein Problem, nahm sie an.
Blake bot
hier einen unpassend lustigen Anblick. Die Farbe seiner Wahl war schwarz, und
damit passte er schon kaum in ihre kleine Gruppe an eifrigen, bunten
Literaturstudentinnen. Seine dunklen, schulterlangen Haare steckten relativ
ungebändigt in einem Zopf. Es hatte heute Morgen noch geregnet, weshalb die
dichten Wellen noch dichter schienen. Seine dunklen Augen sahen sich abweisend
im kleinen Hörsaal um. Seine natürliche italienische Bräune schwand langsam,
und er sah fast so aus, wie alle anderen auf dem College. Sie war nicht mehr
neidisch, weil er aussah, als käme er gerade von einem zweiwöchigen Urlaub in
der Karibik wieder. Nein, er wirkte ähnlich kränklich blass wie der gesamte
Rest, den neuen Dozenten eingeschlossen.
Der
Herbst war früh gekommen und hatte der Sonne all ihre
Wärme geraubt.
Sein
Blick blieb hin und wieder an Lucy hängen. Er musste auf sie stehen. Er musste
einfach! Es war so offensichtlich. Es blieb doch eigentlich keinem verborgen,
nur Lucy anscheinend schon.
Es war
auch ein unwahrscheinliches Paar. Blake war düster, zog sein Smartphone jedem
anderen Lebewesen, außer Lucy, vor, und Lucy war verglichen dazu ein
Sonnenschein.
Lucy
drehte belustigt eine lange Strähne um ihren Finger, während sie Libby
beobachtete, die sich auf ihrem Sitz unwohl hin und her bewegte. Ihre Haare
waren nicht gefärbt und strahlten im künstlichen Licht des Hörsaals in ihrer
ganzen roten Pracht. Dazu kam der dunkelgrüne, tief ausgeschnittene Pullover
besonders gut zur Geltung.
Sie war
sich sicher, jedes Mädchen im Hörsaal war sich Lucys Anwesenheit gewahr.
Und das Schöne
war, Lucy störte es nicht. Sie merkte nicht mal wie sie auf Leute wirkte.
„Oh… mein
Gott!“, stöhnte Libby wieder und richtete ihre Bluse zum zehnten Mal in den
letzten zehn Sekunden.
„Bitte,
reiß dich zusammen“, knurrte Blake von hinten, während er die Augen verdrehte,
weil auch der Rest der anwesenden Weiblichkeit im Hörsaal auf dem Rand der
Sitze saß.
„Eine
blöde, blöde Idee so weit vorne zu sitzen!“, murmelte Libby, während sie wieder
an ihrer Bluse zog. Jo erinnerte sich, wie sich Libby vor einer Woche noch
aufgeregt, dass sie einige Pfund zugenommen hatte, über Thanksgiving.
Vergeblich versuchte sie ein unbeteiligtes Gesicht aufzusetzen. „Vielleicht
sollten wir gehen?“, setzte sie hastig hinzu.
„Ich
denke, das ist ohnehin zu spät“, sagte Blake von hinten, und Jo schüttelte nur
den Kopf. Was machte sich Libby so einen Kopf?
Der
Dozent war fertig, die Tafel sauber zu wischen und wandte sich um.
Er sah
gut aus. Sehr gut, das gab sie zu. Auch sie konnte nicht anders, als seinen
Anblick in sich aufzunehmen. Und neben ihr zuckte Libby alleine schon dadurch
zusammen, dass er dem Hörsaal ein Lächeln schenkte. Sie hörte Blake unterdrückt
fluchen, und sie musste ihr Lachen hinter ihrer Hand verstecken.
„Wie alt
er wohl ist?“, hauchte Libby, und sie senkte den Blick, um nicht laut zu
lachen.
„Zu alt“,
hörte sie Blakes bittere Bemerkung. Sie konnte es selber nicht schätzen, aber
sie sie glaubte nicht, dass er so alt sein konnte.
„Dann
will ich mal die Anwesenheit prüfen. Allzu viel Aufmerksamkeit scheine ich
dieses Semester nicht zu bekommen.“ Die anwesenden Mädchen lachten höflich und
rutschten, so kam es ihr vor, auf ihren Sitzen noch weiter nach vorne.
Der Mann
griff sich die Liste vom Pult vorne. Seine Stimme war angenehm ruhig gewesen.
„Den einzigen
Mann werde ich wohl erraten können“, merkte er lächelnd an, und Lucy zuckte
wieder zusammen, als der Dozent zwinkerte. Sie konnte förmlich spüren, wie
Blake die Augen verdrehte.
„Bernard
Da Corte, nehme ich an?“ Jetzt entwich ihr
tatsächlich ein Lachen. Blake war plötzlich merklich still, und als sie sich
umwandte erkannte sie, dass seine abweisende Fassade wie weggewischt, und nur
noch Bestürzung in seinem Gesicht zu lesen war. Der Mann vorne hätte auch
Rumpelstilzchen Da Corte vorlesen können, so verstört
wirkte Blake.
„Blake.
Mein… mein zweiter Name sollte dort stehen. Blake Da Corte“,
bemerkte er kleinlaut, und sie nahm an, er schämte sich bereits jetzt. Einige
Mädchen lachten verhalten. So auch Lucy. Der Dozent machte sich lächelnd eine
Notiz.
„Italiener?“,
fragte er amüsiert, und Blake ruckte mit dem Kopf. Er musste seine Familie
jährlich zwanzig Mal nach Italien begleiten, weil eine seiner hundertdreißig
Cousinen heiratete, Kinder bekam, Geburtstag hatte oder sonst irgendwas. Und er
hasste es.
Und nicht
nur, weil seine Eltern geschieden waren, es ihren Familien in Italien aber
nicht gesagt hatten, sondern auch weil er kein Wort italienisch sprach und sich
weigerte überhaupt irgendeinen Duktus seiner Heimat anzunehmen. Er mochte nicht
mal Spaghetti.
„Ja“,
bestätigte er also grimmig, wie eh und je, und Lucy warf ihm einen mitleidigen
Blick zu.
„Beginnen
wir dann einfach von vorne. Joanna Clark?“ Ihr Name ging ihm leicht von den
Lippen, und sein Blick ruhte beinahe wohlwollend auf ihr, als sie die Hand in
die Höhe streckte. Libby sah sie von der Seite an.
„Auch
irgendeinen zweiten Namen, der bevorzugt wird, Miss Clark?“, erkundigte er
sich, den Stift in der Hand.
„Nein,
Sir“, gab sie zurück, und aus irgendeinem Grund fiel es ihr schwer zu sprechen.
Ihren zweiten Namen würde sie hier bestimmt nicht preisgeben, und Gott sei Dank
war er auch nicht in den Anmeldelisten des Colleges hinterlegt. Dafür hatte sie
gesorgt!
„Hat
jemand ein Problem damit, wenn ich ihn duze?“, fragte er schließlich, und sie
wusste, wer sich meldete.
„Für gewöhnlich werden wir gesiezt, Sir“, erwiderte Lucy schließlich.
„Ist das
so? Gut, Miss…?“ Er wartete höflich, damit Lucy ihren Nachnamen sagen konnte.
„Tucker“,
gab sie zurück. Sein Blick sank sehr kurz auf seine Liste zurück.
„Lucile
Tucker will, dass ich die Studenten sieze“, notierte er sich leise. Sie sah wie
sich Lucy zufrieden zurücklehnte und Libby verständnislos den Kopf schüttelte.
„Was tust
du?“, flüsterte Libby verständnislos.
„Höflichkeit sollte immer geboten sein“, gab Lucy nur zurück, und Jo verstand
nicht, weshalb sie Wert darauf legte.
„Weiter
im Text. Georgiana Leman?“ Sie verdrehte die Augen.
Königin Leman war also auch im Seminar? Dass hätte Lucy ihr sagen können. Dann
wäre sie definitiv nicht aufgetaucht. „Abwesend“, schloss der Dozent
schließlich. „Dana Grueson?“ Sein Blick ruhte auf
Dana, als diese sich meldete. „Anna Kramer?“ Auch ihre Anwesenheit notierte er
sich. So ging es weiter mit Nicole, Brittany und Jessica.
„Elizabeth
Riley?“ Und neben ihr zuckte Libby erneut zusammen. Zitternd hob sich ihre
Hand, während Lucy lachend in ihre Hand hustete.
„Irgendwelche
Wünsche, Elizabeth?“, erkundigte er sich, und sie konnte seinen Akzent nicht zuordnen.
Er war kein Amerikaner, so viel stand fest.
„L…li…li….“,
stotterte Libby, ohne ihren Blick von ihm wenden zu können, während die Röte
wieder in ihre Wangen zurückkehrte. Der Mann lächelte freundlich.
„Libby. Ihr Name ist Libby“, erklärte Lucy großmütig. Er notierte sich auch
das.
„Vielen
Dank, Miss Tucker. Wie würde ich ohne Sie zurecht
kommen?“ Sie wusste, Blake explodierte wahrscheinlich hinter ihr. „Dann wollen
wir beginnen.“ Er wandte sich um, legte die Liste zurück auf das Pult und
schritt zur Tafel. „Mein Name ist Dr. William Cunning. Und wie sie bestimmt
bereits scharfsinnig angenommen haben komme ich aus Irland. Miss Tucker,
irische Vorfahren?“, warf er nun ein, und sie schüttelte stolz den rothaarigen
Kopf.
„Nein.“
Und sie log. Ihre roten Haare hatte sie von ihrer irischen Großmutter geerbt,
allerdings hegte sie kein gutes Verhältnis zu ihrer Großmutter weswegen irische
Vorfahren nicht existent waren. Und der Dozent lächelte vage. Seine Mundwinkel
kräuselten sich und bei Libby setzte erneut die Schnappatmung ein.
„Gut, dann sagen sie mir doch mal, was sie
über Geoffrey Chaucer wissen“, verlangte er mit einem weiten Blick in die Runde
zu wissen. Sie hörte Blake erneut stöhnen, und sie hoffte, dass er das Seminar
nicht noch mitten in der ersten Stunde schmeißen würde. Alle Mädchen kramten
eilig nach Papier und Stift, und auch sie wandte sich schließlich an Libby,
denn auf Grund einer unangenehmen Kleinigkeit hatte sie ihren Spint nicht
öffnen können, weswegen sie kurzfristig blattlos planen musste.
Aber für
Greyson würde sie auch noch Zeit finden. Denn sie erkannte seine Unterschrift
unter diesem sinnlosen Streich. Wie immer.
Aber
Rache genoss man am besten kalt….
~*~
Und
unterdrückte ihr Lächeln, als sich Libby wieder ächzend auf den freien Stuhl in
der Cafeteria fallen ließ. Sie sortierte wie beiläufig die schätzungsweise
siebzig Kilo schweren Bücher neben ihr. Nur Blake schenkte ihr keine Beachtung.
Sie fuhr sich durch die dunkelblonden, glatten Haare, die nicht mehr ganz
taufrisch aussahen.
Sie hatte
sie wohl den gesamten Tag über hinter ihre Ohren gestrichen, denn sie hingen
ihr müde und zausig über die Schultern.
„Na, hat
er dich hart drangenommen?“, erkundigte sich Lucy kauend, und Libby lief
knallrot an, ehe sie antwortete.
„Wer?“,
fragte sie um Gleichgültigkeit bemüht, die ihre Stimme aber nicht erreichen
konnte.
„Dr. Stunning“, erwiderte Lucy grinsend.
„Du bist
einfach nur furchtbar!“, beschwerte sich Libby und zog demonstrativ ihre Bluse
tiefer, damit sie über ihrem Busen keine Falten warf. Blake hatte gereizt den
Blick von seinem Taschenbuch gehoben.
„Cunning
ist nicht stunning. Ich bitte dich! Sieh ihn dir an!“
Libby wirkte daraufhin beleidigt.
„Er ist
sehr klug.“
„Ja, sicher.
Es war eine unglaublich intelligente Entscheidung, den Job sofort nach seiner
ersten Vorlesung anzunehmen, Riley“, gab er mit erhobenen Brauen zurück, und
sie hoffte, dass Blake Libby nicht noch zum Weinen bringen würde. Sie hasste es
schon, wenn er ihren Nachnamen benutzte.
„Es war
eine gute Gelegenheit“, betonte sie ungewöhnlich streng, so dass sich Blakes
Blick kurz hob. „Mir… mir fehlt sowieso noch die Praktikumsbewertung“, fügte
sie eilig hinzu.
„Ja,
sicher. Du hast die Stelle als seine Sklaven-Assistentin angenommen, weil du
schon immer ein Praktikum dort machen wolltest, wo du genauso schlecht
aufgehoben bist wie…“ Er unterbrach sich. Libby hatte die Arme wütend vor der
Brust verschränkt, und ihre Bluse rutschte wieder einige Zentimeter höher und
warf die Falten, die sie so verabscheute.
„Wie
wo?“, wollte sie verärgert wissen. Lucy stöhnte auf.
„Leute,
bitte…“, mahnte sie, aber Blake senkte den Blick zurück in seine Lektüre.
„Wie in
einem Fitnessstudio“, endete er mit einem bösen Blick, und Libby schnappte nach
Luft.
„Du bist
so ein…!“
„Also,
ich finde es gut, dass sie die Stelle angenommen hat, Bernard! Übernimmst du
dich nicht vielleicht mit diesen Büchern? Eins hätte doch gereicht“, unterbrach
sie den Streit, der sich anzubahnen drohte, laut, und auch Lucy schüttelte nur
den Kopf. Blake schenkte ihr einen gehässigen Blick. Libby schien abzuwägen, ob
sie Blake antworten sollte oder ob sie ihn ignorierte. Aber Tränen standen
bereits in ihren Augen und sie zog ihre Bluse erneut zurecht.
„Nein,
ich brauche all diese Bücher.“
Blake
mochte Libby nicht. Aber Libby konnte Blake auch nicht leiden. Sie sagte oft,
dass er überall störte, dass sie es nicht mochte, wie er Lucy anschmachtete,
und dass er sich lieber bei den anderen Computernerds
verstecken sollte.
Blake
hatte ihr mal gesagt, dass ihm Libby zu weinerlich war. Zu mädchenhaft. Zu
kindisch. Zu dick. Also seufzte sie, und schenkte Libby ein aufmunterndes
Lächeln.
„Ok. Ich
bin sicher, Dr. Cunning freut sich, dass du ihm hilfst“, fügte sie weiter
hinzu.
„Danke,
Jo“, antwortete sie und schoss Blake einen bösen Blick zu, den er nicht
registrierte.
„Death is Cunning“, erklärte Lucy geheimnisvoll, während sie durch
die neuen Unterlagen blätterte.
„Was?“
Libby sah sie verwirrt an.
„Na, die
Zeile aus der Chaucer Geschichte. Der Tod ist listig. Das ist ein ziemlich
cooles Wortspiel mit seinem Namen. Death is Cunning…“, wiederholte sie mit tiefer Stimme, aber
Libby schüttelte den Kopf.
„Das ist
einfach nur albern“, bemerkte Libby beleidigt, aber eilig suchte sie die
Unterlagen ab, anscheinend um es selber noch mal nachzulesen. Jo sprach nicht
schlecht über Libby, aber… von englischer Literatur hatte sie… wenig Ahnung.
Erschreckend wenig, dafür dass sie Literaturwissenschaften studierte.
Aber
anscheinend hatte sie die neuentfachte Liebe zu ihrem Professor Höhen erklimmen
lassen, die vorher unüberwindbar gewesen waren. Schaden konnte es zumindest
ihrer Weiterbildung nicht. Aber sie würde diese hundert Bücher niemals schaffen
können.
„Als ob
er sie beachten würde“, merkte Blake lächelnd an, ohne den Blick zu heben. Und
wütend packte Libby eilig alle ihre Bücher wieder zusammen.
„Ich
werde gehen, ich habe nämlich noch zu tun. Wenn ihr mich entschuldigt?“, giftete
sie, mit einem weiteren Blick auf Blake, den er aber auch ignorierte.
„Libby-“
„Schon
gut, Jo.“ Das war es nicht. Und sie wusste, Libby würde später noch bei ihr
vorbeikommen. Und dann konnte sie sich wieder eine Stunde lang anhören, dass
Libby Blake nicht leiden konnte, und sie hoffte nur, dass sie sich nicht wieder
dem Ultimatum stellen musste Blake-oder-Libby.
Denn sie
mochte Blake. Er gehörte seit Monaten dazu. Nur schade, dass Lucy sein Herz
gestohlen hatte, wo er doch viel leichteres Spiel mit Libbys Herz hätte haben
können.
Jo war
überzeugt, dass Libby mittlerweile in Blake verknallt war. Hals über Kopf. Aber
das würde sie niemals laut sagen.
Und
wahrscheinlich würde Blake Libby niemals beachten.
Und Lucy
würde Blake niemals als würdigen Kandidaten erachten. Eigentlich war es fast
traurig.
„War das nötig?“, fragte sie Blake gereizt, aber dieser zuckte nur die Achseln.
„Wenn sie alles persönlich nimmt, ist sie selber schuld.“
„Du bist
ziemlich unfair!“ Jetzt hob er den Blick.
„Hört auf
zu streiten. Es reicht mir heute mit den Streitereien“, unterbrach Lucy sie
genervt, und Jo fiel wieder ein, weshalb sie eigentlich noch sauer auf Lucy
war.
„Und
wieso hast du mir nicht gesagt, dass Georgiana auch
im Seminar ist?“, wollte sie schließlich wissen.
„Oh, ich
bitte dich! Sie war doch gar nicht da!“, widersprach Lucy mit einem
einnehmenden Lächeln, was aber diesmal nicht bei ihr ziehen würde.
„Ich mag
sie nicht.“
„Und das
hat nichts damit zu tun, dass sie deine Cousine ist?“
„Nein.
Sie ist einfach furchtbar, Lucy!“, beschwerte sich Jo zornig. Lucy lächelte
daraufhin. „Und wenn, dann ist sie meine Stiefcousine. Nicht meine richtige“,
fügte sie beleidigt hinzu.
Georgiana war einfach… Oh sie hasste Georgiana! Das hatte sie schon immer getan – und es beruhte
auf Gegenseitigkeit!
„Dr. Stunning wird schon nicht zulassen, dass sich irgendwer
daneben benimmt!“, versprach Lucy mit einem vielversprechenden Zwinkern, und
gereizt drehte Blake die nächste Seite seines Buches um.
„Er ist
nicht stunning“, murmelte er zornig.
„Was auch
immer. Ich muss los. Hab gleich noch meine Pilates-Gruppe“, erklärte sie,
während sie die schönen vollen roten Haare über die Schulter warf.
Sie war
froh, nicht mit Libby um Blakes Aufmerksamkeit buhlen zu müssen. Gott sei Dank
war sie überhaupt nicht an ihm interessiert.
„Soll ich
dich begleiten?“, fragte er sofort, und Lucy verzog den Mund.
„Nein,
schon gut. Ich schaff den Weg alleine. Du kannst Jo ja zurück zu den Apartments
begleiten. Es ist schon dunkel draußen“, erwiderte sie gönnerhaft, und
enttäuscht wandte sich Blake ab.
„Ok,
klar“, entgegnete er jedoch, denn er erfüllte Lucy so ziemlich jeden ihrer
Wünsche.
Blake war
der einzige, der nicht auf dem Campus wohnte. Sein Vater wohnte in der Nähe,
und er wohnte dort im zweiten Stock, allerdings mit getrennter Eingangstür.
Lucy
verabschiedete sich mit einem Zwinkern von ihnen.
„Du musst
mich nicht begleiten. Ich kann Lucy sagen, dass du es getan hast“, sagte sie
sofort, denn sie hasste es, wenn Lucy sie bevormundete. Aber er sah sie an, als
hätte sie einen Scherz gemacht.
„Nein,
ich begleite dich. Muss sowieso in die Richtung. Mein Auto steht auf eurem
Parkplatz“, erwiderte er ernst. Seine Laune schien noch weiter gesunken zu
sein.
Seine
dunklen Augen lasen die Zeilen nicht mehr, sondern fixierten stur einen Punkt
in seinem Taschenbuch. Es war unangenehm, und Jo wollte nicht darüber reden
müssen, weshalb Lucy nie ein geeignetes Ziel für einen Jungen war.
Wenn sie
nachdachte, hatte Lucy überhaupt selten Interesse an Jungen. Zumindest an
keinem auf ihrem College. Es drängte sich ihr eine Vermutung auf, die sie –
schon für Blakes Herz – nicht bestätigt haben wollte….
Ein
Raunen erfüllte erneut die Cafeteria. Sie hob den Blick. Die Sportler hatten
auch Schluss für heute, erkannte sie, und packte reflexartig ihre Sachen
zusammen. Da war noch die Sache mit ihrem Spint. Gott, sie hasste es von ihm
gedemütigt zu werden. Wegen diesem verdammten Streich hatte sie heute das
Treffen der Fachschaft versäumt, weil sie nicht an ihre Unterlagen gekommen
war. Er war Tyrann, wie all die anderen Idioten, von denen sie gedacht hatte,
sie längst in der Grundschule hinter sich gelassen zu haben.
„Komm,
wir gehen“, raunte sie Blake zu. Auch dieser hob den Blick, und widerwillig
erhob er sich. Er hatte aufgegeben, mit ihr zu diskutieren. Sie konnte die
Sportler einfach nicht leiden.
Sie
erinnerte sich, dass sie in einem fachübergreifenden Kurs ein Referat mit
Greyson, dem scheiß Quarterback hatte halten müssen, über Kommunikation und
Eloquenz. Die Sportler belegten dieses Fach, weil sie mit ihrem Sportstipendium
nicht viel mehr werden konnten als Coach an einer Highschool,
und sie hatte den Kurs belegt, weil sie eine ausführende Verwaltungsposition im
Lektorat anstrebte, und somit auch vor Menschen sprechen musste.
Und es
war in einer einzigen Katastrophe geendet, wo der dumme Quarterback nie die
Termine eingehalten hatte und ihr anschließend auch noch verboten hatte, vor
der Menge zu sprechen, weil sie es ja nicht drauf hatte! Sie hatte das Seminar
geschmissen. Und das hatte sie noch nie vorher getan.
Und jetzt
nahm sie an, er hatte aus Spaß irgendeinen Handlanger in der Verwaltung
bestochen, um ihr Schloss zu wechseln. Denn sie wusste, er selbst würde niemals
einen Finger krumm machen.
Greyson
Adler war blond, hünenhaft riesig und bedauerlicherweise der wirklich falsche
Feind. Ihn als Gegner zu haben war eine dumme Entscheidung gewesen. Das wusste
sie jetzt, aber es ließ sich nicht mehr ändern, denn sie lief mit zorniger
Überzeugung geradewegs auf ihn zu.
Neben den
üblichen Sorgen, der anstrengenden Freundschaft mit Libby und Blake und dem Studium,
was nicht einfacher wurde, musste sie sich auch noch mit Kindereien rumärgern.
Sie hatte
den Tisch erreicht und beschloss, sich nicht von den schwitzenden riesigen
Erscheinungen einschüchtern zu lassen. Sie tat es nie.
„Gib mir
den Code“, verlangte sie zu wissen, als niemand sie beachtete. Blake erschien
neben ihr und verstaute sein Buch. Sie wusste, er würde gerne Kräfte messen,
auch wenn sie annehmen musste, dass er gegen zehn Footballspieler kaum eine
Chance hatte. Blake war nicht klein oder schwach – aber er war eben kein
Sportler. Sie glaubte, er hielt ohnehin nicht besonders viel von überhaupt
einem Sport. Oder von Greyson Adler.
Der
blonde Idiot hob schließlich mit gespielter Überraschung den Blick.
„Code?“,
fragte er gelangweilt und sah sie desinteressiert an. „Tut mir wahnsinnig leid,
Josie, aber ich weiß nicht, was du meinst.“ Sie ignorierte, dass er ihren Namen
mit Absicht nicht wusste, und sie zählte innerlich bis drei, ehe sie wieder
sprach.
„Für
meinen Spint. Gib ihn mir, oder ich beschwere mich, Greyson.“ Sie beschwerte
sich in der Woche bestimmt zweimal über ihn. Sei es, weil er es schaffte, dass
ihre Fachschaft ausgeschlossen wurde, sei es, weil er Gerüchte verbreitete.
Leider konnte sie sich aber nur bei Mr. Leman beschweren. Und das war der Vater
von Georgiana – und deshalb endeten die Beschwerden
meistens… erfolglos.
Sie
fragte sich, wann der Zeitpunkt kommen würde, an dem er endlich seine gerechte
Strafe bekam. Wahrscheinlich niemals, aber sie würde nicht aufgeben.
„Jetzt
habe ich Angst. Unheimliche Angst…“, erklärte er trocken und schob sich eine
Pommes in den ernsten Mund.
„Gibt es
hier ein Problem?“, hörte sie plötzlich eine Stimme neben sich. Der neue Dozent
– Dr. Stunning
– drehte eine Flasche Coke in seiner Hand, während er den Blick interessiert
auf Greyson gesenkt hatte. Greyson betrachtete den Mann, die grünen Augen
verengt, fast skeptisch. „Joanna, richtig?“, erkundigte sich Dr. Stunning anschließend, und sie nickte perplex. Blake kam
aus dem Augenverdrehen nicht raus, antwortete aber.
„Es gibt
kein Problem, danke sehr“, erklärte er gepresst. Dr. Stunning
wandte seinen Blick ihm zu und schien ihn kurz zu durchleuchten. Sie spürte,
wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Greyson räusperte sich gereizt.
„Er hat das Schloss an meinem Spint ausgetauscht, Dr. St…- Cunning“, flüsterte
sie, und verfluchte sich, dass sie seinen Namen falsch aussprechen wollte.
Greyson atmete gepresst aus, aber sie ignorierte ihn. Sie wusste nicht, ob er
sich mit Absicht keine Mühe gab, Entrüstung zu zeigen, oder ob er wusste, dass
er immer mit allem durchkam, und es deshalb gar nicht erst musste. Allerdings
entließ er den Dozenten nicht aus seinem Blick.
„Ist das
so?“ Die Frage hing unbeantwortet im Raum, während scheinbar eine Art Kräfte
messen durch Blickkontakt stattfand. Greyson, der Idiot, schien sich
tatsächlich auch gegen einen Professor hier quer stellen zu wollen. Sie
tauschten einen langen, intensiven Blick, der ihr fast unangenehm war, obwohl
Dr. Stunning ja schließlich nicht sie so intensiv
anstarrte.
„Wenn das
stimmt, würde ich vorschlagen, dass Mr Adler den Code
verrät.“ Seine Stimme klang ruhig, aber dahinter verbarg sich eine dunkle
Mahnung. Er ließ Greyson immer noch nicht aus den Augen, und sie wunderte sich
kurz, woher er den Namen wissen konnte. Vielleicht hatte er die Sportstudenten
bereits kennen gelernt? Aber wo? Sie runzelte die Stirn. Bestimmt in keiner
Vorlesung, denn Sportstudenten konnten doch gar nicht lesen…. Vielleicht hatte
er das Foto des Quarterbacks auch oben auf den Fluren entdeckt. Es war nicht
leicht zu übersehen, denn das College lebte praktisch von den lächerlich hohen
Einnahmen, die Footballspiele hier einbrachten.
Das Team
war bedauerlicherweise gut. Sie gönnte es ihm nicht. Gar nicht.
„Sie
lügt“, erwiderte Greyson ungerührt. Und Dr. Stunning
stützte sich auf beiden Handflächen auf dem Tisch ab, während er sein Gesicht
näher zu Greyson hinab senkte.
„Mr Adler, ich verstehe einiges von Lügen. Ich rate Ihnen,
keine Probleme mit mir zu haben. Das würde sehr… sehr schlecht für Sie
ausgehen.“ Seine Stimme blieb weiterhin ruhig, aber ein seltsamer Schauer
erfasste sie, erfasste praktisch die gesamte Cafeteria. Sie war nahezu
ausgestorben, aber plötzlich kam es ihr eine Spur kälter vor.
Und selbst der arroganteste Quarterback von
allen schien es zu spüren. Zuerst dachte sie, er würde nicht sprechen, aber
dann schien er sich zu überwinden, seinen Stolz und seine Arroganz zu schlucken
und öffnete den Mund.
„Sechs,
sechs, sechs, sechs“, sprach er schließlich. Widerwillig aber resignierend
hatten die Worte seinen Mund verlassen, und er ließ den neuen Dozenten noch
immer nicht aus den Augen. Jo versuchte wieder sein Alter zu schätzen, aber sie
scheiterte. Rein logisch müsste er älter als dreißig sein. Nur seltsamerweise
war es ihm nicht anzusehen. Müsste sie es laut sagen, dann würde sie behaupten,
er hätte kein Alter.
„Vielen
Dank.“ Sie glaubte, dass ein Grinsen an seinen Mundwinkeln zog, aber sie hätte
sich irren können. Und diese Worte klangen so unaufrichtig, wie sie falsch
waren.
„Miss
Clark, Mr Da Corte“,
verabschiedete er sich nickend und drehte die Coke in seiner Hand.
„Danke,
Dr. Stu...- Cunning!“, verbesserte sie sich hastig,
während Blake neben ihr genervt ausatmete. Der Dozent schenkte ihr einen
letzten Blick und schritt aus der Cafeteria, ohne sich umzusehen. Die Stimmung
war immer noch seltsam angespannt, und mit einem letzten verachtenden Blick
ließ auch sie die Sportler hinter sich. Greysons stechender Blick versprach ihr
die Rache, mit der sie täglich rechnete, und sie hoffte, Cunning würde sein
Wort halten. Himmel, sie hatte ihn fast zweimal Stunning
genannt! Lucy hatte einen unpassenden Einfluss auf sie. Manchmal. Und… er war
angsteinflößend. Das war es, was er war. Genauso wie sie Greyson
angsteinflößend fand, dachte sie knapp.
Blakes
Laune schien einen ungeahnten Tiefpunkt erreicht zu haben. Sie sah, dass er
wohl einen kurzen Blick mit Greyson tauschte, der noch finsterer war, als die,
die er sonst Libby zuteilwerden ließ. Jo runzelte die Stirn. Lieber legte sich
Blake nicht mit Greyson an. Dieser erhob sich auch. Er sah sie nicht mehr an,
und verließ stumm mit seinem Gefolge die Cafeteria.
„Zeit zu
gehen“, murmelte Blake neben ihr. Sie folgte ihm kopfschüttelnd, fragte ihn
aber nicht, weshalb er jetzt wieder wütend war, denn ihre Gedanken waren bei
dem Professor hängen geblieben. Bei dem seltsam schönen Professor, mit den grauen Augen.
Der erste
Literaturprofessor, der ihr Angst einflößte.
~
Shifting Moods ~
Blake war
pünktlich am nächsten Morgen da. Wie jeden Morgen. Er wartete mit Kaffee vor
ihrem Apartmenthaus, während Lucy immer noch damit beschäftigt war, ihre Haare
zu föhnen. Auch wie jeden Morgen. Jo hatte das Apartment schon verlassen.
„Hey,
Morgen!“, begrüßte sie ihn. Wieder trug er schwarz. Heute allerdings ein Hemd
über einer schwarzen Jeans, die Haare wie immer im Zopf nach hinten gebunden.
Er war wohl wieder nicht zum Rasieren gekommen, und die Stoppeln waren nun
schon dichter zu erkennen. Er sah verwegen aus, fand sie. Es hatte auch nicht
geregnet, also warfen seine Haare auch die eindrucksvollen Wellen, die wohl
Libbys Herz höher schlagen ließen.
Libby war
gestern auch nur sehr kurz vorbeigekommen, mit ein paar Büchern in ihrer
Handtasche. Sie hatte sogar erstaunlich wenig Zeit damit verbracht, über Blake
herzuziehen, obwohl es ihr immer so gut tat, behauptete sie. Nein, sie hatte
sie förmlich ausgefragt über das Zusammentreffen mit Greyson und Dr. Stunning. Sie glaubte langsam, Cunning war Konkurrenz für
Blake geworden.
Und was
Cunnings Aufgaben anging, war sie auch etwas überfordert. Sie hatte es selber
nicht mehr so gut im Gedächtnis, wer alles für die Königin, wer Romane, wer nur
Theater geschrieben hat – und es war wie ein böser Wissenstest für sie gewesen.
Ihr
Schwerpunkt lag nicht auf englischer Literatur, aber englische Literatur bot
den größten Unterhaltungswert.
„Morgen,
Jo. Ist Lucy fertig?“, fragte er sofort, denn natürlich galt sein erster
Gedanke Lucy.
„Ja, die
Dame föhnt sich noch ihr rotgoldenes Haar“, bemerkte sie lächelnd, und er sah
wieder zum Eingang des Apartmenthauses. Einige andere Mädchen verließen
plappernd das Gebäude, die Blicke kurz auf Blake geheftet, um dann tuschelnd
weiter zu laufen.
Wenn sie
ihn betrachtete, gab sie zu, dass er wirklich nicht schlecht aussah. Und wenn
Lucy tatsächlich… Männer bevorzugte, dann war ihr
nicht ganz klar, was sie an Blake nicht mochte. Er war zwar nicht hünenhaft
groß, aber dafür war er nicht hässlich oder dick oder stank oder war
langweilig.
Für einen
Moment fragte sie sich, weshalb sie sich nicht zu dem klugen, italienischen
Literaturwissenschaftsstudent hingezogen fühlte, verwarf den Gedanken aber
wieder. Wahrscheinlich war es für sie von Anfang an abschreckend gewesen, wie
sehr er auf Lucy fixiert war.
Aber so
ziemlich jeder Junge war auf Lucy fixiert. Sie hatte sie an ihrem ersten Tag
kennen gelernt. Direkt als sie sich dafür eingeschrieben hatte, dass sie hier
in einem der Apartmenthäuser des Campus‘ wohnen wollte. Denn natürlich wollte
sie nicht mehr bei ihrer Stiefmutter wohnen! Bei Gott nicht mehr! Und Lucy
hatte ihr direkt die Hand entgegengestreckt, ihr erklärt, dass sie hier auch
ihr erstes Semester hatte und ihr vorgeschlagen, dass sie sich ein Apartment
teilen konnten.
Und so
war es eben gekommen, dass sie zusammen wohnten. Nun schon seit fast sechs
Semestern. Sie hatte noch keinen Tag ohne Lucy verbracht, ging ihr auf. Außer
vielleicht an den Feiertagen, wenn sie wohl oder übel ihr Stiefmonster besuchen
musste. Ihre Stiefmutter war ein egoistisches Exemplar von Mensch. Sie war
froh, sie erst mal nicht sehen zu müssen.
Sie war
dankbar für ihre Freunde. Blake hatte sie vor fast zwei Jahren kennen
gelernt.
Er hatte
zur gleichen Zeit angefangen, und fast gleichzeitig mit ihm war auch Libby
aufgetaucht, die in Lucys Pilates-Gruppe gewesen war.
Irgendwann
hatten sie sich alle nach ihren Vorlesungen oder Pilates-Treffen in der
Cafeteria getroffen. Blake hatte sich ein paar Unterlagen von ihr geliehen, und
Libby hatte Lucy in ein Gespräch über die besten Dehnungsübungen für die Sehnen
verwickelt gehabt, was beide dann in der Cafeteria fortgeführt hatten.
Blakes
Aufmerksamkeit hatte sich schnell von den Büchern ganz auf Lucy gerichtet, und
Libbys Aufmerksamkeit hatte Blake gegolten.
Und so
waren sie jetzt verblieben. Eigentlich hatte sich nichts geändert. Niemand
hatte sich auf einer Party daneben benommen und wen anders geküsst, der besser
nicht hätte geküsst werden sollen, niemand hatte sich jemals so sehr gestritten,
dass sie keinen Kontakt mehr hatten, und hätte sie es bewerten müssen, dann war
ihr Studentenleben nicht zu spannend, wie sie es aus Teeniekomödien
kannte.
Sie hatte
großartig noch kein Date gehabt. Vielleicht zweimal war sie von
Wirtschaftsstudenten zum Kaffee eingeladen worden. Danach war nichts weiter
passiert.
Aber Lucy
war auch ständig in ihrer Nähe. Vielleicht war es wie ein natürlicher Schutz,
denn Lucy zog alle Aufmerksamkeit auf sich – ohne, dass sie es merkte.
„Gut
geschlafen?“, fragte sie weiter, als Blake immer noch auf die Türen starrte.
„Was? Ja,
gut geschlafen“, antwortete er abwesend.
„Sie
kommt ja gleich“, fügte sie knapp hinzu. Er riss den Blick von den Türen los.
Schließlich schien er seine Aufmerksamkeit komplett auf sie zu richten.
„Hast du
die Literaturvorschläge angesehen? Von Cunning?“, wechselte er nun völlig glatt
das Thema. Kurz war sie verdutzt.
„Sind du
und Libby jetzt unter die Power-Studenten gegangen?“, wollte sie lächelnd
wissen, aber er ging darauf nicht ein.
„Er hat
überwiegend Chaucer empfohlen, mit dem Tod als zentrale Figur. Ich glaube, er
ist nicht ganz dicht“, fügte er missmutig hinzu. Sie runzelte die Stirn.
„Der Tod
war damals oft zentrales Thema in den Märchen, denn-“
„Alle
waren arm und krank und hatten Hunger, ja, ich weiß. Aber es gibt noch anderes
als Shakespeare, Cochran, White und Utterson, weißt
du?“ Es schien ihn ernsthaft zu stören. „Nicht alles handelt von Tod und
Verwesung und Untoten, die daraus resultieren.“
„Ok“,
unterbrach sie ihn beruhigend. Er atmete langsam aus. Sein Blick glitt wieder
zur Tür. Der Lärmpegel stieg an. Sie schloss gereizt die Augen. Sie würde nicht
verschont bleiben. Nicht einen einzigen Tag.
„Seit wann wohnt er eigentlich in eurem Komplex?“, wollte Blake noch missmutiger
wissen. Greyson Adler und seine dummen Kumpanen joggten an ihnen vorbei, einige
Mädchen im Schlepptau, die bestimmt noch, bevor sie den Sportplatz erreichten,
schlapp machen würden.
Er
ignorierte sie, aber sie hatte das Gefühl, er hatte sie gesehen. Sie blickte
ihm nach.
Sie
hoffte, ihr Spint würde sich gleich noch öffnen lassen.
„Keine
Ahnung. Vor einer Weile?“, beantwortete sie seine Frage gedankenverloren, und
Lucy kam frisch frisiert nach draußen.
„Jo, ich habe mir deinen BH geliehen. Ich hoffe, das war ok?“ Sie strahlte in
die Runde, und Jo glaubte, Blake erröten zu sehen. Minimal. Italiener wurden
nicht rot, nahm sie an. Nicht komplett zumindest. Sie musste grinsen.
„Holen
wir Libby noch ab?“ Libby wohnte im Komplex nebenan, und sie sah, wie Blake die
Augen verdrehte.
„Muss das
sein? Sie ist doch kein entlaufener Hund. Sie weiß schon, wo wir zu finden
sind“, merkte er kalt an.
„Du
könntest ruhig etwas netter zu ihr sein. Sie hat dir nichts getan, weißt du?“,
beschwerte sie sich jetzt kopfschüttelnd, aber Blake zuckte nur die Achseln.
„Sie
kniet jetzt ohnehin bestimmt schon vor Dr. Stunnings
Schreibtisch und betet ihn an“, vermutete Lucy lachend. Blakes Blick war fast
schockiert, und Jo begriff nicht, weshalb. Aber sie konnte nicht mehr fragen.
„Lasst
uns gehen“, bemerkte Blake schlecht gelaunt, und Jo überlegte, ob sie ihn
überhaupt jemals fröhlich erlebt hatte. Nein. Nein, noch nicht. Aber sie meinte
sich zu erinnern, dass sie genau diese düstere Art an ihm sympathisch gefunden
hatte, als er das erste Mal mit ihr gesprochen hatte.
Sie
schritten durch den diesigen Morgen, Richtung Hauptgebäude. Nebel stieg aus den
Gräsern empor, und der Winter schien langsam näher zu rücken. Sie zog sich
ihren Mantel fester um die Schultern.
Es war
erstaunlich ruhig in der Eingangshalle des Colleges. Anscheinend hatte niemand
Lust auf Vorlesungen heute, aber es kam ihr ganz recht. Heute hatte sie nach
den beiden Vorlesungen heute Morgen noch eine lange Schicht in der Bibliothek.
Am besten
waren so wenige wie möglich da, dann konnte sie all die Unterlagen
nacharbeiten, die ihr noch fehlten, und nebenbei die neuen Bücher ausleihen,
die noch keiner in die Finger bekommen hatte. Arbeiten in der Bibliothek war
äußerst praktisch. Für einen Literaturstudenten zumindest, befand sie.
Als sie
den Hörsaal betreten hatten, sahen sie, dass Libby bereits mit all ihren
Kleidungsstücken, die sie ausziehen konnte, Plätze freigehalten hatte. Moderne
Sprache war immer sehr gut besucht, und sie atmete erleichtert aus, als sie sie
erkannte.
„Da seid
ihr ja endlich!“, rief sie aus und sammelte ihre Kleidungsstücke wieder ein.
„Endlich?“,
wiederholte Jo verwirrt und warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand. „Es
sind noch zwanzig Minuten bis zum Anfang, Libby“, fügte sie unsicher hinzu.
„Ja, aber
es wird immer voll!“, rechtfertigte sich Libby, die sich wieder setzte und ein
Buch aufschlug, was sie bis zur Hälfte gelesen hatte.
„Seit
wann bist du hier?“, erkundigte sich Lucy ungläubig, und Libby ruckte mit dem
Kopf.
„Ich weiß
nicht. Seit einer Weile. Ich musste noch für… Dr. Cunning Sachen erledigen.“
Jos Augen weiteten sich verblüfft. Sie hörte Blake gereizt ausatmen.
„Ging es
um Untote und Verwesung?“, wollte er trocken wissen, aber Libby ignorierte ihn einfach,
während sie ihre Unterlagen neu sortierte. Er hielt seinen Blick dennoch auf
sie geheftet.
„Es ist
unheimlich spannend!“, bestätigte Libby stattdessen.
„Was…
tust du denn? Bringst du ihm Kaffee und kopierst seinen Stundenplan?“
Desinteressiert betrachtete Lucy ihre Fingernägel und setzte sich an den Rand
der Reihe. Aber auch ihr Blick konnte das Interesse nicht ganz verbergen.
„Nicht
nur das…“, erwiderte Libby etwas kleinlaut, und Jo musste grinsen.
„Lass
dich bloß nicht ausnutzen.“
„Nein! Er
ist wirklich… wirklich…!“ Ihr schienen die Worte zu fehlen.
„Gott!“,
knurrte Blake, als er seine Tasche auf den Klapptisch knallte.
„Er ist
immerhin nicht so ungehobelt und unhöflich wie manch anderer hier“, bemerkte
Libby spitz, und Blake ignorierte ihre Worte – wie immer. Demonstrativ setzte
sich Jo zwischen beide und sah Libby zu, wie sie ein altes englisches Märchen,
dessen Titel sie gerade nicht wusste, verschlang, als würde es die Frage nach
endlosem Reichtum oder ewigem Leben beantworten können.
Na ja,
wenn es nur einen Mann brauchte, damit sie mehr lernte – das sollte ihr Recht
sein.
Sie
lehnte sich zurück, nachdem Ruhe eingekehrt war. Libby las, Blake starrte stur
geradeaus, ab und zu Richtung Lucy, und Lucy selber hatte die Augen wieder
geschlossen.
Der Tag
war ruhig. Nichts Spektakuläres würde passieren. Das war das Schöne an
Literatur. Alles aufregende, was sie erlebte, passierte grundsätzlich nur in
den Büchern, die sie las.
Es war
beruhigend. Wirklich.
~*~
„Ich komm
dich später besuchen“, erklärte Lucy während sie ihre Schulter drückte. „Muss
ein bisschen Sport machen gehen.“ Wie sie noch mehr Sport machen konnte, war Jo
unbegreiflich, aber sie nickte.
„In
meiner Pause können wir essen gehen.“
„Ich
komme auch mit“, erklärte Blake, und es wunderte sie überhaupt nicht.
„Ich weiß noch nicht, ob ich kann“, entschuldigte sich Libby, aber sie wirkte
nicht traurig, nein, sie lächelte sogar. Selbst Jo musste die Augen verdrehen.
„Ja, viel
Spaß mit Dr. Stunning“, rief Lucy noch, ehe sie
winkend verschwand und Blake ihr folgte.
„Er ist
so doof“, bemerkte Libby als beide weg waren.
„Wer? Stunning oder Blake?“
„Ha ha. Rate“, verlangte sie bitter.
„Er
kriegt sich schon wieder ein. Hat wohl gerade einen dicken Schub Liebeskummer
bekommen“, erwiderte Jo achselzuckend. Libby schien das nicht unbedingt
glücklicher zu stimmen.
„Schreib
mir zwischendurch“, entgegnete sie, ehe sie sich winkend verabschiedete.
„Ok“,
versprach Jo, band sich die braunen Haare, die mittlerweile wirklich lang
geworden waren, im Zopf zusammen und machte sich auf den Weg zu ihrer Schicht.
Die
Bibliothek war ruhig, wie immer. Dana wartete schon neben der Theke.
„Da bist
du ja. Ich muss so dringend auf die Toilette, ich wollte schon hinter das
nächste Bücherregal gehen“, beschwerte sie sich. Sie loggte sich aus dem System
aus, und schwang sich die Tasche über die Schulter. „Oh, und viel Spaß. Die
Sportgötter haben sich hierhin verirrt und nerven“, erklärte sie knapp. Jo
mochte ihren Studiengang. Denn alle diejenigen, die Wert auf Literatur und
Bildung legten, verachteten die Sportstudenten.
Sogar die
Mädchen, die eigentlich auf Typen wie Greyson Adler fliegen sollten, fanden ihn
überwiegend ätzend.
Auch wenn
sie sich erinnerte, dass Dana auf irgendeiner Semesterparty in seinem Zimmer
gelandet war, wenn die Gerüchte stimmten.
Aber sie
hoffte, es stimmte nicht. Sie hoffte es einfach.
„Danke
für die Warnung. Bis später“, verabschiedete sie sich und Dana war auf
gefährlich hohen Absätzen verschwunden. Sie loggte sich mit ihrer Chipkarte
ein, warf ihre Tasche achtlos auf den Schreibtisch hinter der Theke und ließ
sich auf den Lederstuhl sinken.
Aus ihrer
Tasche kramte sie die vorgeschlagene Lektüre von Dr. Cunning hervor und
blätterte durch die ersten Seiten von Tales of the Dead. Sie hatte es
sich noch von Libby ausgeliehen, die es gestern Nacht noch zu Ende gelesen
hatte.
Deswegen
sah sie wohl auch so furchtbar müde aus. Ob sie überhaupt geschlafen hatte,
wunderte sich Jo knapp, aber sie begann seufzend zu lesen.
Sie kam
allerdings nicht besonders weit.
„Chrm chrm…“ Langsam hob sie den
Blick. Seine Finger trommelten ungeduldig auf dem Holztresen vor ihr auf
Augenhöhe, und er schaffte es tatsächlich komplett überlegen zu wirken.
„Was?“,
fragte sie höchst unfreundlich, und er schenkte ihr ein kühles Lächeln. Seine
breiten Finger fuhren durch seine hellen, blonden Haare, und es erstaunte sie,
dass er seinen muskelbepackten Idiotenarm überhaupt soweit empor heben konnte,
ohne vornüber zu kippen.
„Du
solltest vielleicht etwas höflicher sein, sonst schwärze ich dich noch bei der
Verwaltung an, Josie“, erwiderte er, immer noch arrogant und schlecht gelaunt,
als wäre sie schuld.
„Joanna,
mein Name ist Joanna, und das weißt du auch. Also, wieso zeige ich dir und deinen
Freunden nicht einfach den Ausgang und ihr könnt weiter Ball spielen gehen?“
Wieder wünschte sie sich, sie würde sich etwas mehr zusammennehmen und
niemanden provozieren. Seine Augen verengten sich knapp.
„Josie,
wieso kommst du heute nicht zu unserem Spiel?“, schlug er ihr scheinheilig vor
und lehnte sich nun mit seinem Oberkörper auf den Tresen. Seine grünen Augen
blitzten kurz, aber sie wusste, es bedeutete nichts Gutes.
„Wieso
sollte ich?“ Sie verbesserte ihn dieses Mal nicht.
„Keine
Ahnung. Vielleicht… weil du deinen Ausweis wiederhaben möchtest?“, fragte er,
und hielt tatsächlich ihren Ausweis nach oben. Wo… hatte er ihn her? Ihr Mund
öffnete sich perplex, denn sie hatte nicht gesehen, wie er ihn sich gegriffen
hatte! Wie hatte er so schnell in ihre Tasche greifen können?! Er war ein
verdammter Dieb! Er ließ den Ausweis in seiner mächtigen Hand verschwinden. Ihr
Mund öffnete sich ungläubig.
„Du
klaust meinen Ausweis?“ Schon war sie aufgestanden, völlig egal, dass er zwei
Köpfe größer war als sie!
„Nein,
ich borge ihn, Josie“, erwiderte er, tatsächlich ein sehr feines Lächeln auf
den Zügen. Ansonsten sah er sie unnahbar kalt an. Es war fast widersprüchlich.
Er hielt ihn hoch über seinen Kopf, so dass sie niemals drankommen würde.
„Greyson!
Gib ihn her! Sofort! Ich werde-“
„Was?“,
unterbrach er ihre Bemühungen, und sie hatte seinen Oberarm umfasst und zerrte
vergebens daran. Sein Körper war kühl, und abweisend beobachtete er ihre
Versuche. Sie schoss ihm einen zornigen Blick zu.
„Das ist
doch nicht dein ernst oder? Du klaust doch nicht wirklich gerade meinen
Ausweis, du Arschloch?“ Sie sah sich um, ob irgendein Lehrkörper, irgendein
Verwaltungsangestellter unterwegs war, aber sie war leider allein. Was sie
vorher noch begrüßt hatte, war jetzt ihr eigenes Pech.
„Ich
klaue nicht. Wir spielen heute Abend. Komm zum Spiel, und du bekommst ihn
wieder“, bot er ihr ungerührt an. Seine Freunde kamen um die nächste Ecke und
feixten in die Runde, als sie das Schauspiel beobachteten.
Und nicht
nur seine Freunde, stellte sie zu ihrem großen Leid fest.
„Gott,
Joanna, du bist so peinlich“, hörte sie Georgiana
nachsichtig murmeln. Immer mit einem Hauch Verachtung in der Stimme. „Greyson
kommst du?“, fügte sie glockenhell hinzu, und die schöne, blonde Georgiana sah natürlich um einiges besser aus, in ihren
Selbstmörderschuhe, dem stark geschminkten Gesicht, dem Minirock und der
perfekten Figur. Sie raubte ihr noch den letzten Nerv.
„Gib ihn
mir!“, verlangte sie drohend und ignorierte Georgiana
so gut sie konnte, aber er tat ihr natürlich diesen Gefallen nicht. „Gib meinen
Ausweis, Adler!“, schrie sie praktisch, und erntete von den Literatur-Nerds, die sich auf der Galerie befanden, genervte Blicke.
Helfen tat ihr natürlich keiner! Die Sportler lachten bloß, und ihre
Stiefcousine stöhnte entnervt auf.
„Seid ihr
fertig?“, fragte sie, während sie ihre Fingernägel betrachtete. Greyson entzog
ihr ohne Mühe seinen Arm und steckte ihren Ausweis in seine hintere
Hosentasche.
„Komm zum
Spiel. Sechs Uhr.“ Sie konnte kaum atmen, so wütend war sie. So machtlos und so
komplett wütend.
„Wieso
bist du bei diesem Bücherwurm?“, murrte Georgiana,
und Jo zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Sie stand völlig hilflos vor
dem Tresen. Wieder allein. Fast.
„Hallo?
Kannst du mir das ausleihen?“, erkundigte sich ein
Junge gereizt und wedelte mit einem Buch vor ihrer Nase. Sie starrte ihn zornig
an. Dieses Arschloch hatte es wieder einmal zu weit getrieben! Nur weil sie ihn
gestern zwingen konnte, ihre Spintnummer zu
verraten?! Sie hasste ihn! Hasste ihn! Sie hätte vor Wut weinen können! Aber
nicht einmal Greyson Adler konnte dumm genug sein, ihren Ausweis zu zerstören,
denn er würde ihn bezahlen müssen. Und das würde er nicht tun! Was wollte er
denn von ihr? Sie begriff es einfach nicht!
Er wollte
sie nerven, sie ärgern, sich rächen. Und das wohl noch solange sie hier auf dem
College war!
Fast riss
sie die erste Seite des Buches aus, als sie den Scanner mit zittrigen Fingern
über den Strichcode führte. Der Junge packte das Buch hastig ein und sah sie
an, wie eine Verrückte.
Sie
verdrängte die Tränen des Zorns und lenkte sich ab, indem sie durch das Buch
blätterte. Sie würde es ihm nicht gönnen, dass ein kleiner bebrillter
Verwaltungsangestellter auf den Sportplatz kam, um ihm zu drohen und den
Ausweis abzunehmen.
Sie
könnte Dr. Stunning fragen! Er schien gut mit Greyson
zurecht zu kommen! Fast wollte sie das wirklich tun,
entschied sich aber dagegen. Sie schüttelte für sich selber den Kopf. Er wollte
sehen, dass sie Schwäche zeigte? Das konnte er vergessen!
Sie
wusste nicht, weshalb er sie zwang zu dem dämlichen Spiel zu gehen, aber sie
würde es tun! Und sie würde seine Umkleide zerstören! Die ganze verdammte
Umkleidekabine!
Am besten
verbrannte sie alle seine Sachen auch noch, damit er nackt zurück musste.
Wütend
las sie die Zeilen, ohne dass auch nur ein Wort davon hängen blieb.
~
Broken Glass ~
„Zum
Spiel? Du willst wirklich zu dem Spiel gehen?“, vergewisserte sich Lucy zum
zweiten Mal.
„Ja, will
ich.“ Jo nickte bestätigend.
„Sicher?“,
wiederholte Lucy noch einmal und fixierte sie genauer.
„Ja, ich
dachte das wäre mal eine nette Ablenkung.“ Sie sah aufmunternd in die Runde.
Und Blake schien nicht halb so abgeneigt zu sein, wie sie angenommen hatte.
Ihre Lüge wurde also vielleicht abgekauft.
„Seit wann magst du Greyson Adler so sehr, dass du zu einem seiner Spiele gehen
willst?“, wollte Lucy jetzt wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich mag
ihn überhaupt nicht“, rechtfertigte sie sich. „Ich gehe nicht dahin, weil
dieser Idiot spielt, ich… dachte, es wäre mal was anderes, als abends bei Chang
Pizza zu bestellen.“ Der Chinese auf dem Campusgelände machte zwar
eindrucksvoll gute Pizza, aber sie würde, ihrem Ausweis zuliebe, heute darauf
verzichten. Lucy wirkte noch nicht überzeugt.
„Wenn wir
alle gehen“, erklärte Blake gleichmütig, und Jos Augen weiteten sich fast
prüfend.
„Ich weiß
nicht“, entgegnete Libby langsam, die Augen verließen die Seiten des nächsten
Buches keine Sekunde.
„Du kannst dein Buch auch mitnehmen“, versuchte Jo es freundlich. Es jagte ihr
ein wenig Angst ein.
„Vielleicht
solltest du nicht für ihn arbeiten“, bemerkte Blake jetzt ohne jede erkennbare
Wertung. Libby hob schließlich den Blick.
„Der Job
ist gut. Und es ist wichtig, dass ich es mache“, erklärte sie würdevoll.
„Deine
dämliche Bescheinigung stellt dir auch jeder andere Professor aus, verdammt
noch mal“, gab er gepresst zurück.
„Es geht dich nichts an, oder Blake?“, wagte Libby zu sagen, und sein
Kiefermuskel schien sich überrascht zu entspannen.
„Nein,
tut es nicht“, erwiderte er schlicht, und wandte sich sofort an Lucy. „Hast du
Lust? Popcorn, schreiende Menschen?“ Er sagte es mit wenig Enthusiasmus, aber
wahrscheinlich würde er mit Lucy auch eine Achterbahnfahrt durch die Hölle
mitmachen. Sie runzelte die Stirn.
„Wenn Jo
unbedingt will“, gab sie schließlich nach, aber die Skepsis verließ nicht ihren
Blick.
Jo wusste
nicht, weshalb sie nicht einfach zugab, dass der Arsch Greyson ihren Ausweis
gestohlen hatte, und sie ihren Freunden versicherte, dass sie Football immer
noch grenzenlos verabscheute, aber… irgendwie schien ihr diese Lüge
verträglicher zu sein, und sie fühlte sich nicht ganz so schwach, als wenn sie Mr Kettleman in der Verwaltung
hätte Bescheid sagen müssen, dass Greyson Adler ihren Ausweis weggenommen
hatte, und sie nicht wusste, wie sie ihn wieder bekommen sollte.
Sie
atmete langsam aus.
„Danke.
Das… wird bestimmt lustig!“, versprach sie.
Und sie
merkte wie Libby den Blick hob und zum Eingang der Cafeteria blickte. Sie hörte
Blakes unterdrücktes Stöhnen. Sie sahen zu, wie sich Dr. Stunning
eine Coke aus dem Tiefkühler holte, sie bezahlte und dann gelassen zu ihrem
Tisch schlenderte. Einige Köpfe der Mädchen drehten sich automatisch in seine
Richtung, und sein Blick ruhte auf ihr. Sie schluckte, ohne es verhindern zu
können, denn ihre Kehle war merklich trocken.
„Miss Clark“, begrüßte er sie freundlich und drehte die Flasche in seiner Hand.
„Alles in Ordnung? Kann ich noch irgendwas für Sie tun?“ Sofort sah Lucy sie
wieder an. Richtig. Sie hatte ihr nicht erzählt, dass Dr. Stunning
sie gerettet hatte. Sie schüttelte also freundlich den Kopf.
„Nein, heute ist… alles in Ordnung, Dr. St…- Cunning“, korrigierte sie sich
schnell und sah Lucy ihr Grinsen hinter ihrer Hand verstecken. Seine Haare
schimmerten dunkelblond im künstlichen Licht und fielen dicht in seine Stirn.
Er trug ein sportliches Jackett, eine dunkle Jeans und verkörperte eine
angenehme Erscheinung. Sein Blick verließ ihr Gesicht, und sie konnte wieder
aufatmen. Sein Blick wanderte über Blake, ehe er sich Libby zuwandte.
„Miss
Riley, wenn Sie das neue Literaturverzeichnis noch vierzigmal kopieren könnten,
wäre ich Ihnen äußerst dankbar.“ Er wandte sich noch mal an den gesamten Tisch.
„Auf einmal ist meine Vorlesung mehr als begehrt“, erklärte er entschuldigend.
„K…kein
Problem, Dr. Cunning“, hauchte Libby ehrfürchtig, und er schenkte ihr ein
Lächeln.
„Vielen
Dank, meine Liebe. Später können Sie mir noch die Exemplare bringen, die ich
bestellt habe?“, fügte er hinzu, und sie nickte unterwürfig. „Meine Damen, Mr Da Corte“, verabschiedete er
sich und verschwand.
„Der isst wohl nie“, bemerkte sie schließlich.
„Du hast
ja mächtig viel mit ihm zu tun?“, entfuhr es Lucy prüfend, und Blake schwieg
mit missmutiger Miene.
„Nein…
ich…, das war ein ganz dummer Zufall.“ Sie verfluchte ihr Pech und alle
seltsamen Zufälle und fuhr fort, ihren Salat zu essen. Lucy schüttelte grinsend
den Kopf, während Libby seufzend in die Ferne starrte.
~* ~
Gott, sie
wusste nicht, mit was sie dieses Erlebnis würde später rechtfertigen können.
Sie waren wahrscheinlich die einzigen Literaturstudenten weit und breit. Das
College versuchte zwar jedem Außenstehenden weiß zu machen, dass die Studenten
als Einigkeit zusammen hielten, aber das war einfach eine glatte Lüge.
Natürlich
hielten die Studenten nicht zusammen. So wenig wie die Sportstudenten zu
Dichterlesungen kamen, umso seltener besuchten die Literaturstudenten
Sportveranstaltungen. Es schloss sich einfach aus! Es war nicht möglich. Öl und
gefrorener Joghurt ließen sich auch nicht vermischen, weil es chemisch einfach
eine unmögliche Grenze war!
Und jetzt
waren sie hier. Sogar Libby hatte sich breit schlagen lassen, auch wenn Jo
nicht genau wusste, weswegen. Dr. Stunning sitzen zu
lassen kam doch bestimmt einem Rufmord gleich!
„Bier?“,
fragte Lucy mit einem übertriebenen Lächeln, und Jo zuckte die Achseln. Bier
konnte nicht schaden.
„Klar“, entgegnete sie nur.
„Ich hole
welches. Such dir schon mal den perfekten Platz, du Expertin“, neckte Lucy sie,
und Jo verdrehte die Augen. Sie brauchte eigentlich nur die perfekte
Gelegenheit, um in die Jungenkabine einzubrechen.
„Ich
komme mit dir“, bot sich Blake sofort an, und gemeinsam verließen sie die
vollen Tribünen. Weil sie es gewohnt war, hatte sich Libby schon nach Plätzen
in der ersten Reihe umgesehen. So machte sie es schließlich auch im Hörsaal.
Sie sah ihr Lächeln schließlich, und schüttelte knapp den Kopf.
„Oder…
weiter hinten? Wie läuft das hier? Sitzt man weiter hinten?“ Sie sah sich
ratlos um, als ob sie nach Wegweisern suchte.
„Erste
Reihe ist schon in Ordnung“, erwiderte Jo laut, denn irgendwelche Krachmacher
bliesen gerade in ziemlich laute Tröten. So konnte sie
auch einfacher wegkommen, beschloss sie. „Popcorn?“, fragte sie Libby, die
bereits begonnen hatte, ihre Jacken und Westen auf vier Sitzen zu verteilen.
Fast musste Jo lachen.
„Nein,
bloß nicht! Ich bin dick genug, oder bist du blind, Jo?“, wollte sie
unglücklich wissen, und Jo atmete langsam aus. Nein, sie würde das jetzt nicht
diskutieren.
„Ok. Ich
hol mir welches“, erklärte sie deshalb. „Bin gleich wieder da!“, rief sie, und
sah aus knapper Entfernung, wie Lucy und Blake das Bier bezahlten. Eilig
mischte sie sich unter die Menschen und bahnte sich einen Weg zu den
Umkleidekabinen. Eigentlich ritt sie sich immer tiefer in die Misere, denn wenn
es rauskommen würde, dass sie sich heimlich in die Umkleidekabine von Greyson
Adler schlich, dann würde sie sich vor Lucy bestimmt nicht mit dem Argument
retten können, dass es ihr peinlich war, ihnen zu erzählen, dass er ihren
Ausweis geklaut hatte.
Lucy
würde es irgendwie so drehen, dass sie auf einmal in Greyson verliebt war oder
so etwas derartiges! So wie die verdammte Georgiana.
Seufzend
setzte sie ihren Weg fort, und als sie das flache Gebäude erreichte, sah sie
sich zur Sicherheit noch einmal um. Aber natürlich gab es hier niemanden, der
sie erkennen würde. Gott, wie groß das College war, und wie viele Menschen es
eigentlich gab, die sie noch nie gesehen hatte! Kopfschüttelnd drückte sie die
Tür auf. Sie wusste nicht mal, ob sie hier erlaubt war.
Es roch
nach Fliesenreiniger und weißem Magnesiumoxid, was sie noch vom
Barrenunterricht aus dem Highschool-Sportunterricht
her kannte, womit man sich übertrieben häufig die Hände eingerieben hatte,
eigentlich nur um Zeit zu schinden, um nicht auf den Barren zu müssen. Bei der
Erinnerung überkam sie ein unangenehmer Schauer.
Nein, sie
war kein Sportler, absolut nicht.
Sie sah
sich um. Mit jedem Schritt nahm sie lautere Geräusche war. Überall hingen die
Banner des Colleges und das Reynolds-College Logo war rot unterlegt mit der
traditionellen Farbe der California Killers. Ein
dämlicher Name für die Mannschaft.
Sie hörte
grölende Männerstimmen und Mädchengelächter. Sie erreichte die letzte Tür auf
der linken Seite. Sie roch Zigarettenqualm. Sie wollte nicht wissen, was da
drin ablief.
„Los,
raus mit euch! Wir müssen uns noch aufwärmen. Die scheiß Seattle 79ers werden
sich noch wünschen, nicht gekommen zu sein!“, rief einer der Jungen laut, und
wenig später stolperten einige angetrunkene Blondinen aus der Umkleide, und Jo
wich hastig zurück hinter den Trophäenschrank.
„Greyson,
kommst du?“, hörte sie ein Mädchen rufen, und sie betete, dass er sich beeilte.
Sie wollte hier nämlich schleunigst weg.
„Kill,
kill, kill, kill!“, grölten die Jungen einstimmig, und nachdem alle ihre Highfive-Tänze beendet hatten, stürmten sie aus der
Umkleide in Richtung Ausgang.
Sie
wartete noch ein paar endlose Momente, bis es wieder still wurde, und sie in
einiger Entfernung wohl die Gegenmannschaft hörte, die sich im rechten Trakt
umzog.
Sie
machte einen Schritt nach vorne, sehr leise auf ihren dunkelbraunen
Lieblings-Chucks. Sie kam hinter dem Trophäenschrank hervor und ignorierte die
sinnlosen vergoldeten Pokale dafür, dass ein Haufen Idioten einen Ball hinter
einer Linie auf den Boden geworfen hatte. Sie machte einen Schritt in Richtung
der Schwingtüren – und zuckte vor Schreck zusammen.
Greyson
Adler lehnte auf der anderen Seite des Trophäenschranks an der Wand, den Kopf
schief gelegt und eine Augenbraue abwartend in die Höhe gezogen.
„Na, auf
der Suche?“, wollte er kalt wissen und hatte die Arme vor der Brust vor
verschränkt. Sie hatte wieder einmal Angst vor ihm. Er trug bereits seinen
Jersey und die Polster und wirkte noch mächtiger als sonst schon. Nur den Helm
und seinen Mundschutz hatte er noch nicht, und völlig perplex stand sie nun
mitten auf dem Flur.
Das
letzte Mal, dass sie mit ihm ganz alleine gewesen war, war im Seminarraum im
College, als sie zusammen an dem Referat gearbeitet hatten. Aber das war auch
nur einmal vorgekommen, weil er einfach ein Idiot gewesen war.
„Du bist
ziemlich laut. Nicht gerade geeignet für eine schnelle Aktion“, merkte er mit
einem eindeutigen Blick an. Sie besann sich wieder und baute sich relativ
furchtlos vor ihm auf.
„Meinen Ausweis.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er hob die Arme in die
Höhe.
„Was
denkst du? Dass ich ihn jetzt gerade bei mir habe, Josie?“ Er schien wieder
einmal wütend zu sein, betrachtete sie genau, und sie konnte nicht sagen, was
er ist jetzt wieder vorwarf! Am liebsten würde sie ihn vor die gepolsterte Brust
stoßen.
„Gib ihn mir!“, schrie sie, so dass ihr Echo den Flur entlang hallte.
„Ich will
doch sicher gehen, dass du das gesamte Spiel über bleibst“, informierte er sie,
während er sich von der Wand abstieß und näher kam. Sie hatte nicht wirklich
Angst, aber es war beängstigend, wie viel Körpermasse
ein einzelner Mensch haben konnte.
„Wieso
tust du das?“, wollte sie verzweifelt wissen, und seine Stirn legte sich in
verwirrte Falten.
„Kein bestimmter
Grund“, entgegnete er gepresst, und ihre Nähe schien ihm Übelkeit zu bereiten,
so abweisend sah er sie jetzt an.
„Lass
mich doch einfach in Ruhe!“, presste sie hervor, und konnte eine Träne nicht
verhindern. „Du bist so ein Arschloch! Du gibst mir sofort meinen Ausweis
wieder oder ich hole Mr Kettleman!“,
drohte sie nun doch mit der schwächsten aller Lösungen und kam sich vor als
wäre sie zwölf Jahre alt. Eine Spur belustigt öffnete er tatsächlich den Mund,
bis er plötzlich inne hielt und sich nicht mehr bewegte. Er reckte den Kopf
höher und schien zu lauschen.
„Du
solltest jetzt nach draußen gehen“, informierte er sie wieder ruhiger, und sie
schüttelte ungläubig den Kopf.
„Du ziehst das wirklich durch?“, wollte sie warnend von ihm wissen, und er
betrachtete sie fragend.
„Am
besten gehst du sofort.“
„Tu nicht
so! Du begehst Diebstahl, nur um mich zu quälen?“ Und sein Ausdruck war für sie
nicht zu deuten. Er hob die Hand, legte den Zeigefinger unter ihr Kinn, und
zitternd entwich ihr die Luft, als er sich näher zu ihr lehnte. Er fasste sie
an! Sein Blick bohrte sich in ihren, die grünen Augen dunkel und intensiv. Ihr
Mund öffnete sich automatisch, damit sie nach Luft schnappen konnte.
„Ja“,
beantwortete er die Frage, die sie schon längst vergessen hatte, und mit aller
Macht zog ihren Kopf zurück. Ihre Fäuste zitterten.
Und er
hatte den Kopf gehoben, noch ehe sie die Stimme sprechen hörte.
„Miss Clark?“, vernahm sie die mittlerweile bekannte Stimme. Hastig wich sie
einen Schritt nach hinten und wandte den Blick.
„Dr. Cunning“, entfuhr es ihr überrascht, und plötzlich erfasste eine Angst ihr
Bewusstsein. Eine seltsame, instinktive, sehr bekannte Angst. Was war es? Woher
kam es?
„Sollten
Sie nicht auf den Tribünen sitzen?“ Er trug einen schwarzen Mantel über dem
blauen Sportjackett, die Hände zwanglos in den Taschen vergraben und wirkte
nonchalant. Kurz sah er sich im Gang um, betrachtete den Trophäenschrank und
wandte sich dann an Greyson. „Man wartet auf Sie“, erklärte er lächelnd. Immer
noch jagte ihr Herzschlag und verwirrt sah sie von einem zum anderen.
„Und man
schickt Sie, um mich zu holen?“, wollte Greyson plötzlich wissen, und pure
Ablehnung ging von seinem Körper aus, sie spürte es. Es machte sogar einen
Schritt nach vorne und sein massiger, in Polster gepackter Körper, verdeckte
sie fast zur Hälfte.
„Gibt es
hier Probleme?“, fragte Dr. Stunning nun mit seiner
angenehmen Stimme, und Jo schluckte wieder schwer, denn jetzt lag sein Blick
auf ihr.
„Joanna,
geh nach draußen.“ Und neben der Tatsache, dass Greyson Adler wohl das erste
Mal ihren Namen benutzt hatte, hörte sie noch etwas anderes in seiner Stimme.
Sie konnte sich nicht bewegen, denn Dr. Stunnings
fesselnder Blick lag immer noch auf ihrem Gesicht, und das Atmen fiel ihr
schwerer. Greyson drehte sich nun zur Gänze zu ihr herum, und Ungeduld
zeichnete sich auf seinen Zügen ab. „Ich habe gesagt, du sollst raus gehen.“
Und unüberhörbar schnappte sie nach Luft, denn der gleiche intensive Blick traf
sie nun auch von Greyson, und ihre Beine machten haltlose Schritte nach vorne,
während die Blicke der beiden sie verfolgten. Es schien, als hätte sich sein
Blick in ihr Bewusstsein eingeklinkt, und alleine sein Blick, zwang ihre
Gliedmaßen, sich zu bewegen.
Und sie
blickte sich nicht um, aber keiner der beiden Männer bewegte sich in Richtung
Ausgang. Immer schneller wurden ihre Schritte jedoch, und als sie ins Freie
trat fiel ihr wieder ein, dass sie ihren Ausweis immer noch nicht hatte!
„Jo!“,
rief Blake eine Spur wütend. „Wo warst du? Wir warten die ganze Zeit auf dich!“
Er betrachtet sie kurz. „Alles in Ordnung? Ist was passiert?“ Seine Augen
verengten sich, als er sie näher in Augenschein nahm.
„Nein,
ich… mein…!“ Sie schüttelte wie benommen den Kopf. „Ich muss noch mal zurück!“,
entfuhr es ihr. Sie machte wieder kehrt, und Blake folgte ihr direkt.
„Jo, komm
zurück!“, rief er. Aber sie war wieder im Gebäude, roch wieder den Duft, und
irgendwas lag in der Luft. Irgendwas elektrisierendes. Hastig bog sie um die
Ecke, als sich Blakes Hand fest um ihren Unterarm schloss.
„Jo-“
Er
unterbrach sich selbst, den Blick nach vorn gerichtet. Sie folgte ihm und
verharrte in der Bewegung. Beide Männer standen noch immer vor der Umkleide,
nur näher voreinander.
Sie
glaubte zu sehen, wie Greyson seine Polster in einer hastigen Bewegung richtet,
aber ihr Blick senkte sich auf die endlos vielen Scherben, die sich auf dem
Boden verteilt hatten. Der Trophäenschrank schien in seine Einzelteile zerlegt
zu sein, denn lose Bretter waren zerbrochen und die goldenen Pokale rollten mit
einem leisen, metallenen Geräusch langsam über den Boden. Scherben glitzerten
im Neonlicht und mit einem kurzen Blick auf Blake war Greyson an ihnen vorbei
geschritten.
Er sah
sie nicht mehr an.
„Was…?“,
murmelte sie verstört, und ihr Blick hob sich zu Dr. Cunning. Blakes Griff um
ihren Unterarm wurde fester. Cunning schien sich zu besinnen und nickte
schlicht, während er ebenfalls den Gang verließ. Sein Blick traf ihren für den
Bruchteil einer Sekunde, und ihr Herz machte einen Satz.
„Komm“,
flüsterte Blake, tonlos und wachsam.
„Aber… - die Scherben! Gerade eben war-“
„Es ist
nichts“, unterbrach sie Blake fest.
„Was?“ Sie starrte ihn ungläubig an. „Der Trophäenschrank! Greyson hat bestimmt…!“
„Es ist nichts!“,
wiederholte Blake eindringlicher. „Komm jetzt mit nach draußen, die anderen
warten.“ Er zog sie einfach mit sich, ließ die Scherben und das Chaos einfach
zurück.
„Blake!“, wehrte sie sich lautstark, aber er zog sie erbarmungslos weiter. Als
sie den Blick zurückwandte entdeckte sie einen Riss in der Wand, der vorher
bestimmt nicht dagewesen war! Dort, wo der Schrank gestanden hatte, war der
Putz geplatzt, und ein breiter Riss zog sich bis nach oben zur Decke. Unter
welcher Kraft war bitteschön die Wand aufgebrochen?
Ihr Mund
öffnete sich schockiert, und ungerührt hatte Blake sie nach draußen geschoben.
Anscheinend
begann das Spiel, denn die Menge jubelte und ihre Augen suchten das Gelände ab.
Aber Cunning war nicht mehr zu entdecken.
~ Secrets ~
Sie hatte
nicht gut geschlafen, hatte nichts Gutes geträumt und hatte sich die komplette
Nacht paranoid gefühlt. Jetzt war sie wie gerädert aufgestanden, und die Dusche
hatte sie nicht gerade belebt. Lucy summte irgendeine Melodie, aber Jo sah sich
immer wieder um, als erwarte sie den Teufel persönlich in ihrem Schrank.
„Kommst
du?“, hörte sie Lucy rufen. „Blake wartet wie ein Hund vor dem Gebäude.“ Ja,
Blake. Was war das gewesen? Er hatte ihr gestern praktisch den Arm ausgerenkt.
Und wie
konnte sich Greyson Adler tatsächlich mit einem Professor anlegen, nur weil ihm
etwas nicht passte? Und wo war Cunning hingegangen? Hatte er dafür gesorgt,
dass Greyson verwiesen wurde? Es wäre nicht das Schlimmste! Lucy deutete ihren
Blick.
„Denkst
du wieder über diese Schrank-Geschichte nach?“, erkundigte sie sich, und Jo
atmete langsam aus.
„Ich habe
es doch gesehen!“
„Du
glaubst, Greyson Adler prügelt sich mit dem neuen Professor durch die
Umkleidekabinen der Jungen, weil er möchte, dass er auf das Spielfeld kommt?
Was hast du überhaupt dort zu suchen gehabt?“, entfuhr es Lucy knapp, und Jos
Mund schloss sich wieder.
„Das ist
doch egal! Und Blake hat-“
„Blake
hat gesagt, du dramatisierst es viel zu sehr.“ Lucy zuckte die Schultern.
„Was? Er
war doch dabei! Er hat es doch gesehen!“, gab sie lauter zurück, als
beabsichtigt.
„Hey! Ich habe doch gar nichts gesagt, Jo!“ Beschwichtigend hatte Lucy beide
Hände gehoben. „Ich… finde es nur komisch, das ist alles“, fügte sie hinzu. Jo
beschloss, nicht weiter darüber zu diskutieren. Sie wusste, was sie gesehen
hatte. Und zu allem Überfluss hatte sie ihren Ausweis nicht wieder! „Und es ist
doch auch egal, oder nicht?“
Ja,
wahrscheinlich war es egal, und sie war einfach nur verrückt geworden.
Aber
ihren Ausweis wollte sie – und brauchte sie – dennoch zurück. Sie würde im
Computer nachsehen, wo die Sportstudenten sich aufhielten, und dann würde sie
schlicht und einfach ihren Ausweis zurückverlangen und keinen weiteren Kontakt
mehr mit Greyson haben.
Draußen
standen mittlerweile Libby und Blake und schienen sich wie immer zu streiten.
„Alles in
Ordnung bei euch?“, fragte Jo, sichtlich besorgt, aber Libby atmete wütend aus
und drehte Blake den Rücken zu.
„Alles
bestens“, gab er zurück und musterte sie genau.
„Ja,
offensichtlich“, erwiderte sie langsam. Lucy sagte gar nichts, drehte ihre
Haare um den Finger und blickte auffordernd in die Runde.
„Wollen
wir?“
„Ja.
Gleich wieder Cunnings Gruselshow“, murrte Blake, der sich direkt hinter ihr in
Bewegung setzte.
„Oh, Jo,
ich bräuchte das Buch wieder. Ich wollte mir noch ein paar Notizen machen.“ Jo
seufzte auf.
„Ja, klar. Es ist in meinem Spint. Falls ich ihn denn heute aufbekomme“, fügte
sie knapp hinzu. Blake reagierte darauf nicht, und Lucy lächelte nur.
„Ok, wir
können ja vorher dort vorbeigehen.“
Im
Eingang des Hauptgebäudes angekommen, entledigte sich Libby der Millionen Mäntelschichten und zog sich wieder einmal eine zu enge
Bluse zurecht. Jos Blick blieb an ihrem Unterarm
hängen.
„Hast du
dich verletzt?“ Libby blickte selber kurz verwirrt hinab auf das große
Pflaster.
„Oh, ja.
Geschnitten“, erklärte sie und verdrehte die Augen.
„Ist es
desinfiziert? Tut es sehr weh? Scheint ein großer Schnitt zu sein.“ Jo hörte
Blake gepresst ausatmen, während er die Hände in den Taschen vergrub. Libby
zuckte die Achseln.
„Es ist
wirklich nur ein Kratzer“, informierte sie sie gleichmütig. „Wollen wir zu
deinem Spint? Wir treffen euch einfach im Saal“, schlug sie diplomatisch vor,
und Jo wusste, der Streit zwischen Libby und Blake war nicht vorbei.
„Ok“,
sagte sie schließlich und folgte Libby in den Gang mit den Spinten als sich
Lucy und Blake verabschiedet hatten.
Immerhin
stellte ihr Libby nicht die Frage, weshalb sie gestern in der Umkleidekabine
der Jungen war. Sie gab den neuen Code für ihren Spint ein, den sie noch
gestern geändert hatte, und fast wunderte es sie, dass sie ihn öffnen konnte.
Und sie
erstarrte.
Dort lag ihr
Ausweis. Gut, dachte sie nur. Dann musste sie immerhin nicht Greyson suchen.
Sie
steckte ihn eilig ein und reichte Libby dann das Buch, was sie nicht geschafft
hatte, zu lesen.
„Danke“,
erwiderte diese abwesend. „Komm, wir wollen nicht zu spät kommen.“ Anscheinend
war auch Libby nicht besonders gut gelaunt.
„Was ist
los?“, fragte Jo vorsichtig, aber Libby setzte sofort eine heitere Miene auf.
„Nichts“,
log Libby schlecht, aber Jo war klar, dass Libby bestimmt nichts erzählen
würde, was sie nicht wollte. Sie trug heute eine dunkle Stoffhose, dazu
niedrige Pumps, eine etwas zu enge dunkle Bluse und ihre Jacke und den Mantel
über dem Arm. Die dunkelblonden Haare waren zu einem Dutt nach hinten gesteckt,
und sie war dezent geschminkt. Das war neu. Das war sie für gewöhnlich nicht.
„Schminkst
du dich für Dr. Stunning?“, fragte Jo plötzlich, und
Libbys Augen weiteten sich erstaunt.
„Was?
Nein! Ich tue das hin und wieder, ok?“ Jo hob abwehrend die Hände.
„Ok,
klar.“ Gott, Libby war also wirklich schlecht gelaunt.
Sie
erreichten den Hörsaal und Blake war vertieft über seinem Smartphone und
beachtete Lucy vielleicht zum ersten Mal nicht. In der gesamten Zeit, in der
sie ihn kannte war das noch nie vorgekommen.
Sie
setzten sich neben Blake, und er sah nicht von seiner Lektüre auf.
Auch Georgiana Leman stattete der Veranstaltung einen Besuch ab,
erkannte sie. Auf die letzten Minuten füllte sich der Hörsaal zur Gänze, und
sie war sich sicher, Blake hatte erkannt, dass tatsächlich nur Frauen anwesend
waren. Wie sehr musste er es wohl gerade hassen, hier zu sein?
Und die
hintere Tür öffnete sich, und sehr gut gelaunt betrat Dr. Cunning den Hörsaal,
gekleidet in elegantem schwarz. Selbst die Uhr um sein Handgelenk war schwarz.
Er zog das schwarze Jackett aus, legte es über einen Tisch vorne, und
schlagartig trat Stille ein. Widerwillig legte Blake sein Smartphone zur Seite
und lehnte sich gelangweilt zurück.
„Meine
Damen, mein Herr“, begann er zwinkernd, und Blake verdrehte die Augen. Seine
Stimme war angenehm einlullend, fand sie. Die Tür zum Hörsaal öffnete sich ein
weiteres Mal. Alle wandten die Blicke nach hinten. Ihr Mund öffnete sich
perplex.
„Mr Adler, haben Sie sich verlaufen?“, erkundigte sich
Cunning glatt, aber Greyson Adler schritt zielsicher die Stufen ganz nach
unten, um sich in den Block neben ihr in die erste Reihe zu setzen.
„Nein.
Ich bin angemeldet, Dr. Cunning“, erklärte er schlicht, ohne den Blick
abzuwenden. Er legte einen Collegeblock vor sich auf den Klapptisch.
„Ist das
so?“ Cunning sah kurz durch seine Liste, sagte aber nichts weiter.
„Schön,
fahren wir also fort.“ Seine Stimme klang abgeklärter. Sofort wurde Greyson von
Georgiana Leman in ein Gespräch verwickelt, in dem sie
auf ihn einredete, während sie sich immer wieder durch die hellblonden Haare
fuhr. Jo verengte die Augen, denn auch Georgiana trug
ein großes Pflaster auf ihrem Unterarm. Weitere Mädchen lehnten sich nach
vorne, um Greyson zum Sieg gestern zu gratulieren oder einfach, um mit ihm zu
sprechen.
Demonstrativ
blickte Jo wieder nach vorne, und Blake sah mittlerweile so genervt aus, dass sie dachte, gleich würde er aufstehen und gehen.
„Wieso
bist du so angespannt?“, fragte sie ihn vorsichtig, während Cunning die
Charaktere einiger wichtiger Werke an die Tafel schrieb. Zuerst dachte sie, er
würde nicht antworten, aber dann öffnete er den Mund.
„Ich bin
kein großer Fan von diesem Cunning oder Greyson Adler“, erklärte er leise, ohne
den Blick von der Tafel abzuwenden. Das verstand sie vielleicht. Auch wenn sie
keine Begebenheit nennen konnte, an dem Greyson Blake irgendwie angegriffen
oder beleidigt hätte.
Und sie
hatte das dumpfe Gefühl, dass es kälter geworden war. Immer wieder wandte sich
ihr Blick in Greysons Richtung, und jedes Mal ertappte sie sich dabei und
blickte wieder wütend nach vorne.
Nicht
genug, dass er tatsächlich wieder einmal in ihren Spint eingebrochen war, nein!
Jetzt besaß er auch noch die Dreistigkeit hier aufzutauchen!
Die Zeit
war träge vergangen, und sie hatte eher widerwillig mitgeschrieben. Aber sie
hatte ihm zugehört, seiner Stimme erlaubt, in ihr Bewusstsein einzudringen und
bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sie Greyson Adler fast verdrängt. Lucy hatte
sich erhoben und so auch Blake. Libby packte eilig ihre Unterlagen zusammen.
Nur
Greyson blieb anscheinend sitzen. Entspannt klappte er den Block zu und zog den
Reißverschluss seiner blauen Kapuzenjacke nach oben. Aber er erhob sich nicht.
Und jetzt
fing er ihren Blick auf. Sie hielt die Luft an. Sie wusste, sie war
wahrscheinlich zu paranoid, aber er war gewalttätig! Und gefährlich! Aber
Cunning sah nicht verletzt aus oder schien sich bedroht zu fühlen.
Er hatte
ebenfalls begonnen, seine Unterlagen einzustecken, aber jetzt löste Greyson den
Blick von ihr, um nach vorne zu sehen. Ehe sich ihre Atmung regulieren konnte,
zuckte sie vor Schreck zusammen.
„Miss
Clark, hätten Sie vielleicht eine Minute Zeit?“ Sie war sich gewahr, dass sie
bestimmt hundert Mädchen anstarrten, während der schöne Mann ihr ein Lächeln
schenkte.
Neben ihr
wirkte auch Libby nicht gerade begeistert, und Blake stand nun neben ihr.
„Ich?“,
wiederholte sie verwirrt, und Cunning schenkte ihr ein breiteres Lächeln. „Ok?“
Das Wort verließ als Frage ihren Mund, und sein Gesicht erhellte sich erfreut.
Zuerst dachte sie, Blake würde sie nicht aus der Reihe lassen, aber schließlich
machte er einen Schritt zur Seite. Greyson saß immer noch ruhig auf seinem
Platz.
Cunning
registrierte dies mit einem Stirnrunzeln. Auch Lucy hatte eine Augenbraue
gehoben. Wahrscheinlich wunderte sie sich, dass Dr. Stunning
nicht sie auf ein Wort nach vorne gebeten hatte.
Sie
folgte ihm mit weichen Knien. Libby und Lucy, sowie Blake gingen langsam die
Stufen empor, aber immer den Blick zurück gerichtet. Cunning führte sie um das
Pult herum, zum äußersten Ende des Hörsaals.
„Ich will
Ihnen nicht zu nahe treten, in keiner Art und Weise, Miss Clark“, begann der
Mann vor ihr jetzt, und sie fand, er wirkte noch jünger. Sie verengte die
Augen. Sie konnte keine Falte in seinem Gesicht entdecken. Nichts, was ihr
Anzeichen liefern könnte, dass er tatsächlich über dreißig war – was er wohl
nicht war?!
„Wie alt
sind Sie?“, platzte es aus ihr heraus, bevor sie nachdenken konnte. Überrascht
hatte er eine Augenbraue gehoben, schien ihr ihre Impertinenz aber nicht übel
zu nehmen.
„Bitte?“,
entgegnete er, aber sie glaubte, dass er fast lächelte.
„Entschuldigen
Sie, Dr. St…- Cunning.“ Und schon wieder hätte sie sich fast versprochen. Seine
Augen schienen sie zu durchleuchten.
„Ich
möchte wirklich, dass Sie zu mir kommen, wenn Ihnen dieser junge Mann Probleme
bereitet. Ich bin mir nicht sicher, weshalb er es auf Sie abgesehen hat, aber
er scheint äußerst lästig zu sein“, erklärte er mit einem Blick über ihre
Schulter. Anscheinend sprach er von Greyson. Aber zurzeit hatte sie ihren
Ausweis wieder, und sie war froh, überhaupt ein Wort vor diesem schönen Mann
raus zu bekommen.
„Nein,
keine Probleme“, erklärte sie tapfer. Er ließ sie nicht aus den Augen.
„Wenn…
Sie sich auch noch für eine private Stelle bei mir interessieren, Miss Clark –
das ließe sich einrichten“, fügte er jetzt ruhiger hinzu. Und sie wusste nicht,
weshalb dies wie ein unmoralisches Angebot klang, aber ihr Herz machte einen Satz.
„Ich…
denke nicht, dass… ich die Zeit dafür hätte“, erklärte sie tonlos. Ihre Stimme
hatte sich verabschiedet.
„Falls Sie Ihre Meinung ändern sollten, meine Tür steht Ihnen offen. Ich habe
auch gern ein Auge auf diesen… Jungen für Sie, Miss Clark, wenn Sie es
wünschen. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn es Ihnen unangenehm ist zum
Direktorat zu gehen“, erwiderte er fast verschwörerisch.
„Ok, Dr.
Cunning“, gab sie perplex zurück. Sein Mund kräuselte sich im Anflug eines
betörenden Lächelns. Schwarz stand ihm gut.
„Miss
Clark, falls es von besonderer schulischer Wichtigkeit für Sie sein sollte,
schlage ich vor, Sie versuchen mein Alter selber rauszufinden. Sie scheinen mir
ein kluges Mädchen zu sein.“ Er lächelte charmant und machte keine Anstalten den
Blick von ihr abzuwenden.
Sie
spürte, wie Hitze in ihre Wangen trat. Himmel! Flirtete er mit ihr? Ein
Professor? Konnte das sein? Sie hielt es nicht für möglich. Nach wenigen
Sekunden schaffte sie es, den Blick zu senken. Er hatte ihr eine Stelle angeboten.
Aber er schüchterte sie ein. Auf eine seltsame Weise.
Sie
lächelte zaghaft und drehte sich um. Blake wartete oben, soweit sie es erkennen
konnte, und auch Greyson hatte sich von seinem Platz erhoben. Er hatte den
Blick auf etwas hinter ihr fixiert. Sie nahm an, er funkelte Cunning böse an,
aber als sie sich noch einmal umwandte, sah sie nur, wie sich die hintere Tür
langsam schloss. Cunning war schon fort.
Wo war
eigentlich sein Büro?
Sie kam
zur ersten Stufe der Treppe, die nach oben führte und war sich wieder Greysons
Blick gewahr, den sie beim besten Willen nicht deuten konnte.
Er ließ
ihr den Vortritt, mit dem schlichten Rucken seines Kopfes. Ihre Augen weiteten
sich ungläubig, und so würdevoll es mit ihren weichen Knien ging, stapfte sie
an ihm vorbei.
Oben
angekommen, erkannte sie, dass einige seiner Sportkollegen auf ihn warteten.
Sie
hörte, wie sie über die Unnötigkeit dieser Vorlesung
sprachen. Greyson kam kurz nach ihr aus dem Hörsaal.
„Hey, bist
du jetzt fertig?“, wollte ein großer, schwarzer Junge wissen, der ihm kollegial
die Hand auf die Schulter schlug, als hätte Greyson so eben eine furchtbar
anstrengende Prüfung abgelegt.
„Was
wollte er?“, fragte Lucy sofort. War sie wirklich eifersüchtig?
„Nichts
weiter. Wollte mir eine Stelle anbieten, und-“
„Eine
Stelle?“, unterbrach sie Libby offensichtlich skeptisch. „Wirklich?“ Blake
hatte auch seufzend die Arme vor der Brust verschränkt, und fuhr sich über die
Stirn.
„Was ist
los? Du bist unentspannt und verhältst dich seit
Tagen furchtbar anstrengend!“, erklärte Lucy jetzt und war definitiv gereizt.
Jo hörte, wie sich Greyson mit einigen Handschlägen verabschiedete, und
offensichtlich den Weg zu ihrer Gruppe zurücklegte. Sie legte entgeistert den
Kopf in den Nacken als er neben ihr zum Stehen kam. Er tauschte einen Blick mit
Blake.
Dieser
atmete sehr langsam aus, und Lucy schüttete verwirrt den Kopf.
„Was wird
das hier?“, verlangte sie zu wissen. „Husch, geh zu deinen Sportlern,
Quarterback!“, befahl sie, und es war bezeichnend, dass sie nicht einmal
versuchte, sein Interesse zu wecken. Andere Mädchen wären über sein Auftauchen
bestimmt begeistert gewesen. Aber er wandte sich ihr zu, als wäre es
selbstverständlich, und schüttelte den Kopf.
„Nein“,
erklärte er, anscheinend befehlsgewohnt. Seine Stimme klang autoritär genug,
dass sich Lucys Mund überrascht schloss. Ihre Augen weiteten sich jedoch. „Ich
begleite Joanna jetzt in die Bibliothek.“ Und er sagte dies, während sein Blick
wieder zu Blake gewandert war, mit einer Selbstverständlichkeit, die ihren Mund
offen stehen ließ. Blake war mehr als einen Kopf kleiner, aber nichts
Lächerliches war an diesem Gespräch zu finden.
Nachdenklich
rieb sich Blake das Kinn, ehe er den Blick zu Greysons Augen hob.
„Ja“,
erwiderte er schließlich nickend. Und sie schüttelte heftig den Kopf.
„Was passiert hier gerade?“, wollte sie wissen, aber Blake musterte Greyson
skeptisch und ignorierte ihre Worte.
„Ich
hoffe, du weißt, ich vertraue dir nicht“, entgegnete Blake offen, und Greyson
nickte.
„Ich
weiß. Aber im Moment gibt es keine bessere Wahl“, gab Greyson zurück, als
würden seine Worte irgendeinen Sinn ergeben!
„Hallo?“, wagte sie zu rufen, aber Lucy verschränkte lediglich die Arme vor der
Brust, Libby sortierte ihre Unterlagen neu, und Blake schien hin und
hergerissen zu sein.
Nur sie
fühlte sich ausgeschlossen von einem Film, auf den sie sich keinen Reim machen
konnte. Es musste verrückt aussehen! Ihre Gruppe, zusammen mit dem
Football-Idioten!
„Er
begleitet dich“, informierte sie Blake schließlich. Greyson nickte daraufhin
nur.
„Was? Wieso? Was soll das, Blake?“, wollte sie ungeduldig wissen, denn sie
hatte keine Lust auf dieses seltsame Spiel. Aber Blake schien ihr nicht mal
antworten zu wollen.
„Es gibt
einige bessere Möglichkeiten als ihn!“, beschwerte sich Lucy plötzlich, die
Arme immer noch verschränkt, plötzlich ernster, als schien sie die Absurdheit dieser Unterhaltung tatsächlich zu begreifen.
„Ich glaube, jetzt ist nicht unbedingt der beste Zeitpunkt, um das zu
diskutieren?“, warf Libby nervös ein und zog ihre Bluse zurecht.
„Nein“,
bestätigte Blake. „Du musst zurück, richtig?“, wandte er sich neutral an Libby,
die nickte. Jo spürte, wie sich Falten der Verwirrung tief in ihre Stirn
gruben. „Und kein Wort!“, fügte er warnend hinzu, und Libby verdrehte
tatsächlich genervt die Augen.
„Ich jagt
mir Angst ein, Leute. Was ist los? Was soll das hier? Seit wann reden wir mit
Sportler-Idioten?“ Sie wandte sich mit offenem Mund an Greyson, wartete auf
irgendeine Antwort, aber er sah sich nur abwartend um.
„Gibt es
einen besseren Plan als den, dass sich der Hüne kümmert?“, wollte Lucy jetzt
wissen, zog an einer roten Strähne und wickelte diese abwesend um ihren
Zeigefinger, während sie darauf zu warten schien, dass Blake eine bessere
Lösung parat hatte.
„Ich weiß
es nicht. Im Moment ist es nicht sicher. Gesten Nacht waren die Spuren nicht zu
übersehen“, erklärte er nur.
„Und wir
vertrauen dem Hünen? Ich dachte, das hätten wir vor Monaten abgelehnt“,
beschwerte sie sich, und Jo wedelte mittlerweile verzweifelt mit den Händen.
„Hallo?
Was soll das? Wovon sprecht ihr? Ich werde gehen, denn ihr seid verrückt
geworden!“, erklärte sie nur und wandte sich ab. Und Greyson folgte ihr in
derselben Sekunde.
„Wehe, du
folgst mir!“, warnte sie ihn verstört. „Geh weg von mir!“, fügte sie hinzu, als
er nicht reagierte. Sie machte größere Schritte, aber er hielt problemlos
Schritt.
Sie
stoppte abrupt, strich sich zornig eine dunkle Strähne hinter das Ohr, und
starrte ihn von unten an. „Hör auf damit!“
„Es ist
völlig egal, was du sagst oder was du willst, Clark. Du wirst keinen Schritt
alleine machen.“ Und er sagte es auf eine so beunruhigende Art und Weise, dass
sie eine Gänsehaut auf ihren Unterarmen spürte. Als sie den Kopf wandte, sah
sie, dass Blake und Lucy ins Gespräch vertieft waren, und es anscheinend
niemand weiter störte, dass Greyson Adler ihr erklärte, dass er sie verfolgen
würde!
Kopfschüttelnd
hatte sie sich umgewandt und zornig schritt sie durch die langen Gänge. Und
niemand schien sich wirklich zu stören. Er folgte ihr lautlos, hielt mit ihr
Schritt, aber niemand schenkte ihnen weiter Beachtung, dabei war jedem klar,
wer er war – aber niemand kannte sie!
„Wo gehst
du hin?“, fragte er, als sie zum Eingang abgebogen war.
„Raus!“,
rief sie hysterisch, aber er versperrte ihr kopfschüttelnd den Weg.
„Raus ist
keine Option.“ Ihr Mund öffnete sich, und hilfesuchend sah sie sich um.
„Keine
Option?“, wiederholte sie ungläubig. „Was soll das? Ist das ein Scherz?
Verfolgst du mich jetzt aus Sport? Hast du Blake gedroht? Bestichst du die
anderen? Was ist das für eine bescheuerte Nummer, Adler?“ Und tatsächlich
zuckten seine Mundwinkel, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. „Lass mich in
Ruhe!“
„Sehr
gerne, aber…“
„Aber?“,
wiederholte sie verzweifelt, reckte die Hände in die Höhe und hätte weinen
können.
„Aber das
geht nicht.“
„Es geht
nicht?“
„Nein“, bestätigte
er, und dieses Gespräch hatte keinen Sinn ergeben. „Am besten gehen wir zur
Bibliothek, du arbeitest deine Schicht ab und dann sehen wir weiter“, erklärte
er abwesend und sah sich um.
„Bist du
völlig übergeschnappt?“
Er
schloss in einer einzigen fließenden Bewegung den Abstand zu ihr, fixierte ihre
Augen mit seinem stechenden Blick und jagte ihren Puls in eine ungeahnte Höhe.
„Du wirst
jetzt mit mir zur Bibliothek gehen, Joanna.“ Seine Stimme erreichte eine Tiefe,
die nur noch ein Grollen war, und wie hypnotisiert öffnete sich ihr Mund, und
eine Art von Willenlosigkeit überkam ihren Geist.
„Ok…“,
sagte sie nur, während sie den Blick nicht von ihm wenden konnte.
Sie nahm
am Rande ihres Bewusstseins war, wie sich seine Atmung beschleunigte und er
sich fast nervös durch die Haare fuhr. Benommen schüttelte sie den Kopf, denn
die Stimmung hatte sich verändert. Ihre Fingerspitzen kribbelten plötzlich.
„Komm
jetzt“, befahl er tonlos und deutete mit dem Arm in die Richtung, aus der sie
gekommen war. Und es war die plötzliche Angst, die ihre Beine laufen ließ, die
sich seinen Worten fügte, und ihr gesamter Körper kribbelte unangenehm.
Greyson
sah sie nicht mehr an, bis sie die Bibliothek erreicht hatten.
Kapitel 5
~
Mails ~
Es war so
absurd, dass sie keine Erklärung parat hatte, als sie Dana ablöste.
„Du…
bringst ihn mit?“ Und anscheinend nahm sie es ihr mehr als übel, aber
Jo konnte es ihr nicht mal erklären.
„Er folgt mir einfach“, sagte sie also, und wünschte sich, Dana
würde sie nicht so ansehen, als ob sie gerade log. „Wirklich“, fügte sie hinzu.
„Ich habe versucht, ihn loszuwerden, aber anscheinend ist er jetzt verrückt
geworden!“, erklärte sie ernsthaft, aber Dana zuckte die Achseln.
„Das
erste Mal interessiert sich also jemand für dich, der nicht aussieht wie ein
Troll und du lässt dich einfach beeinflussen.“ Dana schüttelte bedauernd den
Kopf, und Jo verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
„Es geht dich überhaupt nichts an, aber ich lasse mich nicht beeinflussen. Und
bist du nicht längst in seinem Bett gelandet, Dana? Willst du mir wirklich,
unter allen Menschen, eine Moralpredigt halten? Denn im Gegensatz zu dir werfe
ich mich an keinen Hals!“ Und das waren mehr Worte, als sie je mit Dana Grueson gewechselt hatte.
Beleidigt
war diese abgezogen, während Greyson wachsam am Tresen lehnte.
„Zufrieden?“,
erkundigte sie sich vollkommen genervt, und er betrachtete sie wie etwas
äußerst Lästiges.
„Wie wäre
es, wenn wir uns nicht unterhalten würden, Josie?“ Und er schien ihren Namen
wieder einmal vergessen zu haben.
„Vielleicht
nehme ich Dr. Cunnings Vorschlag an“, erklärte sie wütend. Er hob belustigt
eine blonde Augenbraue.
„Ja,
welchen? Für ihn zu arbeiten oder mich bei ihm anzuschwärzen?“ Kurz war sie
verblüfft, aber es wunderte sie nicht, dass er gelauscht hatte! Vielleicht
konnte er auch Lippen lesen oder sonst was.
„Ich bin sicher, er würde dich nur zu gerne von unserem College werfen
lassen!“, drohte sie jetzt, aber er seufzte nur.
„Ja,
würde er gerne“, bestätigte er und lächelte bitter.
„Mr Leman hat schon andere Studenten von hier entlassen!“,
gab sie zurück.
„Mr Leman hat anderes zu tun“, blockte er schlicht ab, und
sie schüttelte den Kopf bei so viel Dreistigkeit.
„Was ist
los mit euch allen?“, fragte sie, und er verdrehte gereizt die Augen.
„Halt endlich deinen Mund, mach dir keine Gedanken, und lass mich in Ruhe.“ Ihr
Mund öffnete sich zornig. Als ob sie diejenige wäre, die sich komisch verhielt!
Es reicht ihr!
„Du… du quälst mich seit… seit über zwei Jahren, Adler! Du hältst meine
Fachschaft davon ab, an überhaupt irgendwelchen Ausflügen und
Freizeitbetätigungen teilzunehmen, du verhinderst jede Party, und ständig bist
du in meiner Nähe, nur um mein Leben zur Hölle zu machen!“, fuhr sie ihn zornig
an. Aber ihre Worte ließen ihn nur noch gereizter werden.
„Ich
lasse dich in Ruhe, du scheiß Idiot! Du willst mich von jedem
zwischenmenschlichen Kontakt abschotten? Und weshalb? Weil du verhindern
willst, dass ich überhaupt Spaß habe?“, ergänzte sie nahezu hysterisch, und
ignorierte, dass man in der Bibliothek nicht schreien durfte. Alle waren
verrückt geworden!
Er schien
abzuwarten, bis ihr Ausbruch beendet war. Sie atmete schneller und konnte nicht
begreifen, wie er sie so kalt und gleichmütig ansehen konnte. Sie wollte eine
Antwort, aber er schien sich beharrlich zu weigern, und es regte sie auf.
„Bist du
fertig?“, erkundigte er sich langsam, und er trieb sie zur Weißglut.
„Wieso verpisst
du dich nicht?“ Und kurz schien er antworten zu wollen, kurz funkelte etwas in
seinen Augen. Kurz wirkten sie grüner, kurz schien es, als drohe er seine
Fassung zu verlieren, aber der Moment war so schnell weg, wie er gekommen war.
„Setz
dich, beende deine Schicht, und bitte, Clark, lass mich in Ruhe!“ Und es war
eine Drohung. Und es machte den Anschein, als wolle er genau da stehen bleiben,
wo er war.
Und sie
schrie erneut.
Sie stieß
ihm sogar vor die Brust.
Sie
versuchte sogar, erneut zu gehen.
Aber ohne
Erfolg.
Stumm
hatte er sie aufgehalten, erduldete ihre Ausbrüche, bis sie sich, nach einer
geschlagenen halben Stunde auf den Stuhl fallen ließ. Sie fixierte seinen
Rücken und hatte nicht mal Lust, zu lesen.
Im
dunklen, verspiegelten Bildschirm des PCs betrachtete sie ihr verwirrtes
Spiegelbild. Einige dunkle Strähnen hatten sich auf ihrem Zopf gelöst und
fielen ihr in die Augen, welche sie groß und völlig planlos anblickten. Ihr
Mund war zu einer schmalen Linie zusammen gepresst, und ihr kam eine Idee.
Vielleicht
konnte sie die Emailadresse von Dr. Stunning über das
Netzwerk des Colleges herausfinden. Sie hatte einen Zugang zu diesem Netzwerk,
denn sie arbeitete schließlich für das College, und sei es nur, dass sie Bücher
für Studenten auslieh.
Sie
startete den Rechner und wartete auf eine Internetverbindung.
Sie hatte
den Namen in der Suchoption eingegeben, und der College Server prüfte gerade
sämtliche Verzeichnisse.
Sie
öffnete Google, um seinen Namen dort einzugeben. Wenn auch nur aus Spaß oder
Langeweile, oder was eben der Grund für so etwas war.
Und es
gab ziemlich viele Hits. Ziemlich viele. Sie fand auch einen Link zurück zu der
College Homepage mit seinen Angaben.
Viele
Bilder erschienen, aber auf keinem war er zusehen. Der Name war häufig in
Irland zu finden, stellte sie fest, denn viele irische Referenzen liefen über
den Bildschirm.
Ehe sie
den Link zum College öffnete blieb ihr Blick an einer anderen Überschrift
hängen.
Einzig Überlebender der Callahan, Strait of Georgia, April 1911
Sie
überflog den Bericht über eine Schiffsfahrt nach Kanada, die unter mysteriösen
Umständen nie beendet wurde. Neben dem einzig überlebenden Passagier dieses
Schiffes hatte ein Augenzeuge an der Anlegestelle durch sein Fernglas verfolgt,
wie das erwartete Schiff plötzlich eine Kehrtwende machte und kippte.
Es brach
unter dem Wasserdruck in mehrere Teile, und als die Küstenrettung zwei
stundenlang vergebens nach Überlebenden oder Körpern gesucht hatte, konnten sie
nur einen Mann unversehrt aus den Fluten retten.
Der Mann
namens William Cunning erklärte, er hätte keine Erinnerung mehr an das
Geschehene. Er wurde zur Küste ins nächste Hospital gebracht, und nach weiteren
sechs Stunden konnte das Wrack gefunden und geborgen werden.
Die hundertfünfzig
weiteren Passagiere, inklusive des Kapitäns und der Besatzung, hatten nicht
überlebt, und ihre kaum erkennbaren Überreste waren von der Küstenrettung
geborgen und an Land gebracht worden.
Weiter
verwies der Link noch auf ähnliche Unglücke, ein weiteres mit einem Mann namens
William Cunning, allerdings hundert Jahre zuvor.
Sie
klickte gelangweilt auf diesen Link, aber bei diesem Unglück hatten zwei Männer
überlebt, so hieß es in dem Bericht. Zwei Brüder, William und Cilian Cunning,
konnten aus den Überbleibseln des Wracks gerettet werden, während die gesamte
übrige Besatzung nur vereinzelt, weit verteilt gefunden werden konnte. Das Meer
hätte sie verschluckt, wurde hier angenommen.
Es
schauderte sie kurz.
Sie
klickte sich zurück zu der Google Seite.
Cunning
war auch der Name eines Hotels in Irland, was wohl mit fünf Sternen bewertet
worden und seit über dreihundert Jahren immer im Familienbesitz gewesen war,
außerdem gab es Referenzen zur Marine, zum ersten Weltkrieg, unter den Namen
der Soldaten, und eigentlich gab es zu jeder möglichen geschichtlichen
Besonderheit diesen Namen mindestens einmal, auch Cilian Cunning tauchte ab und
auf.
Sie
klickte auf Bilder, und es erschien eine ganze Reihe an Fotos auf dem
Bildschirm. Und sie entdeckte tatsächlich sein Bild. Es konnte kein altes Bild
sein, denn er sah nicht älter aus als jetzt. Das Datum daneben war 2004. Also
war es doch fast zehn Jahre her. Dennoch sah er nicht älter aus. Sie klickte
auf die Website, die das Foto enthielt.
Es war
nur ein Steckbrief. Professor für Literaturgeschichte, geboren in Irland.
Nichts weiter. Kein Geburtsdatum, gar nichts.
Zurück
bei den Ergebnissen fiel ihr Blick auch auf die sprachliche Besonderheit des
Namens.
Eine
nicht gerade seriös aussehende Seite beschäftigte sich wohl mit den Ursprüngen
von Wörtern. Sie scrollte langsam die Definitionen
nach unten.
Und fast
schüttelte sie den Kopf.
Der
lateinische Ursprung kam von dem Wort Cunnus, was
verbergen bedeutete, aber innerhalb einer weiteren Zeitepoche wurde das Wort
auf die Weiblichkeit der Frau verwendet. Des Weiteren kam es in den frühen
Sprachgebrauch mit der Bedeutung von List und Tücke, anscheinend geprägt durch
eine lange Familientradition. Die Familie Cunning war Großgrundbesitzer einer
Grafschaft in England gewesen, so versuchte der Text es hervorzuheben. Und die
Pächter im Dorf verbanden mit der Familie Cunning die Habgier und Heimtücke,
mit der sie ihr Geld eintrieb.
Es endete
in gruseligen Ausführungen, dass die Cunnings die jungen Mädchen des Dorfes entführten,
die sich durch Wohlstand und Luxus blenden ließen. Das Wort stand für
Attraktivität in negativen Einflüssen und der Ersteller dieser Seite verband
das Entstehen des Wortes mit der englischen Familie, die diesen Namen getragen
hatte.
Sie
klickte sich zurück, um endlich den Link zum College zu öffnen.
Dort kam
sie auch auf seine persönliche Seite. Dr. William Cunning, Professor für
Literaturgeschichte, geboren in Irland. Keine weiteren Informationen, wo doch manche
Professoren ihr ganzes Leben und sogar die Namen ihrer Haustiere dort
verwalteten.
Es war
eine Emailadresse angegeben. W.Cunning@reynold-college.com.
Sie
zögerte, vergewisserte sich, dass Greyson sich nicht die Mühe machte, sich
umzudrehen, aber sie musste nichts befürchten. Er sah sich lediglich um, machte
kein Geräusch und schien einfach nur genervt zu sein.
Sie
öffnete die Emailadresse, und sofort sprang ein Fenster auf, wo sie ihre
Nachricht eingeben und mit ihrem Passwort ihren Account öffnen konnte. Sie
zögerte. Als sie einen weiteren Blick in Greysons Richtung riskierte, begann
sie langsam zu tippen.
_______________________________________________________________________
An:
W.Cunning@reynold-college.com
Betreff:
Greyson Adler
Absender:
J.Clark@reynold-college.com
Sehr
geehrter Dr. Cunning,
ich würde
Ihr Angebot gerne annehmen.
Ich
glaube, Greyson Adler erpresst meine Freunde, und ich könnte Ihre Hilfe
gebrauchen, falls Ihr Angebot noch bestehen sollte.
Bitte
schreiben Sie mir, sobald Sie es einrichten können.
Meine
Emailadresse ist die angegebene.
Ich
bedanke mich,
Joanna
Clark
_______________________________________________________________________
Damit
hatte sie die E-Mail abgeschickt und atmete erleichtert auf, als sich Greyson
immer noch nicht die Mühe machte, sich umzudrehen.
Ihr Herz
schlug allerdings eine Spur schneller, und abwesend biss sie sich auf die
Fingernägel, während sie den Bildschirm beschwor, dass er die Mail schon bald
lesen würde.
Ihr Blick
hob sich wieder zu Greyson, und sie fixierte seinen blonden Hinterkopf. Und als
hätte er es gespürt, drehte er sich nach einem Moment um.
„Was?“,
fragte er kühl, und sie schüttelte den Kopf.
„Nichts“,
gab sie nur zurück, und fühlte sich innerlich schon wohler, dass ihr Dr.
Cunning höchstwahrscheinlich helfen würde. Er hatte es ihr angeboten! Vor etwas
mehr als einer Stunde! Sein Angebot würde bestimmt noch gelten.
Es
ertönte das Ping aus ihrem Emailpostfach, und sie zuckte vor Schreck auf dem Stuhl
zusammen. Das ging wirklich schnell. Greyson verengte die Augen, und sie sah so
unschuldig, wie sie es nur fertig brachte, zu ihm auf.
„Post“,
erklärte sie gleichmütig, und gereizt wandte er den Blick wieder von ihr ab.
Ihre Hand führte die Maus hastig zur Anzeige, und tatsächlich öffnete sich eine
Mail von Cunning.
__________________________________________________________________________
An:
J.Clark@reynold-college.com
Betreff:
Greyson Adler
Absender:
W.Cunning@reynold-college.com
Sehr
geehrte Miss Clark,
ich kann
Ihnen versichern, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, damit Mr Adler Sie nicht mehr belästigt. Ich hatte schon einige
Auseinandersetzungen mit ihm, und er hat die größten Probleme mit Autorität,
aber eine Auseinandersetzung haben Sie ja bedauerlicherweise mitbekommen, nicht
wahr?
Ich kann
Ihnen eine persönliche Beratung anbieten, wenn Sie noch heute daran Interesse
haben. Um sechs Uhr endet meine Dienstzeit. Wenn Sie wollen, kommen Sie in mein
Büro im zweiten Stock, Zimmer 206.
Prof. Dr.
W.C. Cunning
Fachbereich
Literaturgeschichte
___________________________________________________________________________
Sie
fühlte wieder Hitze in ihre Wangen steigen. Er hatte sie also darauf
angesprochen! Sie hatte also recht gehabt, und Greyson hatte ihn bedroht! Er
verdiente es sofort des Colleges verwiesen zu werden! Sie hatte einfach wieder
einmal recht gehabt.
Sie hatte
keine Ahnung, wie sie heute Abend um sechs Uhr unbemerkt zu seinem Büro kommen
sollte? Vielleicht würde Greyson selber noch zu tun haben? Er konnte ja
unmöglich den ganzen Tag und die ganze Nacht damit zubringen, sie zu
terrorisieren, richtig? Er würde doch irgendwann Blake zwingen, den er
anscheinend auch kontrolliert, und dann würde sie eine Möglichkeit haben, zu
entkommen.
Sie
atmete verzweifelt aus. Noch drei Stunden musste sie hier aushalten, bis ihre
Schicht zu Ende war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es schaffen sollte. Ihre
Finger trommelten abwesend auf der Schreibtischplatte, und sie wollte nur, dass
er endlich ging!
Aber er
tat ihr den Gefallen einfach nicht.
Widerwillig
meldete sie sich von ihrem Konto ab und kramte ein Buch aus ihrer Tasche.
Es war
von keiner großen Wichtigkeit, wie sie feststellte.
Der Titel
lautete „The Grey Room“ und schien eine der uralten
Geschichten zu sein, die Cunning ihnen zu lesen aufgetragen hatte. Wofür stand
wohl das „C“ in seinem zweiten Vornamen…?
Missmutig
begann sie zu lesen. Und Greyson zu ignorieren.
~*~
Es war
eine schiere Endlosigkeit vergangen. Greyson folgte ihr tatsächlich, als sie
die Bibliothek verließ, aber in der Halle trafen sie auf Blake. Die meisten
Studenten beendeten gerade ihren Tag, und es herrschte reges Treiben in den
Gängen.
Alle
schoben sich aneinander vorbei, drängten in die Cafeteria, aber das Essen heute
roch nicht gerade besonders verlockend.
„Irgendwas
passiert?“, fragte er, immer noch nachdenkliche Falten auf der Stirn, und er
wandte sich direkt an Greyson.
„Nichts
passiert“, gab dieser zurück, als würden sie irgendeine Art Code sprechen. Sie
biss sich auf die Lippe und überlegte sehr schnell.
„Ich will
meinen Abend jetzt mit meinen Freunden verbringen, wenn das möglich ist?“,
giftete sie, und hoffte, sie könnte gleich mit Blake darüber reden, wie sie
Greyson austricksen konnten. Es war doch wohl lächerlich, dass er sie so
einschüchtern und bedrohen konnte. Vielleicht konnte sie auch jetzt noch zu Mr Leman gehen! Er hatte bestimmt ein offenes Ohr für
Studenten seines Colleges, die drangsaliert wurden. Immerhin war er der
Direktor.
Blake und
Greyson tauschten einen Blick, der sie ihre Augen verdrehen ließ.
„Was
denkst du, was wir tun, Adler?“, murrte sie, und beide Jungen warfen ihr einen
knappen Blick zu. „Was auch immer du von willst, es ist nicht nötig, dass du
uns 24 Stunden am Tag beschattest!“ Blake betrachtete sie eingehender.
„Wir
müssen uns mal unterhalten, Jo“, begann er zögerlich. Und Greyson atmete
zusehends gereizter aus.
„Das
bezweifle ich.“ Er beendete seine mutmaßliche Drohung nicht, aber Jo verstand
es nicht. Was? Über was wollte er reden? Wie Greyson ihn erpresste? Was konnte Blake schon verheimlichen? Sie
verstand es nicht, aber anscheinend war die Entscheidung gut, dass sie Cunning
geschrieben hatte. Sie würde es Blake gleich berichten.
„Alles in
Ordnung hier?“ Lucy gesellte sich zu ihnen. Mit einem Blick auf Blake nickte
sie. „Alles ok“, fügte sie leiser hinzu. Er nickte daraufhin.
„Leute, ihr seid doch bescheuert“, murmelte sie kopfschüttelnd, und als wäre es
abgesprochen, kamen Greysons Leute auf ihn zu.
„Hunger,
Grey?“ Und sie beachteten sie und Lucy und Blake überhaupt nicht. Nicht mit
einem Blick. Nicht mit einem Wort, wurde seit dreistündige Abwesenheit
überhaupt kommentiert. Sie starrte ihnen nach, als sie sie einfach stehen
ließen und abzogen.
„Wieso
lasst ihr euch von ihm erpressen? Ich begreife es nicht!“ Lucy hob eine
Augenbraue und schüttelte die roten Haare über die Schulter.
„Erpressen? Von diesem Idioten?“, wiederholte sie ungläubig und unterdrückte wohl
ihr Lachen. „Oh Mann, deine Fantasie, Jo…“ Sie tat ihre Unterstellung mit einem
Handwinken ab.
„Kommt Libby?“, erkundigte sich Blake, der auch nicht weiter auf ihren Vorwurf
einging, und beide schoben sie zu einem Tisch. Mit dem Blick auf die Uhr, stellte
sie fest, dass sie noch eine Stunde Zeit hatte, ehe sie in sein Büro konnte.
Und sie
entschied sich schnell. Sie beschloss, Lucy und Blake nichts von dem Treffen zu
erzählen. Stattdessen folgte sie ihnen schweigend.
Als sie saßen, auf dem Tablett nicht vertrauenerweckendes
Kartoffelgratin, legte sie ihre Gabel zur Seite.
„Ihr wollt mir also nicht erzählen, was es damit auf sich hat, dass Greyson
Adler – Greyson Adler – mich begleiten musste?“ Sie wiederholte den
Namen, falls es beiden entgangen sein sollte, wie absurd es war! Beide
tauschten wieder einen Blick, aber Blake stach lediglich missmutig eine
Kartoffel auf seine Gabel. „Also nicht? Ich verstehe es nicht!“, wiederholte
sie bestimmt zum hundertsten Mal, und Lucy atmete entnervt aus.
„Jo…“, begann
sie, brach dann aber ab, und wandte sich wieder an Blake.
„Wieso
isst du nicht? Du musst doch umkommen vor Hunger?“, sagte er lediglich und sie
schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wirklich? Das ist alles, was du zu mir sagst?“
„Ich kann
dir nicht viel mehr sagen, Joanna“, erklärte er, fast zu gereizt. „Solange ich
mir nicht sicher bin, lohnt es sich nicht, irgendwelche Märchen zu erzählen“,
fügte er hinzu und biss grimmig in die Kartoffel. Lucy grinste wieder.
„Vertrau
mir, es ist nichts weiter von so dramatischer Wichtigkeit.“
„Ich will
wissen, ob wir von Greyson und seinen Leuten erpresst werden, oder was auch
immer! Wir können ihn von der Schule werfen lassen, das wisst ihr, richtig?“,
begann sie wieder, und Lucys Grinsen wurde breiter.
„Also,
das fände ich auch eine gute Idee“, bestätigte sie.
„Ja, das würde dir gefallen, ich weiß“, bemerkte Blake bitter. „Nein, das ist
keine Option, und ob du es glaubst oder nicht, wir werden nicht von Greyson
erpresst. Zumindest noch nicht“, ergänzte er leiser.
„Noch
nicht? Was läuft dann hier?“
„Oh je,
das ist ja eine lustige Runde“, bemerkte Libby, die unbemerkt an den Tisch
gekommen war.
„Ja,
unheimlich lustig! Wir werden anscheinend bald von Greyson Adler erpresst!“,
wiederholte sie Blakes Worte, und Libbys Stirn legte sich in Falten.
„Mit was?“, wollte sie lediglich wissen, und mit Erstaunen bemerkte Jo ein
weiteres Pflaster auf Libbys anderem Arm.
„Was hast
du da? Noch einen… Kratzer?“, wollte sie wissen, und Blake sog scharf die Luft
ein.
„Ja. Viele Bücher, scharfe Seiten“, erklärte sie ruhig. Sie setzte sich
allerdings nicht, schien sich äußerst unwohl zu fühlen. „So…“
„Bist du…
ritzt du?“, fragte Jo sie nun prüfend, und zuerst schien Libby nicht zu
verstehen, dann tauschte sie einen Blick mit Blake, und ihr Mund öffnete sich
langsam.
„Ich…
nein! Ich…“ Sie blickte zur Seite, schien nachzudenken, und sah sie dann wieder
an. „Oh, ich will darüber jetzt nicht reden, ok?“ Ihr Blick war ernsthaft,
ehrlich und sie zog sich kopfschüttelnd den Stuhl näher zum Tisch. „Was machen
wir?“, wandte sie sich jetzt an Blake, als hätte Jo gerade überhaupt keine
Suizidfrage gestellt.
Jos Mund
öffnete sich, aber immerhin schien Blake wieder tödlich beleidigt zu sein.
Niemand
sprach für eine Weile, und sie räusperte sich schließlich.
„Ich muss zur Toilette. Komme gleich wieder.“ Und wie selbstverständlich erhob
sich Lucy nach einem kurzen Blickwechsel mit den anderen.
„Ich
begleite dich“, erklärte sie nur. Und Jo wartete kurz, sah wieder ungläubig in
die Runde und begann wieder den Kopf zu schütteln.
„Ernsthaft?“,
fragte sie jetzt und hob die Arme.
„Ich muss
auch“, erklärte Lucy ungerührt. Jos Mund öffnete sich verständnislos.
„Ich
werde zur Toilette gehen. Und das möchte ich alleine tun, denn bisher habe ich
heute noch nichts alleine getan, außer zu duschen. Ich werde gezwungen, meine
Schicht mit Greyson zu verbringen, und jetzt willst du mich auch noch bis aufs
Klo begleiten? Ich glaube nicht!“, beschwerte sie sich eisig. Alle Freunde
tauschten einen kurzen Blick.
Lucys
helle Augen wirkten plötzlich fremd für sie. Alle ihre Freunde hatten auf
einmal etwas Befremdliches an sich.
„Ich sehe
auf die Uhr, Jo“, erklärte Lucy jetzt, und von Freundlichkeit oder Scherz war
keine Spur in ihrer Stimme. Wenn du in zehn Minuten nicht genau wieder hier an
diesem Platz bist, komme ich hinter dir her, und glaub mir, meine Nase ist gut
genug, um dich zu finden, verstanden?“ Und auch Lucy sprach tatsächlich eine
Drohung aus. Blake rieb sich wieder einmal die Schläfen und schien überfordert
zu sein.
„Zehn
Minuten“, wiederholte er ebenfalls.
„Deine
Zeit läuft“, informierte sie Lucy übertriebener weise, wackelte kurz mit den
Augenbrauen, und hastig machte Jo kehrt.
Zehn
Minuten. Sie hatte noch gar keinen Termin mit Dr. Cunning. Aber sie musste
nehmen, was sie kriegen konnte. Sie bog also ab, zu den Treppen und lief eilig
Stufe um Stufe nach oben, interessierte sich nicht für die Leute, die sie
anrempelte und hastete durch die Gänge, als würde sie gejagt werden. Von ihren
verrückten Freunden!
Sie
erreichte den Flur mit seinem Büro. 206… wo war das Zimmer? Sie prüfte die
Nummern, sie verliefen absteigend, und sie stolperte vorwärts. Da! Hastig
klopfte sie, und als sie keine Antwort hörte, drückte sie die Klinke.
Verschlossen!
Nein! Das konnte nicht wahr sein!
Wieder
drückte sie die Klinke, klopfte noch einmal und hörte plötzlich ein dumpfes
Geräusch. Nach einer kurzen Weile wurde ein Schlüssel gedreht. Sie wich zurück
und Cunnings Kopf erschien im Türspalt. Kurz weiteten sich seine hellen Augen.
„Miss
Clark“, entgegnete er zufrieden. „Ich hatte sie noch nicht erwartet“, fügte er
ruhig hinzu.
„Ich…
verzeihen Sie, aber…“
„Keine
Sorge. Geben Sie mir eine Sekunde“, unterbrach er sie, schloss die Tür wieder,
und keinen Moment später wurde sie geöffnet. Sein Büro war groß. Sie hatte
vergessen, welcher Professor hier vorher drin gesessen hatte, aber ihr ging
auf, dass sie nicht alleine waren. Georgiana Leman
zog sich gerade ihre Jacke an.
„Joanna“,
begrüßte sie diese mit einem feinen Lächeln und einem Blick, den Jo nicht
deuten konnte. Wieso war die Tür verschlossen, wenn Georgiana
hier drinnen war? Georgiana strich sich die glatten, langen, blonden Haare nach hinten über die
Schulter und warf Dr. Cunning einen fast sehnsüchtigen Blick zu.
Oh…!?
Jos Mund
öffnete sich langsam, und sie spürte wieder die bekannte Hitze in den Wangen.
Das konnte doch nicht…!
Die Ärmel
von Georgianas Lederjacke reichten nicht ihre Arme
hinab, und ihr fiel wieder ein, dass auch Georgiana ein
Pflaster getragen hatte. Jetzt hatte sich auch bei ihr ein zweites dazu
gesellt, aber ehe Jo darüber nachdenken konnte,
verabschiedete sich Georgiana.
„Wiedersehen,
Dr. Cunning“, hauchte sie und ignorierte sie erfolgreich als sie das Büro
verließ.
„Entschuldigen
Sie, aber Miss Leman hat sich für ein Referat angemeldet“, erklärte er, während
er mit einem wachsamen Blick die untersten Knöpfe am Ärmel seines Hemdes
öffnete, um es hochzukrempeln. Sie überlegte, ob sie so tun sollte, als würde
sie ihm das glauben.
Sie
betrachtete ihn. Cunning… Weiblichkeit….. Wieder spürte sie die Hitze.
Er schien
sie nun ausgiebiger zu betrachten, und sie fühlte sich nicht wohl unter seinem
Blick. „Dann erzählen Sie doch bitte. Sie glauben, Mr
Adler verhält sich… regelwidrig?“ Und sein Blick wanderte über ihre
Erscheinung. Langsam öffnete sich ihr Mund.
Gott, sah
er wirklich so gut aus? Sie blinzelte knapp.
In seinem
Büro standen Bücher gestapelt an jeder freien Stelle. Zwei Sessel zierten die
triste Ecke am Fenster, und sie wirkten fast antik. Rotes Leder, mit schwarzen
Nieten beschlagen. Davor stand ein schwarzer, flacher Tisch, und er schien die
weiteren Regale mitgebracht zu haben. – Die ebenfalls mit Büchern gefüllt
waren.
„Ich
brauche meine Bücher dringend“, erläuterte er, ihren Blick deutend. Er schenkte
ihr ein schiefes Lächeln.
„Jaah, ich verstehe“, gab sie tonlos zurück. Er kam um
seinen Schreibtisch herum.
„Haben
Sie schon mein Alter rausgefunden, Miss Clark?“, erkundigte er sich, immer noch
lächelnd, und sie schüttelte nur den Kopf.
„Es gibt
Familien in England mit Ihrem Namen seit mehr als siebenhundert Jahren“,
rezitierte sie, was ihr noch von ihrer Google Suche im Gedächtnis geblieben
war. Und erst eine Sekunde später registrierte sie, was sie da von sich gegeben
hatte.
„Wirklich,
ist das so?“, wollte er lachend wissen. Sie wurde noch röter. „Setzen Sie sich
doch bitte, Miss Clark“, fuhr er sanfter fort und deutete einladend auf einen
der roten Sessel. „Ich beiße nicht“, fügte er
verschwörerisch hinzu.
~
The Hunter ~
Der
Sessel war bequemer als sie angenommen hatte, und auch Dr. Cunning verfolgte
ihre Erzählungen interessiert und tat es nicht als lächerlich ab. Schließlich
lehnte er seine langen Finger aneinander, die Ellbogen auf die Knie gestützte
und betrachtete sie über seine Fingerspitzen hinweg.
„Und glauben Sie nicht vielleicht, dass… Mr Adler
andere Absichten hat als vielleicht… eine Erpressung?“, fragte er vorsichtig,
den Blick nicht von ihr lassend. Sie kam sich schrecklich deplatziert vor, fast
wie im Rampenlicht.
„Was?“,
erwiderte sie ehrlich, und runzelte die Stirn.
„Ich
meine, es mag kindisch klingen, aber in der Grundschule ist so ein Verhalten
auch nicht untypisch, Miss Clark“, erläuterte er mit einem kleinen Lächeln.
„Ausweise verstecken, Mädchen ärgern und verfolgen…“, fuhr er fort, und ihre
Augen weiteten sich.
„Nein!“,
wehrte sie heftig ab. „Nein, nein! Das ist nicht, was das hier ist, Dr.
Cunning!“ Er hob lächelnd die Hände.
„Gut, wie
Sie meinen. Nenn Sie mich Liam“, fügte er lapidar hinzu. Liam… - sie sollte ihn beim Vornamen nennen? Nicht nur das! Bei
seinem Spitznamen?! Wieder machte ihr Herz einen Satz! „Es ist also etwas
wirklich Ernstes. Ihnen ist klar, dass ich mehr Gründe brauche, als eine
Verfolgung und das Verstecken Ihres Ausweises, um ihn zu verweisen? Mr Leman ist da etwas…“ Er schien nach Worten zu suchen.
Ja, sie
wusste, Mr Leman war ein Teufel. Er beschäftigte sich
eher selten mit schulischen Notwendigkeiten und plante lieber Wohltätigkeitsveranstaltungen,
wo man dem Alkohol nicht abgeneigt war. Sie nahm an, er hatte die Stelle nur
wegen den großzügigen Spenden bekommen, die seine Familie seit jeher
ausgerichtet hatte. Sie konnte ihn und seine Tochter nicht leiden!
„Aber…
ich meine…“, fuhr sie beschämter fort, „was ist denn mit dem Vorfall in den
Umkleidekabinen?“
„Wie, denken Sie, fasst es der Direktor auf, wenn ich ihm erzähle, dass ich
selber eine physische Auseinandersetzung mit einem Studenten hatte?“, stellte
er prompt die Gegenfrage, und wieder musste sie ihn betrachten. Er hatte es
einfach zugegeben, und sie war nicht mal schockiert. Greyson war ein Arsch.
Dafür, dass ein ganzer Trophäenschrank und eine Wand zu Bruch gegangen waren,
sah er ziemlich unverletzt aus. Keine Schrammen, keine Kratzer – gar nichts.
Nicht mal einen blauen Fleck. Aber vielleicht sah sie diese auch nicht. Ihr
Blick glitt kurz über seinen Körper. Er besaß nicht Greysons Muskeln, schien
aber weder schmächtig noch unterernährt zu sein.
„Einen Penny
für Ihre Gedanken, Miss Clark?“, unterbrach er sie lächelnd, und erschrocken
hob sie wieder den Blick zu seinem Gesicht. Und etwas in seinem Blick, ließ sie
zögern, ließ sie etwas tiefer in den Sessel zurückweichen.
„Dr.
Cunning, wieso haben Sie mir eine Stelle bei Ihnen angeboten?“, fragte sie,
zwar ehrlich, aber mit tonloser Stimme. Sie hoffte, sie wurde nicht rot. Sie
hoffte, er fasste es nicht falsch auf! Aber tatsächlich lächelte er. Seine
weißen Zähne reihten sich schön nebeneinander, und eigentlich war es ein sehr
ansteckendes Lächeln.
„Was
denken Sie, Miss Clark? Und bitte, bei allem Respekt, nennen Sie mich außerhalb
der Vorlesungen Liam“, fügte er lächelnd hinzu, und sein Grinsen vertiefte
sich. „Dass ich überwiegend Frauen frage, hat damit zu tun, dass meine Kurse
überwiegend von Frauen besucht werden – und ich denke, Mr
Da Corte hat kein Interesse, meine Assistentin zu
werden. Glauben Sie mir, meine Anliegen sind von professioneller Natur“,
versprach er.
Oh Gott!
Sie hatte das Gefühl, noch kleiner im Sessel zu werden. Wie schaffte er es,
alle ihre Gedanken richtig zu deuten? Als ob sie ihm wirklich unterstellen
wollte, dass… dass… - sie konnte es nicht mal denken! Plötzlich reckte er den
Kopf in die Höhe, wirkte etwas abgelenkt, und sein Blick richtete sich auf die
Standuhr in der Ecke.
Sie
folgte seinem Blick. Mist! Zwanzig Minuten! Sie war schon seit zwanzig Minuten
hier! Zwar hatte sie keine Angst vor Lucys Worten, denn es war immerhin nur
Lucy, aber… sie hatte kein gutes Gefühl.
„Dr. Cunning,
ich wollte Sie gar nicht solange belästigen!“ Hastig erhob sie sich. Er tat es
ihr gleich. Und er hatte tadelnd eine Augenbraue gehoben. Sie schluckte schwer.
„Liam.. ich danke Ihnen“, fügte sie hinzu und fühlte sich nun mehr als unwohl.
„Da ist keine
Rede von. Ich finde, Sie sind ein angenehmer Gesprächspartner.“ Sein Blick war
nicht höhnisch oder ließ erkennen, dass er einen Scherz machte. Er kam
allerdings nicht näher, reichte ihr nicht seine Hand, und etwas verwirrt stand
sie vor ihm.
„Ich…“ Und
etwas in ihr weigerte sich fast, zu gehen. „vielleicht kann ich mich wieder bei
Ihnen melden, wenn…“
„Jederzeit“,
unterbrach er sie lächelnd, den Blick nicht von ihren Augen abgewandt. Sie riss
sich von seinem Anblick los, und schon war er an ihr vorbei, um seine Tür zu
öffnen. Sie war nicht verschlossen. Sie verkniff sich die Frage bezüglich Georgiana Leman, der blöden Kuh.
„Ach, und
Miss Clark…“, hielt er sie ein letztes Mal auf, die Tür in der Hand, ein Knopf
seines Hemdes offen, so dass sie einen Blick aus nächster Nähe auf seine
makellose Haut werfen konnte, „ich denke, ich bin wesentlich zu alt für Sie“,
sagte er schließlich, und peinlich berührt schoss ihr waidwunder Blick nach
oben zu seinem Gesicht.
Dieser
schöne Professor sah sich also gehalten, ihr zu erklären, dass er wesentlich zu
alt für sie war! Wie zur Hölle musste sie ihn bitteschön anstarren, dass er
sich sogar dazu gehalten fühlte, es laut zu äußern? Hastig senkte sie wieder
den Blick, räusperte sich und nickte heftig.
„Ja,
natürlich, ich… ich muss gehen, Dr. St…- Cunning, Dr. … Liam!“, schloss sie
hastig, fühlte sich so unglaublich dämlich und schüttelte verzeihend den Kopf,
während sie so rot wurde, wie noch nie in ihrem gesamten Leben. Sie biss sich
auf die Lippe und stolperte praktisch aus seiner Tür.
„Ja, Sie
sollten gehen“, forderte er sie lächelnd auf. Und kurz schien er zu zögern,
schien seine Hand ausstrecken zu wollen, hielt sich dann aber selber zurück,
und schloss lediglich mit einem Nicken die Tür vor ihrer Nase.
Völlig perplex
stand sie vor seinem Büro. Was war gerade passiert? Sie erinnerte sich kaum
noch an die Worte, die sie zu ihm gesagt hatte, erinnerte sich an gar nichts
mehr, außer an seine angenehme Stimme, seine schönen Haaren, seine Haut, seinen
unglaublichen Mund.
Sie
schüttelte verärgert den Kopf.
Als hätte
sie noch nie einen Mann gesehen!
Keinen so
schönen zumindest!
Als sie
sich endlich abwandte, zwang sie sich, eilige Schritte zu gehen.
Als sie um
die nächste Kurve kam, stolperte sie fast, so sehr erschreckte sie sich.
„Erschreckend
wenig Toiletten hier oben“, bemerkte Lucy kalt, als sie fast in sie
hineingelaufen wäre. Aber Jo war immer noch wie verzaubert und die Wut ihrer
Freundin ging gänzlich an ihr vorbei. „Jo?“, fügte dieser etwas verwirrt hinzu,
als sie merkte, dass ihr Zorn keinen Effekt auf sie zu haben schien. „Ist alles
in Ordnung?“ Und bevor Jo sie aufhalten konnte, hatte Lucy mit Schnelligkeit
nach ihren Armen gegriffen, die Ärmel des Pullovers hochgeschoben und
betrachtete ihre Arme, ehe sich ihr Blick ihrem Hals zuwandte und anscheinend
ratlos über ihren Körper glitt.
„Bist du verrückt?“, schnappte Jo, richtete eilig ihren Pullover, und Lucys
Augen verengten sich, schienen dunkler zu werden.
„Wo warst
du?“, knurrte sie förmlich, und Jo machte unbewusst einen Schritt zurück.
„Was?“, flüsterte sie ertappt, aber Lucy griff sofort nach ihrem Arm. Der Griff
war brutal und erbarmungslos, während sie sie mit sich zog. Sie ignorierte ihre
Proteste völlig, und Jo hörte, wie Lucy immer zorniger atmete.
„Ich
fasse es nicht! Das ist doch wirklich…“, murmelte sie gepresst, zerrte sie
zurück in die Halle, zurück in die Cafeteria, und Blake erhob sich
augenblicklich, als er Lucys Zorn sah.
„Sie war
in seinem Büro!“, platzte es aus ihr hervor. Blake stürzte praktisch nach
vorne, griff ebenfalls nach ihren Armen, aber Lucy hob die Hand.
„Es ist nichts“, beschwichtigte sie leiser.
„Nein?“,
vergewisserte sich Blake, und Jo wich ängstlich zurück.
„Was ist
los mit euch?“, flüsterte sie ängstlich und erntete einen prüfenden Blick von
Libby, die vergessen in ihrem Joghurt rührte.
Blake
schien sich zu beruhigen. „Vielleicht haben wir uns geirrt“, begann er nun
langsam. Lucy schüttelte sofort den Kopf.
„Nein,
unter keinen Umständen. Was denkst du, weshalb dieses College…“ Sie unterbrach
sich ärgerlich. „Außerdem spüre ich es“, fügte sie gepresster hinzu, mit einem
kurzen Blick auf sie. Unangenehm berührt wich Jo noch weiter zurück.
„Ihr sagt mir sofort, was ihr hier spielt!“, flüsterte sie, völlig hilflos.
„Ihr macht mir Angst!“, fügte sie leiser hinzu. Blake tauschte einen Blick mit
den anderen beiden Mädchen und seufzte schließlich.
„Morgen“,
beschloss er streng. „Jetzt isst du was, und ich halte es für das Beste, wenn
du nicht auf dem Campus schläfst. Wir können eine Pyjamaparty bei mir
veranstalten. Mein Vater ist nicht da“, fügte er hinzu. „Und ein… Cousin kommt
zu Besuch. Also ein lustiger Abend“, schloss er, den Mund nicht zu einer ganz
so schmalen Linie gepresst.
Ihr Mund
öffnete sich langsam.
„Morgen?
Morgen erzählst du mir was genau, Blake?“, flüsterte sie, denn plötzlich bekam
sie Angst.
„Jo,
bitte setz dich, iss etwas, und entschuldige unser Verhalten“,
ignorierte er ihre Frage. „Bitte“, sagte er schließlich, und warf schließlich
Libby und Lucy einen knappen Blick zu. Lucy verdrehte die Augen, setzte sich
aber schließlich. Sie räusperte sich, schien sich zu überwinden, und sah Libby
an.
„Wieso
warst du eigentlich nicht bei dem Pilates-Kurs heute? Du wirst nicht glauben,
was Amanda Bishop wieder für einen Unsinn von sich gegeben hat!“ Libby hob den
Blick.
„Ich konnte nicht, ich hatte Aufgaben zu erledigen von… Dr. Cunning.“
„Ich
glaube, jemand ist in seinen Professor verliebt“, merkte Lucy grinsend an. „Ist
er nicht zu alt?“, fügte sie hinzu, während sie in ihrer Götterspeise nur die
Vanillesoße auf den Löffel nahm. Und Libby wurde so knallrot, wie Jo es schon
vorher geworden war.
„Es gibt
also immer noch kein anderes Thema?“, merkte er Blake nur an, während er
demonstrativ sein Taschenbuch von irgendeinem Sciencefiction-Autor aufschlug.
Und Jo setzte sich langsam, skeptisch, an den Tisch. Blake schob ihr ein
Tablett mit kalten Hähnchennuggets zu, während Lucy vollkommen
selbstverständlich über Amanda Bishop zu erzählen begann.
Kurz –
ganz kurz – hatte sie das Gefühl, ein bisschen Alltag war zurückgekehrt.
Blake
ignorierte jede von ihnen, Libby schien sich immer noch zu schämen, und Lucy
war ganz in ihrem Element, Leute zu verurteilen, die glaubten, anderen
überlegen zu sein.
Und Jo aß
die kalten Nuggets und merkte erst jetzt, wie groß ihr Hunger eigentlich war.
Ihr Blick
suchte fast panisch die Cafeteria ab, aber keine Spur von Greyson Adler.
Die
Studenten plapperten aufgeregt, und langsam beruhigte sich ihr Herzschlag
wieder.
Sie hörte
auf, nach Merkwürdigkeiten Ausschau zu halten und machte sich schließlich über
die weiche Götterspeise her. Ja, es schien alles wieder normal zu sein. Im Moment.
~*~
Das
letzte Mal, als sie in Blakes Haus gewesen war, war ihr gar nicht aufgefallen,
wie dick die Haustüre wirklich war, und mit vielen Schlössern und Riegeln sie
von innen gesichert werden konnte. Bücher stapelten sich auf dem Treppenabsatz
und jede weitere Stufe nach oben. Er schob sie unwirsch mit dem Fuß beiseite.
„Kommt einfach mit hoch“, seufzte er, als ihm klar wurde, dass er das Chaos
nicht in einer Nacht würde beseitigen können. Libby sah sich interessiert um,
während Lucy die Nase in die Luft reckte und zu schnüffeln schien.
„Brennt
irgendwas?“, wollte sie plötzlich wissen, aber er schüttelte den Kopf.
„Baldriankraut“,
erklärte er nur, als würde das irgendeinen Sinn machen. Jo roch es nicht mal.
„Baldrian? Das ist eine völlig falsche Basis“, meckerte Libby schockiert. Jo
runzelte die Stirn, als sie nach oben schritten. Vielleicht waren ihre Freunde
verrückt. Und nicht sie!
Blakes
Zimmer war ebenfalls vollgestellt mit Büchern und zwei riesige Flachbildschirme
flackerten hell, mit Texten auf einer Sprache, die Jo nicht verstand.
Ansonsten
standen zwei große U-förmige Sofas in jeder Ecke, beide zum Ausziehen, und
eilig holte er Cracker und ein paar Flaschen Bier nach oben.
Lucy
trank sofort die erste Flasche halb leer, und sah sich dann aufmerksam um.
„Wann kommt er? Dein… Cousin?“, fügte sie hinzu, und Blake sah auf die Uhr.
„Jeden Moment.“ Er wirkte angespannt.
„Sicher?“
„Nein.
Aber ungefähr“, gab er zurück. Die Stimmung war merklich angespannt. Libby
hatte sich einfach ein buch von einem Stapel
gegriffen und blätterte darin.
„Bring mir nichts durcheinander!“, hörte Jo Blake murmeln, aber Libby verdrehte
nur die Augen. Blake zog sich das Haargummi aus den Haaren und ließ sie über
seine Schultern fallen, während seine Augen die Texte auf dem Bildschirm lasen.
„Bei
Gelegenheit könnt ihr euch das mal ansehen. Ich denke, das dürfte noch
interessant werden“, bemerkte er still. Lucy hatte sich sofort erhoben.
Anscheinend konnte sie die Sprache lesen.
„Jo, ist
dein Geburtstag am Samstag oder am Sonntag?“, erkundigte sich Lucy, ohne sich
umzudrehen.
„Am
Samstag, warum?“ Das hatte sie ganz vergessen. Sie wurde am Samstag neunzehn.
Hatte das was mit diesen Texten da zu tun?!
„Nur so.
Wir sollten feiern“, schloss Lucy abwesend, ohne ihr den Blick zuzuwenden,
immer noch gefangen von dem Text.
„Da wärt
ihr nicht alleine.“
Und sie
schreckten alle zusammen. Jo war auf die Beine gesprungen und Lucy hatte sich
reflexartig umgewandt. Blake erhob sich langsam, musterte den Fremden, und Jo
spürte ihren Herzschlag in ihrem Mund, so leise hatte er sich angeschlichen.
„Hawker?“, fragte Blake langsam, und der Mann nickte
langsam.
„Bernard
Da Corte?“
„Blake. Mein
Name… ist Blake“, verbesserte Blake hastig, wagte aber anscheinend nicht,
wütend zu werden.
„Dein
Haus ist nicht gut gesichert.“ Erst jetzt erkannte Jo eine Armbrust über der
Schulter des Mannes, der nicht älter als fünfundzwanzig sein konnte. Er trug
eine dunkle Lederjacke, eine schwarze Jeans und einen Motorradhelm unter dem
Arm. Seine braunen Augen richteten sich jetzt auf sie. Sein Kinn war markant,
sein Bart rau und Dreck klebte an seinen Händen und an seinem Rucksack.
„Wie war
die Reise?“, fragte Blake jetzt, während er langsam näher kam.
„Beschwerlich
und anstrengend. Bier wäre fantastisch“, fügte der Fremde jetzt hinzu. Seine
Stimme klang ebenfalls rau, als wäre er Raucher. Jo musterte ihn skeptisch.
Wieso störte sich keiner an der Armbrust?
„Das… ist
dein Cousin?“, fragte sie tonlos, und der Fremde lächelte.
„Das ist
sie also? Sieht nicht gerade vielversprechend aus“, fügte er knapp hinzu,
während er ihren Körper inspizierte und sie sich furchtbar vorkam. Sie sah
vielleicht heute nicht mehr topfit aus, aber sie würde niemals behaupten, sie
sähe nicht vielversprechend aus! Was dachte sich dieser Fremde? Der äußerlich
keine Ähnlichkeiten mit Blake aufwies!
„Vielversprechend?“,
wiederholte sie langsam, aber Blake winkte ab.
„Ja, das
ist sie. Joanna Clark.“
„Die
Dunklen sind hier“, sagte er schließlich, ignorierte ihren Namen und sah alle
abwechselnd an.
„Das
wissen wir“, meldete sich Lucy schließlich zu Wort. Der Mann namens Hawker sah sie skeptisch an.
„Gut,
dass sie Angst vor Hunden haben. Auf meiner Reise kam ich an vielen Blutbädern
vorbei. Die Rote Pest geht bis nach Montana. Ich denke, alle werden zum
Geburtstag vorbei kommen.“ Libby hatte ihm ein Bier gebracht, was er dankbar
mit bloßen Händen öffnete.
Jo sah
ihn immer noch an.
„Die Rote
Pest?“, fragte Libby beunruhigt, und Hawker trank
einen großen Schluck. Dann kratzte er seinen Kopf und zerstrubbelte
die platten dunklen Strähnen, die wohl durch den Helm ihren Halt verloren
hatten. Er sah auch nicht gerade vielversprechend aus, dachte sie böse.
„Wenn die
Dunklen unvorsichtig werden, hinterlassen sie die Spuren, die die Nachrichten
dann als Unglücke oder Campingunfälle darstellen“, erläuterte er mit einem
freudlosen Lächeln. Dann wandte er sich wieder ihr zu und zog den Reißverschluss
seiner Jacke auf, um sich aus ihr zu schälen. Seine Oberarme waren breit und
muskulös, und in seiner Lederjacke waren tatsächlich Holzpflöcke eingenäht,
oder etwas, was so aussah. Sie starrte ihn an.
Er trug
lediglich ein schwarzes Rock Café New York T-Shirt und ein Lederband um den
Hals. Den Anhänger konnte sie nicht erkennen, er steckte unter dem alten Shirt.
Zahllose Kratzer zierten seine bloßen Unterarme, sowie verschiedene dicke
Armbänder aus Leder und runenhafte Tattoos. Seine Boots klebten vor Dreck, aber
das schien keinen zu stören. Er streckte sich, gähnte und griff sich eine
Handvoll Chips, während er sich einfach setzte.
„Also…
ist sie Jungfrau?“, fragte er mit schief gelegtem Kopf, und Jos Mund öffnete sich
vor Entrüstung. Langsam wandte sie sich um, fixierte Blake, und hatte nicht
vor, den Blick von ihm abzuwenden. Er schien merklich ertappt und senkte hastig
den Blick.
„Ahem… Mr. … Hawker“, begann er
zögerlich.
„Mr Hawker…“,
wiederholte dieser lächelnd. „Einfach nur Hawker.
Meinen Nachnamen gebrauche ich nicht“, fügte er grinsend hinzu und hatte immer
noch die Augenbraue fragend in die Höhe geschoben. Sie war dicht und schwarz,
und sein Blick, den er auf sie geheftet hatte, störte sie ungemein. „Also?“,
wiederholte er, und sie schüttelte perplex den Kopf.
„Was
erlaubst du dir eigentlich?“, knurrte sie wütend. Dann geriet seine Arroganz
langsam ins Wanken. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, und er
fixierte Blake.
„Sie weiß es noch gar nicht? Oh Leute! Hattet ihr nicht genügend Zeit? Woher
wisst ihr es dann überhaupt sicher?“, wollte er wissen, und war schon wieder im
Begriff aufzustehen.
„Ich spüre es“, erklärte Lucy gleichmütig. „Es ist offensichtlich.“ Hawker verengte die Augen und kam näher. Sie versteifte
sich sofort unter seinem prüfenden Blick. Er roch nach Wald, nach Tabak und
nach etwas anderem. Irgendein Kraut… sie kam auf den Namen nicht.
„Was weiß
ich nicht?“, knurrte sie förmlich, während sie ihn böse ansah.
„Na dann,
viel Spaß“, bemerkte er, leerte mit einem weiteren Schluck sein Bier und sank
wieder auf die Couch zurück, während er sein Handy aus der Hosentasche zog. Er
schien nichts weiter zu sagen zu haben, und sie wandte sich wieder an Blake.
Dieser
atmete langsam aus.
„Jo…“,
begann er heiser, und Libby bedeckte ihre Augen kopfschüttelnd mit ihrer
Handfläche. „Du bist auserwählt“, erklärte er also und wirkte fast peinlich
berührt.
O-K…. Sie
sah sich aus den Augenwinkeln um. Es wären zwei Schritte, und sie hätte ihre
Tasche und ihre Jacke griffbereit und würde verschwinden!
„Aha“,
sagte sie also freundlich, um Blake nicht aufzuregen, machte sich vorsichtig
auf den Weg zur Couch und griff langsam nach ihrer Jacke. „Ich denke… ich werde
gehen“, erklärte sie, immer noch lächelnd. Als sie sich zur Tür umwandte,
schnappte sie nach Luft.
Der Mann
namens Hawker musste in unglaublicher Geschwindigkeit
aufgestanden sein, und versperrte gerade mit seinem großen Körper die Tür.
„Prinzessin,
das ist eine schlechte Idee“, erklärte er mit einem Grinsen, das seine Augen
nicht erreichte. Im Gegensatz zu seinem schmutzigen Gesicht, waren seine Zähne
regelrecht schneeweiß.
„Jo,
bitte…“, fuhr Blake flehend fort.
„Was soll
das? Lasst mich hier raus!“, fuhr sie ihre Freunde an, aber niemand rührte
sich. Der Fremde streckte ihr schließlich seine Hand entgegen, während er
genervt die Augen verdrehte.
Sie
starrte völlig ungläubig darauf hinab.
„Ich bin
der Jäger. Und ich werde dich ausbilden, Baby.“
Alles, was
sie denken konnte, war, dass nun ein weiterer arroganter Schönling ihren Namen
nicht aussprechen konnte. Sie ignorierte seine Hand und sah in sein Gesicht.
„Und
glaub mir – ich kann dich auch nicht leiden“, erklärte er mit einem dreckigen
Grinsen, und ihr wurde klar, dass sie dieses Zimmer heute nicht mehr verlassen
würde….
~ Lesson One ~
Es ging.
Sie musste wirklich sagen, die Informationen zu verarbeiten ging ganz gut. Sie
drehte die leere Bierflasche in ihren Händen, während sie mit halbem Ohr
zuhörte, was der Mann erzählte. Es klang wie ein Märchen. Ein seltsames,
brutales Märchen, dessen Hintergrund sie wieder vergessen hatte, irgendwann
nach dem zweiten Bier.
Es war
ziemlich spät. Oder ziemlich früh, wie man es eben betrachtete. Lucy sah sie
seit einer Weile prüfend an.
Ihr Handy
vibrierte in ihrer Hosentasche, und abwesend holte sie es hervor, ließ ihren
Finger über die kühle Glasfläche gleiten, und öffnete ihr Postfach.
„Und… sie
hört mir nicht mehr zu“, murmelte Hawker grimmig, während
er gereizt ausatmete. „Und sie verträgt überhaupt keinen Alkohol“, fügte er
hinzu und warf Blake einen bitterbösen Blick zu.
Sie
spürte, wie sie schlucken musste. Schon war ihr Mund trocken, und sie öffnete
die Mail.
___________________________________________________________________________
An:
J.Clark@reynold-college.com
Betreff:
Gedanken…
Absender:
W.Cunning@reynold-college.com
Sehr
geehrte Miss Clark,
verzeihen
Sie meine späte Störung, aber ich kam nicht umhin, nachzudenken.
Anscheinend
kann ich Sie nicht für eine Stelle in meiner Abteilung begeistern, allerdings
hoffe ich doch, dass Sie mich morgen wieder aufsuchen.
Ich habe
mir ein anderes Arrangement überlegt. Vielleicht könnten Sie gefallen daran finden? Bitte, lassen Sie mir zukommen, ob
Sie ein Treffen morgen um sechs Uhr einrichten können.
Sehr
diskret,
Ihr Liam
Prof. Dr.
W.C. Cunning
Fachbereich
Literaturgeschichte
___________________________________________________________________________
Sie
schluckte. Sehr schwer. Oh Gott! Dr. Stunning schrieb
ihr! Dr. Stunning hatte sich ein anderes Arrangement überlegt? Was zur Hölle
sollte das denn bitteschön heißen?
„Hallo?
Erde an Joanna?!“, schrie Hawker fast, und ihr
ertappter Blick schoss zu ihm hoch.
„Wer
schreibt dir bitte um zwei Uhr morgens?“, wollte der Mann ungehalten wissen.
Sie zuckte nur die Achseln.
„Niemand
weiter“, sagte sie nur, versuchte nicht zu lallen und setzte eine aufmerksame
Miene auf. Sie konnte Dr. Stunning wohl kaum jetzt
zurück schreiben. Sie würde es später tun. Ihr Herz klopfte unpassend laut. Ihr
Professor schrieb ihr. Mitten in der Nacht. Gott! Das war bestimmt verboten,
überlegte sie dumpf.
„Hast du
mir wenigstens zugehört?“, schnappte Hawker zornig,
und sie nickte, während sie sich die Märchengeschichten wieder ins Gedächtnis
rief.
„Jäger-Zeug,
du tötest die Dunklen, Wölfe – bla bla…“, nuschelte sie.
„Das ist
absolute Zeitverschwendung!“, schnappte er empört nach Luft.
„Jo,
bitte, konzentrier dich. Es ist absolut wichtig!“
„Ja, es
ist absolut wichtig!“, unterbrach Hawker Blake
wütend, und ging vor ihr in die Hocke, um sie mit seinen zornigen Augen näher
zu fixieren. Das hellbraun war nahezu schwarz, und er wirkte reichlich außer
sich. „Wenn ein Dunkler dich in die Finger bekommt, dich aussaugt und tötet
geht deine Macht über. Er wird somit der mächtigste Vampir, den die Erde zusehen bekommt, und das wäre was?“
„Schlecht“,
beantwortete sie feierlich seine Frage. Aber das Lächeln zerrte an ihren Mundwinkeln.
„Du glaubst das wirklich, richtig?“, fragte sie amüsiert, und sah belustigt in
die Runde. Der Mann schloss kurz die Augen.
„Du bist
ein dummes, naives Miststück!“, brachte er hervor, so dass ihr Grinsen gefror.
„Du hast Glück, dass du überhaupt Freunde hast, die sich um dich kümmern!“,
fügte er leise hinzu, und sie schüttelte nur den Kopf.
„Du bist
einfach nur wahnsinnig! Vampire, Wölfe? Das ist kompletter Bullshit!“
„Ach ja?
Wieso fragst du nicht deine Freundin hier, weshalb sie seit dem ersten Tag
deine Fährte aufgenommen hat, du Besserwisserin?“, forderte er jetzt kalt,
während er seine gefühlte zwanzigste Zigarette aus der Packung fingerte und zum
Fenster schritt.
Jos Blick
hob sich zu Lucy, die plötzlich mächtig damit beschäftigt war, den Blick sonst
wohin zu richten, nur nicht auf sie.
„Oh ja,
richtig. Deine Wolf-Theorie“, begann Jo, vom Bier ziemlich mutig. Bier war gut!
Sie sah, wie Hawker den Kopf schüttelte, ihr den
Rücken zugewandt, während er den Rauch wütend aus dem offenen Fenster blies.
„Arrogantes
Miststück“, murmelte er bloß.
„Ich
will, dass er geht, Blake!“, brauste sie plötzlich auf. „Ich glaube den Mist
nicht, und ich habe keine Lust mehr, ihn mir anzuhören! Er geht oder ich!“
„Du
kannst nicht gehen“, erwiderte Blake nur, traurig und müde.
„Du willst mich hier festhalten?“, fragte sie nun herausfordernd, aber Blake
reagierte nicht, las weiter Texte, und sie sah zu Libby, die sich ebenfalls ein
Buch geschnappt hatte. „Ihr könnt mich nicht zwingen! Ich werde nicht bleiben!“
„Ja?
Willst du versuchen, zu fliehen? Die Gegend stinkt nach ihnen. Sie werden nicht
weit sein, und sie werden sich verdammt noch mal freuen, wenn du ihnen in die
Arme läufst! Deine Chance zu überleben, ist Jäger zu werden. Und das ist deine
einzige Chance. Auch wenn deine Hunde-Freundin es gerne anders hätte“, knurrte Hawker verbissen.
„Hey,
halt deinen Mund, ja?“, gab Lucy zurück.
„Als ob
du nicht deine eigenen Vorstellungen hättest, Lucy.“ Und er betonte ihren Namen, als wäre er erfunden oder besonders
lächerlich. Er wandte sich wieder zu ihr um, nachdem er die Zigarette aus dem
Fenster geworfen hatte. „Du brauchst nur den richtigen Moment“, sagte er jetzt,
plötzlich ernst. „All deine Macht braucht nur einen einzigen Auslöser. Du
brauchst nur die richtige Portion Angst, und dann wirst du begreifen, warum es
für dich nur einen Ausweg gibt, Joanna. Was denkst du, weshalb die Dunklen dich
so gerne in die Finger kriegen würden?“ Er hatte die Augen verengt, und sah sie
an, als wäre sie ein kleines Mädchen, was nichts begreifen würde. Sie hasste
ihn!
„Anscheinend
um mich auszusaugen!“, gab sie zurück. Den Kopf trotzig erhoben. Und Hawker lächelte.
„Das ist
die eine Möglichkeit. Und die machtbesessenen werden auch nur diese Möglichkeit
in Augenschein nehmen. Aber genau wie deine Wölfin hier, verfolgen eine handvoll anderer Vampire eine andere Aussicht, Baby“, fuhr
er bitter fort.
„Oh ja?
Und was will meine Wölfin?“, fragte
sie, die Hände in die Hüften gestemmt, einen belustigten Blick auf Lucy gerichtet.
Aber Hawker schien nicht aus der Fassung gebracht.
„Du bist
so unglaublich dumm, dass ich kaum noch Lust verspüre, dich vor irgendwas oder
irgendwem zu retten“, erwiderte er, aber behielt das Lächeln bei. „Deine Wölfin
ist, wie alle Wölfinnen, lesbisch, Joanna. Und Wölfe vermehren sich, genau wie
Vampire, absolut selten. Dass sie sich auf Frauen orientieren hilft ihnen dabei
umso weniger“, fügte er bitter hinzu, und sie hörte Lucy gefährlich laut
Schnauben. „Neben der unübersehbaren Tatsache, dass sie von dir besessen ist,
wie vom blauen Mond, liegt auf der Hand, dass sie es kaum erwarten kann, ihre
Zähne in dich zu schlagen, um dich zu verwandeln.“ Und er sagte dies völlig
ruhig, völlig selbstverständlich. Blake jedoch schloss nur stöhnend die Augen,
und Lucy hatte sich sofort vom Schreibtisch abgestoßen, um den Abstand zu
schließen.
„Verdammter
Jäger! Du denkst wohl, du weißt alles, richtig!“, schrie Lucy außer sich, stieß
dem Mann vor die Brust, so dass er taumelte, aber er lachte jetzt.
„Oh? Also
stehst du nicht auf Frauen? Irre ich mich in diesem Punkt, Wölfin?“, wollte er
grinsend wissen und erntete einen weiteren Stoß von Lucy, der eigentlich zu
heftig für einen Menschen schien. Jo wich ängstlich zurück. „Oder irre ich mich
in der Tatsache, dass du ein Wolf bist und sie rekrutieren willst? Weshalb
wagst du dich sonst in die Stadt? Du witterst deine Chance, wie du ihren Duft
gewittert hast!“, fügte er glatt hinzu. Und Lucy atmete heftig, schubste ihn
aber kein weiteres Mal. „Und dein Druide hier weiß es ziemlich genau. Deswegen
weicht er nicht von deiner Seite“, fügte er mit einem Seitenblick auf Blake
hinzu.
Jo
runzelte jedoch die Stirn. „Mir? Von der Seite? Blake ist in Lucy verliebt,
deswegen ist er überall, wo sie ist, Himmel noch mal!“ Und Hawker
hob wieder eine Augenbraue.
„Du bist
unglaublich“, erwiderte er kopfschüttelnd. „Absolut unglaublich! Ich sollte
dich aus dem Fenster werfen, damit du es endlich begreifst, und wir diese
Albernheiten beenden können. Ich habe nämlich neben diesem Babysitterjob
noch andere Dinge zu erledigen, ob du es glaubst, oder nicht, Prinzessin!“,
erläuterte er nun wieder in seiner überlegenen Tonlage.
„Dich hat
keiner gebeten zu bleiben, du unhöfliches Arschloch!“, sagte sie nur und
vermisste dringend ein neues Bier, denn wieder kam er beunruhigend nahe.
„Oh, du
wirst noch betteln! Wenn die älteste Familie der Blutlinie kommt, dann wirst du
noch betteln. Ohne mich werden die Vampire dich finden. Und ohne mich ist dein
letzter Tag nur zu bald zu Ende, hast du mich verstanden? Deswegen wäre es
keine gute Idee, mich auch noch zu beleidigen, Baby“, erklärte er jovial, und
sie kam ebenfalls näher zu ihm.
„Nenn
mich nicht Baby“, presste sie wütend hervor. In ihrem Kopf spukte noch das Wort
Druide rum, mit dem sie absolut nichts anfangen konnte.
„Vielleicht
sollten wir es für heute gut sein lassen. Wir haben ihr gesagt, was sie erst
mal wissen muss“, meldete sich Libby nach einer Ewigkeit zu Wort. Hawker wandte sich gereizt um.
„Wirklich?
Bis jetzt hat sie nichts von dem begriffen, was ich ihr erzählt habe, denn
niemand von euch hat sich die Mühe gemacht, überhaupt irgendwo anzufangen. Eine
Riley-Hexe begeht den wahrscheinlich größten Fehler! Ich habe von deiner Linie
gehört. Du hättest sie längst einweihen können. Du hättest längst beginnen
können!“, fuhr er sie an, aber Jo verstand gar nichts.
„Es war
nicht an der Zeit!“, unterbrach ihn Libby nervös.
„Nicht an
der Zeit? Du lässt mich vom einem Druiden finden! Es
ist nicht mal völlig klar, was er von all dem hat!“ Blake verdrehte daraufhin
die Augen.
„Du musst
es nicht dramatisieren“, sagte er bloß, aber als Hawker
einen zornigen Schritt auf ihn zu machte, zuckte Blake in seinem
Schreibtischstuhl zusammen und umklammerte sein Buch fester. Jo verstand
absolut überhaupt kein Wort. Und das wollte sie nicht mal. Sie wollte nur hier
weg. Sogar ihre Stiefmutter war nicht halb so verrückt wie diese Leute hier!
„Das ist
keine Daily Soap, verstanden? Dass ihr überhaupt den Mut hattet sie auf einer
Schule zu lassen, wo die Lemans ein und ausgehen! Wahrscheinlich war es kein
Mut, sondern unglaubliche Dummheit!“, schnappte er zornig, und plötzlich
schwieg er abrupt. Und sie sah wie auch Lucy den Kopf gehoben hatte.
„Sie sind
da“, fügte Hawker tonlos hinzu, während er nach seiner
Jacke griff.
„Nein,
nur einer“, korrigierte ihn Lucy abwesend.
„Ich
finde, das reicht schon! Dafür, dass sie so gut wie ausgestorben sind, musste
ich ungeheuer viele beseitigen auf dem Weg hierher“, bemerkte er, während er,
wie beiläufig, seine Armbrust mit zwei weißen Pflöcken bespannte. „Du kannst
mitkommen.“
Jo
starrte ihn an, als er sie ungeduldig ansah. Dann weiteten sich ihre Augen.
„Mitkommen? Wohin?“ Sie schüttelte nur den Kopf. Als ob sie mit irgendeinem
Mann mitkommen würde! So dumm war sie nicht!
„Das war
keine Frage, Prinzessin“, erklärte er nur. Er ergriff gereizt ihren Arm und zog
sie zum Fenster.
„Er kann
nicht rein. Es ist ungefährlich“, erklärte Blake eilig, während er sich erhob.
„Ich habe
nicht vor ein Risiko einzugehen, nur weil die kleine Scoobydoo-Gang
hier entschieden hat, einen Bann auf die Haustür zu legen. Er wird weiter
draußen rum schleichen, und je mehr zu Staub zerfallen, desto besser“, erklärte
Hawker grimmig, und tatsächlich sah sie, als sie die
Augen zusammen kniff, einen Schatten zwischen den Bäumen umher schleichen.
Und der
Schatten atmete.
Konnte
das sein? Das konnte sie nicht hören.
„Und
jetzt lernen wir die erste Lektion, Baby.“ Der verrückte Mann brachte sie so
nahe an sich, dass sie alle goldenen Flecken in seiner Iris erkennen konnte,
ehe er ihr ein weißes Lächeln schenkte, was keine Freundlichkeit versprach.
„Am
besten hörst du immer auf deinen Ausbilder. Und das bin ich“, fügte er mit
übertriebener Arroganz hinzu. Sie versuchte sich loszumachen.
„Das soll die erste Lektion sein? Lass mich los, du wahnsinniges Arschloch!“,
schnappte sie zornig, aber sein Lächeln vertiefte sich auf unheimliche Weise.
Er machte ihr Angst. Wie eigentlich alle heute. Seine Haare lagen strubbelig auf seinem Kopf, sein
Gesicht stand vor Dreck und fast kam es ihr so vor, als würde er Spaß dabei
empfinden, als sich feine Grübchen in seine stoppeligen Wangen gruben. Seine
Muskeln spannten sich plötzlich an, als er fester um ihren Arm griff, und sie
mit nur einer Hand empor hob. Sie versuchte sich festzuhalten, aber schon hob
er sie zum Fenster hinaus. Ihr Atem stockte vor Angst.
Sie sah,
wie Blake aufsprang.
„Nein.
Die erste Lektion ist: Unsere Knochen brechen nicht“, sagte er schlicht, und
keine Sekunde später löste sich die Spannung in seinem Arm, und im Bruchteil
einer Sekunde, hatte er sie lächelnd losgelassen. Jeder Schrei erstickte in
ihrer Kehle, und ihr Magen zog sich zusammen, als ihre Beine hilflos in der
Luft strampelten, während sie in unglaublicher
Schnelligkeit mehr als zwei Meter weit in die Tiefe.
~*~
Sie
schüttelte etwas benebelt den Kopf, um Klarheit in ihre Gedanken zu bringen.
„Bist du
wahnsinnig?“, hörte sie Lucy schreien, die Anstalten machte, ebenfalls zu
springen, aber er hielt sie zurück, so weit sie es
hörte. Das Atmen des Schattens war lauter geworden. Sie sah ihn aus dem
Dickicht schleichen, und ehe sie darüber nachgedacht hatte, dass sie sich durch
den Sturz sonst was zugezogen haben könnte, erwachten ihre Instinkte und sie
krabbelte hastig über das kalte Gras in Richtung Hauswand zurück, ihr Herz in
ihrem Hals.
Sie hörte
ein dumpfes Geräusch, und als sie den Blick hob, sah sie, wie Hawker sanft auf dem Boden gelandet war, die Hände auf dem
Gras abgestützt. Er war aus dem Fenster gesprungen!
Dieser
Arsch hatte sie aus dem ersten Stock geworfen! Sie war fast so wütend, dass sie
die Gestalt vergaß, aber diese sprang unvermittelt nach vorne.
„Lektion
Nummer zwei“, fuhr Hawker unbeeindruckt fort, während
er gelassen die Armbrust von der Schulter zog und ihr einen eindeutigen Blick
zuwarf. „Niemals in die Brust zielen. Das Herz zu treffen, ist ein Mythos, denn
es schlägt nicht mal mehr“, erklärte er, als wäre ein Lehrer in der Schule.
Und mit
einem panischen Schrei wich sie zurück an die Hauswand. Denn Hawker hatte die Gestalt gepackt. Der gierige Blick war
furchteinflößend. Die Augen waren so sehr geweitet, dass sie das
blutunterlaufene Weiß auch im Dunkeln der Nacht ausmachen konnte.
Weiße,
lange, ungleiche Zähne ragten der Gestalt aus dem Mund und Geifer rann von den
spitzesten beiden hinab.
Hawker zerrte das Monster näher zu ihr.
„Sie ihn
dir genau an!“, rief er, fast mühelos über das Gekeuche und Geknurre
der Gestalt hinweg, die sie fast manisch, mit katzengleichen, funkelnden Augen
anstarrte und mit wilden Geräuschen versuchte, aus dem Griff zu entkommen. Die
Gestalt versuchte sich loszureißen, schien unmenschliche Kräfte anzuwenden, und
Jo hatte das Gefühl, sich sofort übergeben zu müssen. Ihr fiel auf, dass das
Wesen, der Mensch vor ihr, zerlumpte Kleider trug, ausgemergelt und ungepflegt
war. Blut schien an den Fetzen zu kleben, die irren Augen auf keinen Punkt
fixiert, und jetzt schleuderte es Hawker mühelos zwei
Meter von ihnen weg, so dass es mit einem hässlichen Knacken auf dem Boden landete.
Dann setzte er die Armbrust an.
„Und das
hier ist nur ein Späher. Ein Sklave der echten Dunklen“, erklärte er
konzentriert, während er zielte. „Er hat nicht die Kraft, nicht die Präzision,
wie die gefährlichen. Er belegt keinerlei Rang, vermag es aber dennoch, dich in
Fetzen zu reißen“, fügte er so lapidar hinzu, als ging es lediglich um eine
Kleinigkeit.
„Oh
Gott!“, flüsterte sie, als das Wesen zum Sprung ansetzte, zu einem weiten,
unmenschlichen Sprung. Der Pflock sirrte mit tödlicher Präzision durch die Luft
und bohrte sich in die Mitte des Körpers. Hawker
schoss direkt einen zweiten Pflock blind in die Nacht. Er traf wieder das erste
Ziel.
„In den
Magen. Da ist das Blut. Das ist die einzig sinnvolle Stelle, auf die du zielen
solltest. Niemals auf das Herz, niemals auf den Kopf. Nur in den Magen“,
informierte er sie, während er sich die Armbrust gelassen über die Schulter
legte, und zusah, wie das Wesen vor ihm zusammenbrach. Sie wich angewiderte und
geschockt zurück, als rotes Blut, wie Wasser aus dem Wesen zu fließen begann,
die Kleidung weiter tränkte, dann den Boden, und sich Liter um Liter
ausbreitete.
Mit einem
grauenvollen Röcheln schien das Wesen zu schrumpeln, faltiger zu werden, bevor
es zusammenbrach und wie altes Pergament zu zerbröseln begann. Der leichte Wind
trug den feinen Staub in die Nacht, und es war wieder still im Garten. Ihr
Blick hob sich panisch zum Wald, der hinter dem Grundstück begann.
„Es
kommen keine weiteren. Nicht heute Nacht“, deutete er ihren Blick und reichte
ihr seine Hand, um ihr aufzuhelfen. Ihr Atem ging schnell und unkontrolliert.
Noch als sie seine Hand zitternd ergriff, bemerkte sie, dass ihr nichts weh tat. Keine Knochen, kein Muskel. Sie spürte nichts.
Keine Schmerzen – kein gar nichts!
Allerdings
bahnte sich ein Gefühl an, dass sie dennoch kannte.
Und ohne
seine Hand loszulassen krümmte sie den Rücken nach vorne, und konnte nicht mehr
an sich halten. Sie erbrach das Bier, das sie noch vor einer halben Stunde so
beruhigt hatte, und die wenigen Chips, die sie gegessen hatte.
Sie hörte
ihn gereizt ausatmen, aber es war ihr egal. Sie würgte ein weiteres Mal,
versuchte abzuschütteln, was sie gesehen hatte, und er entzog ihr angewidert
seine Hand.
„Bloß
nicht auf meine Schuhe, Prinzessin, sonst breche ich dir das Genick“, erklärte
er, und sie spürte, wie Lucy ebenfalls nach unten sprang und sich beeilte, ihre
Haare nach hinten zu halten. Ihre Hand fuhr ihr über den Rücken, und Jo schämte
sich unglaublich.
„Ich
glaube, jetzt reicht es für heute. Ich komme morgen wieder. Behaltet sie hier.
Und lass deine Zähne von ihr, Wölfin“, rief Hawker
Lucy noch zu, ehe er im Wald verschwunden war. Sie sah ihm nicht nach, konnte
den Kopf nicht heben, und nahm tiefe Atemzüge, während Lucy ihren Rücken
streichelte.
Vampire…
- Vampire gab es doch gar nicht! Sie schloss verzweifelt die Augen und neben
dem bitteren Geschmack in ihrem Mund spürte sie die heißen Tränen ihre Wange
hinab laufen. Sie wollte hier weg! Sie würde niemals wieder schlafen, und sie
wollte nur noch hier weg! Aber… wenn sie schlafen würde, dann würde sie
aufwachen. Und es wäre nur ein Traum gewesen. Es musste einer sein!
Denn so
etwas… passierte in Büchern. Oder in Träumen. Also konnte sie sicher sein. Es
war nur ein Traum. Ein furchtbarer Albtraum, der hoffentlich bald enden würde.
Kapitel 8
~
The Decent Proposal ~
Das
Gefühl war nicht angenehm. Sie sah sich um, aber alles war dunkel. Sie kannte
den Traum bereits. Sie hatte ihn immer mal wieder, alle paar Monate.
Es musste
das Waisenhaus sein. Sie konnte sich nicht mehr in aller Fülle daran erinnern,
aber sie erinnerte sich an Mrs Fabian.
Sie hatte
sich schützend vor sie gestellt in dieser Nacht, hatte geschrien, hatte sich
gewehrt und war nicht zurückgewichen, als die beiden Männer den Raum betreten
hatten. Sie hatten die Lampen zerschlagen, hatten sich lautlos genähert – und
jedes Mal wachte sie auf.
Aber
dieses Mal ging der Traum weiter. Dieses Mal sah sie, wie einer der beiden
Männer Mrs Fabian gepackt und an sich gerissen hatte,
die Augen leuchtend gelb. Er öffnete den Mund in der Dunkelheit, und –
Träge
öffneten sich ihre Augen und verschwommen blinzelte sie in die Dämmerung. Sie
registrierte, was sie geweckt hatte und kramte ihr Handy unter sich hervor.
Sie rieb
sich die Augen, ehe sie gähnend die Tastensperre löste.
Ihre
Gedanken waren noch nicht sortiert genug, um zu begreifen, dass sie wach war.
Ihr
Gehirn sprang nur sehr langsam an.
Portionsweise
fiel ihr der gestrige Abend wieder ein. Und mit einem Blick auf die Handyuhr war es nicht schwer zu rechnen, dass sie vier
Stunden geschlafen hatte. Es war sechs Uhr dreißig und neben ihr hatte sich
Lucy zusammengekauert und schlief still. Am Schreibtisch war Blake über einem
Buch zusammen gesunken und im Sessel schnarchte Libby leise vor sich hin.
Sie hatte
einen widerlichen Geschmack im Mund. Sie fuhr sich durch die dunklen Haare,
blinzelte die Müdigkeit fort und öffnete ihr Postfach.
___________________________________________________________________________
An:
J.Clark@reynold-college.com
Betreff:
Guten Morgen
Absender:
W.Cunning@reynold-college.com
Ich
erwarte Sie vor der Tür.
L.
Prof. Dr. W.C. Cunning
Fachbereich
Literaturgeschichte
___________________________________________________________________________
Sie
stutzte. Sie las die Nachricht noch einmal. Ja, sie war von jetzt. Und…
anscheinend wartete er vor der Tür? Ihre Finger kribbelten, als sie hastig das
Display ausschaltete, als Lucy im Schlaf knurrte. Vorsichtig erhob sich Jo und
ihre Beine wankten unter ihrem eigenen Gewicht. Sie hatte zu wenig geschlafen,
um ausgeruht zu sein. Sie hatte zu wenig erfahren, um tatsächlich zu wissen,
was passiert war.
Sie
wusste nur, sie hatte nicht traumlos geschlafen. Aber immerhin hatte sie nicht
von dem Monster der letzten Nacht
geträumt. Oder… war es überhaupt passiert? Jetzt gerade war sie damit
beschäftigt, ihre Tasche zu nehmen, aus dem Zimmer zu schleichen und draußen
auf dem Flur nach ihrer Bürste zu kramen.
Oh
Himmel! Wie sie aussah! Hastig kämmte sie die knotigen Strähnen glatt, prüfte
ihre Zähne auf ihre Sauberkeit und ignorierte ihr schlagendes Herz. Aber ein
Gedanke trieb sie voran. Nämlich der, dass Dr. Cunning ihr angeboten hatte, sie
vor Greyson zu beschützen. Und jetzt hatte sie doch wohl ein ziemlich ähnliches
Problem mit einer weiteren Riege an verrückten.
Vielleicht
konnte er helfen! Vielleicht wusste er es schon! Vielleicht… - egal, was es
war, aber sie wusste, sie konnte hier nicht bleiben. Sie war nicht das, was
Blake dachte. Denn Blake war schließlich auch wahnsinnig geworden! Und sie war
froh, dass dieser Hawker abgehauen war, der ihr
erklären wollte, dass er ein Jäger war. Ihr Verstand hatte die Begegnung der
letzten Nacht mit dem Monster erfolgreich verdrängt, und jetzt zählte nur, dass
ein normaler Mensch in ihrer Umgebung war. Sie richtete hastig ihre Jeans,
strich sich das Top glatt, hauchte sich noch einmal in die Hand, nur um noch
eilig nach einem Pfefferminz zu kramen, ehe sie die Treppe nach unten schlich.
Ihre Hand
lag auf der Klinke, die Tasche hatte sie bereits über die Schulter geschlungen,
und ehe ihr Gehirn vollständig erwacht war, drängte sich eine wichtige Frage
dennoch an die Oberfläche.
Sie
öffnete die Tür.
Woher
wusste er, dass sie hier war?
Fast
verzweifelt versuchte ihr Gehirn diese Frage noch zu beantworten, die Botschaft
dahinter zu begreifen, aber er sah einfach umwerfend aus, also gefroren alle
Gedanken in ihrem übermüdeten Kopf.
Er
schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Die dunkelblonden Haare frisch gewaschen
und frisiert, sein Alter, wie immer, unschätzbar, und er hob
zwei Kaffeebecher in die Höhe.
„Guten
Morgen, Miss Clark“, begrüßte er sie mit butterweicher Stimme.
„Dr. Cunn- Liam“, erwiderte sie in nur einem Hauch. Er lächelte
so freundlich, so vertraut, dass sie den großen Kloß in ihrer Kehle spürte.
Müdigkeit, Verzweiflung und Angst hatten sich mühelos an ihre Oberfläche
geschlichen und gewannen nun den Kampf um ihre Kontenance.
„Miss
Clark, ist alles in Ordnung?“, fragte er sofort, das Lächeln fortgewischt.
„Ich…
ich… nein!“, brachte sie hervor. „Ich will hier weg!“, fügte sie gepresst
hinzu, und sofort kam er näher, legte tatsächlich eine Hand auf ihre untere
Rückenpartie und führte sie fort von dem Haus, nachdem er lautlos die Türe
geschlossen hatte.
Die Tür
war geschützt. Diese Information war auch wieder in Gedächtnis gerutscht. Jetzt
war sie draußen. Also nicht mehr geschützt.
Woher wusste er, dass sie hier war?
Frag es, befahl ihr
Verstand jetzt.
Eilig
hatte er sie von der Auffahrt weggeführt, und sie befanden sich auf dem
asphaltierten Weg zu den Parkplätzen.
„Habe ich
Sie gestern Nacht noch mit meiner Nachricht geweckt?“, erkundigte er sich
schließlich, als er beiläufig einen Wagen mit Zentralverriegelung öffnete. Sie
schüttelte kurz den Kopf. Der Sportwagen war rot, ein Oldtimer, und das
Kennzeichen trug seine Initialien.
Er hatte
ihr die Beifahrertür geöffnet. Schließlich hob sie den Blick zu seinem Gesicht.
„Woher
wussten Sie, dass ich hier war?“, flüsterte sie schließlich, ohne ihn aus den
Augen zu lassen. Er sah sie einen momentlang an.
„Von Miss
Riley. Sie hat es mir erzählt.“ Oh. Libby hatte Cunning erzählt, dass sie eine
Pyjamaparty bei Blake veranstalteten? Was es dann nicht war. Libby plapperte
wohl alles aus.
„Richtig“,
erwiderte sie nickend.
„Steigen
Sie bitte ein.“
„Wo… fahren wir hin?“, rang sich die nächste nervöse Frage aus ihrem Mund.
„Ich
werde Ihnen helfen, Miss Clark“, entgegnete er schlicht. „Bitte, steigen Sie
ein.“ Die aufgehende Sonne beleuchtete seine Haare und ließ sie golden funkeln.
Sein Blick war nicht zu deuten, aber sie mochte behaupten, er wirkte besorgt.
Sein voller Mund lächelte nicht mehr, und die grauen Augen suchten ihr Gesicht
ab. Sie musste einfach scheußlich aussehen, ging ihr plötzlich durch den Kopf,
als sie seine Erscheinung in sich aufnahm. Er trug eine helle Stoffhose, ein
hellblaues Hemd, einen dunkelblauen Blazer und das Jackett offen darüber.
Es stand
ihm sehr gut, während ihre Jeans mit Dreckflecken übersäht war.
Sie
spürte die Röte in ihren Wangen.
„Wollen
Sie, dass ich Ihnen helfe, Miss Clark?“ Und eine Intensität lag in seinem
Blick, der ihren Puls in ungeahnte Höhen schickte. Und sie nickte, ehe sie die
Worte verstanden hatte. „Dann steigen Sie bitte ein. Es ist hier nicht sicher“,
fügte er hinzu, mit einem Blick auf den Wald. „Die Dunklen sind unterwegs, und
ich alleine kann Sie nur schwer aufhalten.“ Diese Worte! Er sagte es auch!
„Die…
Dunklen…?“, wiederholte sie, was auch schon Hawker
gestern gesagt hatte.
„Die
Geschichten sind wahr, Miss Clark. Aber ich kann Ihnen helfen!“, versicherte
er, und wieder sah er sich um. „Vertrauen Sie mir“, fügte er mit einem langen
Blick hinzu. Die Farbe seiner Augen schien dunkler zu werden. Und ihr Körper durchfuhr ein Ruck, und sie setzte sich in
Bewegung und stieg ein.
Die Sitze
waren aus Leder und angenehm bequem. Er hatte den Wagen umrundet, stieg selber
ein und reichte ihr den Kaffe.
„Trinken
Sie. Sie müssen unheimlich müde sein“, fügte er hinzu. Ja, das war sie. Woher
wusste er das?! Sie nahm einen Schluck, und der Kaffee belebte ihre Sinne
sofort. Er war köstlich und vor allem noch heiß. Und kaum hatte Cunning den
Motor gestartet, hörte sie ein weiteres Motorengeheul. Sie sah, wie sich sein
Blick zum Rückspiegel hob. „Ein Freund von Ihnen?“, fragte er, während er
sicher den Gang einlegte und das Gaspedal fast unverzüglich durchtrat. Der
Motor des Oldtimers bockte fast auf, während die Reifen von der Straße sprangen
und zum Leben erwachten.
Sie sah
sich irritiert um. Ein Motorradfahrer. Hawker!
„Nein!
Kein Freund!“, flüsterte sie ängstlich und sank tiefer in ihren Sitz. Cunning
schaltete hoch, gewann an Geschwindigkeit, und die Bäume sausten so schnell an
ihr vorbei, dass sie in den Sitz gedrückt wurde. Nach einer kleinen Weile,
wagte sie in ihren Seitenspiegel zu blicken, um zu sehen, dass Hawker verschwunden war.
„Wollen
Sie mir erzählen wer der Mann war?“, fragte Cunning neben ihr, den Blick auf
die Straße gerichtet, und Jo nippte noch einmal an ihrem Kaffee. Sie sah ihn
jetzt direkt an und verlor ein wenig an Scheu vor dem schönen Mann neben ihr.
„Woher
wissen alle über diese Mythen bescheid, die angeblich
mit mir zu tun haben?“, verlangte sie nun zu wissen. Er löste den Blick von der
menschenleeren Straße für einen Moment, um sie anzusehen. Die Augen wachsam und
die Stirn in Falten gelegt.
„Die
Mythen sind wahr, Miss Clark. Und ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht
umbringen“, fügte er ruhig hinzu. Er sagte dies mit erschreckender Ehrlichkeit,
nur war sie völlig fehl am Platze, wie ihr rasendes Herz feststellte.
„Was?“,
flüsterte sie und glaubte, ihn missverstanden zu haben. Ihre Handflächen
begannen zu schwitzen, und er fuhr viel zu schnell. Ihr Atem beschleunigte sich
als Vorbote einer Panikattacke.
„Ich habe
Ihnen doch gestern geschrieben, dass ich Ihnen ein Arrangement vorzuschlagen
habe“, erläuterte er, wieder mit einem Seitenblick auf sie. Sie spürte, wie ihr
Mund wieder trocken wurde.
„Wieso…
wieso müssen Sie sagen, dass Sie mich nicht umbringen werden?“, brachte sie
tonlos hervor, und tatsächlich zuckten seine Mundwinkel.
„Ich will
nicht, dass Sie Angst vor mir haben. Mein Vorschlag ist sehr simpel, Miss
Clark“, fuhr er geschäftlicher fort. Sie wich vor seinem intensiven Blick
zurück. Er wirkte kaum älter als sie es war, aber er jagte ihr eine Angst ein,
die kein Alter kannte. Es war eine instinktive Angst. Sein Blick wurde sanfter,
als er sie wieder ansah. „Bitte, haben Sie keine Angst“, sagte er jetzt
ernster. Dann sah er wieder nach vorne auf die Straße. Ein Gefühlsumschwung
oder überhaupt ein Gemütszustand war ihm nicht anzumerken.
Sie
versuchte, ihre Atmung zu beruhigen, versuchte, nicht in Tränen auszubrechen,
versuchte, nichts zu denken. Sie war noch niemals in einer Situation gewesen,
in der ihr Leben bedroht gewesen war. Zumindest glaubte sie das. Und jetzt,
innerhalb kürzester Zeit hatte sich aller verändert.
Und er,
Dr. Stunning, nennen-Sie-mich-Liam, sprach nicht
mehr. Und sie wagte es nicht.
Sie
fuhren stumm eine ganze Weile lang. Der Wald säumte sich links an der Straße,
und die Sonne schien heute an einem freundlich blauen Himmel.
Nach
einer Endlosigkeit erreichten sie ein Tor, geschützt von einer umläufigen, hohen Mauer, und er fuhr direkt an einen
Schalter. Er ließ das Fenster hinab surren und lehnte sich hinaus.
„Öffnet
das Tor“, befahl er knapp in einen kleinen Lautsprecher, und keine Sekunde
später schwangen die schweren Holztüren auf. Ihr Mund öffnete sich perplex.
Eine Parkanlage erstreckte sich wie es schien kilometerweit. Sie fuhren einen
sauber angelegten Kiesweg empor. Rechts und links waren Rosenbüsche
angepflanzt, die langsam all ihre Pracht verloren, aber Gärtner schienen
bereits Winterpflanzen zu setzen. Springbrunnen waren nicht mehr aktiv, machten
aber einen pompösen Eindruck zu beiden Seiten der Straße.
Sie
fuhren eine Steigung empor, und durch die Allee, die von Linden gesäumt war,
erkannte sie weit hinten ein Haus. Ein Haus? Ein Palast, ein Schloss? Was auch
immer es war, es war riesig. Als sie in einem Rondell vor dem Haus hielten,
wurden sie bereits erwartet. Sie starrte auf die Personen, die anscheinend die
Dienerschaft verkörperten, da sie entsprechende Kleidung und Schürzen trugen.
Er war
ausgestiegen, ohne ein weiteres Wort, und ein Mann in einem schwarzen Anzug mit
schmaler Fliege öffnete ihre Tür.
„Miss“,
begrüßte er sie, ohne den Blick zu heben und wartete, dass sie ausstieg. Ihre
Beine waren wie gelähmt.
„Joanna!“,
rief Cunning jetzt lauter, und nickte auffordernd. Schluckend setzte sie sich in
Bewegung, klammerte sich an ihre Umhängetasche als böte sie einen Schutz, und
verließ das Auto. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um das Dach des
Hauses auszumachen. Wie viele Stockwerke waren das?
„Kommen
Sie?“, erkundigte sich Cunning neben ihr, der lächelnd die Hände in die Taschen
seiner Anzughose geschoben hatte. Sie sah ihn an.
„Was ist
das hier?“, flüsterte sie, denn ihre Stimme war längst verloren gegangen.
„Mein Haus“,
erwiderte er, ehrlich überrascht. „Ich wohne hier. Oder ich sollte sagen, wir
wohnen hier“, fügte er lächelnd hinzu. Sie wurde nur noch ängstlicher. Wie
viele waren hier?
„Wir? Wer
ist wir?“ Und dieses Mal lachte er tatsächlich.
„Aber
Miss Clark, was denken Sie? Sie und ich natürlich“, erklärte er jovial, und ihr
Mund öffnete sich.
„Ich…
Sie?“, stammelte sie, aber er gebot ihr mit der Hand das Haus zu betreten. Ein
weiterer Mann hielt bereits die Türe offen, und er war wesentlich älter als der
Mann, der ihr die Tür des Wagens geöffnet hatte.
„Das ist Sandford. Sollten Sie irgendwelche Wünsche haben, wird er
sie ohne Zögern erfüllen“, erklärte er beiläufig, während sie das riesige
Anwesen betraten.
„Was mache ich hier?“, fragte sie jetzt und war in der Halle stehen geblieben.
Sein Ausdruck wurde wieder ernster.
„Miss
Clark, ich diskutiere geschäftliches nicht in meinem Flur“, gab er zurück, und
wieder deutete er mit der Hand nach vorne. Es war allerdings weniger eine Geste
als ein deutlicher Befehl. Ängstlich bewegte sie sich vorwärts. Sie beachtete
die Gemälde mit keinem Blick, auch wenn sie annahm, dass es sich um
Kostbarkeiten handelte.
Genauso
wenig wie die Wandteppiche, die abstrakte Kunst und all die anderen
Wunderlichkeiten, die die Räume hier säumten. Sie hielten vor zwei Flügeltüren,
die in ein rundes Zimmer führten.
„Mein
Arbeitszimmer. Nach Ihnen“, fügte er hinzu, öffnete die Türen, und nach kurzem
Zögern trat sie hinein. Er folgte ihr und schloss die Türen hinter sich. Das
Zimmer hatte Ausblick auf die Parkanlage und den stillgelegten großen
Springbrunnen, den sie in der Ferne erkennen konnte. Zwei Türen mit
Sprossenfenstern führten in den Garten hinab, und sie sah, die Straße war von
hier aus nicht mehr zu erkennen, verborgen hinter der mit Efeu bewachsenen
riesigen Mauer, die sie am Horizont nur als graue Linie auszumachen wagte.
„Und
jetzt?“, fragte sie leise, und sie wusste nicht, ob sie den heutigen Tag
überleben würde. Ihre Angst musste ihr wieder ins Gesicht geschrieben stehen.
„Setzen
Sie sich“, bot er ihr höflich an, schenkte ihr ein atemberaubendes Lächeln, und
ihre Panik brodelte lediglich. Sie war noch nicht ausgebrochen. Wie konnte
jemand, der so schön war, gefährlich sein? War er es überhaupt? Sie setzte sich
auf den geschwungenen, mit Leder bespannten, Stuhl. Er nahm ihr gegenüber Platz
und lehnte schließlich die langen Finger aneinander, während er die Ellbogen
auf dem Tisch aufstützte.
„Ich weiß
nicht, was…“
„Sind Sie
hungrig?“, unterbrach er sie schlicht, aber sie ruckte nur mit dem Kopf. Sie
konnte nicht essen. Sie wusste nicht einmal, was sie hier tat!
„Nein.
Bitte sagen Sie mir, was Sie von mir wollen“, brachte sie nun doch hervor.
Sein
Blick wurde wieder ernst, und er atmete langsam aus. Fast kam das hysterische
Gefühl von Mitleid für ihn an die Oberfläche, denn er wirkte fast gequält.
„Ich bin ein Vampir, Miss Clark“, sagte er ruhig, und sie sah ihn an. Was?!
Was? Sie hatte die übrigen Gedanken vergessen. Er nicht auch noch!
„Was meinen
Sie?“, fragte sie also, denn sie hatte wohl den Spaß nicht verstanden. Er
lehnte sich zurück.
„Ich bin
ein Vampir der ältesten Blutlinie dieser Hemisphäre, Miss Clark. Und Sie sind eine Auserwählte“, fügte er langsam hinzu.
„Was?“,
wiederholte sie, und dass er so ernst bei so einem albernen Thema bleib, jagte
ihr mehr Angst ein, als das Monster von gestern Nacht. Und sie erhob sich
zitternd. „Sind… Sie auch verrückt?“, flüsterte sie und griff sich ihre Tasche.
Rückwärts wich sie nach hinten, und er erhob sich seufzend.
„Es ist
wirklich charmant, wie Sie versuchen, zu fliehen, aber es bringt Ihnen gar
nichts. Es wäre auch nicht ratsam“, fügte er knapp hinzu, während er gemächlich
näher kam.
„Lassen
Sie mich in Ruhe!“, presste sie hervor.
„Haben Sie
bitte keine Angst. Ich möchte Ihnen ein Angebot vorschlagen“, begann er erneut,
als würde er ihr lediglich wieder eine Stelle in seiner Fakultät anbieten.
„Nein!“, sagte sie nur präventiv. „Was wollen Sie von mir?“ Dass er immer noch
so ruhig und normal blieb war ihr schleierhaft. Ein verrückter sollte doch kurz
bevor er sein Opfer umbrachte Anzeichen seiner Krankheit zeigen, oder nicht? So
war es doch auch immer in den Krimis!
„Laufen
Sie nicht weg, es bringt Ihnen gar nichts. Ich bin schneller als Sie glauben.“
Mit festem Griff hatte er ihre Schultern umfasst, und seine Augen schlossen
sich automatisch als er tief einatmete. „Ihr Duft… hat sich nicht verändert. Er
ist nur stärker geworden“, bemerkte er still. Sie schüttelte den Kopf.
„Lassen
Sie-“
„Joanna,
ich hypnotisiere Sie nicht, weil ich glaube, dass wir beide von dieser
Verbindung profitieren können.“ Sie schüttelte nur wieder und wieder den Kopf.
„Was
wollen Sie von mir? Ich habe kein Geld, ich habe nichts!“, wimmerte sie, und er
hielt sie fester, zwang sie, den Kopf zu heben.
„Ich will
Ihr Blut. Mehr nicht“, informierte er sie ruhig. Sie zuckte zusammen.
„Was?“, zischte sie und wand sich in seinem festen Griff. „Sie können nicht-“
„Ihr Blut
ist mächtig. So mächtig, dass es einen Vampir zum gefährlichsten und
mächtigstem Wesen aufsteigen lassen kann. Das natürlich nur, solange Sie kein
Wolf, kein Vampir und eine Jungfrau sind“, fügte er hinzu. Sie starrte ihn an,
und schrie nun aus Leibeskräften um Hilfe. Seine Hand lag über ihrem Mund, übte
aber keinen Druck aus, und seine Augen wurden dunkler.
„Bitte
kooperieren Sie mit mir, Miss Clark. Ich will das ohne Hypnose von Statten
gehen lassen. Willigen Sie ein, und Sie bekommen, was immer Sie wollen.“ Sie
wehrte sich noch eine kurze Zeit lang, bis sie einsah, dass er stärker war.
Wesentlich stärker. Sie machte ihren Kopf los und fixierte ihn voller Panik.
„Ich will
gehen, Dr. Cunning“, wisperte sie, aber er schüttelte streng den Kopf.
„Alles, aber
gehen können Sie nicht“, erklärte er mit echtem Bedauern. „Ich werde Sie nicht
mehr gehen lassen, Miss Clark. Ich möchte, dass Sie mein sind. Ich werde dafür
natürlich auch meinen Teil beitragen“, erklärte er sofort und ließ von ihr ab.
Ihre Schultern waren fast taub vor Schmerz. Seine Worte klingelten in ihren
Ohren. Was erzählte er da? Er war völlig übergeschnappt!
„Ich-“
„Ich
werde Sie nicht zu sexuellen Diensten zwingen“, erklärte er schließlich
neutral, während er wieder zurück zum Schreibtisch schritt. „Daran habe ich
kein Interesse. Der Form halber existiert der Vertrag bereits. Dazu gehört
außerdem, dass ich Sie beschütze. Vor den Wölfen und den Jägern. Ihr Blut wird
mir heilig sein, so wie Ihre Sicherheit, Miss Clark. Bis zu Ihrem Tod werde ich
dafür sorgen, dass es Ihnen an nichts fehlen wird.“ Sie starrte ihn wieder an.
„Das ist
nicht Ihr ernst!“, sagte sie schließlich. „Das… ist ein Witz, richtig?“ Aber er
sah sie weiterhin an und schien abzuwarten.
„Gemeinsames
Einverständnis ist wichtig, Miss Clark“, erklärte er, als wäre sie ein Kind.
„Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass, sollte ich eine der Klauseln brechen,
Sie natürlich frei sind, zu gehen. Ich möchte, dass Sie sich ein paar Tage Zeit
nehmen, den Vertrag zu studieren, ehe Sie einwilligen. Denn er wird Sie binden.
Magisch“, fügte er lächelnd hinzu, und wieder öffnete sich ihr Mund vor Schock.
Alle
waren verrückt geworden!
„Der
Jäger will Sie ausbilden, nehme ich an?“, fuhr er schließlich fort. Sie
antwortete natürlich nicht auf seine Frage. Waren sie eine Sekte? War das ein
Streich, den Blake ihr spielte oder träumte sie immer noch? „Die Wölfin will
Sie wahrscheinlich für sich, und die Hexen wollen Sie verwandeln. Alles recht
gut organisiert“, merkte er schließlich nickend an.
„Es gibt
keine Vampire“, sagte sie schließlich mit mehr Nachdruck als nötig, als sie
erneut den Kopf schüttelte. Und wieder erhellte ein Lächeln sein Gesicht.
„Miss
Clark, wir werden viel Spaß zusammen haben“, erwiderte er, während er sich
setzte. „Und jetzt möchte ich nicht mehr davon reden. Ich möchte, dass Sie
etwas essen. Für Ihre Sicherheit zu sorgen, bedeutet nämlich ebenfalls, dass
ich dafür sorge, dass Sie die richtige Ernährung
bekommen.“ Sie schüttelte wieder den Kopf.
„Ich… ich
bin nicht auserwählt! Ich bin ganz normal, verstehen Sie das nicht? Versteht
das keiner?“, beschwerte sie sich und sah sich wieder panisch um. Er schien von
ihrem Ausbruch nicht besonders gestört zu sein.
„Ihre
Kraft wird kommen“, sagte er jetzt und wirkte tatsächlich besorgt. „Vielleicht
glauben Sie es dann. Es ist wichtig, zu glauben, Miss Clark. Es gibt Ihnen
einen Sinn“, fügte er knapp hinzu. Wieder konnte sie nicht fassen, was er
sagte. „Sie werden es spüren“, erklärte er lediglich. „Und dann werden Sie mich
töten wollen.“
„Sie
töten?“, wiederholte sie fassungslos, und er lehnte sich wieder entspannt
zurück.
„Ihr
kleiner Jäger-Freund wird Ihnen doch bestimmt schon verraten haben, wie wir zu
töten sind, nicht wahr, Miss Clark?“, wollte er fast amüsiert wissen.
„In den Bauch“,
wiederholte sie auch diese Worte und konnte kaum fassen, dass sie es wirklich
tat. Und er lächelte.
„Üblicherweise
ist das auch so. Bei einigen wenigen Exemplaren jedoch… ist auch das
wirkungslos“, erklärte er ruhig. Und fast lachte sie hysterisch.
„Ok“,
sagte sie nickend, und wusste, ihr Grinsen war lächerlich. Wachsam sah er sie
an. „Beweisen Sie es“, verlangte sie jetzt.
„Beweisen?“,
wiederholte nun Cunning, und sie nickte wild, dass ihre braunen, ungewaschenen
Locken wippten.
„Ja! Sie
sagen, Sie sind ein Vampir, ich bin eine Auserwählte, dann beweisen Sie es!“,
forderte sie erneut. Er lächelte wieder. „So wie Dumbledore den Schrank hat
brennen lassen!“, fügte sie wie wahnsinnig hinzu.
„Dumbledore?“,
wiederholte er jetzt und runzelte die Stirn.
„Miss
Clark, ich glaube nicht, dass ich mich-“
„Sie
wollen so was lächerlich Perverses wie mein Blut von mir? Das ist einfach nur
krank und widerwärtig! Sie wollen ein Vampir sein? In den Büchern, die Sie uns
noch zum Lesen gegeben haben, können Vampire nicht tagsüber in der Sonne
spazieren!“
„Eine
Metapher“, unterbrach er sie. „Jesus konnte schließlich auch nicht wirklich
übers Wasser laufen. Eine Metapher“, wiederholte er.
„Oh ja?
Was ist mit Knoblauch, Kreuzen, Weihwasser, spitzen Eckzähnen?“, holte sie
jetzt hysterisch aus, und er rieb sich kurz das Kinn.
„Knoblauch
ist verträglich in Maßen, Kreuze sind einfach nur Kreuze, Weihwasser ist bloß
Wasser, und was die Eckzähne angeht, so sind es eher Fänge“, korrigierte sie
und schien Spaß zu empfinden.
„Dann verwandeln Sie sich! In eine Fledermaus oder eben… so ein Biest mit…“ Sie
musste mit Schaudern an das Wesen von letzter Nacht denken. „Mit gelben Augen
und widerlichem Gebiss!“
„Sind Sie
sicher, dass Sie nicht von einem Wolf sprechen?“, machte er einen Scherz, den
sie nicht verstand, aber er wurde schnell wieder ernst.
„Miss
Clark, sowie Wölfe an den Vollmond gebunden sind, sind Vampire Geschöpfe der
Nacht. Es ist ein hartnäckiger Mythos, dass wir tagsüber zu Staub zerfallen,
keine Spiegelbilder haben und mit einem Pflock im Herzen sterben. Wir
verwandeln uns nachts. Der Tag verbietet es. Es ist ganz natürlich. Ich werde
keinen Schrank zum Brennen bringen. Ich werde es nicht beweisen, denn ich will
nicht, dass Sie sich fürchten. Wenn es Sie beruhigt, es ist nicht schlimm,
Vampir zu sein“, erklärte er, und wie konnte er nur so normal darüber sprechen?
Er war doch nicht verrückt oder ungebildet! Er war… er wirkte doch so…
erfahren!
Sie
schloss die Augen.
„Ich bin eintausendsiebenhundertfünfundfünfzig Jahre alt, Miss
Clark. Ich bin länger hier als die meisten. Für gewöhnlich hege ich keinerlei
persönliche Kontakte, denn sie hindern einen nur. Für mich ist es neu, einem
Menschen zu erklären, was ich tue. Ich mache für Sie eine Ausnahme. Und es ist
eine Ehre, wenn ein Vampir etwas Derartiges tut.“ Und er war aufgestanden, war
wieder auf sie zugekommen, und vielleicht erkannte sie das Wissen uralter
Zeiten in seinen Augen. Vielleicht beruhte seine Erfahrenheit auf jahrelanger
Erfahrung. Aber sie erkannte eine unausgesprochene Drohung hinter seinen
Worten.
Er schien
mächtig geduldig zu sein. Vielleicht aber auch nur zu einem gewissen Grad.
Aber es
war unmöglich.
Es war
nicht wahr. Es konnte nicht wahr sein.
„Sie sind
Professor“, flüsterte sie kopfschüttelnd.
„Ich bin
auch Arzt, Architekt, Alchemist – das ganze Alphabet durch, wenn Sie es genau
wissen wollen.“
„Und als Vampir…“ Sie betonte das Wort immer noch
ohne jede Spur von Ernst, „wollen Sie mich verwandeln, oder was wollen Sie
genau?“ Vielleicht musste sie mitspielen. Vielleicht beruhigte man so einen
verrückten.
Er
lächelte erneut. „Sie glauben mir noch immer nicht, Miss Clark. Und nein. Ich
will Sie nicht verwandeln. Das ist eher die Neigung meines Bruders“, erklärte
er offen. Ihr Mund öffnete sich.
„Sie…
haben einen Bruder?“ Und sie überlegte, dass sie zwei von der Sorte niemals
überwältigen konnte.
„Ja. Aber
unter den Vampiren ist es nicht unüblich Geschwister zu haben. Aber das sind
alles Dinge, die wir nicht heute besprechen müssen.“ Er fixierte sie wieder
ruhiger.
„Heute
sollen Sie sich ausruhen.“
Sie sagte
nichts mehr. Sie musste die Polizei rufen. Der schöne Mann glaubte, er sei ein
Vampir. Und dazu war er auch noch verrückt!
„Und
lesen Sie in Ruhe den Vertrag.“ Er schnippte knapp mit den Fingern, und schon
öffneten sich die Türen und ein großer Buffetwagen wurde ins Arbeitszimmer
geschoben mit allen erdenklichen Köstlichkeiten, die sie nennen konnte.
Und laut
knurrte ihr Magen.
Bevor sie
die Polizei rufen würde, würde sie essen. Er sah nicht so aus, als würde er sie
jede Sekunde umbringen wollen. Ob Blake und Lucy und Libby sie schon als
vermisst gemeldet hatten?
Und fast
war sie von dem schönen Anblick wieder gefangen gewesen. Hastig senkte sie den
Blick und verbot sich selber, ihn noch einmal anzusehen. Sonst wurde sie ach noch verrückt!
~
Trapped ~
Noch
völlig regungslos lag sie in dem weiten Himmelbett in seinem Gästezimmer.
Er hatte sie
entführt, und noch hatte sie keinen Weg gefunden, zu telefonieren. Anscheinend
hatte er geschickt ihr Telefon entwendet, denn in ihrer Tasche war es nicht
mehr.
Die Panik
kroch ihr in die Glieder.
Vermisste
sie denn keiner? War es für die Polizei etwa unmöglich sie aufzufinden? Wie
sollte sie es schaffen einen weiteren Tag ruhig in einem monströsen Haus zu
sitzen, mit einem Exzentriker, der sich für eine Sagengestalt hielt?
Und mit
einem Ruck saß sie kerzengerade im Bett, denn die Haustür knallte anscheinend
ins Schloss. Und das mit so viel Kraft, dass die Wände zitterten. Und wenn sie
die Luft anhielt hörte sie aufgeregte Stimmen.
War das
die Polizei? Hatte sie gerade das Haus gestürmt? Hatte man sie gefunden? Und
jetzt gerade in dieser Sekunde wäre sie auch für den verrückten Hawker dankbar.
Sie
krabbelte aus dem Bett, ignorierte die frischen, neuen Sachen – die nicht ihre
waren, und die von Zauberhand in dieses Zimmer gekommen zu sein schienen – und
ließ ihre nackten Füße einfach so in ihre Chucks schlüpfen. Wenn sie schnell
wegmusste, dann brauchte sie auch keine Socken! Sie öffnete vorsichtig die Tür
und spähte in den Flur. Niemand hielt Wache, so wie noch gestern Abend.
Sie
schlich auf den Flur, und die Stimmen wurden lauter.
„Sie
können nicht zu ihm“, hörte sie eine der Dienstmädchen rufen. „Hören Sie nicht?
Ich weiß nicht, wie Sie ins Haus gekommen sind, aber sie dürfen nicht – Halt,
warten Sie!“ Und Jo eilte den langen Flur entlang. War es ein Beamter? Sie
hörte wie noch etwas zu Bruch ging. Anscheinend etwas aus Glas. Dann war es
wohl teuer gewesen. Sie bog in einen weiteren Flur ab, schien sich wieder
verlaufen zu haben, und fand dann endlich eine Treppe, die nach unten führte.
Überrascht
fand sie sich in der Küche wieder. Sie war riesig groß, modern kühl, und alles
blitzte nur so vor Chrome und sündhaft teurem Design.
Wenn der
Beamte doch nur noch mal sprechen würde! Sie konnte ihn so nicht ausmachen.
Eine
weitere Tür schlug laut zu, und sie zuckte zusammen. Wahrscheinlich sah sie
absolut furchtbar aus, aber es war egal. Das wäre Grund genug, sie noch
schneller hier raus zu holen!
„Dann
warte ich!“, hörte sie einen Mann jetzt rufen, und die Stimme näherte sich der
Küche. Sie hielt die Luft an.
„Sie
dürfen nicht-! Der Herr hat es verboten, Sie…!“
Aber
schon schwang die Küchentür lautlos auf und ein wütender Greyson Adler war
hineingetreten. Und er verharrte in der Bewegung.
Ihr Mund
klappte auf.
„Greyson?“,
flüsterte sie jetzt, und selbst Greyson Adler war jetzt im Moment wohl nicht der
schlechteste aller Retter. Und er starrte sie an.
„Joanna,
ist alles in Ordnung?“ Sofort schloss er den Abstand zu ihr, schien sie zu
inspizieren, und sie ließ sogar abwesend über sich ergehen, dass er prüfend
ihre Ärmel nach oben schob.
„Was… was
tust du hier? Wie hast du mich gefunden?“, flüsterte sie, und Greyson stieg
tatsächlich in ihrer Sympathieskala auf die erste Sprosse der Leiter.
„Sie
dürfen das Haus nicht betreten, Sir!“, rief das Dienstmädchen wieder, aber
Greyson wandte sich herrisch um.
„Raus“,
herrschte er die Frau mit einem tonlosen Knurren an, und wie hypnotisiert
nickte sie nur einmal und schritt gleichmütig aus dem Zimmer.
„Hast du
die Polizei gerufen? Er hält sich für einen Vampir!“, flüsterte sie hysterisch
und klammerte sich förmlich an seine Jacke. Sein Mund hatte sich geöffnet,
betrachtete ihr Gesicht eingehend, und er schüttelte sie sanft.
„Ist alles ok mit dir? Hat er dich angefasst oder sonst was getan?“, wollte er
eindringlich wissen, und sie schüttelte nur den Kopf.
„Nein,
ich… er wollte, dass ich etwas unterschreibe, oh, Greyson, ich hatte wirklich
Panik, dass keiner kommen würde! Wo sind die anderen?“, erwiderte sie sehr
schnell, und er verengte die Augen.
„Du hast
nichts unterschrieben, richtig?“ Als ob das irgendwie wichtig wäre! Was
verschwendete er denn noch seine Zeit mit nutzlosen Fragen?!
„Nein!
Natürlich nicht! Lass uns gehen!“
Und je
länger sie voreinander standen, je länger er sie ansah, umso klarer wurde ihr
eine entscheidende Sache: Sie würden nicht gehen….
Sie
würden nicht gehen!
Greyson
machte keine Anstalten zu gehen. Sie wich erschrocken vor ihm zurück und ließ
ihn nicht aus den Augen.
„Was tust
du hier?“, flüsterte sie nun, und befand sich in einem Haus voller Feinde.
„Joanna,
warte!“ Er hatte die Hände gehoben, um sie davon abzuhalten, weiter zurück zu
weichen. „Ich kann es dir erklären. Es ist wirklich-“ Aber die Küchentür
schwang auf und unterbrach Greysons Worte.
Und ihr
Atem gefror. Angst befiel sie, denn die Art und Weise, wie Cunning Greyson
ansah, machte ihr deutlich, dass Greyson kein willkommener, geschweige denn,
ein erwarteter, Gast war.
„Guten
Morgen, Miss Clark“, begrüßte er sie dennoch mit einem Nicken. Ihre
Fingerspitzen kribbelten unangenehm.
„Wie hast
du es nur geschafft an den Hunden vorbeizukommen?“, schien er sich mit
gespielter Sorge zu fragen, aber ein kühles Lächeln zierte seine Lippen. Und
sie fühlte sich plötzlich seltsam. Sie durchlebte ein seltsames Déjà Vue, was sie nicht recht
zuordnen konnte, aber es machte ihr unheimliche Angst.
„Aber… ehrlich gesagt wunderte es mich, dass du tatsächlich solange gebraucht
hast“, fuhr Cunning gefährlich ruhig fort. „Habt ihr… euch schon bekannt
gemacht?“, wollte er wissen, seine Freundlichkeit und Ausgeglichenheit von
gestern wie weggeblasen.
„Liam“,
begann Greyson warnend, aber Liam hob abwehrend die Hände.
„Was
denn, was denn? Wenn du dir schon die Mühe machst, finde ich, kannst du meinem
Gast auch gleich sagen, weshalb du gekommen bist.“ Cunning wandte sich ihr zu.
„Miss Clark, ich erwähnte ihn ja schon bereits. Und vielleicht kommt es als
winziger Schock, aber… hat mein Bruder sich schon vorgestellt?“
Und ihr
Mund öffnete sich erneut, aber kein Ton verließ ihre Lippen. Und auf der Sohle
machte sie kehrt, stürzte hinter dem Küchentresen vorbei auf die zweite Tür zu,
aber mit unmenschlicher Schnelligkeit hatte Cunning ihr den Weg versperrt und
stand nun gelassen vor der verschlossenen Tür.
„Wer wird denn weglaufen? Cilian, warum erzählst du ihr nicht, weshalb du hier
bist?“ Und Greyson sah sie beschwichtigend an, während er den Kopf schüttelte.
„Joanna-“
„Nein!“,
schrie sie außer sich. „Ich will es nicht hören! Wenn Sie alle kranke, gestörte
Psychopathen sind, wieso bringen Sie mich nicht endlich um? Ich bin hier, ich
kann anscheinend nicht weg und niemand normales findet den Weg, um mich zu
retten! Also los!“, schrie sie, so dass es in der Küche gruselig widerhallte.
„Ihr
wollt mich gefangen halten, mein Blut abzapfen für okkulte, perverse
Machtspiele? Ihr wollt exzentrische Vampire spielen? Schön!“, fügte sie hinzu,
und blind griff sie nach dem längsten Messer aus dem teuren Messerblock.
„Da Sie
es in Ihrem Spiel nicht so genau nehmen, Dr. Cunning, und tagsüber rumlaufen
können, wird es ein Messer wohl genauso tun wie ein Pflock es tut, richtig?“,
wollte sie heiser von ihm wissen, und es war ihr egal, dass sie gerade
ebenfalls den Verstand verlor, als sie in die Knie ging, als Greyson auf sie
zukam.
„Einen Schritt, Adler, und ich werde mich wehren, hast du verstanden?“, schrie
sie außer sich, und tatsächlich hielt er widerwillig inne.
„Leg das
Messer weg, Joanna. Ich kann es dir erklären“, begann er langsam, aber sie
schüttelte nur den Kopf, unwillig, ihm zuzuhören.
Kampflos
würde sie sich nicht ergeben.
„Es
reicht jetzt“, erklärte Cunning fast entnervt, und ihr sonstiges Denken setzte
schlagartig aus, als er auf sie zukam. Plötzlich bewegte er sich nicht mehr
unmenschlich schnell, denn sie sah seine Bewegungen wie in Zeitlupe, spürte
plötzlich eine unbekannte Kraft in den Beinen – und sprang. Und tatsächlich
sprang sie so hoch, dass sie vor Überraschung keuchen musste, als ihre Füße
unter ihr auf dem Tresen landeten.
Es
passierte in einem Bruchteil, denn schon war sie weiter, war wieder
abgesprungen, und so schnell zur anderen Tür gekommen, dass sie durch die
Geschwindigkeit fast ungebremst in sie hineingelaufen wäre.
Und sie
hörte einen von ihnen hinter sich, er kam rasend schnell näher, aber sie drehte
sich mühelos um die eigene Achse und jagte ihm in unglaublicher Geschwindigkeit
das Messer mit voller Wucht in den Bauch, so dass es die Bauchdecke
durchbohrte, den Magen, und die Rippen. Sie spürte, wie es das Fleisch, die
Haut, durchbohrte und mit einem widerlichen Geräusch hinten wieder aus seinem Körper
austrat.
Hastig
ließ sie los – und sie war wieder sie selbst. Alle hypersensiblen Fähigkeiten
waren wieder verschwunden.
Ihr Atem
ging schnell und ihr Puls jagte, als ein verstörter Greyson vor Schmerzen den
Mund verzog.
„Verdammt
noch mal“, brachte er gepresst hervor. „Sie ist verflucht schnell“, fügte er
stöhnend hinzu und zog dann das Messer langsam aus seinem Körper. Sie sah, wie
Cunning fluchend ein Handtuch aus einer Schublade zog und auf den Boden warf,
wo das Blut aus Greysons Körper austrat.
„Hoffentlich
zieht es nicht in den Boden ein“, murmelte er abwesend.
„Das ist deine einzige Sorge?“, blaffte ihn Greyson an, und Jos Mund öffnete
sich wieder.
Oh Gott!
Was war passiert? Was hatte sie getan? Sie hatte Greyson Adler tödlich
verletzt!
Aber… ihr
ging auf, noch stand er auf beiden Beinen, nur sah er jetzt reichlich wütend
aus, als er ihr den Blick zuwandte.
„Bist du
jetzt fertig?“, knurrte er ungehalten und warf das blutige Messer in die Spüle.
Er wusch sich eilig die Hände, nur um dann wieder herumzufahren. „Ich hatte
schon genug Ärger mit dem verdammten Jäger. Er wartet übrigens draußen. Deine
Hunde sind einen Scheißdreck wert, Liam“, informierte Greyson ihn
geflissentlich, und wieder kam irgendetwas an dieser Situation Jo bekannt vor.
„Wieso hast du sie nicht hypnotisiert?“, wollte er lauter wissen.
„Ich
hatte deinen Besuch nicht erwartet, verzeih mir“, erwiderte Cunning, und seine
Stimme troff vor Sarkasmus. „Ich wusste nicht, dass hier kleine Messerduelle
ausgeführt werden würden.“ Er klang fast bitter.
„Aber dass sie ihre Kräfte erlangen könnte, damit hast du schon gerechnet, in
deinem verrückten Kopf, richtig?“, schnauzte Greyson zurück, und sie verfolgte
perplex das Gespräch. Er war nicht tot. Er stand noch!
„Es ist
ein holpriger Start“, erwiderte Cunning lapidar.
„Oh, tu
nicht so, als ob sie sich dankbar fügen würde!“
„Sie wird
es schon noch tun, keine Sorge. Am besten verlässt du jetzt mein Haus“, schloss
Cunning ruhiger und deutete umstandslos auf die Küchentür.
„Ich gehe
nicht ohne sie“, erklärte Greyson schlicht.
„Oh, ist
das so? Und wo möchte mein Bruder hin? In den Wald? Zu den Wölfen? Es sind
jetzt alle unterwegs.“ Und beide starrten sich zornig an. „Die Jäger werden
sich freuen, wenn du sie in ihre Arme treibst.“
Cilian
Cunning… - irgendwas regte sich in ihrem Gedächtnis. Jaah…
der Bericht. Das Bootunglück, in dem nur zwei Brüder aus dem blutigen Massaker
überlebt hatten.
Wieso
lebte er überhaupt noch nach diesem Einstich?! Wieso? Wieso?!
„Du bist nicht
tot!“, brachte sie also tonlos hervor und lenkte die Aufmerksamkeit erstmals
wieder auf sich. Beide sahen sie an.
„Ich
sagte Ihnen doch, nicht bei allen Exemplaren wirkt der Stich in den Bauch“,
erklärte Cunning ihr jetzt wieder ruhiger. „Aber… versuchen Sie es bei Nacht
noch mal. Es würde mir eine Menge Arbeit ersparen“, fügte er knurrend hinzu.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Noch fand sie sich nicht mit der Tatsache
ab, dass sie den Quarterback erstochen hatte, und dieser scheinbar nicht mehr als
einen Kratzer zurückbehalten hatte.
„Oh
Gott…“, murmelte sie verzweifelt, und versuchte einen Schritt zu machen. Aber
keuchend sank sie auf die Knie. „Was… was zur…?“ Sie konnte sich nicht mehr
bewegen.
„Muskelkater“, informierte sie Greyson beleidigt. „Geschieht dir recht“, fügte
er hinzu, während er den Schnitt in seiner Jacke missbilligend betrachtete.
„Muskelkater?“,
wiederholte sie zusammenhanglos, aber Greyson lächelte tatsächlich recht böse.
„Wer
seine Kräfte so schnell und so unüberlegt einsetzt, der muss eben mit den
Konsequenzen von einem Muskelkater leben. Muskeln, die doch in deinem Leben
noch nie benutzt hast, bilden sich gerade, Joanna“,
erklärte er übertrieben arrogant, aber das kannte sie ja bereits.
Sie
schüttelte verwirrt den Kopf, als sie zu beiden aufsah.
„Sie hat
dir ein Messer in den Bauch gerammt. Ich denke, damit sehen deine Chance für
sie als deine Frau mäßig schlecht aus, findest du nicht?“, bemerkte Cunning
jetzt, als er sich gelassen gegen den Tresen lehnte und die Arme verschränkte.
„Halt
deinen Mund“, knurrte Greyson gereizt, und einmal mehr fühlte sie sich wie in
einem Irrenhaus, aber dieses Mal… war etwas anders.
Sie hatte
etwas gespürt. Etwas Unglaubliches. Und es schien in ihrem Innern zu sein.
Sie besaß
anscheinend doch Kräfte. Und keiner schien zu wagen, näher zu kommen.
Zwar
zwang sie der seltsame Muskelkater in die Knie, aber immer noch wurde sie
skeptisch beäugt.
Ihr fiel
wieder ein…, sie hatte gestern auch einen Sprung von über zwei Metern in die
Tiefe ohne Blessuren überstanden. Sie hatte gerade einen Mann umgebracht, und
dieser hatte keinen Kratzer abbekommen. Sie war im Stand auf einen Tresen
gesprungen, mit Leichtigkeit, im Bruchteil einer Sekunde.
Und
jetzt, wo sie sich für einen kurzen Moment die Zeit nahm, nachzudenken,
entdeckte sie eine hervorstechende Ähnlichkeit. Beide Männer hatten dieselben
Lippen. Sie sah von einem zum anderen. Nein, sie hatten auch dasselbe Kinn.
Nicht dieselbe Augenfarbe, nein.
Aber sie
waren fast gleich groß, ähnlich gebaut, und sie hatten doch tatsächlich den
exakt selben Mund!
Ihr Mund
hatte sich wieder geöffnet, und sie konnte wieder nur starren.
„Aber…
wie kann das sein?“, flüsterte sie tonlos. Und die einfach Antwort darauf war:
Es konnte nicht sein. Nichts hiervon konnte wirklich passieren!
~*~
Sie
tigerte durch den Salon. Der Muskelkater klang bereits ab, sie fuhr sich durch
die Haare, die dringend eine Dusche vertragen konnte, denn sie hingen schlapp
ihre Schultern hinab. Wieder und wieder machte sie große Schritte. Cunning saß
auf der Couch, beobachtete sie ab und an, während er in einem Buch blätterte,
und Greyson – nein, Cilian – stand am Fenster.
„Er
schlägt sich tapfer“, bemerkte er.
„Ach ja?“
Cunning klang nicht interessiert.
„Was will
Hawker?“, fragte sie erneut.
Cilian
atmete gereizt aus. „Dich verwandeln. Dich zum Jäger machen, damit du uns töten
kannst.“
„Ich habe
Kräfte. Kann ich das jetzt nicht auch?“, fragte sie sogar relativ nüchtern, und
Greyson wandte sich fast überrascht um. Ihr Verstand weigerte sich, seinen
anderen Namen auszusprechen oder gar zu denken.
„Deine
Kräfte sind unkontrolliert und kommen in Schüben. Du hast keine Ahnung davon,
einen Vampir zu töten. Und dein einziges Glück ist, dass keiner von uns beiden
vorhat, dich umzubringen“, erklärte er gereizt.
„Nein,
ihr wollt mich aussaugen!“, erwiderte sie, und musste den Kopf über diese Absurdheit schütteln. Er schloss zornig den Abstand.
„Du wärst im Bruchteil einer Sekunde tot, Joanna! Das ist dir hoffentlich
klar!“, schnappte er wütend.
„Anscheinend
ja nicht!“, gab sie zurück. „Ihr könnt mich hier nicht gefangen halten!“,
warnte sie, obwohl sie schlecht fliehen konnte. Cunning räusperte sich.
„Das hier ist kein Gemeinschaftsprojekt. Mein… Bruder… verhält sich gerade besonders mutig, was ziemlich dämlich
von ihm ist. Aber, Miss Clark, ich bin überzeugt, dass Sie sich für mein
Angebot entscheiden werden, denn Cilian hier will Sie schließlich verwandeln.
Wohingegen ich dafür sorgen werde, dass Sie ein Mensch bleiben.“
„Unter
welchem Preis, Liam?“, unterbrach ihn Greyson lauter. „Du willst sie als
Blutsklavin halten. Als deine Untergebene!“
„Und sie
zu verwandeln ist so viel besser? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie du es
anstellen musst? Und wie gering die Chancen sind, dass sie es überhaupt
überlebt?“ Sie schüttelte immer nur wieder den Kopf.
„Was?“
Sie konnte es nicht glauben. Sie glaubte es einfach nicht. Gut, Greyson hatte
ihren Angriff überlebt. Sie hatte Kräfte entwickelt und brach sich keine
Knochen – aber… es war zu unglaublich als das es wahr sein konnte.
Sie hatte
das Gefühl immer noch im Dunkeln zu tappen. Keiner erzählte ihr irgendwas! Und
sie glaubte es nicht. Es gab keine Vampire!
„Ich will
hier raus“, sagte sie wieder, fast verzweifelt. Beide Männer sahen sie ernst
an.
„Das ist
keine Option, Miss Clark. Das tut mir leid“, erklärte Cunning lächelnd.
„Es tut Ihnen überhaupt nicht leid!“, schrie sie zurück. Er erhob sich elegant.
Langsam kam er näher, und er unterschied sich zu seinem angeblichen Bruder
schon allein durch seine Art. Sie war… ruhiger, erhabener – und es machte ihr Angst.
„Sie
nehmen es sehr persönlich, Joanna“, erklärte er nun kopfschüttelnd. Seine Haare
lagen perfekt. Er roch frisch und nicht nach Moder oder nach Gruft oder
Friedhof oder Blut, oder wonach ein so genannter Vampir eben zu riechen hatte.
„Es ist nichts Persönliches. Ich habe Sie gefunden, als sie geboren wurden. Ich
habe gewartet, bis es an der Zeit war, und jetzt hole ich mir, was mir
zusteht.“
„Wieso?“,
wollte sie verzweifelt wissen.
„Weil ich
es kann“, erwiderte er nur, mit einem feinen Lächeln. „Ich hege keinerlei
persönliche Gefühle für Sie, und Sie sollten es als Geschäftsverbindung
betrachten. Gut, Sie geben ein mittelmäßiges Leben als durchschnittliche
Studentin auf. Das sollte ein sehr kleiner Preis dafür sein, was ich Ihnen
bieten kann.“ Sie schüttelte wieder den Kopf. Sie hatte schon Kopfschmerzen vom
vielen Schütteln.
„Du
verschonst sie mit deinem Königs-Gequatsche. Das ist fast eine Wohltat“,
entgegnete Greyson schneidend.
„Es geht
sie nichts an. Je weniger sie weiß, umso einfacher ist es.“
„Je
weniger ich weiß?“, wiederholte sie ungläubig und versuchte, in seinem Blick
irgendeine Regung zu erkennen.
„Sie wollen mich zwingen, Ihnen mein Blut zu geben!“ Und sie wurde wieder
lauter. „Und du!“ Sie sah Greyson jetzt direkt an. „Ich will gar nicht wissen,
was du tun willst! Aber ich werde nichts dergleichen tun. Ich will gehen. Da
ist mir der unterentwickelte Hawker lieber als ihr!“
Greyson atmete langsam aus.
„Es gibt
keine Möglichkeit, dass du eine Jägerin wirst.“
„Da sind
wir uns anscheinend einig“, merkte Cunning jetzt bestätigend an.
„Ich will
gehen!“
„Dann
versuch es doch!“, provozierte Greyson sie schließlich mit einem Achselzucken.
Cunning verdrehte die Augen.
„Was
lässt Sie annehmen, dass die anderen eine bessere Zukunft für Sie planen? Sie
haben Glück, dass Sie mir zuerst in die Hände gefallen sind, ehe der Jäger
seine Hexe anschleppt, die sie tagelang bluten lässt, um sie dann unter den
größten Schmerzen immun gegen unseren Biss zu machen.“ Ihr Mund klappte langsam
auf. „Das ist eine Prozedur, die Monate dauern kann“, fügte er nur hinzu. „Und
die Wölfin? Denken Sie, es macht Spaß, von einem ausgewachsenen Werwolf
verwandelt zu werden? Sie wiegen fast fünf Zentner, und dieses Gewicht müssten
Sie auf sich ertragen, während eine Bluttransfusion stattfindet“, fuhr er
gelassen fort.
„Und… mein
Bruder will Sie als Geburtenmaschine missbrauchen. Er interessiert sich nicht
für Ihr Wohlergehen. Er will Sie mit seinem Biss vergiften, bis all ihre Zellen
schwarz werden dann sechs Liter menschliches Blut in ihren Körper bringen und
hoffen, dass es funktioniert. Und das ist nicht alles. Schafft er es, gegen
jedes Risiko, Sie zu verwandeln, werden Sie weitergereicht, denn jede Vampirin kann nur ein Kind von demselben Vampir bekommen.
Und sie stirbt nach der vierten Geburt. Denn Geburten von Vampiren sind
schmerzhaft, aber ich bin sicher, Cilian hätte Sie davon noch unterrichtet,
nicht wahr?“, wandte er sich mit einem kalten Lächeln an Greyson.
Sie
schnappte nur nach Luft. „Wenn Sie es also objektiv betrachten, haben Sie bei
mir die beste Chance, relativ unversehrt zu bleiben. Und meine Macht wird Ihnen
zu Gute kommen.“
„Du wirst
unsere Welt in einen Krieg stürzen. Das ist alles, was du tun wirst.“
„Und du
willst sie einfach opfern“, gab er zurück.
„Es ist
eine Ehre. Und es ist wichtig, die Rasse zu erhalten, Liam. Das weißt du,
genauso gut, wie ich!“
„Das sehe
ich ein klein wenig anders“, korrigierte ihn Cunning gelassen.
„Ich will
nichts davon“, flüsterte sie jetzt, ohne jemanden anzusehen.
„Das ist
nicht möglich. Würden Sie draußen alleine rumlaufen, dann würde jemand kommen
und Sie finden. Sei es ein Wolf, ein Druide, eine Hexe, Ein Jäger oder ein
Vampir. Und bei allem Respekt, die Aussicht, einem Vampir zu dienen ist da noch
die beste, die Sie haben.“
„Hawker sah nicht unglücklich aus!“ Er sah auch nicht zu
glücklich aus, aber sollte es stimmen, was Cunning sagte, so wirkte Hawker eben wie ein starker Mann, der Monster tötete.
Cunning jedoch lächelte.
„Sicher.
Nachdem Sie die schmerzhafte Transformation beendet haben, gegen unseren Biss
immun sind, bleibt Ihnen die ehrenvolle Aufgabe uns umzubringen. Oder
zumindest, beim Versuch dabei zu sterben. Miss Clark, es existieren weltweit
nur noch drei Jäger. Einer befindet sich vor meinem Haus, und somit werden es in Kürze nur noch zwei sein. Und beides sind
Männer. Sie wären die einzige Frau. Und sie wären dazu verdammt gegen Wesen zu
kämpfen, die von Natur aus keine Feinde haben.“ Sie versuchte, zu begreifen,
was er da sagte.
„Und
nebenbei bemerkt, beide werden natürlich versuchen, mit Ihnen einen weiteren
Jäger zu zeugen.“ Greyson stöhnte unterdrückt auf. „Und die Chancen dass das
passiert sind unmöglich. Jäger werden geboren, sind Auserwählte, wie Sie, aber
nur wenige überleben die Transformation. Und wenn Sie es tun… nun… dann sind
wir zur Stelle. Zwar wirkt unser Biss nicht tödlich, aber bei Nacht hat ein
Jäger keine Chance“, erklärte er gönnerhaft.
Sie
schüttelte plötzlich den Kopf.
„Hawker hat das Biest getötet, das uns vor zwei Tagen
angegriffen hat!“
Cunning
musste fast lachen und wandte sich an seinen Bruder.
„Ja, den
talentierten Späher, den du geschickt hast? Eine brillante Idee, übrigens“,
fügte er lachend hinzu, während Greyson seinen Blick gereizt zur Seite wandte.
„Du hast ihn
geschickt?“, brachte sie schockiert hervor, als sie die Worte begriff.
„Garantiert nicht, um dich zu töten!“, knurrte er. „Er war zu schwach. Dein
Geruch hat…“ Er unterbrach sich selbst. Stank sie? War es das? Sie wich
unbewusst etwas zurück. Ja, sie sollte duschen. Aber war es so unerträglich?
Greyson seufzte unterdrückt auf und schritt wieder zum Fenster.
„Sie
finden sich am besten mit der Tatsache ab, mein Haus nicht zu verlassen.
Sollten Sie sich für das Angebot meines Bruders entscheiden… werde ich Sie
natürlich sofort umbringen. Und meinen Bruder auch.“ Und er sagte die Worte
freundlich, als wäre es eben eine unvermeidliche Nebenwirkung. Aber sie sah, er
machte keine Scherze. Er hatte noch nie einen Scherz gemacht, ging ihr auf.
Sie war
also gefangen. Aber egal, welche Entscheidung sie treffen würde – es gab keinen
Ausweg. Es gab keinen…. Plötzlich runzelte sie die Stirn. Sie hob den Blick.
„Und wenn
ich keine Jungfrau mehr bin?“, fragte sie plötzlich, aber Cunning setzte sich
wieder gelassen auf die Couch und griff nach seinem Buch.
„Niemanden
würde es reizen mit Ihnen zu schlafen, Miss Clark, ohne dass dies beleidigend
klingen soll“, erklärte er, und sie fühlte einen Stich in ihrem Innern. „Jeder
bevorzugt die Macht, die Sie als Jungfrau bringen. Niemand liebt eine
Auserwählte“, fügte er hinzu, ohne sie noch anzusehen. „Machen Sie sich also
darüber keine Gedanken.“
Und
zornig wandte sie sich ab. Sie verließ die Halle, ohne dass ihr jemand folgte.
An jedem Ausgang, an jeder Tür standen mindestens drei Bedienstete, bewaffnet
bis an die Zähne, grimmige Entschlossenheit auf den Zügen.
Das war
also die Antwort! Ihre Macht, von der sie bis gestern nichts gewusst hatte,
schwand, wenn sie keine Jungfrau mehr sein würde.
Die
Antwort war also so simpel wie logisch.
Sie
musste Sex haben! Dann wäre sie wertlos.
Aber wie
sollte sie das tun können? Und was passierte an ihrem Geburtstag in vier Tagen?
Sie lief ziellos durch das Haus. Sie musste weg von hier! Denn wenn es stimmte,
würde sie sich nicht verwandeln lassen. Und Cunning machte ihr mehr Angst, als
dass er sie beruhigte. Niemand würde sie lieben? Und er wollte sie ein Leben
lang binden? So schön er auch war, aber glaubte er tatsächlich, dass sie sich
auf so etwas einließ? Dann sollte er sie lieber gleich töten!
~*~
Cilian
betrachtete lächelnd, wie der Jäger versuchte, die übrigen Höllenhunde zu
töten, ohne selber im Feuer zu sterben und ohne die Bediensteten umzubringen,
die auch Menschen waren.
„Wieso
hast du es nicht schon längst getan?“
Sein Bruder
hob den Blick nicht von seiner Lektüre.
„Ihr
Geburtstag-“
„Ich
spreche nicht von ihrem Geburtstag“, unterbrach er ihn knapp. Er wandte sich
schließlich um. „Du hättest sie längst hypnotisieren können. Du hättest längst deinen
Willen durchsetzen können. Du hättest mich längst töten können, wenn du es
wollen würdest. Was spielst du für ein Spiel, Liam?“ Und Liam hob langsam den
Blick.
„Ich spiele nie“, erwiderte er.
„Du
willst, dass sie es will. Ich frage mich, warum“, merkte Cilian kalt an. „Es
stört dich. Es stört dich, dass sie nicht Hals über Kopf zu deinen Füßen fällt.
Es stört dich, dass sie keine Angst vor dir hat.“
„Sie hat
Angst vor mir.“
„Nein.
Sie versucht immer noch zu fliehen.“
„Das
liegt daran, dass Sie nur meine nette Seite kennt.“
„Du
besitzt keine netten Seiten“, erwiderte Cilian lächelnd. Und Liam lächelte
ebenfalls. „Sie wird deine Lügen nicht glauben.“
„Meine
Lügen? Ich habe sie nicht angelogen.“
„Nein?
Keiner liebt die Auserwählte? Was denkst du, weshalb der Druide vor dem Tor
steht und Bannflüche murmelt seitdem die Sonne aufgegangen ist? Was denkst du
weshalb, der Jäger da draußen alles riskiert, um sie zu retten, obwohl er weiß,
was ihn hier drin erwartet?“
„Keiner
von Wert liebt die Auserwählte“, entgegnete Liam unbeeindruckt. Dieser nickte
nur nachsichtig, und er sah wie sein Bruder langsam zornig wurde.
„Das werden wir sehen, William.“
„Verschwinde
hier“, erklärte Liam, während er sich schließlich erhob.
„Deine Drohungen kannst du dir sparen. Mit mir hast du mehr Macht als ohne
mich.“
„Das ist
nur deine Ansicht“, erwiderte Liam kühl.
„Dann
lassen wir es doch einfach drauf ankommen“, bot er ihm an, und Liam verzog
spöttisch den Mund als Cilian ihm die Hand entgegenstreckte.
„Das ist
albern.“
„Wenn es
albern ist, hast du nichts zu verlieren.“
„Fein“,
sagte er also achselzuckend und schlug ein. „Wenn du es schaffst, sie zu
bekommen soll sie dir gehören“, erklärte er gleichmütig. „Aber mach dir keine
großen Hoffnungen.“ Sofort löste Liam den Händedruck wieder und schritt zurück
zur großen Couch. „Du erinnerst dich doch, wie bitter dich Enttäuschungen
treffen“, merkte er mit erhobenen Brauen an, und Cilian ballte die Hände zu
Fäusten.
Das hier
war noch nicht vorbei, aber in dieser Sekunde hörte er ein lautes Grollen, und
die Fenster klirrten in den Rahmen.
Sofort
schritt er zum Fenster.
„Der
Druide hat es geschafft“, sagte er nur, und Liam hob halb interessiert den
Blick.
„Wie es
scheint kommt das Essen heute freiwillig zu uns“, merkte sein Bruder amüsiert
an, und Cilian bereute schon fast, hergekommen zu sein.
~ Choices ~
Sie hatte
das Geräusch gehört. Und sofort war sie zu einem der Fenster gestürzt.
Sie
erkannte die Gestalt zwar, aber… das war unmöglich!
War das
Blake? Ihr Blake? Der missmutige Italiener, der keiner sein wollte? Der Nerd, der in Lucy verliebt war? Mit einer gruseligen Wolke
aus anscheinend purer Elektrizität um sich herum, einem wahnsinnigen Blick und
daneben sein unwahrscheinlicher Side-Kick, der ungehobelter Hawker?
Ohne Nachnamen? Der angebliche Jäger?
Ihr
schwirrte der Kopf.
Was tat
Blake denn da? Was zum Teufel war er bitteschön? Ein Faradayscher
Käfig?!
Sofort
hatte sie sich aber in Bewegung gesetzt. Denn hier bleiben würde sie nicht! Nie
und nimmer!
Und als
sie wieder ins Wohnzimmer zurück wollte – was wohl eher eine riesige Halle mit
riesigen und teuren Möbeln und unbezahlter Kunst darstellte – lief ihr Greyson
in die Arme.
„Oh nein“, sagte er nur, umfasste ihren Arm und wirkte recht entschlossen – zu
was auch immer! Sie wehrte sich praktisch sofort.
„Lass
mich sofort los!“, schrie sie.
„Ruhig,
Mädchen!“, gab er nur zurück, zog sie erbarmungslos mit sich, und sie sah gerade
noch, wie die Tür aus den Angeln gerissen wurde. Blauer Strom leckte am Rahmen
und es sah mehr als gruselig aus.
„Joanna!“,
vernahm sie die Stimme des fremden Hawkers, und sie
sah wie er ein leuchtendes Messer warf. Greyson stellte sich sofort vor sie,
schirmte sie von der Gefahr der fliegenden Waffen ab, und zuckte kurz zusammen,
als das Messer in durchbohrte.
„Geh weg
von ihm!“, schrie Hawker heiser, aber sie sah nur
fassungslos zu, wie Greyson schmerzhaft die Augen in gereizter Manie verdrehte
und die Waffe ohne Mühe aus dem Körper zog. Das Leuchten hatte seinen Körper
ergriffen, und seine Brust leuchtete durch den Stoff seiner Kleidung, die schon
durch ihre Attacke arg gelitten hatte, in einem hellen Gelb.
Hawker verharrte in seinem Lauf und starrte
Greyson an.
„Zurück“,
befahl er, als Blake ihn erreicht hatte, mit erhobenem Arm.
Dann hob
sich sein Blick langsam und er ging kampfbereit in die Knie.
„So, sind
wir hier fertig?“, erkundigte sich Greyson ungeduldig, und die Wohnzimmertür
öffnete sich langsam.
„Ein
bezeichnend schlechter Tag für dich“, bemerkte Cunning lächelnd in Richtung
Greyson und kam näher. Jetzt stand sie zwischen beiden Brüdern, und Hawker wirkte kurz aus der Bahn geworfen.
„Einen
Jäger habe ich lange nicht mehr zu Gesicht bekommen.“ Sie hob vorsichtig den
Blick. Cunning betrachtete ihn mit gewisser Faszination, als wäre Hawker ein exotisches Tier.
„Den
letzten vor… vierunddreißig Jahren“, überlegte er kurz und nickte dann. Sie
sah, wie Hawker ein längeres Messer zog.
„Dein Bemühen
ist lobenswert. Und ich bin heute in relativ guter Stimmung. Ich gestatte dir
und deinem Druiden, zu gehen. Und nicht wieder zu kommen“, fügte er kühl hinzu.
Und fast in derselben Sekunde schüttelte Hawker bloß
den Kopf.
„Nein.
Ich gehe nicht ohne sie“, erklärte er, als wäre es selbstverständlich.
„Geh
einfach!“, zischte sie, denn vielleicht wusste Hawker
nicht, wen er da vor sich hatte! Greyson hatte schon die zweite tödliche
Stichwunde heute überlebt und wirkte nicht so, als wäre er in der guten Stimmung
wie sein Bruder. „Sie sagen, sie sind Vampire“, fügte sie leiser hinzu. Hawker schien es überhaupt nicht abwegig zu finden.
„Joanna,
das sind Cunnings. Die Cunnings!“, gab er nur zurück und schien jede Sekunde
abspringen zu wollen.
„Cunnings?
Und? Die sind wahnsinnig! Am besten geht ihr, bevor…“
„Ja, am
besten geht ihr, bevor ich mich vergesse!“, unterbrach Greyson sie knurrend.
„Ich gehe
nicht ohne sie!“, wiederholte Hawker lauter, vielleicht
um sich selber mehr Mut zu machen, überlegte sie dumpf.
„Sehr
viel Aufmerksamkeit für ein Mädchen. Lassen Sie es sich bitte nicht zu Kopf
steigen, Miss Clark“, erläuterte Cunning plötzlich, und sie fand, das kam einer
Beleidigung gleich. Sie sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick. Und obwohl es
gefährlich war, obwohl sich vier Männer gegenüber standen, die anscheinend die
Wünsche hegten, sich gegenseitig umzubringen, jagte sein Blick Millionen
Schauer über ihren Rücken. Sie fühlte eine Hitze in ihrem Bauch, die sie in
dieser Form nicht kannte. Seine Züge wirkten ruhig, aber in seinen Augen tobte
ein Sturm, das sah sie genau, denn sie waren dunkler geworden. Ihr Mund öffnete
sich langsam, und es war absurd, das so ein schöner Mann Mordgedanken hegen
konnte.
„Gentlemen,
das lässt sich alles einfach klären“, holte Cunning wieder aus. „Ich war
schneller. Ihr hattet, so wie ich es sehe, einen ganzen Tag Zeit, eine Hexe zu
besorgen, sie zu verwandeln, aber ihr habt nichts dergleichen getan.“ Fast klang
er entschuldigend.
„Das ist
nicht dein Ernst?“, knurrte Hawker jetzt und kam
furchtlos näher. „Ihr elenden Vampire denkt immer
noch, euch steht das Monopol auf Macht zu?“ Aber Cunning blieb unbeeindruckt
von Hawkers plötzlicher Nähe.
„Vielleicht
irre ich mich, aber… ich bin älter, und… wie viele Jäger gibt es gleich noch?
Ich denke, unsere Rasse ist in der Überzahl“, fügte er ohne Pause hinzu. Die
meinten das ernst…, ging ihr dumpf durch den Kopf. Das konnte doch nicht wahr
sein…!
„Es
müssen Jäger verwandelt werden! Ihr sitzt doch schon am längeren Hebel.“
„Oh ja,
richtig“, erwiderte Cunning mit gespieltem Verständnis. „Und uns wollt ihr auch
nicht umbringen, richtig? Nur die… anderen….“ Und es herrschte eine gespannte
Stimmung zwischen den Parteien. In Blakes Händen loderten immer noch zwei blaue
Funken, die Cunning mit einigem Interesse betrachtete. „Dein Freund ist
talentiert. Mr Da Corte,
Sie müssen mir bei Gelegenheit zeigen, wie sie die entzückende Lichtkegel
erscheinen lassen können“, fügte er höflich hinzu.
Wieso
wussten alle außer ihr Bescheid? Und vor allem – über was?!
Sie
fühlte sich dumm. Dumm genug, als dass ihr keiner sagte, um was es ging!
Und sie
fühlte sich missbraucht, misshandelt, und sie wollte duschen. Sie wollte nichts
dringender als nach Hause und duschen.
Und sie
wollte weinen. Sie wollte einfach nicht mehr!
Sie hatte
Hunger. Erst jetzt spürte sie es. Der Machtschub von vorher hatte sie an den
Rand des Erträglichen katapultiert. Und ihre Muskeln schmerzten immer noch
etwas.
„Sie
sollte hier nicht sein“, entschied Greyson gepresst, aber sie spürte nur wieder
die rote Wut aufsteigen.
„Es geht dich nichts an! Du kannst nicht über mich entscheiden! Keiner von euch
hat irgendein Recht über mich zu entscheiden! Keiner!“, schrie sie plötzlich
und wieder ergriff die andere Joanna von ihr Besitz. Die, die ihre Wut nicht
kontrollieren konnte, die, für die alle Gefühle plötzlich brandneu und in
tausendfacher Stärke ans Licht kamen.
Und sie
spürte die Kraft erneut. Die Wut hatte sie ausgelöst, katalysiert quasi, und
sie nutzte die Kraft, um einen entscheidenden Zug zu machen. Sie stieß beide
Brüder zu den Seiten von sich, bückte sich in unmöglicher Geschwindigkeit nach
dem leuchtenden Dolch, der einen großen Teil seiner Leuchtkraft eingebüßt
hatte, und bewegte sich rasend schnell zum Ende des Flurs, so dass sie
mindestens fünf Meter außer Reichweite stand.
Durch
diesen Akt schmerzten ihre Beine fast so sehr, dass sie zusammen brechen konnte,
und ihr Atem ging keuchend. Gott, das war anstrengend gewesen. Aber auch
absolut unglaublich. Und sie setzte das Messer an die Kehle – und alle Männer
hielten inne.
Sie
verzog schmerzhaft das Gesicht. Das Messer brannte, schon alleine dort, wo es ihre
Haut nur ansatzweise berührte, ohne Schaden zu verursachen.
„Joanna,
nicht!“, schrie Hawker jetzt. „Das ist Gift, pures
Gift! Wenn es nur in eine Pore dringt-“
„Dann
schlage ich vor, irgendjemand erklärt mir, was vor sich geht! Und niemand
zwingt mich zu irgendwas! Tot nütze ich anscheinend keinem etwas, und ich bin
mehr als bereit, es darauf ankommen zu lassen, denn ich habe keine Lust mehr!“,
unterbrach sie ihn laut und zornig. Sie sah, wie Greyson versuchte, auf sie
zuzukommen, aber sie fixierte ihn sofort.
„Ah ah, du bist schnell, aber ich bin schneller!“, wagte sie
eine Drohung, von der sie nicht wusste, ob sie stimmte. Aber er verharrte
tatsächlich.
„Ich habe
es Ihnen erklärt“, brachte Cunning mit gezwungener Ruhe hervor und schien ihr
tatsächlich übel zu nehmen, dass sie es so schwer machte. Sie hätte fast
hysterisch gelacht.
„Ja, aber
das glaube ich nicht“, gab sie zurück, und er verdrehte fast die Augen. Greyson
warf ihm ebenfalls einen kurzen Blick zu.
„Lasst
sie gehen!“, mischte sich Hawker wieder ein. „Sie
wird sich noch umbringen!“
„Das wird
sie auch versuchen, wenn du sie zwingen willst, ein Jäger zu werden“, erklärte
Cunning immer noch gelassen.
„Ich habe
immerhin Respekt vor ihrem Leben!“, gab Hawker bitter
zurück.
„Das ist
der Unterschied, Jäger. Emotionen sind immer der Feind von sinnvollen
Entscheidungen. Sie würde mein Angebot ohnehin vorziehen. Dein Mut ist tapfer,
sowie er grenzenlos dämlich ist. Du hast Glück, dass ich meine Meinung geändert
habe und euch noch nicht töten werde.“
„Du bist
kein König!“, spuckte Hawker ihm fast entgegen, und
sie fühlte sich wieder ausgeschlossen.
„Hey!“,
rief sie und drückte die Klinge fester in die Haut. Sofort schwieg Hawker abrupt, die dunklen Augen auf das Messer geheftet,
dass immer heißer wurde.
„Es sind
Vampire, Joanna!“, erklärte Hawker ruhiger. „Von der
ältesten Linie, die Vampirblut vorzuweisen hat.“ Sie schüttelte leicht den
Kopf. Nein, nicht wieder diese Erklärung!
„Sie sind
unbesiegbar“, flüsterte Blake leiser.
„Bei
Tag“, warf Hawker knurrend ein, aber Blake reagierte
nicht auf ihn, sondern drehte die blauen Funken weiter in seinen Händen,
anscheinend bereit sie abzufeuern. „Und mit deinem Blut werden sie alles
auslöschen, denn dann erreichen sie eine Macht, die es bisher nicht gegeben
hat. Der Mythos besagt, der Vampir, der das Blut eines Auserwählten trinkt,
regiert die Welt.“
Sie hatte
den Blick auf Blake geheftet. Dieser sah sie schließlich wieder an.
„Die
ganze Zeit…“, flüsterte sie, während sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
„Du hast
alles die ganze Zeit gewusst! Du bist… ein Freak!“, flüsterte sie. Und er
öffnete langsam den Mund.
„Jo, es
tut mir leid“, erwiderte er flehend. „Ich wollte es schon längst… ich wusste
nicht…“
„An
deinem Geburtstag“, unterbrach Hawker Blake völlig
ungerührt, „muss es passiert sein. Es muss irgendwas mit deiner Macht passiert
sein, denn sonst wirst du einfach imlpodieren. Die
Zeit läuft davon. Du bist ein Schlüssel. Du trägst die Macht in dir, und ich
denke, es ist fair zu sagen, dass du nichts dafür kannst. Aber du musst die
Konsequenz daraus ziehen. Du musst ein Jäger werden. Oder ein Wolf. Oder ein
Vampir. Oder mit Glück entwickelst du magische Fähigkeiten, aber da es nur drei
Jäger gibt, und es notwendig ist, Vampire auszulöschen, musst du dich
verwandeln!“, beschwor er sie.
„Und wenn
nicht? Dann sterbe ich?“
„Dann
reißt du die Welt ins Chaos. Deine Geburt ist vor Jahrhunderten voraus gesagt
worden, wie die jedes Auserwählten, Joanna! Mit deinem Tod kommt die Rache der
Natur, dass so ein Geschenk verschwendet wurde! Stürme, Fluten, Eiszeiten
brechen ein.“ Sie hörte ihm zu, aber das konnte nur blanker Unsinn sein!
„Und wenn
du es nicht glaubst, dann musst du dich zwingen. Siehst du nicht, was sie sind?
Was du bist? Du bist schneller als ein Mensch, stärker als ein Mensch, und
jeden Tag wird es mehr. Du bist stark genug, zu entkommen, vor den Vampiren zu
fliehen! Aber draußen warten die Wölfe, die anderen“, fuhr er fort.
„Deine
Entscheidung ist wichtig. Werde ein Jäger. Deine Macht bleibt, ändert sich
nicht, und du bist ein Mensch. Zwar lebst du lange, länger als jeder Mensch,
als jeder Wolf, aber du bist kein untotes Monster,
das sich von Blut ernähren muss!“
„Meine
Geduld nähert sich dem Ende. Verlasst mein Haus, oder ich ändere meine
Meinung.“
„Sie kann
dieses Haus auch selbstständig verlassen!“, drohte Hawker
plötzlich ohne Furcht.
„Ja? Was denkst du, welches Leben sie vorziehen wird, Jäger? Denkst du, sie
wird nicht begreifen, wer die größte Macht verspricht?“ Doch Hawker kam näher. Er war einen halben
Kopf kleiner als Cunning, aber dafür muskulöser, stellte sie fest, während die
Tränen ungehindert über ihre Wange liefen, und sie das Messer nicht mehr ganz
so stark gegen ihre Kehle drücken konnte.
„Ja,
welches wohl? Als Untoter, Sklave der Sonne, wo sie nur nachts ihre Kräfte
vollkommen entfalten kann und dazu auch noch verletzlich wird? Ganz zu
schweigen von den Unmengen an Blut, die sie brauchen wird? Und die Geburten,
die sie letzten Endes töten werden – sollte es überhaupt gelingen, sie zu
verwandeln? Oder als dein Blutsklave? Bis zu ihrem Lebensende an dich gebunden,
je nachdem, wie gut du dich beherrschen kannst? Immer darauf wartend, dass ein
anderer sie stiehlt und sie zu eigen macht? Oder als Wolf? Als räudiger Hund, gebunden
an den Mond und Leibspeise der Dämonen? Denkst du nicht, der Jäger bietet die
beste Aussicht?“
„Wie
viele Auserwählte sind Jäger geworden? Ist es nicht genauso schwer und
schmerzhaft?“
„Wie
viele Auserwähle wurden Vampirinnen?“, konterte Hawker
sofort, und Cunning schien die Geduld zu reißen.
„Ich habe
genug!“ Und er stieß Hawker lediglich die Hand vor
die Brust und beförderte ihn somit zum anderen Ende des Flurs, wo er mit
unglaublicher Kraft durch die Wand stürzte und die Wand zur Hälfte zum, Einsturz
brachte. Sie war vor Schreck zurückgewichen. Das war nicht zu überleben!
Unmöglich! Was war das überhaupt für ein Trick gewesen? Wer besaß so viel
Kraft? Ihre Finger, die das Messer hielten, begannen unkontrolliert zu zittern.
Dann
wandte sich Cunning an Blake, und Greyson atmete gereizt aus.
„Hör
schon auf“, murmelte er. Doch Cunning beachtete ihn nicht. Er griff ohne Mühen
nach vorne um Blakes Hals, hob ihn ohne Aufwand vom Boden hoch, und röchelnd
griff Blake nach der Hand des Mannes. Und Cunning schien zuzudrücken.
Und es
erwachte die Panik in ihr.
„Nein!“,
schrie sie, das Messer entglitt ihren Fingern und sie stolperte nach vorne,
zurück zu den Männern. „Lass ihn runter! Lass ihn runter, bitte! Tu ihm nichts!
Ich bleibe!“, fügte sie atemlos hinzu, und sein Blick senkte sich auf ihr
Gesicht. Sein Ausdruck war steinern gewesen, wie der einer gemeißelten Statue,
aber er löste sich langsam und wirkte wieder menschlicher. Sie hatte Angst. Er
war stärker als sie es wohl jemals sein könnte. Sie hörte, wie einige Wirbel in
Blakes Hals gefährlich knackten, aber sie sah Cunning flehend an.
„Lass ihn
runter! Tu ihm nichts. Und tu Hawker nichts! Lass sie
gehen, und ich bleibe!“ Sie ignorierte, wie Greyson genervt etwas murmelte und
sich gegen die Wand hinter sich lehnte. Dann lockerte Cunning schließlich den
Griff, und keuchend stürzte Blake zu Boden. Er war knallrot im Gesicht, hustete
schwer und sie bückte sich sofort nach ihm. Er erwiderte ihren Blick, und egal,
ob all diesen wahnsinnigen Geschichten stimmten oder nicht – sie würde nicht
zulassen, dass einer ihrer besten Freunde hier sterben würde! Egal, weswegen!
„Geh! Na
los! Ich will, dass du gehst!“, brachte sie unter Tränen hervor. „Nimm Hawker mit!“, befahl sie tonlos, und nachdem Blake nicht mehr
keuchte, erhob er sich und stand auf wackligen Beinen. Und er folgte ihr. Und
als wäre es ein Spezial-Effekt beschwor er eine blaue, zuckende Flamme, die den
bewusstlosen Hawker aus dem Schutt empor hob, und
ohne sich umzusehen verließ er das Haus.
Sie
atmete aus. Sie war wieder allein. Die Hilfe, auf die gehofft hatte, hatte sie
soeben fortgeschickt.
„So. Das
hätten wir geklärt“, bemerkte Cunning entspannt, als wäre gerade nichts
vorgefallen.
„Die
werden wiederkommen“, erwiderte Greyson nachdenklich, dem sie einen zornigen
Blick zuwarf. Er hatte ihr nicht geholfen. Überrascht erwiderte er ihren Blick.
„Mein
Bruder ist kein Verräter, Miss Clark. Er ist auch kein Quarterback. Ich schlage
vor, Sie unterschreiben den Vertrag.“ Lächelnd schritt er an ihr vorbei, und
ihr war wieder zum Heulen zumute. Kaum war er vorbei änderte sich Greysons
Blick. Er wurde ernster, eindringlicher, und er schien ihr etwas sagen zu
wollen. Aber sie wusste nicht, was.
„Miss
Clark?“, hörte sie die angenehm gefährliche Stimme von Liam Cunning hinter
sich, und Angst erfasste sie. Sie wandte sich also ergeben um. Sie durfte nicht
sterben. Auch wenn sie nichts glaubte, was Hawker
gesagt hatte, schienen es andere mehr als nur zu glauben. Und sie hatte wohl
kaum eine echte Wahl.
~ The Agreement ~
„Wo geht
er hin?“, fragte sie leise, als ihr Blick Greysons Rücken folgte, der sich
weiter und weiter vom Haus entfernte. Cunning hob nicht mal den Blick, während er
geschäftig eine pechschwarze Feder aus der Schublade zog. Sie war lang, und sie
hatte keine Ahnung, welchem Tier eine solche Feder wohl gehört haben mochte.
Vielleicht war sie auch künstlich, aber… nachdem, was sie heute gesehen hatte
glaubte sie nicht unbedingt, dass hier etwas künstlich war.
„Es wird
Zeit, dass er geht“, erwiderte Cunning schlicht. „Er
war kein Gast hier“, fügte er mit Bedacht hinzu.
„Es… ist
Ihr Bruder“, flüsterte sie stiller. Hätte sie Geschwister, dann wäre sie
bestimmt nicht so gemein und kalt. Doch schließlich hob der Mann vor ihr, der
gelassen an seinem großen Schreibtisch saß, fast amüsiert den Blick.
„Mein
Bruder? Miss Clark, Sie mögen hier traditioneller – menschlicher – denken.
Hätten Sie einen Bruder für fast tausend Jahre, und hätte er mehr als
zweihundert Mal versucht, Sie zu hintergehen, dann wären Ihre Gefühle auch
bereits abgekühlt“, erklärte er leidglich. Ihr Mund öffnete sich. Tausend
Jahre… - das war einfach unmöglich!
„Was
wollen Sie von mir?“, brachte sie ängstlich hervor. All der Reichtum hier,
lenkte sie zwar ab, aber anscheinend war sie nicht hier aus positiven Gründen.
Und jetzt, wo der letzte Mann fort war, der eigentlich vorhatte, sie hier
rauszuholen – aus welchen Gründen auch immer – schnürte die Panik ihre Kehle
wieder zu.
Aber
Cunning schwieg, setzte die lange, pechschwarze Feder aufs Pergament und
unterzeichnete schwungvoll auf einer Linie.
Grauer
Dampf stieg vom Blatt empor, und unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.
„Was war das?“, flüsterte sie erschrocken, aber er lächelte lediglich.
„Das hier
ist eine Königsfeder vom Schweif eines Phönixes. Wissen Sie, was ein Phönix
ist, Miss Clark?“ Sie hätte gerne geantwortet, dass Dumbledore einen Phönix
gehabt hatte, aber sie verkniff sich diese Antwort. Sie sah ihn mit großen
Augen an.
„Allerdings
ist diese hier ein besonderes Geschenk gewesen. Und ich weise Sie erneut darauf
hin, dass Sie mit Ihrer Unterschrift auf diesem Dokument, gebunden sind. Und
ich meine es nicht im bürokratischen Sinne“, fügte er hinzu, ohne dass sie
verstand, was er meinte.
Er schob
ihr schließlich das Dokument zu. „Setzen Sie sich ruhig“, ergänzte er mit
umstandsloser Höflichkeit, als hätte sie vorhin nicht gesehen, wie er einen
Mann durch eine Wand geworfen hätte. Als wäre es ein normales Treffen unter
Menschen!
Sie
schluckte schwer, tat jedoch, wie ihr geheißen, denn, was sollte sie anderes
tun?
„Sollten
Sie irgendwelche Fragen haben, haben Sie keine Scheu, sie zu stellen, Miss
Clark“, fügte er aufmunternd hinzu, und ihre Fingerspitzen kribbelten.
Sie
beugte sich vor. Das Dokument trug den schlichten Titel „Vertrag“.
Sofort
erkannte sie ihren Namen.
Vertragsparteien: William C. Cunning
und Joanna Clark
Vertragsgegenstand: Blutanspruch und
Treueschwur
Mit diesem Vertrag verspricht die
Blutsklavin, Joanna Clark, ihrem Herrn, William C. Cunning, hörig zu sein,
seine Wünsche und Befehle zu befolgen und willentlich ihr Blut zur direkten
Aufnahme(* siehe Anlage 1) zur Verfügung zu stellen, wann immer ihr Herr es
wünscht.
Ferner schwört sie ihrem Herrn Treue
und Verbundenheit(* siehe Anlage 2) und verspricht keinen anderen Herrn neben
ihm ihr Blut zur Verfügung zu stellen
Es gilt wie folgt eine
Interessengemeinschaft beider Parteien, der Herr versichert der Blutsklavin als
Gegenleistung ein Heim, Verpflegung, angemessene Kleidung, gesundheitliche
Garantien und Schutz jeglicher Art(* siehe Anlage 3) als Bestandteil des
Vertrags.
Mit diesem Vertrag versichert die
Blutsklavin, sich nicht von ihrem Herrn zu entfernen. Eine Distanz von mehr als
fünfzig Metern wird nur durch den Herrn direkt erlaubt oder durch Vertragsbruch
von Seiten des Herrn begründet(* siehe Anlage 4).
Die Blutsklavin erkennt ihren Status
als untergeordnet zu ihrem Herrn an.
Die Blutsklavin weiß um ihre Macht und
ist willig sie für die Gesellschaft der Vampire einzusetzen und sich keiner
anderen Allianz anzuschließen(* siehe Anlage 5).
Der Herr sichert das Überleben der
Blutsklavin bis zu ihrem natürlichen, menschlichem Tod.
Dieser Vertrag ist bindend für beide
Parteien, und mit der Unterzeichnung unanfechtbar durch Magie oder Bruch. Mit
Bruch des Vertrags durch die Blutsklavin tritt ihr Tod übergangslos ein.
Versichert ist dies durch den
obersten Rat.
Vertreten durch L.L.
Anlagen:…
Sie hatte
den Blick gehoben, und ihr Mund war trocken geworden. Das… war ein Scherz,
richtig? Das war doch nicht wirklich ernst gemeint? Er hatte das als Gag
aufgesetzt. Das konnte unmöglich ein Stück Papier mit rechtlichem Gehalt sein?!
Sein
Blick war ruhig, aber er fixierte ihr Gesicht.
„Sind Sie
fertig?“, erkundigte er sich höflich, aber ihr Mund öffnete sich sprachlos.
„Ich möchte, dass Sie den Vertrag vollständig gelesen und verstanden haben.
Falls Sie Fragen zu Ihrer Macht haben, äußern Sie diese. Es ist wichtig, dass
Sie es begreifen. Was sie… wahrscheinlich noch nicht in ganzer Fülle tun, aber
das wird schon noch kommen.“ Und sie hatte das eigenartige Gefühl, dass… er sie
nicht leiden konnte.
Er sprach
distanziert, höflich und kühl. Er machte ihr einen Vertrag, der sie zu etwas
perversem wie eine Blutsklavin verpflichtet und war angeblich ein Vampir? Ein
Vampir, der sie nicht mochte, aber sie bis zu ihrem Tod an sich binden wollte?
Sie
schüttelte verständnislos den Kopf.
„Wieso
tun Sie das?“, fragte sie wieder, denn sie musste es wieder und wieder fragen,
aber er schien weiterhin geduldig zu sein, oder täuschte es zumindest sehr gut
vor. Er atmete ruhig aus, lehnte seine langen Finger wieder aneinander und
betrachtete sie über die Spitzen hinweg aufmerksam.
„Sie
haben begriffen, dass Sie eine Auserwählte sind, Miss Clark?“
„Ich-“,
widersprach sie sofort, aber sein Blick ließ sie verstummen.
„Ich
nehme an, Sie glauben es noch nicht. Aber Ihre Kräfte lassen sich schwerlich medizinisch
erkläre, denken Sie nicht? Oder meine, oder die Ihres Freundes Blake?“, fuhr er
ruhiger fort, und sie schwieg, weil sie tatsächlich keine gute Erklärung parat
hatte. „Gut. Nehmen Sie bis hierhin einfach zur Kenntnis, dass Sie eine
Auserwählte sind. Es gibt nicht viele von Ihrer Sorte. Ihr Freund Hawker war ein Auserwählter. Vor sehr langer Zeit. Und die
Jäger haben ihn eher erwischte als ich es konnte“, erklärte er offen. Ihr Mund
öffnete sich wieder. „Sie mögen es vielleicht auch Bedauern, kein Wolf oder
Jäger zu werden, aber was diese Möglichkeit betrifft, kann ich Ihnen
bedauerlicherweise keine Wahl lassen“, fuhr er aufrichtig fort.
„Weil Sie
alle Macht wollen? Weil Sie alle anderen umbringen wollen?“, entfuhr es ihr
zornig, weil sie einfach nicht wusste, was hier Wahrheit oder Wahnsinn war.
Kurz wirkte er überrascht.
„Vielen
mächtigen Männern wurde vorgeworfen, ihre Macht missbraucht zu haben, aber
wissen Sie, wenn man solange hier ist, wie ich es bin…, dann stellt sich
eigentlich nur die Frage, wem die Macht rechtmäßig zusteht. Mein Bruder mag
Ihnen vielleicht einen falschen Eindruck vermittelt haben.“ Und er lächelte
daraufhin. „Ich bin sehr geduldig mit Ihnen, weil es wichtig ist, dass Sie sich
mir versprechen, dass Sie willentlich mir gehören und niemandem sonst, Miss
Clark“, ergänzte er mit einem Nachdruck, der ihr wieder Schauer über ihren
Rücken schickte. Wie konnte er so etwas sagen? Etwas, dass so besitzergreifend
war, aber das er in seiner Körpersprache mit keiner Bewegung andeutete?
„Sie…
wollen mich besitzen?“, wiederholte sie heiser, aber er lächelte wieder.
„Sie haben die Anlagen noch nicht gelesen? Es mag ungerecht klingen, ein
solcher Vertrag im Vergleich zu Ihrem bisherigen Leben“, fuhr er fort. Ach
wirklich? Dachte er das auch?
Sie hatte
schon Sorge gehabt, das wäre ihm komplett entgangen, dachte sie wütend.
„Aber die
Klauseln sichern Ihnen auch Rechte zu.“ Fast automatisch senkte sich ihr Blick
wieder auf den seltsamen Vertrag, obwohl sie noch einige offene Fragen hatte.
Was
meinte er damit, dass Greyson ihr den falschen Eindruck vermittelt hatte und
dass sich die Frage nach Macht nur noch im Bezug auf
die Tatsache stellte, wer sie bekommen sollte? War es Gang und Gäbe, dass man
hier unter ihren Leuten, Menschen folterte und so etwas perverses veranstaltete
wie Blut zu beanspruchen?
Anlage 1: Direkte Blutaufnahme
Das Blut der Blutsklavin wird nur
direkt von der Vene gestellt. Abgezapftes, gekühltes oder anderweitiges Blut
gilt nicht als Blutanspruch des Herrn.
Der Herr hat das Recht zur täglichen
Aufnahme zu jeder Tages- sowie Nachtzeit.
Der Herr verpflichtet sich zu einer
täglichen maximalen Aufnahme von 500 mL, um die
Gesundheit der Blutsklavin weiter gewährleisten zu können.
Ferner sind die Handgelenke, die
Arme, die Bauchdecke, sowie die Beine der Blutsklavin zur direkten Aufnahme zur
Verfügung zu stellen.
Die Aufnahme durch die
Hauptschlagader über dem Herzen, sowie der Halsbasis sind durch Risiko nicht
erlaubt. Sollte diese Stellen dennoch zur direkten Aufnahme verwendet werden,
gilt die äußerste Vorsicht und die Untersagung des Vertrags, mehr als 500 mL aufzunehmen und danach zwei Tage keine direkte Aufnahme
zu beanspruchen.
Anlage 2: Treue und Verbundenheit
Die Blutsklavin schwört ihrem Herrn
die lebenslange Treue. Unter Treue ist die Gebundenheit und Reinheit gefasst.
Ein Verrat ihres Herrn führt zum sofortigen Tod der Blutsklavin.
Der Verrat gilt als begangen, sobald
der Herr sofortige Schäden kausal zum Verhalten der Blutsklavin erleidet.
Die Reinheit garantiert die Wirkung
des Blutes.
Es ist dem Herrn nicht gestattet die
Blutsklavin zum sexuellen Akt zu hypnotisieren. Dem steht die Verführung ohne
Hypnose gleich. Die Treue basiert auf rein platonischer Gebundenheit. Die
Hypnose oder Verführung zu oralen Akten ist insoweit untersagt, dass kein Samen
in den Körper der Blutsklavin zu gelangen hat.
Dem Herrn steht es frei die
Blutsklavin zu küssen oder sie oral zu befriedigen, sofern gewährleistet ist,
dass keine direkte Blutentnahme aus primären Geschlechtsteilen erfolgt, sowie
dass keine Entjungferung stattfindet, durch den Akt selbst.
Und sie
konnte nicht verhindern, dass ihr Blick zu ihm hochschoss. Die Hitze war in
ihre Wangen gestiegen, und ihre Augen mussten ihn vor Panik geweitet ansehen.
Kurz hob
sich seine wohlgeformte Augenbraue in die Höhe, aber dann schien er begriffen
zu haben.
„Ich
sagte Ihnen, ich lege es nicht darauf an, mit Ihnen zu schlafen.“ Ihr Mund
klappte auf. Sie schnappte nach Luft und schüttelte den Kopf.
„Das…
kann nicht Ihr Ernst sein!“
„Ich kann
Sie genauso gut hypnotisieren. Wissen Sie, wie viel Zeit ich mir ersparen
würde, wenn ich darauf verzichten würde, Sie einzuweisen, Ihnen die
Möglichkeiten zu erklären, aber… ich dachte, ich würde dieses Mal…“ Und er ließ
das Ende dieses Satzes in der Luft hängen. Aber ihr Verstand schloss die offene
Lücke.
„Das ist nicht Ihr erster Vertrag!“, hauchte sie plötzlich. Sein Blick war
verschlossen.
„Glauben
Sie mir einfach, dass ich alle Konsequenzen bedacht habe.“
„Was ist mit den Schmerzen?“, fragte sie plötzlich, obwohl ihr Verstand noch
nicht so weit gegangen war, ernst zu nehmen, was in diesem Vertrag geschrieben
stand.
„Schmerzen?“,
fragte er überrascht und sie hob demonstrativ den Arm. „Wenn Sie mich beißen“,
fügte sie tonlos hinzu. Sein Blick nahm einen sonderbaren Ausdruck an, während
er ihren Unterarm fixierte.
„Ich
nehme an, es tut weh“, erklärte er lediglich.
„Sie… nehmen es an?“, wiederholte sie tonlos.
„Ich muss
Ihnen gestehen, ich wurde noch nie gebissen. Ich kann nur annehmen, es ist
ähnlich wie bei einer menschlichen Blutabnahme, nur, dass ich… keine Spritze
verwenden werde.“ Ihr wurde schlecht. Ihr war schon bei den Blutabnahmen
schlecht geworden. Sie musste die Augen schließen. Und sie hörte das Lächeln in
seiner Stimme.
„Sie können
kein Blut sehen, Miss Clark?“ Und sie musste ihre Lippen befeuchten, so schnell
war alles Blut und alle Farbe aus ihrem Gesicht
gewichen.
„Cilian
wird das sehr ärgern. Das dürfte seine Pläne direkt zerschlagen.“
„Cilian?“, wiederholte sie zusammenhanglos, denn sie versuchte gerade
krampfhaft Bilder von blutigen Spritzen, Arztpraxen und Bändern mit
Klettverschlüssen, die einen Blutstau verursachen sollten, aus ihrem Kopf zu
kriegen.
„Mein
Bruder. Oder Greyson, wie Sie ihn wohl nennen.“ Ihre Augen öffneten sich.
„Wie heißt er?“ Das war Ablenkung. Genug Ablenkung, dass ihre Finger nicht mehr
kalt und feucht waren. Cunning verzog den Mund.
„Cilian Greyson Cunning“, erklärte er lediglich. Sie versuchte ruhiger zu
atmen. Schon alleine wie er den Namen seines Bruders aussprach machte ihr
deutlich, wie sehr er ihn verabscheute. „Sie sollten weiterlesen, denn wir
haben heute noch genug vor.“ Und es klang wie eine Drohung. Wieder schoss ihr
das Bild von Blut in den Kopf, und sie schüttelte sich heftig.
„So abstoßend?“,
fragte er interessiert, und sie sah ihn angewidert an. „Vielleicht beruhigt es
Sie, dass sie keinen Tropfen Blut sehen werden, Miss Clark?“ Und dass er so
verdammt amüsiert klang, regte sie noch mehr auf.
Sie erhob
sich, ohne dass sie es merkte, in wahnsinniger Geschwindigkeit, so dass ihr
Kopf Mühe hatte, ihrer Bewegung zu folgen. Ihr war immer noch schwindelig.
„Sie sind
widerlich!“, spuckte sie ihm entgegen. Und er ließ es ruhig über sich ergehen.
„Ich denke,
Sie haben begriffen, dass Sie hier nicht rauskommen. Es ist sinnlos, es
hinauszuzögern, sich weiter aufzuregen oder mich zu beleidigen.“ Ihr kam ein
Gedanke.
„Wenn ich unterschreibe und Sie beleidige, tritt dann mein sofortiger Tod
ein?“, wollte sie lauernd wissen. Aber er lächelte immer noch.
„Das wäre
ein wenig riskant und ziemlich dumm von mir, nicht wahr, Miss Clark?“,
erwiderte er, anstelle einer Antwort.
„Aber ich
soll doch hörig-“
„Hörig
bedeutet, Sie tun, was ich Ihnen sage. Ob Sie es freiwillig oder unter
Beleidigungen tun ist mir herzlich egal, Miss Clark“, unterbrach sie seine
eisige Stimme, die wieder Schauer ihre Wirbelsäule hinab laufen ließ. „Sie
vergessen die Hypnose. Aber das sei Ihnen gestattet, denn ich habe Sie noch
nicht hypnotisiert. Jedenfalls nicht, dass Sie sich erinnern könnten“, fügte er
hinzu, und ehe sie widersprechen konnte, unterbrach sie sich selbst. Aber er
schüttelte den Kopf. „Das ist lange her. Setzen Sie sich bitte wieder, Miss
Clark.“
Und
Nachdruck lag in seiner Stimme.
Widerwillig
sank sie zurück auf den Stuhl. „Lesen Sie den Vertrag zu Ende.“
Befehlsgewohnheit lag in seiner Stimme. Gott, er war so arrogant! Gereizt las
sie weiter.
Anlage 3: Schutz jeglicher Art
Zum Schutz des Herrn gehört es
selbstverständlich die Blutsklavin vor jeder anderen Allianz mit Ansprüchen zu
schützen. Mit den ersten direkten Blutaufnahmen verwirkt sich der
Jägeranspruch, der bestehen könnte. Eine Verwandlung durch eine Hexe wird somit
scheitern und zum Tode der Blutsklavin führen.
Der Herr garantiert Schutz vor
Wölfen, sowie anderen Gestaltenwandlern, sowie vor weiteren Vampiren.
Mit dem Verlust der Jungfräulichkeit
der Blutsklavin endet der Schutz durch den Herrn.
Anlage 4: Klauseln
a) Klauseln durch Vertragsbruch durch
die Blutsklavin:
Jeder Bruch durch die Blutsklavin im
Sinne der Gebundenheits- und Treuepflicht führt zum Tod der Blutsklavin.
Verkehr mit einem anderen Vampir,
Jäger oder Gestaltenwandler, Mensch oder Dämon führt also zum Tod.
Verrat an dem Herrn, sowie unerlaubte
Entfernung vom Herrn weiter als 50 Meter führt zum Tod der Blutsklavin.
b) Klauseln durch Vertragsbruch durch
den Herrn:
Verstößt der Herr gegen seine Pflicht
wird die Blutsklavin mit sofortiger Wirkung vom Vertrag entbunden. Lässt er sie
hungern, pathologische, gesundheitliche Schäden erleiden, die ihr Körper nicht
selber heilen kann, hypnotisiert oder verführt er sie zum sexuellen Akt, so
wird sie gleichwohl vom Vertrag entbunden und ist nicht mehr an den Herrn
gebunden.
Führt der Biss in die Halsschlagader
oberhalb des Herzens oder in Halsbasis aus Gier zum Tod der Blutsklavin oder
gipfelt er im sexuellen Akt gilt der Vertrag als nichtig.
Beim Falle des sexuellen Akts steht
es dem nicht mehr anspruchsfähigen Herrn oder einem anderen Vampir der hohen
Linie frei, die ehemalige Blutsklavin zu verwandeln.
Eine Garantie gibt es nicht.
Bei einer tatsächlichen Verwandlung
der ehemaligen Blutsklavin, stimmt sie zu, die Pflichten einer Vampirin zu erfüllen, vier Geburten zu vollziehen, die
schließlich im Tod der Vampirin gipfeln.
Wie gewohnt steht der Vampirin der vierte Wunsch durch Verpflichtung zum obersten
Rat frei.
Bei Abringen der Blutsklavin durch
eine hohe Linie ist der Vertrag ebenfalls nichtig.
Und
wieder konnte sie nicht anders, als ihn anzustarren. Langsam wirkte er
tatsächlich etwas gereizt.
„Ja?
Irgendwelche weiteren Fragen oder Beleidigungen, Miss Clark?“ Und das
unwillige, beleidigte Mädchen in ihre verdrängte für eine kurze Sekunde, die
Panik, die sie eigentlich regierte.
„Wenn es
Ihnen so zuwider ist hier mit mir zu sitzen, wieso wollen Sie dann überhaupt,
dass ich einen Vertrag unterschreibe?“ Und tatsächlich ließ er sich auf diese
Frage ein, in dem er sich vorlehnte, und all seine Gelassenheit von ihm
abgefallen war.
„Weil Ihr
Blut mächtig ist, und ich alleine es besitzen möchte! Sie glauben nicht, durch
was für andere Höllen ich gegangen bin. Hier mit einer unkooperativen
Auserwählten zu sitzen ist nichts dagegen, Miss Clark.“ Sie schwieg. Andere
Höllen. Sie war nur eine andere Hölle. Er wollte sie zu so etwas zwingen.
Schön! Wenn sie keine Wahl hatte, dann würde auch das zu einer Hölle werden!
Die Tränen, die sie weinen wollte wurden durch die Wut, die sie tief in sich
spürte verdrängt.
„Lesen.
Sie. Zu. Ende“, befahl er wieder, seine Stimme am Abgrund der Höflichkeit.
Ihr Blick
senkte sich, nachdem sie ihn mit ihrem Blick erdolcht hatte. Zumindest hoffte
sie, dass es so ausgesehen hatte.
Anlage 5: Allianzen
Der hohen Linie der Vampire ist das
alleinige Recht zum Besitz der Blutsklavin gestattet.
Die hohe Linie, durch die vier
Königshäuser bestimmt, wird sich der Macht fügen, die die größte ist.
Es ist selbstverständlich, dass die
Macht durch Besitz der Blutsklavin durch jede der vier Linien abgerungen werden
darf.
Alle Kompetenzen der hohen Linien
fallen unter das Gesetz des obersten Rats.
Allianzen der Jäger und
Gestaltenwandler sind nicht zu berücksichtigen.
Ende der Anlagen
Letztendlich
sah sie ihn wieder an. Fragen hatten sich in ihrem Kopf gestapelt.
Hunderte
bestimmt.
„Man kann
Vampirin werden?“, fragte sie also sofort, und er
machte ein spöttisches Geräusch.
„Man kann“, wiederholte er skeptisch. „Aber
das ist selten. Eher stirbt das Mädchen bei dem Versuch. Richten Sie Ihr
Augenmerk also besser nicht auf diese Perspektive. Vor allem setzt dies voraus,
dass jemand dumm genug ist, mit Ihnen zu schlafen, ohne das persönlich zu
meinen.“ Und sie verzog den Mund.
„Jemand
sollte dumm genug sein?“, wiederholte sie giftig. „Es ist ja anscheinend auch
ohne-“
„Miss
Clark, niemand wird sich um die Gelegenheit bringen, Ihr Blut zu trinken.
Niemand!“, erklärte er streng. Und wieder überkam sie Wut, aber sie
unterdrückte es, so gut es ging.
„Waren
das alle Fragen?“, fügte er ruhiger hinzu. Sie antwortete nicht. „Miss Clark?“
„Was, Mr Cunning?“, schnappte sie, nur um auch mal seinen
Nachnamen zu benutzen, und fast lächelte er wieder. Er war so impertinent!
Dachte er, er könnte sich sowas einfach erlauben? Wer
sollte überhaupt kontrollieren, ob dieser Vertrag legal war? Das war er nämlich
bestimmt nicht!
„Liam.
Sie sollen mich Liam nennen“, wiederholte er wieder einmal. Sie blies zornig
die Luft aus. „Freunden Sie sich also am besten schnell mit der Idee an, Ihre
restliche Zeit mit mir zu verbringen“, erklärte jovial, aber sie sah ihn
finster an. „Aber… das dürfte nicht zu schlimm sein“, fügte er knapp hinzu.
„Ach
nein? Sind Sie so arrogant? Wirklich?“, wollte sie leise wissen, und er wurde
wieder ernster.
„Ich habe
unterschrieben. Wenn Sie es nun auch tun würden, Miss Clark?“, ignorierte er anscheinend
ihren Seitenhieb, und wieder gingen ihre Gedanken zurück zu dem seltsamen
Vertrag. Er meinte das wirklich ernst? Wenn es stimmte…
„Dann
gebe ich alles auf?“, fragte sie plötzlich. Er runzelte die Stirn. „Meine
Freiheit zu entscheiden, ich darf mich nicht entfernen? Ich bin eine Gefangene
und ewig Jungfrau?“ So lächerlich es klang, so ernsthaft schien er ihre Worte
abzuwägen. „Und alles tausche ich ein, damit ich für immer in Ihrer Nähe bin?“
Und so wie sie es sagte, klang es nicht verlockend. Ihr Herz schlug lauter.
„Sie
haben Ihren eigenen Bereich im Haus. Sie werden alles bekommen, was Sie
wünschen, ich werde Ihnen nichts verweigern“, erklärte er langsam.
„Außer
meiner Freiheit. Und.. die Kräfte?“
„Ihre
Kräfte werden nach und nach verschwinden. Aber Sie haben auch bisher nichts
davon gemerkt, oder?“, wollte er fast gereizt wissen.
„Aber ich… ich kann kein Jäger werden. Ist das dann nicht die Bestimmung eines
Auserwählten?“, übernahm sie die vielen Worte, denen sie vorher keinen Glauben
geschenkt hatte. Er sah sie wieder unergründlich aus seinen grauen Augen an.
Betörend fast…. Sie senkte den Blick.
„Das kann
man sehen, wie man möchte. Ich hatte Sie nicht unbedingt der Art zugeordnet.
Kämpfen Sie gerne? Töten Sie gerne Wölfe, Vampire?“, fragte er mit übertrieben
gehobener Augenbraue, und sie sah ihn wieder finster an.
„Sie
zwingen mir diese Entscheidung auf.“
„Natürlich.
Es macht ja auch am meisten Sinn“, gab er fast bockig wie ein Junge zurück.
„Weil Sie die meiste Macht bekommen, Liam?“, verwendete sie widerwillig seinen
Namen, und ließ ihn nicht aus den Augen.
„Weil Sie
ein Mensch bleiben, Miss Clark“, entgegnete er kalt und mit Nachdruck.
„Aber
unter welchen Voraussetzungen? Für immer an Sie gebunden! Und Sie mit dem Recht
wann immer Sie wollen mein Blut zu trinken!“ Ihr wurde wieder schlecht, und er
verdrehte die Augen.
„Die
Hypnose wird es Ihnen leichter machen“, drohte er leise.
„Woher
weiß ich, dass es stimmt?“, fragte sie sofort, fast panisch. „Ich will nicht
gebunden sein!“, flüsterte sie. Er sah sie an, schien abzuwägen und zuckte dann
mit den Achseln.
„Ich will
Sie auch nicht binden, aber es gibt für uns beide keinen anderen Weg. Nun, für
Sie gibt es keinen anderen Weg“, korrigierte er sich lächelnd.
„Bei
einem Bruch bin ich frei?“, vergewisserte sie sich unbehaglich.
„Erwarten
Sie keinen Bruch. Miss Clark.“
„Aber
dann bin ich frei?“
„Ja“,
erwiderte er schließlich. Es schien ihm kein angenehmes Thema zu sein.
„Und
alles ist wahr?“ Fast war es keine Frage, und sie sah ihn nicht mal mehr an.
„Ja,
alles ist wahr. Und Sie könnten nirgendwo sicherer aufgehoben sein als bei mir,
wenn ich das hinzufügen darf. Niemand wird Sie so unberührt lassen wie ich. Sie
werden die Bisse nicht spüren, und meine Macht wird Sie nur noch besser
beschützen können. Solange Sie leben.“ Und ihr panischer Verstand wog die
Chancen ab. Wenn es alles stimmte, dann war er ohnehin das mächtigste aller
Wesen, die sie bis hier her kennen gelernt hatte.
Sie
überlegte, während ihr Blick durch das königliche Arbeitszimmer wanderte.
„Ich habe
Bedingungen“, sagte sie schließlich. Und tatsächlich, mit ehrlicher
Überraschung, runzelte sich seine Stirn, und er wirkte zum ersten Mal
unvorbereitet.
„Bedingungen?
Sie sagen mir, dass Sie Bedingungen haben?“, fragte er noch einmal, um sich
wohl zu vergewissern.
„Ja. Oder
wollen Sie mich durch eine Wand werfen?“, entgegnete sie, nicht halb so
ängstlich, wie sie sich eigentlich fühlte. Er schwieg daraufhin.
„Der Vertrag ist bedingungsfeindlich“, erklärte er nur.
„Ich bin es nicht. Wenn man bedenkt, zu was Sie mich zwingen wollen, sind
Bedingungen meinerseits wohl völlig verständlich.“ Sie sah, wie sich sein
Kiefermuskel anspannte. Und sie glaubte, er würde sie hypnotisieren, obwohl sie
nicht wusste, wie das von statten ging.
„Welche
Bedingungen schweben Ihnen vor?“, knurrte er schließlich, ließ seine
Fingergelenke knacken, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Ich will meine Freunde sehen können!“, entfuhr es ihr, und der Gedanke an
Libby und Lucy und Blake trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Er sah sie an.
„Nein.“
„Es ist
kaum eine Bedingung!“
„Es ist
nicht möglich. Der Wolf würde sie verwandeln wollen, der Druide auch, die Hexe
würde anfangen mit dem Jäger-Ritual-“
„Aber ich
würde sofort sterben, würde ich Sie verraten. Und ich will nicht sterben. Ich
will nur meine Freunde wiedersehen!“, widersprach sie sofort und heftig.
„Bitte! Ich werde niemandem gestatten, etwas mit mir zu machen. Bitte, Liam“,
wiederholte sie seinen Namen.
Er atmete
gereizt aus.
„Fein,
mal sehen. Vielleicht lässt es sich unter großen Umständen einrichten. Aber
nicht ohne meine Anwesenheit, und nicht bevor die Bisse es nicht unmöglich
gemacht haben, einen Jäger aus Ihnen zu machen.“ Er schien schnell
nachzudenken, fuhr sich durch das dichte dunkelblonde Haar und wirkte nicht wie
ein Monster. Er wirkte, wie ein junger Mann. Und sie sah ihn an.
„Wie alt
sind Sie?“, fragte sie leise. „Als… sie…“ Er hob den Blick.
„Als ich gestorben bin?“, fasste er ihre Worte auf, und atmete aus. „Ich wurde
geboren. Vampire werden geboren. Es gibt keine Verwandlungen. Wenn, dann
selten. Sehr, sehr selten, deswegen rate ich Ihnen auch, keine Hoffnungen auf
eine Verwandlung zu hegen.“ Sie runzelte jetzt die Stirn.
„Warum
sollte ich so etwas verabscheuungswürdiges wollen?“, fragte sie sofort. Er sah
sie überrascht an.
„Verabscheuungswürdig?“,
wiederholte er ungläubig ihre Worte, und sie nickte schwach.
„Dann
würde ich unschuldige zu Blutsklaven zwingen, weil ich mehr Macht brauche.
Niemals würde ich ein Vampir sein wollen.“ Nicht, dass sie daran glaubte, aber
auch allein die Vorstellung widerte sie an.
„Cilian wird sich freuen das zu hören“, murmelte er mit einem freudlosen
Lächeln. „Was mein Alter angeht, kann ich Ihnen sagen, mein Körper hat
aufgehört, sich zu verändern nach 29 menschlichen Jahre“, fügte er leiser
hinzu.
„Das
heißt, Sie sind 29?“, flüsterte sie, und ja, sein Alter war ihm anzusehen.
„Nein.
Ich bin eintausend-“
„Siebenhundertfünfundfünfzig
Jahre alt, ja, ich habe zugehört“, beendete sie den Satz. Und tatsächlich stand
Überraschung auf seinen Zügen geschrieben.
„Gut. Ich
denke, wir sind fertig mit den Floskeln, nicht wahr, Miss Clark?“ Sie schluckte
schwer. Sie durfte ihre Freunde sehen. Das war ihre Bedingung, und er hatte
zugestimmt.
Und ihre
Angst wurde überlagert von einem Hauch Neugierde, den sie nicht abschütteln
konnte. Er wollte sie besitzen. Aber nicht mit ihr schlafen.
Sein
Blick fesselte sie, als er sie abwartend betrachtete. Hypnotisierte er sie? Sie
sah ihn lange an. Und je länger sie in sein schönes Gesicht blickte, umso
bekannter kam es ihr vor.
Und die
nächste Frage löste sich von ihren Lippen, ehe sie darüber nachgedacht hatte.
„Mit wem
werden Sie schlafen?“, fragte sie plötzlich, und sofort schoss Röte in ihre
Wangen, als seine Augen sich kurz weiteten.
„Entschuldigung?“,
fragte er mit amüsiertem Ausdruck, und sie senkte hastig den Blick. „Das soll
nicht Ihre Sorge sein“, fügte er nur hinzu.
„Aber…“
Sie betrachtete noch einmal den Vertrag. „Es ist wie eine Beziehung, oder?“
„Man kann es so sehen“, gab er vage zurück.
„Dann…“
„Machen
Sie sich keine Sorgen über mein Sexualleben“, unterbrach er sie lediglich,
seine Stimme auf null Grad abgekühlt. Sofort spürte sie wieder die Röte.
Sie
wollte ihre Freunde sehen. Und das so schnell wie möglich. Dann unterschrieb
sie auch so schnell wie möglich. Sie würde alles andere ignorieren. Sie
ignorierte alle Klauseln des Vertrags.
Sie nahm
die Feder in die Hand. Sie war schwer und warm.
„Und ich
darf meine Freunde sehen?“, fragte sie mit einem durchdringenden Blick auf ihn,
ehe sie die Feder aufsetzte.
„Wenn Sie
es wünschen“, rang er sich knurrend ab, und sah sie ungeduldig an.
„Was passiert,
wenn ich unterschreibe?“, flüsterte sie, während sie die Feder aufsetzte. Sie
kratzte rau über das Pergament auf der Linie, wo ihr Name bereits
vorgeschrieben war.
„Sie
werden gezeichnet, Miss Clark“, entgegnete er, kryptisch, wie immer, aber ehe
sie fragen konnte, keuchte sie auf vor Schmerz. Die Feder entglitt ihren
Fingern, als sie ihren Namen auf das Papier gesetzt hatte, und unter Schmerzen
schob sie ihren rechten Ärmel hoch.
Wie
Schwefel und Feuer stank es und feiner Dampf stieg von ihrem Handgelenk empor,
als sich Schnitte in ihre Haut brannten. Sie unterdrückte den Schrei, und die
Schmerzen trieben ihr den Schweiß auf die Stirn. Panisch sah sie ihn an,
während er sie gespannt betrachtete.
„Machen
Sie sich keine Sorgen, es ist gleich vorbei“, erklärte er leise, und kaum hatte
er zu Ende gesprochen war der Schmerz schon abgeebbt. Im Zimmer stank es nach
Schwefel, und ungläubig weiteten sich ihre Augen, als sie ihr Handgelenk
betrachtete.
Dort
stand sein Name auf der Innenseite ihres Handgelenks.
Genauso
kalligraphisch kunstvoll wie in seiner Unterschrift.
Sein
Nachname zierte in einem schwachen Dunkelrot ihr Handgelenk.
Und als
sie den Blick hob, lächelte er.
Ihr Atem
gefror. Sie spürte seine Macht. Sie spürte genau, welche Gedanken ihr Schmerzen
bereiteten. Dachte sie daran, zu fliehen, hielt sie eine Macht in ihrem Innern
auf. Sie wollte aufstehen, wollte rennen, vor Panik, aber ihre Beine waren wie
gelähmt.
Das
Gefühl war beängstigend, wie es unglaublich war. Ihr Herz hämmerte in ihrer
Brust. Er sah sie weiterhin an.
„Ich
möchte, dass Sie sich umziehen. Wir sind heute Abend eingeladen. Duschen Sie,
machen Sie sich fertig. Ein Kleid liegt auf Ihrem Bett, und Darcy wird Ihnen
helfen. Und tragen Sie die Haare offen“, fügte er glatt hinzu.
Nichts
passierte. Er zwang sie nicht, sich auszuziehen, damit er in ihren Bauch beißen
konnte! Er wollte, dass sie duschte. Gut, das wollte sie auch.
„Eingeladen?“,
fragte sie also, und immer wieder fiel ihr Blick auf ihr Handgelenk. Es war wie
ein Tattoo. Nur filigraner und… schöner.
„Die
Universität veranstaltet ein Betriebsfest. Für die Lehrenden. Ich bin
eingeladen, und Sie sind mein Gast.“ Richtig! Die Universität! Wie sollte sie
überhaupt weiter studieren?
„Bereiten
Sie sich vor und kommen Sie dann wieder zu mir“, befahl er ruhig, und sie erhob
sich fast sofort. Er schien sehr zufrieden zu sein.
„Die
Leute werden über Sie reden, wenn Sie mit einer Studentin kommen“, sagte sie
jetzt, während sie ihn betrachtete. Er war schön. Wirklich schön. Und tatsächlich
hoben sich seine Mundwinkel.
„Das ist
Ihre Sorge?“ Er lachte. Es war ein wunderschönes Geräusch. Sie schüttelte
verwirrt den Kopf. „Dass ich ein Vampir bin und Sie meine Blutsklavin, das ist Ihnen
egal? Aber dass Dr. Cunning mit einer Studentin auf ein Betriebsfest geht, das
stört Sie?“ Er sah sie fasziniert von unten an. „Und… nebenbei, es ist nicht
diese Art von Betriebsfest, Miss Clark. Machen Sie sich fertig.“
Und mit
diesen Worten entließ er sie aus seinem Blick, und sie verließ ein wenig neben
sich das Zimmer. Was sollte das jetzt bedeuten? Ihr Blick fiel wieder auf ihr
Handgelenk.
„Miss?“
Sie erschrak fast. „Mein Name ist Darcy, ich begleite Sie nach oben. Das Kleid
ist schwer alleine zu schließen. Ich warte, während Sie sich fertig machen“,
erklärte das Mädchen freundlich. Sie wirkte menschlich, man wusste es ja hier
nicht so genau, nahm sie an, aber in ihren Augen lag ein goldener Schimmer, der
nicht wirklich natürlich schien. Und sie nickte lediglich. Duschen. Erst mal
duschen. Eins nach dem anderen….
~
One Bite ~
Sie hatte
solange geduscht, dass ihre Finger ganz schrumpelig wurden, und wie sie mit
Schrecken feststellte, hatte das Mädchen namens Darcy die ganze Zeit gewartet.
Joanna trocknete sich etwas schüchtern die Haare mit dem Handtuch. Sie war es
höchstens gewohnt, dass Lucy anwesend war, wenn sie geduscht hatte.
Lucy… sie
vermisst sie unheimlich. Aber immerhin fühlte sie sich etwas besser. Sie hatte
sich, bevor sie unter die riesige Dusche gestiegen war, eingehend im Spiegel
angesehen. Ihre Haare waren zerzaust gewesen, und sie hatte Makeuptechnisch
auch schon wesentlich bessere Tage erlebt.
„Hey…
ähm… wie lange arbeitest du schon für… Liam?“ Und eine seltsame Macht zwang sie
tatsächlich seinen Vornamen zu sagen. Ihr Handgelenk juckte etwas, als sie
darüber nachdachte, seinen Nachnamen zu verwenden.
„Dr.
Cunning hat mich vor zwei Jahren eingestellt“, erklärte Darcy höflich, während
sie ihr das nasse Handtuch abnahm. Joanna betrachtete das Mädchen eingehend.
Sie konnte unmöglich viel älter sein als sie.
„Und… wo
kommst du her?“, fragte sie nun, da es ihr sowieso schon völlig unangenehm war,
dass dieses Mädchen ihr beim Anziehen helfen musste.
„Ich? Ich
komme aus Vancouver“, erklärte sie lächelnd. Die Augen schimmerten hellgolden
im Licht, und ihr Blick wirkte leicht unfixiert.
„Aus Vancouver?“, wiederholte Joanna langsam. „Und was treibt dich hier nach Three Forks?“, fragte sie
schließlich, mit einem Lächeln, dass lediglich Interesse vorspielen sollte.
„Ich habe
an der Universität in Vancouver studiert, und Dr. Cunning hat mich als
Assistentin eingestellt, und dann…“ Sie schien kurz zu überlegen. Ihr Blick
klärte sich nach kaum einer Sekunde wieder, und sie lächelte strahlend. „Und
seitdem arbeite ich für ihn.“ Er hatte sie also entführt. Sie war einer der
Studentinnen, die nicht das Glück hatten, auserwählt zu sein, damit er bis zu
ihrem Tod von ihr trinken konnte, überlegte sie bitter, und schon stach das
Tattoo in ihrem Handgelenk erneut. Sie zuckte kurz zusammen.
„Alles in
Ordnung, Miss Clark?“, erkundigte sich Darcy sofort, und Joanna nickte stumm.
Es war wie eine Konditionierung, mutmaßte sie. Je stärker sie sich gegen weiß
Gott was auflehnen würde, umso stärker würden wohl die Schmerzen werden.
Was für
ein kranker Vertrag. Und – oh Gott – vielleicht war er nicht verrückt, sondern
das alles war die Wahrheit! Sie spürte wieder die unangenehme Übelkeit in sich
aufsteigen.
„Gut,
dann wollen wir Sie mal in das Kleid zwängen!“, fuhr Darcy munter fort, und
Joanna hob beide Augenbrauen. Das klang ja nicht besonders freundlich, aber als
Darcy das Ungetüm aus dem Kleidersack holte, begann Joanna zu begreifen.
„Darcy…“,
begann sie vorsichtig, als sie unter die hundert roten Schichten lugte.
„Ja,
Miss?“
„Was
genau ist das für ein Betriebsfest…?“
~*~
Sie
spürte ein undeutliches Ziehen im Handgelenk, gerade als Darcy damit fertig
war, ihr Haar mit Spray in den Wellen zu fixieren, in denen es gerade jetzt
kunstvoll lag. Joanna wusste aber mit Sicherheit, dass sich ihre Haare von
Haarspray nicht bändigen lassen würden, würde sie nur erst mal nach draußen
treten. Sie besaß den Ansatz von Naturlocken, aber die lagen garantiert nicht
so kunstvoll drapiert, auch wenn Darcy eine halbe Dose Spray benutzt hatte. Sie
war sogar geschminkt, aber es war nebensächlich, denn sie konnte kaum atmen, in
dem Albtraum, den er Kleid nannte!
Es war
ein Traum in dunkelrot. Es hatte keine Träger, aber das bittere daran war wohl,
dass dafür eine geschnürte Korsage ihren
gesamten Rücken hinab reichte, die Darcy bestimmt nicht zu freundlich gebunden
hatte. Joanna atmete nicht zu tief, denn dann drückte ihr Busen unangenehm hart
gegen den festen Stoff, mit dem ihre Brust umspannt war. Es fiel in bestimmt
hundert Schichten ihren Körper hinab. Sie musste es beim Gehen raffen, und
selbst die hohen Schuhe ließen das Kleid bis auf den Boden fallen.
„Und die
Handschuhe“, sagte Darcy schließlich als sie Joanna zufrieden betrachtete.
Es
klopfte an der Tür. „Dr. Cunning wartet“, informierte sie eine weitere
Bedienstete mit glasigem Blick, die ebenfalls kaum älter war als sie. Und
Joanna hätte das auch vorhersehen können, ohne die Nachricht des Mädchens, denn
ihr Handgelenk schmerzte nun tatsächlich. Er war ungeduldig. Sie spürte es
tatsächlich!
Mit
rasendem Herzen ließ sie sich von Darcy noch eine rote Stola, passend zum
Kleid, um die Schultern legen, und sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie
viel Geld das gekostet haben musste! Aber Geld schien wohl eher weniger eines
seiner Probleme zu sein.
Spannender
war die Frage, was er tragen würde.
Das, was
Darcy ihr erzählt hatte, ließ sie nicht viel mehr wissen, als sie es bis jetzt
schon tat. Es war wohl eine Feier, die öfters stattfand, so viel hatte sie
erfahren können. Aber Darcy schien selber nicht Informationen zu erhalten, die
sie anscheinend nichts angingen.
Sie
verspürte den Hauch von Panik. Sie zog sich hastig die Handschuhe über, während
sie, von Darcy begleitet durch die Flure lief. Es war gut, dass Darcy dabei
war, denn sie kannte Abkürzungen und überhaupt sämtliche Wege durch das riesige
Anwesen.
„Seit wann wohnt Mr. C- aua!“, rief sie überrascht aus, als sie ihr Handgelenk
umklammern musste. „Verflucht!“, fügte sie leise hinzu. Sie verdrehte die
Augen. „Wie lange wohnt Liam schon hier“, sprach sie den Namen seiner Wahl, und
Darcy ruckte mit dem Kopf.
„Ich
denke, das Anwesen ist schon länger im Besitz.“
Mit
schwerem Herzen erreichten sie wieder die doppelte Flügeltür zu seinem Büro,
und Joanna war das Herz wieder einmal in den Hals gesprungen.
„Einen schönen Abend, Miss“, wünschte Darcy schließlich und wandte sich ab.
Keiner schien sich zu wundern. Keiner schien zu fragen, was sie hier tat.
„Kommen
Sie rein“, hörte sie seine gleichmütige Stimme vom Innern, und erschrocken,
dass er sie bereits bemerkt hatte, legte sie die Hand auf die Klinke.
Sie
öffnete die schwere Tür, und er wandte sich um. Er stand vor seinem
Schreibtisch, in einem eleganten schwarzen Anzug, der ihm wie auf den Leib
geschneidert zu passen schien. Wahrscheinlich war er auch maßgeschneidert, nahm
sie an. Seine Krawatte saß akkurat um den steifen Kragen des schneeweißen
Hemds. Seine Haare lagen frisiert auf seinem Kopf. Seine grauen Augen fixierten
ihre Erscheinung mit Wohlwollen. Er zog das Jackett wieder aus und hängte es
legere über eine Stuhllehne.
„Das
sieht schon um einiges besser aus, Miss Clark“, begrüßte er sie. „Wären Sie so
freundlich?“ Er hielt ihr ein winziges schimmerndes Objekt entgegen. Sie kam
langsam näher und erkannte, dass er Manschettenknöpfe in der Hand hielt.
„Ich…
weiß nicht, wie man die festmacht“, gestand sie ihm zögerlich ein.
„Sehr
einfach, Miss Clark“, erwiderte er sanft, und ihre Finger zitterten
unglaublich, als sie die Knöpfe entgegennahm. „Sie öffnen den Verschluss“,
erklärte er, als hielte er eine Vorlesung, „fassen das Hemd zwischen die
Öffnung – genau so – und dann verschließen sie es“, fuhr er fort, während sie
ihm gehorchte. Sie wiederholte den Vorgang auf der anderen Seite, und war froh,
keine weiteren Anläufe gebraucht zu haben. „Sie sehen sehr attraktiv aus. Rot
steht Ihnen ausgezeichnet.“ Seine höflichen Floskeln machte sie noch nervöser.
„Wo gehen
wir hin?“, fragte sie also, ohne auf seine Worte einzugehen oder sich zu
bedanken. Er zog die Krawatte noch einmal strenger zurecht
und senkte dann den Blick auf ihr Gesicht. Sie spürte die Röte, aber das Makeup
würde sie hoffentlich erfolgreich verbergen können.
„Auf ein
Betriebsfest“, wiederholte er.
„Auf
keinem Betriebsfest der Welt trägt man Ballkleider, Mr. – hmmm!“
Sie hatte die Augen kurz geschlossen, denn kurz hatte wieder der Schmerz ihr
Handgelenk durchzuckt. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie sich seinem
faszinierten Blick ausgesetzt. Fast hob sich sein Mundwinkel zu einem schiefen
Lächeln, aber er beherrschte sich schließlich.
„Nun, es
ist nicht unbedingt ein traditionelles Betriebsfest.“
„Sagen
Sie es mir?“ Sie sah ihn fast gereizt an, denn sie konnte Geheimnisse nicht leiden.
Es gab sowieso anscheinend schon zu viele Geheimnisse. „Ich meine, ich bin Ihr
Sklave, oder nicht? Es ist ja nicht so, dass ich weglaufen könnte, dass Sie
mich loswerden wollen oder, dass es eine andere Möglichkeit gibt, wie ich nicht
in Ihrer Nähe sein kann“, fasste sie bitter den Vertrag zusammen und ignorierte
das leichte Ziehen in ihrem Handgelenk.
„Also
denke ich, können Sie Ihre Geheimnisse ruhig aufgeben und mir wenigstens
verraten, wo wir hingehen, wo ich möglicherweise angegriffen werden könnte!“,
erklärte sie weniger freundlich, und er hatte die Stirn gerunzelt.
„Das
Prinzip der Hörigkeit ist gänzlich an Ihnen vorbeigegangen, oder Miss Clark?“,
fragte er amüsiert, und sie war erleichtert, dass er nicht wütend wurde. „Und
das Wort Sklave ist ein ziemlich
hässlicher Begriff, nicht wahr?“, fügte er hinzu, aber sie verschränkte die
Arme vor der Brust.
„Ich denke, ich benutze die exakte Fachterminologie, oder nicht?“, gab sie
entnervt zurück.
„Es ist
eine Willkommensfeier“, sagte er knapp. Seine Stimme hatte sich merklich
abgekühlt. Mist, jetzt war er sauer. Sie biss sich auf die Unterlippe, um sich
abzulenken.
„Für wen?“, wagte sie leiser zu fragen. Er atmete langsam aus.
„Neugierde tötet die Katze, Miss Clark“, erläuterte er lediglich. Dann änderte
sich sein Blick schlagartig, und etwas in ihr erwachte zum Leben.
Wahrscheinlich war es instinktive Angst, die zum Leben erwachte, nahm sie an.
Sein Blick war dunkler geworden, gefährlicher.
„Ich
denke, es wird Zeit für einen Test“, erklärte er ruhig. Ihr Mund wurde trocken.
„Test?“, krächzte sie, und versuchte Haltung zu bewahren.
„Haben
Sie keine Angst. Es wird Ihnen nichts passieren. Allerdings dient es auch Ihrem
eigenen Schutz“, fügte er hinzu. „Zwar ist die Macht noch nicht auf dem Höhepunkt,
aber es wird völlig dafür ausreichen, dass ich Ihre Sicherheit heute auch unter
hundert Wölfen garantieren könnte“, erklärte er wie beiläufig, griff ihren Arm,
und seine kühlen Finger schlossen sich um den Saum des linken Handschuhs.
Langsam zog er diesen ihren Arm hinab. Sie schluckte schwer. Wollte er das
wirklich tun?
Noch
hatte sie den Gedanken – oder viel mehr Wunsch – von einem seltsamen Fetisch
seinerseits nicht abgeschüttelt. Noch glaubte ein Teil in ihr daran, dass er
sich vielleicht Plastikzähne aufsetzen würde und einfach gerne
Vampir-Rollenspiele spielte. Noch hatte die Realität nicht gesiegt.
Noch
waren Vampire ein Mythos. Sowie auch Werwölfe oder Hexen oder Jäger.
„Wenn es
nicht funktioniert?“, flüsterte sie heiser, aber ein amüsiertes Funkeln
erschien in seinen Augen, und ließ ihn jünger erscheinen.
„Miss
Clark, seien Sie sicher, würden Sie riechen können, was ich rieche, dann hätten
Sie keinerlei Zweifel.“ Riechen? Was
konnte er riechen? Ihr Blut?! Ihr wurde wieder schlecht. Ihre Hand zitterte in
seiner. Er fixierte sie näher. „Es ist nicht schlimm. Heute teste ich nur. Nur
einen winzigen Schluck“, fuhr er fort.
Sie sah
ihn nun mit echtem Horror an. Würde er auch zu diesem Wesen werden, was in
Blakes Garten gewesen war? Ihr Herzschlag ging an die Grenze des erträglichen.
Er hielt inne.
„Miss Clark, ich bringe Sie nicht um. Aber… Ihr Puls macht mich fast nervös“,
bemerkte er jetzt mit einem Lächeln. Sie starrte ihn nur weiterhin an. „Ich
kann sie hypnotisieren, dann merken sie nichts.“ Sie dachte an Darcy mit ihrem
seligtreuen Blick. Nein! Das wollte sie nicht! Sie schüttelte also ungelenk den
Kopf. Er nickte dann.
„Ich
bitte Sie, nicht zu erschrecken.“ Das waren die letzten Worte. Die Stimmung
wechselte, und sie spürte, wie ihr Mund sich öffnete. Seine Augen schienen die
Farbe zu ändern, schienen rot zu werden. Ein dunkles, blutiges Rot. Seine Haut
spannte, wurde fester, dehnte sich, denn er öffnete leicht den Mund, und sie
erkannte wie seine Eckzähne spitzer wurden. Sie machte instinktiv einen Schritt
zurück.
Und er
sah sie an. Aus seinen roten Augen. Und dann lächelte er. Sie schlug sich die
handschuhlose Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf, denn sein Lächeln
entblößte die Fänge in seinem Mund. Sie wich soweit zurück, bis sie die Tür
hart im Rücken hatte.
„Das ist
alles, Miss Clark. Keine Fledermäuse, keine Krallen“, informierte er sie, immer
noch mit seiner ruhigen Stimme. Sie spürte Tränen in ihren Augen. Das konnte
doch nicht wahr sein! Sein Gesicht konnte sie immer noch ausmachen, auch unter
der festeren Haut, den roten Augen und den spitzen Zähnen. Sie erkannte ihn
noch, aber die Fratze entstellte seine Schönheit! Sie konnte nicht wegsehen,
wagte nicht wegzusehen, denn nachher würde er sich noch auf sie stürzen und umbringen!
Wenn es
ein Rollenspiel mit Plastikzähnen war, dann ein verdammt gutes, dachte sie
dumpf, während er langsam näher kam.
„Sie
werden Ihr gesamtes Leben mit mir verbringen, und ich möchte, dieses Mal, dass
Sie keine Angst vor mir haben. Ich möchte, dass Sie sich vertraut machen. Mit
mir“, fügte er hinzu und blieb direkt vor ihr stehen, keinen halben Meter
entfernt. Sie sah zu ihm auf, wie versteinert. Das Rot in seinen Augen, war
kein starres Rot. Es schien zu pulsieren, mit jedem Wimpernschlag, schien
Wellen zu schlagen, als wäre es tatsächlich rotes Blut in seinen Augen. Sein
Mund war immer noch schön, und die Zähne waren spitz wie Nadelköpfe. Sie waren
groß und wirkten fehl am Platz in seinem Mund.
Und bevor
sie es unterdrücken konnte, hob sich ihre Hand zu seinem Gesicht. Er blinzelte
überrascht, als ihre warmen Finger seine kühle Haut berührten.
„Sie haben keine Angst?“, mutmaßte er mit ruhiger Stimme. Ihr Mund hatte sich
geöffnet, als sie die Haut, fest wie Leder unter ihren Fingern spürte.
„Ich habe
Todesangst“, flüsterte sie zurück, und er schwieg, ließ es über sich ergehen,
dass ihre Finger sein Gesicht erkundete, dass sie sich näher vorlehnte, in
seine Augen blickte, in denen das Rot zu sprudeln schien, ohne, dass er es
kontrollierte. Dann blickte sie hinab auf seine Hände. Auf die goldenen
Manschettenknöpfe, und seine Hände sahen unverändert menschlich aus. Sie atmete
langsam aus.
„Es geht
schnell“, sagte er, aber sie konnte etwas in seinem Blick erkennen. War es
Sorge? Nein, das glaubte sie nicht.
„Was… passiert jetzt?“, flüsterte sie und spürte, wie sich eine Träne aus ihrem
Augenwinkel löste und auf ihre Wange fiel. Ihr Makeup war ihr gerade egal. Sein
Mund öffnete sich langsam.
„Ich werde
Sie beißen, Miss Clark“, informierte er sie ruhiger. „Ich denke, das war Ihnen
klar“, fügte er hinzu. „Geben Sie mir Ihre Hand“, forderte er sie abwartend
auf, während er ihr seine flache Hand entgegenstreckte. Und sie zögerte
solange, bis der Schmerz in ihrem Handgelenk fast unerträglich wurde. Und jetzt
gerade wünschte sie sich, dass sie sterben würde. Sterben wäre besser, als sich
mit dieser wahnsinnigen Welt abzufinden….
Vampire… - oh Gott!
Er neigte
den Kopf hinab zu ihrem Handgelenk. Er hatte ihre Hand gedreht, so dass die
Innenseite ihres Handgelenks frei lag. Sie spürte das Tattoo auf ihrem anderen
Handgelenk pulsieren. Es war angenehm. Aber sie konnte den Blick nicht
abwenden.
Sie
musste den Mund öffnen, denn ihr Atem ging abgehackt und lauter. Er hielt inne,
hob den roten Blick, und panisch kniff sie die Augen fest zusammen.
„Boys are rotten, made out of cotton…”, kamen die
konditionierten Worte nahezu stumm über ihre Lippen, die sie seit Ewigkeiten
aus ihrem Bewusstsein verdrängt hatte. Bilder schoben sich vor ihr inneres
Auge.
Zwei
Männer. Sie umarmten Mrs Fabian, und Mrs Fabian schlief ein.
Sonntags
im Waisenhaus. Der Sonntag an dem die Frau kam, das Stiefmonster, das sie
mitgenommen hatte. Weg aus Chicago, weiter nach Three
Forks.
Die Polizei
kam in das Kinderzimmer des Waisenhauses, und ein Mann sprang gerade noch aus
dem Fenster… -
„Das
dürfte die 180 überschreiten“, hörte sie seine fast säuerliche Stimme in ihr
Bewusstsein dringen. Sie spürte, dass er ihre Hand losgelassen hatte, und sie
öffnete die Augen einen Spalt. Es war als tauchte sie aus einem zähen Traum
wieder auf. Er war wieder er selbst. Ihre Augen weiteten sich. Seine Augen
waren wieder grau, seine Zähne normal groß. Sie starrte ihn schwer atmend an.
„Ich denke, ich hypnotisiere Sie jetzt-“
„Nein!“, unterbrach sie ihn hastig. „Nicht… nicht hypnotisieren, Mr. C- aua!“,
heulte sie auf, als der Schmerz sie überrascht traf. „Liam“, setzte sie unter Schmerzen hinterher. Er atmete langsam aus.
Sorge war
in sein Gesicht getreten.
„Ich habe
Ihnen gesagt, Sie sollen keine Angst vor mir haben, Miss Clark“, fuhr er sie
fast zornig an, ehe er die Hand durch die dichten dunkelblonden Strähnen rann.
„Vampir“,
flüsterte sie kopfschüttelnd. „Oh Gott! Oh Gott, oh Gott!“ Weitere Tränen fielen
auf ihre Wange. Er verdrehte die Augen, umfasste grob ihre Schultern, und sie
hob den Blick zu seinen Augen, die nun heller wurden.
„Ruhig“,
befahl er in einem hypnotischen Singsang, der sofort ihre Atmung beruhigte.
„Ganz ruhig, Miss Clark“, ergänzte er melodisch und ließ sie schließlich wieder
los. Die Panik war abgeebbt. „Wir werden erwartet“, sagte er schließlich, die
Augen wieder grau. „Wir verschieben… den Biss“, sagte er lediglich, und sie
schüttelte benommen den Kopf, denn die plötzliche Ruhe irritierte sie.
„Das war
die Hypnose?“, fragte sie leise, und er hatte sich abgewandt, um sein Jackett
zu holen. Er zog es über, verschloss die Knöpfe und sah anbetungswürdig aus.
„Ja, und
ich werde sie nächstes Mal einsetzen, wenn Sie Ihren rasenden Herzschlag nicht
unter Kontrolle kriegen“, knurrte er fast, und sie sah zu ihm auf. Und er
schien zornig auf sich selbst zu sein. Sie wagte nicht zu widersprechen. Sie
war froh, dass ihre Beine funktionierten, als er mit einer herrischen Bewegung
in Richtung Tür deutete.
Er war
wütend. Der Vampir war wütend. Wahrscheinlich würde sie ohnmächtig werden.
~*~
Er war
stumm gefahren. Er fuhr sehr schnell. Dieses Mal in einem schwarzen Sportwagen mit
verspiegelten Scheiben. Er lag tief auf der Straße und schoss durch die kalte
Nacht.
Sie zog
die Stola enger um ihren Körper. Sein Blick traf sie knapp.
„Kalt?“, fragte seine Stimme abweisend, denn er schien immer noch wütend zu
sein. Sie log und schüttelte den Kopf. Er blickte wieder nach vorne, ohne ein
Wort zu sagen. Sie blickte aus dem Fenster, hinaus in die Nacht, und wartete
praktisch darauf, dass das Auto angegriffen werden würde. Mit jeder Kurve, die
vor ihnen lag, mit jeder dunklen Lichtung.
Vielleicht
fuhr er deshalb so schnell, weil er es auch vermutete.
Ein
Schauer erfasste sie, und sie hörte, wie er mit einem gereizten Geräusch die
Heizung andrehte.
„Lügen
Sie mich nicht an“, informierte er sie knapp, und ihr Handgelenk summte vor
Schmerz. Sie umfasste es instinktiv und spürte, sie hatte soeben einen Befehl
erhalten.
Und sie
kamen schließlich an, wo auch immer er hinwollte. Es war nicht die Universität,
so viel stand fest. Es war ein Haus. Ein großes Haus auf einem Hügel, der ein
Dorf überblicken konnte. Und sie stutzte als er ausstieg, um das Auto herum
ging und ihre Tür öffnete.
„Rosemond Parks?“, fragte sie ungläubig und blieb sitzen.
„Was tun wir hier?“, verlangte sie zu wissen.
„Die
Familie trifft sich“, erklärte er schlicht und wartete ungeduldig, dass sie
ausstieg. „Sie machen es mir nicht leicht, Miss Clark“, knurrte er, aber sie
blieb, wo sie war, den Schmerz in ihrem Handgelenk ignorierend.
„Das ist
das Haus vom Stiefmonster“, flüsterte sie, und wollte überall hin, aber nicht hier
hin! Und ein feines Lächeln kräuselte seine Mundwinkel.
„Gabrielle
ist meine Schwester, Miss Clark.“ Und Joanna starrte ihn wieder einmal an.
„Steigen Sie aus“, sagte er jetzt ernster, und ihre Beine setzten sich unter
seinen Worten in Bewegung. Sie hasste dieses Haus. Sie hasste alles hier! Und –
was?!
Sie
konnte unmöglich seine Schwester sein! Sie lief hinter ihm her.
„Sie
altern nicht! Wie kann diese Frau dann-“ Er wandte sich um.
„Es ist
anders bei Vampirinnen“, gab er knapp zurück. „Es sind einige Leute hier, Miss
Clark, und ich hoffe, es reicht Ihnen aus, dass ich verspreche, Sie zu
beschützen.“
„Wieso
sind wir hier?“, flüsterte sie wieder, und wollte nicht in dieses Haus.
„Zur Sicherheit“,
erklärte er. „Nachts sind wir sterblich, oder zumindest verwundbar“, erklärte
er, aber führte es nicht weiter aus. Sie schritt widerwillig neben ihm.
Das
konnte nicht wahr sein! Es war seine Schwester? Ihre Stiefmutter war ein
Vampir? Ein Vampir?!
Er
klingelte, und sofort öffnete sich die Tür. Ein Butler hatte geöffnet. Sie
kannte ihn nicht, er musste neu sein. Wenn sie in dem Haus gewesen war, war
dort niemand gewesen.
„Coleman“,
begrüßte er den Mann vor sich nickend und sie traten ein. Der Mann nahm ihm
wortlos seinen Mantel und ihr die Stola ab. Es war sogar warm genug im Haus.
Sie sah sich unbehaglich um. Ihr Zimmer lag oben, aber sie hatte selten Zeit
darin verbracht, war sie doch immer auf Internaten verschifft und versteckt
gewesen. Sie gingen direkt auf den Saal zu. Es war alles festlich erleuchtet
und Menschengelächter erfüllte die Flure.
Es waren
nie Menschen hier gewesen, soweit sie sich erinnern konnte.
Als sie
den Saal betraten, verstummte die Menge. Sie kannte keinen hier. Alle richteten
den Blick auf sie oder auf sie beide. Und fast erschrak sie, als die
versammelte Menge in eine tiefe Verbeugung fiel. Und Liam neben ihr nahm es mit
einem Nicken zur Kenntnis und durchschritt den Saal, so dass sie Mühe hatte ihm
zu folgen.
Die Leute
musterten sie unverhohlen. Alle wirkten schön, eingefroren in der Zeit, so
schön waren die meisten. Alles Vampire, vermutete sie
fast panisch, und wahrscheinlich wussten alle, dass sie eine Blutsklavin war!
Oh Gott… wo war die Ohnmacht, wenn sie sie brauchte?!
Und jetzt
erkannte sie ihre Stiefmutter. Sie wartete mit überlegenem Blick am Ende des
Saals. Ihr Alter lag in den Vierzigern, wie Joanna immer geschätzt hatte. Sie
erinnerte sich, als diese Frau sie aus dem Waisenhaus geholt hatte, in
Begleitung einer Kinderfrau. Sofort hatte die Frau alle Formulare
unterschrieben, und ohne Fragen war sie, Joanna, an diese wildfremde Person
übergeben worden.
Ihre
Stiefmutter war über all die Jahre nicht gealtert, fiel ihr auf. Das hatte sie
immer seltsam gefunden, es aber auf das Botox geschoben. Jetzt hatte Wut von
ihr Besitz ergriffen, als sie ihr immer näher kamen.
Alles
Lügen. Alles!
„Joanna“,
begrüßte diese sie ohne den leisesten Hauch von Freundlichkeit. Sie sah
tatsächlich aus wie immer. Joanna schauderte es. Sie sagte gar nichts. „Liam,
du kommst zu spät“, mahnte sie. Sie sah ihm nicht ähnlich, stellte sie fest.
„Cilian ist bis jetzt auch nicht aufgetaucht.“
„Wird er
schon noch“, erwiderte Liam knapp. Joanna konnte sich nur umsehen. Alle –
ausnahmslos alle – starrten sie an. Dann wandte er sich um, direkt an die
Menge.
„Guten
Abend, Familie. Ich möchte euch Joanna Clark vorstellen.“ Ohnehin alle Blicke
waren auf sie gerichtet. Was sollte sie tun, knicksen? Allerdings wandten sich
einige der Anwesenden desinteressiert von ihr ab, führten ihre Gespräche
weiter, und Liam schien entspannt auszuatmen. Die meisten jedoch hielten den
Blick auf sie gerichtet. „Ich hoffe, die Anreise war entspannt“, fuhr er lauter
fort, „und wir können den Abend genießen“, endete er, und wieder verneigten
sich einige. Sie kam näher zu ihm.
„Wieso
verneigen sich die Leute?“, flüsterte sie verwirrt und hörte Gabrielle lachen.
„Immer
noch ungezogen“, sagte sie. „Liam wird dir wohl erzählt haben, dass er der
König der Linie ist?“
„Er ist
der Anführer“, hörte sie eine bekannte Stimme. „Wohl kaum ein König.“ Sie
wandte den Blick zum Eingang des Saals zurück und erkannte Greyson im schwarzen
Anzug, allerdings mit offener Krawatte. Wieder sanken die Anwesenden in eine
Verbeugung, aber er winkte gereizt mit der Hand ab und schloss den Abstand.
„Unterschrieben?“,
wandte er sich direkt an sie, und sie konnte ihn nur ansehen. Vampire. Alles Vampire! Selbst ihre Stiefmutter, bei der sie mehr
oder weniger zehn Jahre gewohnt hatte! Und er hatte es so eingerichtet, nahm
sie an! Er hatte ihr ganzes Leben so geplant!
Greysons
Augen verengten sich. Sie raffte ihr Kleid und schritt von den Geschwistern
fort zum Fenster. Sie spürte, wie Liams Blick ihr folgte. Mit jedem Schritt,
den sie sich entfernte, schmerzte das Tattoo etwas mehr. Sie biss die Zähne
fest zusammen und durchschritt die Zimmer des Hauses, in denen sie nie Zuhause
gewesen war. Immer nur ein unwillkommener Gast!
Keine
Fotos waren von ihr aufgestellt, und sie nahm an, würde sie nach oben gehen, in
ihr altes Zimmer, würde sie feststellen, dass es Gabrielle längst ausgeräumt
und in eine Bibliothek verwandelt hatte, oder sonst etwas! Die einzige Person,
mit der sie sozialen Kontakt gepflegt hatte, war ihre Kinderfrau gewesen. Sie
hatte sie gebadet, angezogen, mit ihr Brettspiele gespielt, und ansonsten
konnte sich Joanna nur an unzählige Internate, Privatschulen und flüchtige
Bekanntschaften erinnern, weil sie auf keiner Schule länger als ein Semester
geblieben war.
Es war
ihr zu viel. Ihr Weg führte sie in die Küche. Der Rest des Hauses war ihr immer
verboten worden. Nur in der Küche durfte sie sein, sich Essen kochen, als sie
vierzehn war, denn eine Köchin hatte hier nie gearbeitet. Zumindest nicht,
solange sie hier gewesen war!
„Joanna“,
wurde sie von einer weiteren Person begrüßt. Und sie verharrte in der Bewegung.
Richtig. Ihr fiel etwas ein. Wenn Georgiana ihre
Stiefcousine war, dann… war sie also auch ein Vampir! Sie spürte die Hysterie
in sich aufsteigen.
„Bist du
auch eine Schwester?“, wollte sie fast aggressiv von ihr wissen, aber Georgiana sah sie wissend an, während sie sich gelangweilt
helle Flüssigkeit in ein Kristallglas goss.
„Nein“,
sagte diese nur. Joanna wollte hier nicht mehr sein. „Ich bin sicher, du hast
die Wölfe angelockt. Das wird noch lustig heute Abend“, fügte sie hinzu,
während sie einen tiefen Schluck nahm. Plötzlich knisterte der alte Kamin in
der Küche bedrohlich. Joanna wich langsam zurück, als ein Stück Glut plötzlich
aufglomm. Der Kamin war aus! Zumindest sah es so aus, aber plötzlich leuchtete
die gesamte kalte Glut, und schwarze Ruß wirbelte nach oben.
Sie wäre
fast gestolpert, als eine massige Gestalt vom Rost des Kamins nach vorne
schritt und das Husten die Küche erschütterte.
Ihr Mund
öffnete sich. Das konnte nicht sein!
„Ah, da
ist sie ja. Vertrag unterschrieben und frisch gekennzeichnet“, rief er erfreut
aus, den Blick auf ihren rechten Handschuh geheftet. Er fuhr sich durch die
schwarzen Haare, strich sich über den ebenso schwarzen Kinnbart und wandte sich
dann an Georgiana. „Guten Abend, meine Liebe“, sagte
er, reichte ihr die Hand, und mit einem Knicks küsste sie seinen
bernsteinfarbenen Ring.
„Mr Leman“, murmelte sie abwesend. Das… war der
Verwaltungsdirektor. Ihr Direktor!
Der
Direktor war soeben aus der kalten Glut eines Kamins gestiegen. Sie fasste sich
an die Stirn, aber sie war kühl. Sie hatte kein Fieber. Sie musste
halluzinieren.
„Habe
gehört, ein Rudel Hunde macht uns heute die Aufwartung?“ Er rieb sich vergnügt
die Hände. Sein rotes Jackett passte farblich fast zu ihrem Kleid. Die
schwarzen Haare lagen glatt an seinem Kopf, und der strich sich auch noch den
schmalen Oberlippenbart glatt.
„Schrecklich,
diese Kaminreisen“, erklärte er, während er sich kalte Glut von seiner
dunkelroten Hose klopfte. Sie starrte ihn an. „Wir kennen uns noch nicht
offiziell. Lester Leman“, stellte er sich vor, reichte ihr die Hand, und als
sie diese perplex schüttelte, zuckte sie zusammen. Sie war glühend heiß. Er
lächelte ein weißes Lächeln, und sah aus, wie ihr exzentrischer
Verwaltungsdirektor. Aber… seine dunklen Augen… schienen Geschichten von
vergangenen Zeiten zu erzählen, so tief waren sie.
„Gut,
dass Sie auf unserer Seite stehen. Schrecklich, wenn die Wölfe Sie bekommen
hätten. Und auch noch eine solche Verschwendung!“, rief er aus. „Cilian, ich
muss mich wundern. Ich habe nicht vergessen, dass du einen meiner Späher
ausgeliehen und nicht zurückgebracht hast!“, brach er den Blickkontakt zu ihr,
und sprach anscheinend zu dem gerade eingetreten Greyson.
„Es gab
ein Jägerproblem“, erklärte er lediglich, während auch er sich eine helle
Flüssigkeit in ein Kristallglas goss.
„Das wird
auch nicht wieder passieren.“ Liam hatte die Küche ebenfalls betreten und schien
den Raum allein mit seiner Präsenz komplett auszufüllen. Seine Stimme legte
sich wie ein angenehmer Film auf ihre Haut, und er stellte sich fraglos neben
sie.
„Hast du
schon…?“, erkundigte sich Georgiana mit neugierigem
Blick, aber Liam ignorierte sie einfach.
„Lester,
wie geht es den anderen?“, fragte Liam schließlich, vielleicht einen Hauch von
Sorge in der Stimme, und Lester Leman fuhr sich erneut prüfend über seinen
Kinnbart.
„Noch
sind sie friedlich“, gab dieser zurück, und Joanna hatte keine Ahnung, worum es
ging. Sie hatte seit einer Weile keine Ahnung, worum es ging.
„Wie
viele Wölfe erwarten wir?“ schnappte Georgiana
wütend, wahrscheinlich, weil sie ignoriert wurde. Dumpf fiel Joanna wieder ein,
dass sie Georgiana gesehen hatte, als sie das erste
Mal in Liams Büro gegangen war. Und sie hatte Bisswunden gehabt. Sie runzelte
verwirrt die Stirn und hob den Blick zu seinem Gesicht. Er erwiderte ihren
Blick kurz, um dann aber seine Aufmerksamkeit Greyson zu schenken, der sprach.
„Auf
meinem Weg habe ich zwölf gezählt.“
„Vollmond!“,
sagte sie überrascht, weil sie verstanden hatte, weshalb Wölfe draußen waren.
„Es ist Vollmond“, wiederholte sie. Und wenn es stimmte, dann wäre Lucy auch
dabei. Ganz bestimmt, da war sie sicher!
„Ja,
Goldstück, das ist richtig“, bestätigte Leman sie nickend. Er hatte eine
seltsame Wirkung auf sie. Etwas Böses umgab ihn, aber der Moment, in dem sie
das fühlte, war schon wieder abgeklungen. Georgiana
sah sie an. Mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte. Aber es lag keine
Freundlichkeit darin.
„Ihr tut
den Wölfen nichts, oder?“, wandte sie sich an Liam und sah ihn auffordernd an.
„Lucy könnte dabei sein“, sprach sie ihre Gedanken laut aus, denn ihre Angst um
Lucy war größer als ihre Angst vor Vampiren. Liam sah sie mit einem Blick an,
den sie nicht zu deuten wusste.
„Sie
werden versuchen, dich zu holen. Also natürlich werden wir sie töten“, erklärte
Greyson mit kalter Selbstverständlichkeit.
„Wofür
komme ich den weiten Weg?“, beschwerte sich jetzt auch Leman und streckte sich
erneut. „Wenn man nicht mal ein paar Wölfe töten kann!“ Joanna starrte ihn
schockiert an. Er produzierte einen schwarzen schmalen Gehstock aus dem Innern
seines Anzugs, auf dessen Spitze ein goldener Stein funkelte. Ihr Blick verfing
sich in diesem Lichtspiel, aber Liam räusperte sich laut, und sie schüttelte
benommen den Kopf. Dann sah sie Liam wieder an.
„Aber ihr
könnt nicht…!“, begann sie, aber er umfing plötzlich ihren Arm, und ihr
Handgelenk schmerzte. Sie schwieg abrupt, schoss ihm aber einen zornigen Blick
zu.
„Wenn sie
kommen, werden wir kämpfen“, erklärte er ihr schlicht.
„Das
könnt ihr nicht!“, flüsterte sie verzweifelt. Sein Blick wurde strenger. Und
sie sah, dass er wütend mit ihr wurde. Wahrscheinlich weil sie nicht gehorchte,
oder sonst etwas. Sie wurde nervöser. Sie hatte den Jäger gesehen, hatte ein
widerliches Wesen gesehen, das ausgesehen hatte wie ein Vampir, aber kein
echter war, oder was auch immer. Sie wollte eigentlich nicht auch noch Wölfe
sehen! Sie wollte nicht! Tränen stiegen wieder an die Oberfläche.
Das hier
sollte also ihr sicherer Weg sein? Der Weg ohne Schaden für sie? Das war es
doch, was er ihr vorgelogen hatte!
„Wir gehen ein Stück“, sagte er und äußerte damit in ihre Richtung einen
Befehl. Er zog sie mit sich aus der Küche, während Leman Pläne schmiedete die
Wölfe in einen Hinterhalt zu locken. Sie traten auf den Flur hinaus, und so
absurd es war, dass sie das Haus kannte, so viel absurder war es, dass er es
auch tat.
„Wie weit
hast du das alles zurückgeplant?“, schnappte sie plötzlich und ignorierte den
Schmerz in ihrem Handgelenk.
„Hörig,
Miss Clark“, brachte er gepresst hervor.
„Du hast
deine Schwester ins Waisenhaus geschickt, damit sie mir die schlimmsten zehn
Jahre meines Lebens aufbürgen konnte!“, erwiderte
sie, seine Worte ignorierend. Er sah sie mit gerunzelter Stirn an. Sie hatte
ihn geduzt, und sie hatte keine übermäßigen Schmerzen dabei empfunden.
Lediglich für die Worte, die sie benutzte. Sie war so wütend!
„Ich habe
meine Schwester geschickt, damit Sie in Sicherheit vor möglichen Angriffen
sind!“ Sie sah ihn zornig an.
„Und Mr Leman ist hier? Was tut er hier? Sind alle Leute der
Universität Vampire?“, wollte sie hysterisch wissen, und er zog sie weiter ins
Haus hinein, ins Esszimmer im hinteren Flügel.
„Nein,
Lester Leman ist kein Vampir“, erklärte er, ohne es auszuführen. „Mäßigen Sie
Ihren Ton, Miss Clark“, ergänzte er gefährlich ruhig.
„Am besten hypnotisieren Sie mich doch! Am besten die komplette Zeit über, denn
wenn Sie und Ihre Leute heute Lucy umbringen werden, dann werden Sie es wohl
als Garantie brauchen, dass ich mich nicht aus dem dritten Stock Ihres
Gefängnisses stürzen werde!“, knurrte sie förmlich, und ihr Handgelenk brachte
sie um. Sie presste es gegen ihren Bauch.
Sie
wandte den Blick von ihm ab, denn wieder standen Tränen in ihren Augen.
Sie hörte
ihn langsam ausatmen.
„Miss
Clark…“, begann er ruhiger, jedoch hörte sie die stumme Warnung in seiner
Stimme mitschwingen, aber sie sah stur in die Nacht hinaus. Sie konnte keine
Wölfe erkennen. Noch nicht zumindest. „Es fällt mir schwer, Sie nicht zu
hypnotisieren, denn Sie gehen mir auf die Nerven.“ Sie stieß empört die Luft
aus, als sie sich wieder zu ihm umwandte. „Aber…“, fuhr er fort, studierte ihr
Gesicht und wirkte nicht mehr allzu wütend, „… ich hatte auch noch keine
weibliche Auserwählte an meiner Seite. Das ist ein Problem für mich“, erklärte
er offen. „Ich habe bei meinem letzten Blutsklaven Hypnose konsequent
angewandt, und es hat mir nichts gebracht. Offen gestanden ist diese Erfahrung
eine sehr schlechte gewesen.“ Sie sah ihn an.
„Sie
hatten jemanden wie mich?“, flüsterte sie. Er sah sie abwartend an.
„Ja. Vor
etwa siebenhundert Jahren.“ Sie sah ihn weiterhin unverwandt an. „Ich bin
bereit, dieses Mal mehr Zeit zu investieren, mich auf den Sklaven einzulassen,
und zu versuchen, Sie solange wie möglich am Leben zu halten.“ Jetzt hörte sie
seine Ungeduld. „Und wenn Sie wünschen, dass ihrer Wölfin kein Leid
wiederfährt, dann werde ich Kraft brauchen, um sie nicht zu töten, sondern
lediglich zu vertreiben.“
„Können
Sie sterben?“, fragte sie offen, und hing an seinen Lippen. Er schien
abzuwägen, ob er antworten sollte. „Sie haben mich praktisch zu Ihrem
Geheimniswahrer gemacht, Liam“, ergänzte sie leiser. „Mein Handgelenk schmerzt
schon, wenn ich nur daran denke, Ihren Nachnamen zu benutzen“, fügte sie hinzu.
Und sie glaubte, seine Mundwinkel zucken zu sehen.
„Sie
denken darüber nach, sich aufzulehnen?“, wollte er wissen und war plötzlich
neunzwanzig Jahre alt. Ehe sie über diese Frage nachdenken konnte, war er
wieder ernst geworden.
„Als
König der Linie, nein. Es ist nahezu unmöglich für mich zu sterben. Jedenfalls
werden es Wölfe höchstens schaffen, mich zu verwunden.“
„Aber ein
Jäger kann Sie töten?“ Sein Blick wirkte verschlossen und sehr streng. „Ich
meine, dafür sind sie da, richtig?“ Ihr Blick löste sich von seinem Gesicht und
wanderte in die Ferne.
„Sie bereuen den Vertrag“, stellte er schließlich fest, die Stimme kalt und scharf
wie geschliffenes Eis. Sie hob wieder den Blick.
„Ich will
nicht, dass meinen Freunden etwas zustößt, Mr. Cu- hmmm….“ Sie schloss die Augen vor Schmerz. „Ich bin den
Vertrag eingegangen, damit Sie Blake nicht töten, nur um jetzt zu erfahren,
dass Sie Lucy töten wollen.“ Er sah sie an, verdrehte schließlich gereizt die
Augen und zog sie mit sich zur Wand.
„Ich bin
bereit, neue Dinge zu probieren, Miss Clark“, sagte er schließlich. „Wenn ich
Sie beiße, wird meine Kraft größer. Dann wird niemand die Wölfe angreifen, und
ich werde sie lediglich unverletzt in die Flucht schlagen. Klingt das nach
einer Bedingung, die Sie akzeptieren können?“ Sie sah ihn eine Weile an.
„Wie
wollen Sie die anderen hindern, die Wölfe anzugreifen?“ Und er hob eindeutig
eine Augenbraue.
„Dass ich
Sie nicht zwinge, vor mir auf die Knie zu fallen, bedeutet nicht, dass es alle
anderen nicht tun würden, Miss Clark“, informierte er sie glatt, und ihr Mund
öffnete sich. Kurz erfasste sie wieder ein Schauer, den sie nicht deuten mochte.
Schon allein ein Hauch der tatsächlichen Macht, die er eigentlich hatte,
durchflutete ihren Körper auf angenehme Weise. Nein, damit würde sie sich nicht
befassen! Sie spürte die Wand hinter sich.
Und fast
geduldig sah er sie an. Und sie wusste, wahrscheinlich konnte sie ihm wohl
vertrauen. Er hatte es versprochen. Ihr Herz schlug wieder schneller.
„Ihr
Puls, Miss Clark“, sagte er tonlos, während er kurz die Augen schloss. Ihr Herz
machte einen Satz.
„Verzeihung“,
murmelte sie, versuchte, an etwas Unverfängliches zu denken und zog den
Handschuh selber ihren linken Arm hinab. Seine Brust hob sich kaum merklich,
während er ihr zusah. Sie vermutete jedoch, dass ihr Puls nur schneller wurde.
„Könnten
Sie… sich beeilen?“, fragte sie fast vorsichtig, und er sah sie noch einmal
tiefgründig an, ehe sich seine Augen verfärbten. Und dieses Mal war sie fast
darauf vorbereitet. Er griff nach ihrem Handgelenk, ohne sie aus den Augen zu
lassen, und öffnete langsam den Mund. Sie sah seine spitzen Eckzähne im Halbdunkeln
des Zimmers blitzen.
Sie
konnte ihr rasendes Herz nicht verhindern. Aber sie sah eilig weg. Doch als sie
spürte, wie die Spitze seiner Zähne über ihre Haut kratzte, konnte sie es nicht
unterdrücken, ihn anzusehen. Sie sah nur noch das blond seiner Haare vor sich,
und dann zuckte sie zusammen, als sie spürte, wie beide Zähne nahezu
gleichzeitig in ihre Haut sanken. Mühelos durchstießen sie die Haut ihres
Handgelenks, und der Schmerz kam, als er anfing zu saugen.
Ein kehliger Laut verließ ihren Mund, und bevor ihr schlecht
wurde, lehnte sie sich an die Wand zurück. Sie schloss die Augen, denn der
innere Druck, den er in ihr auslöste, als er fast gierig zu saugen begann, war
hart an ihrer Grenze. Seine andere Hand umfasste gnadenlos ihren Arm, und sie hörte
ihn fast stöhnen, während er härter saugte, bis sie wimmerte.
Unter
einem anscheinend immensen Kraftaufwand ließ er von ihr ab. Sie konnte noch ein
letztes glutrotes Leuchten seiner Augen erkennen, ehe sich sein Gesicht wieder
verwandelte, und diesmal war es sein schwerer Atem, der die Stille füllte.
Seine Augen waren weit geöffnet, fixierten sie, und er musste sich mit einer
Hand neben ihrem Kopf an der Wand abstützen.
„Verflucht…“,
murmelte er heiser, ohne sie aus dem Blick zu lassen. Wieder raste ihr Herz.
Sein Blick war elektrisierend, und seine Wut stand so offen in seinem Gesicht,
dass ihr Herz noch einen Satz machte. Er stöhnte unterdrückt. „Puls, Miss
Clark“, knurrte er, und ihr Mund öffnete sich, denn sie war beim besten Willen
nicht in der Lage, irgendwas zu kontrollieren!
Ihr Busen
presste sich eng gegen die Korsage, die sie trug und die ihr die nötige Luft
ohnehin abschnürte. Sein Blick verdunkelte sich, als er plötzlich – ohne jede
Warnung – den Abstand schloss. Sie roch seinen Duft. Betörend und herb traf er
ihre Nase, und seine Hand schlang sich um ihren Nacken, bevor sie sich bewegen
konnte.
Sein Mund
traf ihre Lippen in derselben Sekunde, so dass keine Luft mehr zwischen sie
passen konnte. Der Schock nahm sofort von ihr Besitz, und mit unglaublicher
Kraft schien er sie noch tiefer in die Wand zu drücken, sich noch enger gegen
sie zu pressen, und ihr Puls brach anscheinend gerade den Rekord. Er stöhnte
grollend in ihren Mund und mühelos glitt seine Zunge zwischen ihre Lippen. Sie
schmeckte den verblassten Geschmack von Metall. Von
Blut! Ihrem Blut! Aber es war so irreal, dass es sie nicht mal störte.
Es fühlte
sich an, als würde sie fliegen, als würde sie ihren Körper verlassen, als wäre
sie gefangen in diesem Kuss. Ihr Magen kribbelte, und ihre Hände hoben sich
fast automatisch zu seinen Haaren, zogen daran, brachten seinen Kopf näher an
sich, und dass er ein Monster war, das sie gerade erst gebissen hatte, rutschte
erschreckend weit nach hinten in ihr Bewusstsein.
Knurrend
löste er den Kopf von ihren Lippen, und ihre Hände fielen bewegungslos auf
seine breiten Schultern, spürten den weichen Stoff, während sein Kopf tiefer
wanderte.
Seine
Zunge leckte verlangend über ihren Hals, und plötzlich spürte sie etwas anderes
an ihrem Oberschenkel. Sie nahm an, es war seine Erektion, und noch mehr Hitze
stieg in ihre Wangen.
„Nein!“,
brachte er gepresst hervor, schlug die Faust neben ihrem Kopf gegen die Wand,
und plötzlich lehnte seine Stirn an ihrer. Sie sah hinauf in seine grauen
Augen, die noch dunkel vor Hunger und Lust ihr Gesicht fixierten. „Puls, Miss
Clark!“, knurrte er heiser, und ihr Mund schloss sich sofort. Er war so nahe.
So verdammt nahe, dass sie ihn am liebsten erneut berührt hätte.
Nach
einer endlosen Sekunde stieß er sich mit beiden Händen von der Wand ab und
lehnte keinen Moment später am anderen Ende des Raumes an der Wand, den Kopf in
den Nacken gelegt, die Hände auf die Augen gepresst, und sie zog sich hastig
den Handschuh über ihren bloßen Arm. Sie ignorierte das wenige getrocknete Blut
auf den zwei Einstichwunden.
Oh Gott… oh Gott, oh Gott! Er hatte sie geküsst!
Er hatte
Glück, dass das in den Klauseln vorgesehen war, nahm sie dumpf an.
Von
wegen, er wollte nicht mit ihr schlafen! So unpassend es war, aber Triumpf
erfasste sie.
„Liam?
Die Wölfe kommen.“ Greyson kam zur Tür hinein, und Liam nahm die Hände von
seinen Augen. Der Ausdruck auf Greysons Gesicht wurde finster. Sie konnte nicht
sagen, was er dachte. Sie konnte nicht sagen, ob er die Situation begriff, oder
ob er einfach generell immer sauer auf seinen Bruder war, aber jedenfalls
wirkte er nicht freundlich.
Aber
freundlich war hier sowieso niemand.
Sie
spürte Liams Blick auf sich.
„Ich gehe
alleine. Sie bleibt im Haus“, befahl er rau und ließ sie und Greyson zurück.
~
The Flaw ~
Unwillkürlich
wurde ihr kälter. Sie rieb sich ihre Oberarme, um irgendwas zu tun, während
Greyson sie musterte.
„Er hat dich
gebissen?“ Es war kaum wirklich eine Frage, und die Antwort ging ihn wohl
ebenso wenig etwas an. Er sah sie an wie einen Verräter.
„Was
genau willst du von mir?“ Und es war schwer, ebenso ein Wesen in ihm zu sehen,
wie in Liam. Und es war außerdem völlig anders. Jetzt gerade stand Greyson
Adler, der Quarterback, vor ihr. Nicht Cilian Cunning. Sie musste den Blick
abwenden. Sie würde wohl verrückt werden, würde sie an alten Erinnerungen
festhalten.
„Gar
nichts, Joanna“, sagte er nur. Richtig, sie hatte einen Vornamen. Ihr ging erst
jetzt auf, dass er die letzten Tage selten verwendet worden war. Müdigkeit
schlich sich in ihre Glieder. Sie kam schleichend. „Die Schwäche, die du fühlst
ist normal“, fügte er eine Spur verächtlich hinzu.
„Danke“, gab sie bitter zurück, und wollte nicht zurück in den Teil des Hauses,
wo die anderen waren. Es waren nicht mal Menschen. Ihr fiel wieder etwas ein.
„Wer ist
Lester Leman?“, fragte sie sofort. Greysons Blick war für sie so undeutbar wie der seines Bruders. Zuerst dachte sie, er
würde nicht antworten. Dann wurde sein Blick finster.
„Er ist
Mitglied im obersten Rat. Ich bin sicher, du hast in dem Vertrag über ihn
gelesen“, schloss er, und sie erinnerte sich dunkel an eine Bezeichnung im…
Vertrag. Sie hatte einen Vertrag unterschrieben. Gott!!! Er hatte sie geküsst!
Es kam ihr schon fast ewig lange her vor, dabei war es keine zwei Minuten her!
Ihr Herz
beschleunigte sich. Greyson sah sie spöttisch an.
„Was?“,
wollte sie sofort wissen, und herausfordernd reckte sie ihm ihr Kinn entgegen.
„Nichts“,
entgegnete er wissend, mit nicht minder viel Arroganz wie sein Bruder sie an
den Tag legte.
„Mein
Puls?“, schnappte sie zornig und spürte, wie ihre Wut ihn noch etwas höher
trieb. Greyson atmete langsam aus. „Wieso bist du wütend auf mich?“, entfuhr es
ihr plötzlich. „Du hast nichts unternommen, mich zu retten!“ Eigentlich hatte
sie ihm keine Vorwürfe machen wollen. Sein Ausdruck wirkte nun überrascht
betroffen.
„Darum
geht es nicht“, erwiderte er unwirsch, und sie atmete gereizt aus.
„Nein, natürlich, gerettet werden soll ich nicht. Und was soll das heißen, eine
Vampirin stirbt nach der vierten Geburt? Was für ein
perverser Scheiß soll das sein? Frauen zählen in euren Kreisen wohl einen
Scheißdreck, nehme ich an?“, rief sie wieder, und bei ihm hatte sie nicht
einmal Angst zornig zu werden.
„Du
kannst es nicht vergleichen“, erklärte er abweisend.
„Das ist
alles, was du dazu sagst?“ Jetzt wurde er wütend.
„Du wirst den Vertrag gelesen haben. Du wirst alle deine Chancen abgewogen
haben, Joanna. Wieso fragst du mich?“
„Was?“,
knurrte sie zornig, und ihr wurde wieder wärmer. „Chancen? Meine Chancen wären in etwa was gewesen? Zu
fliehen und wieder eingefangen zu werden? Zu fliehen und ein Jäger zu sein, ein
Vampir oder ein Wolf oder weiß Gott, was es noch für perverse Absonderheiten hier gibt!“, schnappte sie. „Wo siehst du
hier meine Chancen, Cilian?“, benutzte sie zum ersten Mal seinen Namen, und
seine Züge schienen weicher zu werden.
„Es ist nicht
mehr wichtig“, erklärte er und wandte den Blick von ihr ab. „Aber, dass er dich
küsst, ist ein günstiger Faktor“, erklärte er schließlich, während freudlose
Bitterkeit um seine Mundwinkel spielte. Ihr Mund klappte auf, als er sie wieder
direkt ansah. Und sie konnte nicht mal leugnen, was er sagte, denn ihr rasendes
Herz verriet sie schamlos. Er nickte bestätigend, während Hitze in ihre Wangen
stieg.
„Ich…“, begann sie, ohne zu wissen, was sie sagen wollte. „Was soll das
heißen?“, änderte sie die Richtung des Themas, und der breitschultrige Greyson
zuckte gelassen die Achseln.
„Er wird
mit dir schlafen. Deine Macht wird schwinden, und der Vertrag ist nichtig. Oder
du verliebst dich. Dann ist der Vertrag ebenfalls nichtig“, erklärte er
gleichmütig.
„Verlieben?“,
entfuhr es ihr, ehe sie über die Sex-Komponente nachdenken konnte. „Das bricht
den Vertrag nicht. Keine Klausel erwähnt-“
„Sicher.
Jede Allianz kann dich abringen.“
„Durch
Verliebt-sein?“, wiederholte sie skeptisch. „Und in wen sollte ich mich
verlieben?“, ergänzte sie spöttisch. Er sah sie jetzt offen an.
„In
jeden, der das Recht hat, Anführer zu sein. Jede Linie hat vier Erben, davon
die meisten Männer. Es gibt genügend zur Auswahl.“ Ihr wurde klar, was er
sagte.
„Du
sagst, wenn ich mich in dich verliebe ist der Vertrag gebrochen?“ Sie sah ihn
abwartend an.
„Beispielsweise“,
wich er ihr lächelnd aus. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Als wäre sie ein
Stück Vieh, das sich alle eventuell teilen dürften! Sie konnte es nicht fassen.
Und sie konnte nicht glauben, dass ein simples Stück Pergament so viel
bestimmen konnte!
„Woher
soll der Vertrag so etwas wissen?“, wollte sie entnervt wissen, aber er
lächelte breiter.
„Der
Vertrag des Teufels macht keine Ausnahmen“, sagte er nur. Und sie sah ihn an.
„Was?“,
sagte sie nur, denn sie glaubte, sich verhört zu haben.
„Der
oberste Rat?“, erwiderte er mit erhobener Braue, aber sie begriff nicht. Er
verdrehte die Augen. „Er erzählt dir überhaupt nichts, habe ich Recht?“ Ihr
Mund öffnete sich stumm. „Der oberste Rat besteht aus den Teufeln, Joanna. Die
Teufel, die überhaupt Vampire erschaffen haben?“ Dann klappte ihr Mund zu.
„Lester
Leman ist der Teufel?“, entfuhr es ihr heiser, und ungläubig schüttelte sie den
Kopf, wie um eine Albernheit abzutun. Greyson jedoch zuckte nur mit den
Schultern.
„Einer
der Teufel, ja. Ich würde sagen, der umgänglichste“,
fügte er bedächtig hinzu.
Das
konnte nicht wahr sein! Es gab keinen Teufel. Oh Gott… sie wusste schon nicht
mehr, was Mythos und was Wirklichkeit war.
„Ich
werde gehen“, fügte er plötzlich hinzu. Ihr Blick hob sich wieder. Der
Quarterback wollte gehen. Er sah aus wie immer. „Wollte nur sehen, ob du in
Ordnung bist. Das scheint der Fall zu sein.“ Sie sah ihn immer noch an.
Sie
wusste nicht, was er tat, was er wollte – er war ihr ein Rätsel.
„Hat er
dir erzählt, dass er einen Blutsklaven hatte?“, erkundigte er sich plötzlich,
als er sich schon abgewandt hatte. Und sie nickte langsam.
„Hat er
dir erzählt, weshalb es nicht funktioniert hat?“ Sie überlegte, aber… nein, das
hatte er nicht. Begierig sah sie Greyson jetzt an. Er hatte Informationen.
Wahrscheinlich wusste er mehr über Liam als jeder andere sonst. Sie schüttelte
langsam den Kopf.
„Sein
Sklave wurde ihm eine Last, eine Qual. Jemanden für immer an sich zu binden ist
vielleicht nichts für chronische Alleingänger“, mutmaßte er lächelnd. „Und nach
nur zu kurzer Zeit hat er ihn hypnotisiert, wegzulaufen“, endete er ruhig.
„Soweit, bis der Vertrag den Bruch erfasste, bis der Sklave die zulässige
Entfernung überschritten hatte und im selben Augenblick starb.“ Sie spürte, wie
die Kälte zurück in ihren Körper kam. „Er hatte damals noch keine so
ausgeprägte Machtbesessenheit. Er hat den Vertrag verbessert. Und es hat ihn
viel Zeit gekostet.“ Wieder lächelte Greyson. Sehr traurig, und er sah sie an.
„Und noch
etwas…. Mein Bruder ist kein freundliches Wesen, Joanna“, sagte er leise.
„Versprechen sind ihm fremd. Alles, was es dir verspricht, ist im Vertrag
festgehalten. Und nicht, dass du es ändern kannst, aber… er wird die Wölfe
töten. Sollte er dir irgendetwas anderes versprochen haben, sage ich dir, du
solltest dich an Enttäuschungen gewöhnen.“ Ihre Augen weiteten sich.
„Nein! Er
hat es mir versprochen. Es ist eine Bedingung. Er bringt die Wölfe nicht um!“,
widersprach sie fast zu heftig. Und Greysons Blick sagte ihr genau das
Gegenteil. Und Angst erfasste sie sofort. Das konnte nicht stimmen! Er log! Er
musste lügen! Ihre Beine bewegten sich sofort.
„Joanna,
du darfst das Haus nicht verlassen!“, erklärte er warnend, aber sie hörte ihm
nicht zu, während sie zurück in die beleuchteten Räume eilte, während sie
Mengen an staunenden, schönen, zeitlosen Wesen hinter sich ließ und ohne
Umstände zur Verandatür geschritten war. Die Menschen standen am Fenster. Einige
belustigt, einige interessiert, aber ihr war klar, dass sich dort etwas
zutragen musste, was ihr Interesse erweckte.
„Joanna!“,
wiederholte Greyson lauter, aber sie öffnete die hintere Tür.
Und sie
sah noch gerade eben, wie er – verwandelt und grollend – einem riesigen grauen
Hund den Kopf abriss. Ihr Atem stockte als sie die restlichen Überbleibsel
eines Rudels im Garten ausmachen konnte.
„Nein!“,
entfuhr es ihr panisch. Blut spritze quer über den Rasen und Ekel erfasste sie,
ehe sie irgendetwas anderes spüren konnte. Sie drehte sich nach hinten, warf
sich praktisch in Greysons Arme, und Tränen strömten aus ihren Augen. Sie hörte
die Vampire neben sich verhalten lachen, und Greysons Arme schlossen sich fest
um ihren Körper.
„Schon
gut“, murmelte er leise. „Ist schon gut. Sieh nicht hin“, fügte er noch ruhiger
hinzu. Das konnte nicht sein! Er hatte es versprochen! Versprochen! Noch gerade
eben! Ehe er sie gezwungen hatte, dass er sie beißen durfte, ehe er sie geküsst
hatte, als hätte er irgendwelche Gefühle! Als wäre da irgendwas anderes als das
Monster, dass sie gesehen hatte!
Wut
erfasste sie und löste die Tränen so schnell ab, dass sie es kaum fassen
konnte.
Es war
als ginge die Zeit langsamer, als hörte sie ihren Puls deutlicher in ihren
Ohren. Sie spürte ihre Macht wieder. Sie spürte, wie das, was vom Vertrag
bisher unterdrückt worden war, an die Oberfläche zurückkam. Ohne, dass sie es
kontrollieren konnte, stieß sie Greyson mit voller Kraft von sich, so dass er
einige Meter nach hinten flog. Ein kompletter Energieschub ging von ihr aus,
erschütterte das gesamte Haus im Boden, und sie sah aus den Augenwinkeln, wie
die Vampire ängstlich vor ihr zurückwichen.
Sie
drehte sich um und trat zur Tür.
Und
jemand schrie. Jemand schrie und es war unerträglich laut in ihren Ohren.
Und es
war sie selbst.
Sie
schrie.
Neben der
Macht, die durch ihren Körper strömte, spürte sie den unendlichen Schmerz, als
sie den Fuß in blinder Wut nach draußen gesetzt hatte. Sie spürte eine eisige Kälte,
die ihr Herz ergriff, es verlangsamte. Ihr Arm war taub vor Schmerz, aber die
Macht in ihr ließ es zu, dass sie kämpfte. Weiter nach vorne, raus in die
Nacht, zu den felligen Kreaturen, die regungslos am Boden lagen. Lucy…. Tränen verschleierten ihre Sicht,
und mit einem Schrei hob sie den zweiten Fuß über die Schwelle der Veranda, und
in derselben Sekunde, als der Schmerz im Begriff war zu siegen, wie ihre Lunge
einen letzten quälend langsamen Atemzug tun wollte, ehe ihre Luftröhre
zugeschnürt war, spürte sie, wie sie mit vollem Gewicht nach hinten geworfen
wurde, wie sie auf den Boden schlug, und etwas sie nach unten drückte.
„Was… zur
Hölle tust du?“, drang seine zornige, abgehackte Stimme an ihre Ohren. Langsam
pumpte ihr Herz wieder Blut durch ihren Körper. Die Schläge wurden kräftiger,
schneller, und sie konnte die Augen mit Mühe offen halten.
Er hatte
sie geduzt….
Sie
blinzelte träge, während sie wieder zu Luft kam.
„Leman,
was zum Teufel geht hier vor?“, löste er plötzlich den Blick von ihrem Gesicht
und sah nach oben.
„Keine
Beleidigungen!“, befahl der Teufel streng, und sie nahm alles nur verschwommen
war, während sich hier Herz beruhigte und ihre Kraft versuchte, unter ihm
freizukommen. Doch seine Hände hatten ihre Handgelenke umfasst, und sein
Gewicht nagelte sie am Boden fest. Er war schwer, aber nicht unerträglich. Er
war wieder verwandelt, war wieder er selbst, jedoch stieg ihr der beißende
Geruch des Blutes in die Nase, das seinen Anzug getränkt hatte.
„Lucy!“,
brachte sie heiser hervor und bäumte sich auf. Ihr Handgelenk schoss zuckende
Schmerze durch ihren Körper.
„Leman!“,
schrie er außer sich, und schließlich kam der Teufel in ihr Blickfeld, die
Stirn in tiefen Falten und den Ausdruck in seinen dunklen Augen wagte sie als
interessiert zu deuten. Er legte plötzlich seine heiße Hand auf ihre Stirn, und
sie spürte, wie er fest mit ihr verbunden war. Die Schranken zu ihrem Geist
schienen sich zu öffnen. Brennendes Feuer ließ sie keuchend nach Luft
schnappen. Seine Berührung verbrannte sie, wärmte sie komplett von innen auf,
so dass es fast unangenehm war. Feuer vermischte sich mit anderen Bildern, die
sie von ihm empfing, aber nicht deuten konnte.
Ein Mann
hatte den Blick gehoben. Alles ging zu schnell. Es war ein schöner Mann. Er sah
sie direkt an. Seine grünen Augen leuchteten gefährlich und verengten sich als
er sie näher fixierte. Er war umgeben von einem Hitzeflimmern, so dass sie
neben seinen dunklen, welligen Haaren sein weiteres Gesicht nicht ausmachen
konnte.
Dann war
es vorbei. Leman hatte die Hand zurückgezogen.
„Bemerkenswert“,
hörte sie ihn sagen.
„Was ist
bemerkenswert?“, schnappte Liam zornig, und sie musste husten, denn sie hatte
immer noch das Gefühl in Flammen zu stehen, in rußigem Feuer.
„Du
kannst sie loslassen“, entgegnete der Teufel sanft. Widerwillig ließ Liam ihre
Handgelenke los und trat von ihr zurück. Sie setzte sich schließlich auf, rieb
sich die Stirn, und spürte den bekannten Muskelkater durch die immense
Anstrengung, aber… es war besser geworden, stellte sie fest. Ihre Muskeln gaben
nicht sofort unter ihrem Gewicht nach!
„Da war
nichts! Keine Kraft, keine Macht. Da draußen. Ich konnte sie nicht in die
Flucht schlagen.“ Er wandte sich direkt an sie. „Ich konnte es nicht! Sie hätten
mich gerissen, und das wäre schlecht gewesen, ich musste sie töten.“
„Lucy!“,
keuchte sie zusammenhanglos, war von Boden aus auf beide Füße gesprungen, denn
wieder spürte sie Kraft durch ihren Körper pulsieren, zornige Kraft. Liam sah
sie an, als wäre sie giftig, gefährlich – als wäre sie ein Feind.
„Da waren
keine Frauen. Nur männliche Wölfe“, gab er zornig zurück. Sie begriff nicht.
Dann
klärte sich ihr Bick.
„Keine
Frau?“, vergewisserte sie sich jetzt, aber er antwortete nicht und wandte sich
wieder an den Teufel, der sie fast entschuldigend betrachtete.
„Der
Vertrag-“, begann Liam, aber der Teufel schüttelte den Kopf.
„Ich habe
dir gesagt, es ist nicht sicher. Lucius wird sie sehen wollen“, fügte er leiser
hinzu, aber sie verstand ihn dennoch. „Ihre Kraft ist immer noch die ihre.
Komplett. Dein Biss kann sie ihr nicht nehmen.“
„Aber sie
ist gebunden“, gab er gepresst zurück, während er sie wütend anstarrte.
„Ja, sie ist an dich gebunden, so wie es jede sterbliche auch wäre“, erklärte
der Teufel nachdenklich, während er näher kam. „Sehr bemerkenswert, Miss
Clark“, gab er zu bedenken.
„Was
heißt das?“, unterbrach ihn Greyson ungeduldig.
„Das
bedeutet, dass Liam ihr ihre Kraft nicht mit einem Blutvertrag nehmen kann“,
erklärte der Teufel schlicht in seine Richtung.
„Das
heißt, sie… durch einen Biss verliert sie nichts? Es hat keine Auswirkungen?
Das heißt, der Jäger könnte sie auch nach hundert Bissen noch verwandeln?“,
erwiderte Greyson gereizt, und die gesamte Menge an Vampiren wich eine Schritt
nach hinten zurück. Sie betrachtete Liam, der sich abwesend durch die
blutverschmierten Haare fuhr, während der Teufel den Blick nicht von ihr nahm.
„Theoretisch“,
gab er bedenklich zurück.
„Theoretisch?“,
wiederholte Liam aggressiv, und sie schluckte schwer. Das Kleid war so
unbequem, wie es unpraktisch war, und sie würde gerne die Korsage lockern, um
zu atmen. Aber stattdessen stand sie einfach nur zwischen einem Haufen Vampire
und einem Teufel und ließ sich anstarren. Es war kein gutes Gefühl.
„Lucius
hatte eine Theorie“, begann der Teufel nachdenklich. Liam stieß verärgert die
Luft aus.
„Ich will
es nicht hören“, gab er knurrend zurück. „Und am besten findet das dieser
kleine Widerling von Jäger auch nicht heraus. Ich werde sie mitnehmen.“
„Sie kann
dich bekämpfen“, bemerkte Greyson lächelnd, aber Liam fixierte ihn voller Wut.
„Nein.
Sie ist gebunden. Sie kann absolut gar nichts!“, knurrte er zornig. „Miss
Clark?“, wandte er sich an sie, und sie spürte den Befehl in ihrem Körper
lodern.
Er konnte
ihre Macht nicht nehmen…. Diese Worte wiederholten sich in ihrem Kopf. Durch
einen Biss konnte er sie nicht bekommen! Was bedeutete das? Dass sie gehen
durfte? Dass sie jetzt erst recht umgebracht wurde? War er sich sicher?
„Kein
Wort dringt an irgendeine Öffentlichkeit, habt ihr mich verstanden? Kein Wort
an den obersten Rat!“, schnappte er, während er ihr Handgelenk umfing und sie
mit sich zog.
„Sonst
bekommt ihr es mit mir zu tun!“ Hastig fielen die Vampire in eine Verbeugung,
alle außer Greyson, welcher einen relativ zufrieden Blick in ihre Richtung
warf.
Sie ließ
sich von ihm mitziehen, denn mit dem ganzen Kraftaufwand kehrte Schwäche in
ihren Körper zurück. Schlafen, Essen… sie wusste gar nicht, was sie dringender
wollte.
Die Nacht
war still, und die Kälte schlug ihr angenehm ins Gesicht. Er bugsierte sie zum
Wagen, öffnete ihre Tür und wartete, bis sie eingestiegen war. In unmöglicher
Schnelligkeit umrundete er den Wagen, stieg selber ein und startete den Motor
unter lautem Geheul.
„Überall Blut“,
murmelte sie angewidert. Er sah nach vorne, als er den Wagen aus der Auffahrt
fuhr. Er atmete zornig aus, sah sie dann an, und sein Blick wurde eine Spur
weicher.
„Geht es
Ihnen gut?“, erkundigte er sich ungehalten, und sie sah ihn mit trüben Augen
an.
„Nein,
natürlich nicht. Sie müssen halb verhungert sein“, entfuhr es ihm verärgert.
„Wieso sagen Sie es nicht?“, schnappte er, wenn möglich noch wütender. Ihr Mund
öffnete sich perplex, aber er sah wieder stur nach vorne.
„Lucy war
nicht dabei?“, wiederholte sie müde, und er stöhnte auf.
„Nein,
Lucy war nicht dabei. Hören Sie jetzt auf damit? Fast wären Sie gestorben, weil
sie unglaublich stur und uneinsichtig sind!“, schnappte er, und dass dieser
Mann sie vorhin noch geküsst haben sollte, kam ihr unwirklich vor.
„Sie
hatten versprochen-“, begann sie, aber sein wütender Blick ließ sie schweigen.
„Es ging
nicht anders“, knurrte er jetzt. „Zwölf mörderischen Wölfen lediglich das Fell
zu streicheln, ist im Alleingang nicht möglich, Miss Clark“, entfuhr es ihm
gepresst. Sie schwieg. Die Wölfe waren wegen ihr gekommen. Und nicht nur, dass
er fast gestorben war, weil ihre Macht doch nicht in seinem Körper war, nein,
sie hätte sich auch noch fast selber umgebracht, weil sie einen Wolf hatte
retten wollen. Sie schloss die Augen.
Es war
alles verrückt.
„Es tut
mir leid“, murmelte sie schließlich, und sein Blick traf sie überrascht.
„Was?“,
fragte er, als hätte er sich verhört.
„Es… tut mir
leid, dass es nicht funktioniert hat. Mit dem Biss“, fügte sie unwillig hinzu,
während sie ihn nicht ansah.
„Das… tut Ihnen leid?“, vergewisserte er sich erneut, und sie sah, wie sich
sein Körper entspannte. „Miss Clark, Sie sind anders, als ich es gedacht habe.“
Sie wusste nicht, was er damit sagen wollte, aber anscheinend war er nicht mehr
zornig mit ihr. „Sie sollten eigentlich froh sein, dass es anscheinend nicht
funktioniert.“
„Wieso?“,
entgegnete sie müde genug, dass sie ein Gähnen hinter ihrer Hand verbergen
musste.
„Wieso?
Weil ich somit nicht der mächtigste Vampir werden kann“, gab er bitter zurück.
„Und ich weiß nicht, warum es nicht funktioniert. Anscheinend sind Sie noch
besonderer als ich angenommen hatte“, fügte er leise hinzu, während er sie
betrachtete.
Sie
dämmerte langsam in dem beheizten Sitz ein.
Sie sah
aus den Augenwinkeln, wie er schließlich den Blick wieder nach vorne wandte.
Hatte sie
ihm noch geantwortet? Sie wusste es nicht mehr. Ihre Augenlider wurden so
schwer. Selbst mit aller Macht der Welt, würde sie diese nicht aufhalten
können….
~ A little less Conversation ~
Als sie
aufwachte, sah sie den Diener bereits in neben dem Bett stehen. Mit
ausdruckslosem Gesicht stellte er das hochgestellte Tablett über ihren Körper, und sie rieb sich die
Augen.
„Guten
Morgen, Miss. Sie müssen essen“, erklärte er schlicht. Sandford?
War sein Name so? Sie glaubte es zumindest.
„Welcher
Tag ist heute?“, fragte sie sofort. Sie fühlte sich zumindest wieder
ausgeschlafen, aber beim Anblick des Kaffees, der Croissants und der Rühreier
knurrte ihr Magen nur zu laut.
„Es ist
Freitag. Essen Sie jetzt“, wiederholte er freundlich, aber streng. Sie nickte
abwesend, und klärte ihn nicht darüber auf, dass Sie am liebsten erst
Zähneputzen wollte. Er sah sie abwartend an. „Mr
Cunning hat befohlen, dass das erste, was Sie heute tun werden, essen ist“,
fügte er schließlich entschuldigend hinzu, als hätte er ihre Gedanken erraten.
Sie zuckte die Achseln.
„Gut,
dann wollen wir ihn nicht enttäuschen.“ Etwas Bitterkeit schwang in ihrer
Stimme mit. Wie sie ins Bett gekommen war, wusste sie nicht, aber sie trank
gierig den Kaffee und verschlang in fünf Minuten das erste Croissant.
Der
Diener stand schweigsam in einer Ecke des Zimmers. Sie wusste nicht, was sie
sagen sollte, ob sie etwas sagen sollte, und was er ihr antworten würde.
Aber
keine zehn Minuten später in grübelnder Stille öffnete sich ihre Tür sowieso.
„Guten Morgen, Miss Clark. Wenn Sie jetzt aufstehen und sich fertig machen würden?
Frische Handtücher befinden sich in Ihrem Badezimmer. Dr. Cunning erwartet Sie
dann unten“, erklärte Darcy freundlich und war schon verschwunden. Sie schien
einen strengen Zeitplan befolgen zu haben, kaute zu Ende und erhob sich
schließlich. Ein Blick auf die Standuhr im Zimmer verriet ihr, dass es schon
nach elf war! Himmel, wie lange hatte sie denn geschlafen?!
Hastig
lief sie durch das Zimmer. In ihrem neuen Pyjama. Es war ihr peinlich, dass
sein Diener sie so sehen konnte, aber er hatte bereits höflich den Blick
abgewandt.
„Sie
essen um ein Uhr zu Mittag, Miss“, klärte er sie, fast wieder entschuldigend,
auf. Sie sah ihn kurz an, überlegte, dass sie unmöglich in zwei Stunden wieder
hungrig sein konnte, nickte aber, da sie annahm, er handelte auf einen strengen
Befehl hin.
Sie
duschte rasend schnell, rasierte sich halbherzig die Beine und sparte sich das
Haare waschen, denn sie lagen immer noch gut von gestern – obwohl das nach all
den Erlebnissen schwer vorstellbar war. Für sie und ihre Haare zumindest. Darcy
hatte gute Arbeit geleistet.
Sie
wählte ihre Kleidung, ohne groß darauf zu achten, dass es ein Outfit war, was
sie noch nie gesehen hatte. Er musste es ihr besorgt haben. Eine schwarze
Stoffhose, ein blauer, dünner Pullover und wie es schien – zur Abwechslung –
bequeme Schuhe. Der Unterwäsche schenkte sie noch weniger Beachtung, denn sie
spürte die Hitze in ihren Wangen. Sie war schwarz, und mehr beachtete sie nicht
daran.
Ihr Leben
als Sklave.
Sie hatte
viele Fragen. Das war einer der Gründe, weshalb sie sich beeilte. Und sie
wusste nicht, ob er noch wütend war oder nicht. Sie trat zurück in ihr
Schlafzimmer, aber der Diener war bereits verschwunden. Sie musste selber den
Weg in sein Büro finden, ging ihr dumpf durch den Kopf.
Na,
vielleicht konnte sie unterwegs fragen, sollte sie sich verlaufen, überlegte
sie verzweifelt.
Aber sie
hielt sich an die geraden Gänge, bis sie ein Treppenhaus erreichte und einen
Gang fand, der ihr ansatzweise bekannt vorkam. Es vergingen ganze fünf Minuten,
ehe sie schließlich vor den bekannten Flügeltüren angekommen war. Sie
registrierte, dass sich die Dekoration geändert hatte, die Tischdecken, die
Vorhänge, das Bouquet an Sträußen in der Halle.
Während
sie geschlafen hatte, hatte hier wohl reges Treiben geherrscht. Sie klopfte,
doch noch vor dem ersten Klopfen hörte sie seine Stimme.
„Kommen
Sie rein, Miss Clark.“ Sie erinnerte sich, dass er sie gestern geduzt hatte. Er
klang neutral, aber als sie eintrat hob er nicht den Blick. Er war allein. Die
große Standuhr tickte leise, und ein kleines Feuer knisterte im Kamin. „Setzen
Sie sich, bitte.“ Er war über ein Dokument gebeugt. Sie konnte nicht ausmachen,
was es war. Sie kam näher und tat, wie ihr befohlen. Schließlich hob er den
Blick. De grauen Augen musterten sie kurz.
„Ich
nehme an, wir haben einiges zu besprechen“, begann er ernsthaft, legte den
Füller beiseite und faltete die Finger ineinander.
Hatten
sie? Sie sah ihn weiterhin an. Er hatte sie geküsst. Hatte er doch? Oder hatte
sie das nur geträumt? Konnte sie ihn fragen? Wahrscheinlich nicht. Sollte sie
ihn fragen, was das alles jetzt zu bedeuten hatte? Warum der Teufel in ihre
Gedanken blicken konnte oder sie in seine, oder was auch immer? Was es jetzt
hieß, dass der Biss nicht wirkte? Ob sie morgen an ihrem Geburtstag dann
implodieren würde? Sie schwieg, weil sie nicht wusste, ob er weiter sprechen
würde.
„Ich
möchte mich entschuldigen für gestern“, erklärte er nun ein wenig unangenehm
berührt. Er konnte sich also tatsächlich unwohl fühlen. Interessant. Er trug
einen dunklen Pullover und sah nicht so förmlich aus, wie sonst, stellte sie
fest. Seine Haare lagen locker, nicht streng frisiert, und der Ansatz eines
Dreitagebarts erschien auf der unteren Partie seiner Wangen. Er sah großartig
aus. Ihre Finger kribbelten. Die grauen Augen hielten den Blickkontakt
aufrecht.
„Ich
hätte Sie nicht küssen dürfen“, fügte er schlicht hinzu, und sie spürte einen
Stich in der Magengrube. Oh. Ach nein? Sie senkte sofort den Blick. „Das war
dumm von mir gewesen.“
„Es ist
nichts passiert“, gab sie hastig zurück, ohne ihn anzusehen.
„Es hätte vieles passieren können.“
„Das
macht doch ohnehin nichts mehr, oder?“ Sie hob den Blick ein winziges Stück, um
zu sehen, wie er reagierte, aber seine Mundwinkel zuckten nicht. Sein Ausdruck
war nicht freundlich.
„Es macht nichts mehr?“, wiederholte er langsam ihre Worte, als müsste er
überlegen, was sie damit meinte.
„Na ja, ich…“
„Sie
denken, weil der Biss wirkungslos geblieben ist, könnte ich Sie einfach über
meinen Schreibtisch werfen, und mit Ihnen machen, was mir beliebt, wann immer
mich ihr Puls dazu reizt?“, warf er kritisch ein, und ihr Herz machte einen
heftigen Satz bei seinen Worten. Seinen ehrlichen Worten, die er, ohne rot zu
werden, und ohne Scheu zu ihr sagen konnte. Ihr Blick senkte sich wieder.
„Wie dem
auch sei“, wechselte er gereizt das Thema. „Ich bin mir nicht sicher, was jetzt
passiert. Allerdings…“ Er schwieg unwillig.
„Was?“,
fragte sie. Gott, sie hatte die schlimmsten Befürchtungen! Kam sie jetzt zu seinem
Bruder? Wurde sie jetzt verwandelt? Hatte jetzt jeder ein Anrecht auf sie?
Wurde sie umgebracht? „Allerdings was?“ Sie sah ihn ängstlich an. Er fuhr sich
schließlich durch die Haare.
„Keine
Angst, Miss Clark. Sie haben einen Vertrag unterschrieben und gehören noch
immer rechtmäßig mir“, erklärte er so simpel, als wäre es überhaupt nicht
verwerflich, und als hätte er ihre Gedanken erraten.
„Mr Cunn-… au!“ Sie erschrak so
heftig über den plötzlichen Schmerz, den sie den Morgen über völlig vergessen
hatte. Wieder wurde sie wütend. „Wieso funktioniert Ihre Folter, wenn Ihr Biss
nichts bewirken kann?“, fuhr sie ihn plötzlich an, sich dem Schmerz jetzt
vollkommen bewusst. Er hob eine Augenbraue.
„Folter?
Es ist keine Folter. Wenn Sie hörig sind, haben Sie keine Schmerzen“, erklärte
er gleichmütig.
„Das ist
Gehirnwäsche“, unterstellte sie und war froh, jetzt gerade keine Angst mehr zu
haben.
„Miss
Clark“, begann er gedehnt, aber sie war wütend.
„Was?“, schnappte sie beleidigt. Jetzt hoben sich seine Mundwinkel, und er
stand auf. Sofort setzte sie sich aufrechter hin, abwartend, bereit. War sie zu
weit gegangen? Er trug Jeans, registrierte sie am Rande ihres Bewusstseins. Das
war neu. Und es sah verdammt sexy aus. Sie schüttelte den Gedanken ab. Er hatte
sich ja schon entschuldigt, ihr zu nahe gekommen zu sein. Passierte das also
jedes Mal, wenn ihr Puls sich erhöhte? Schon allein durch seinen Anblick spürte
sie, wie ihr Atem sich beschleunigte.
„Heute
wird… Besuch eintreffen.“ Er betonte
das Wort allerdings, als wäre es das komplette Gegenteil.
„Besuch?“,
wiederholte sie, mit der Vorahnung, dass dies etwas Schlechtes bedeuten musste.
Er ruckte unwirsch mit dem Kopf. Er war soweit über ihr, dass sie sich
automatisch erhob. Er betrachtete jetzt ihre Erscheinung.
„Blau
steht Ihnen auch hervorragend.“ Fast klang er überrascht.
„Danke…
für die Kleidung, Mr. – hmmm… Liam“, sagte sie heftig, ehe der Schmerz sie wieder überrollte.
„Gewöhnen
Sie sich einfach an meinen Vornamen“, schlug er sanfter vor als er plötzlich
vor ihr stand. Seine Augen waren unglaublich eindrucksvoll, stellte sie am
Rande ihres flatternden Bewusstseins fest.
„Sie… sagen meinen Vornamen auch nicht.“
„Ich bin
auch Ihr Herr“, erklärte er lediglich, schob die Hände in die Taschen seiner
Hose, und sah sie wieder direkt an. „Puls, Miss Clark“, mahnte er still, und
sie schluckte schwer, als sie den Blick abwandte. „Ich frage mich, ob es Furcht
ist, die Ihren Puls in die Höhe schnellen lässt, wenn ich mich Ihnen näher“,
fügte er bedächtig hinzu und ließ sie nicht aus den Augen. Die Röte musste ihr
Gesicht mittlerweile sprengen, und sie sah überall hin, nur nicht in seine
Richtung.
„Sie
irritieren mich. Das ist alles“, gab sie gepresst zurück. „Was für Besuch?“,
ergänzte sie heiser, um das Thema zu wechseln. Er lehnte sich an die
Schreibtischkante, was nicht viel besser war, denn er war immer noch keinen
Meter von ihr entfernt. Sie stand wie versteinert vor ihm.
„Er ist…
Lesters Bruder“, erklärte er bitter. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn doch
wieder ansehen musste.
„Ein Teufel?“, fragte sie sofort. Er hob den Blick. Dann trat Erkenntnis in
seine Augen.
„Richtig. Sie hatten Gelegenheit mit Cilian zu sprechen“, fiel ihm konsterniert
wieder ein, und sie fühlte sich ertappt, so dass ihre Wangen erneut
aufflammten.
„Also
stimmt es?“, flüsterte sie.
„Ich
glaube nicht, dass er sich selbst so nennt“, erwiderte er schließlich. „Lucius
ist…“ Und sein Ausdruck wurde, wenn möglich, noch grimmiger. „Sie werden ihn
kennen lernen, Miss Clark. Sie dürfen sich ein eigenes Bild machen, aber
vergessen Sie nicht, dass Sie mir zugeschrieben sind.“
„Wieso
sagen Sie das?“, fragte sie sofort.
„Lucius
hat die Fähigkeit… Frauen vergessen zu lassen, was sie wissen sollten“,
erwiderte er, wie immer kryptisch, und sie sah ihn mit großen Augen an.
„Ehe er
kommt…“ Jetzt wurde er wieder sehr ernst. „Ich werde es noch einmal
ausprobieren“, erklärte er, und ihr Atem gefror.
„Jetzt?“,
flüsterte sie, und er nickte offen.
„Oder
haben Sie etwas anderes vor?“ Und sie wusste nicht, ob er einen schlechten
Scherz machte. Wahrscheinlich schon. Sie sah ihn also nachdenklich an.
„Sie denken… es könnte funktionieren?“
„Ich
denke, ich muss ohnehin etwas zu mir nehmen, und wieso nicht noch einmal
testen, ob es funktioniert“, gab er schlicht zurück. Etwas zu sich nehmen, dachte sie ängstlich. Richtig. Er ernährte
sich wohl von Blut…. „Sie haben gegessen, geschlafen, Sie sind geduscht. Ich
denke, einem Biss steht nichts im Wege.“ Und wie selbstverständlich er so etwas
sagte!
Ergeben
schob sie ihren Ärmel hoch, aber er griff sofort nach ihrem Handgelenk.
„Ich
denke, ich werde eine andere Stelle wählen.“
Sie würde
ohnmächtig werden! Dieses Mal definitiv! Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und
sie konnte den Blick nicht von seinem schönen Gesicht abwenden.
„Es sei denn natürlich, Sie und Ihr Puls machen es mir unmöglich“, bemerkte er
säuerlich, und sie sah, wie seine Augen dunkler wurden. Sie schloss verzweifelt
die Augen.
Vielleicht
sollte er sie hypnotisieren. Vielleicht wäre es besser. Vielleicht!
„Hypnose?“,
schlug sie also heiser vor, und seine Mundwinkel hoben sich.
„Nein.
Ich glaube, ich mag es, wenn Sie merken, was Ihnen passiert“, erwiderte er rau,
und sie war sich nicht sicher, was er damit meinte, aber es erregte sie
ungemein.
„Puls,
Miss Clark“, ergänzte er mit einem amüsierten Zucken seiner Mundwinkel, und sie
atmete tief ein und wieder aus.
„Wo?“,
fragte sie also mit geschlossenen Augen. Und sie erinnerte sich an die
erlaubten Stellen, und keine davon kam
ihr geeignet dafür vor, ihren Puls zur Ruhe zu bringen.
Als er
nichts sagte, öffnete sie die Augen einen Spalt. Er betrachtete ihren Körper
mit der Neugierde eines Jungen.
„Ziehen
Sie Ihre Hose aus, Miss Clark“, sagte er schließlich, und ihr Mund öffnete
sich.
Oh Gott! Nein!
„Miss Clark?“ Sie musste ihn angestarrt haben, als
wäre sie verrückt geworden.
„M…meine
Hose? Sind Sie sicher? Wäre es nicht vielleicht…“ Doch sein eisiger Blick ließ
sie verstummen. Er näherte sich ihr, hob den Saum ihres Pullovers an, und seine
Finger öffneten bereits kundig ihren Reißverschluss. Sie hörte ein Knurren
seinem Mund entweichen.
„Puls,
Miss Clark, oder ich vergesse mich“, presste er hervor, und sie schloss erneut
die Augen. Er ließ von ihr ab.
„Ziehen
Sie Ihre Hose aus, und kommen Sie her“, befahl er schließlich, sie öffnete die
Augen, und sah ihn relativ ungeduldig hinter seinem Schreibtisch Platz nehmen.
„Ich denke mir, wenn Sie sitzen, ist der Schwindel erträglicher.“
Und
zitternd, fahrig und völlig überfordert zog sie die Schuhe aus, stolperte aus
den Hosenbeinen und machte, nur noch mit ihrem Pullover, Slip und Socken
bekleidet, den Weg zu seinem Schreibtisch.
„Wenn Sie
die Socken auch noch ausziehen würden?“ Und wieder blitzten seine Augen
amüsiert.
„J…ja,
sicher“, murmelte sie, die Wangen so heiß, dass man bestimmt ohne Probleme
Spiegeleier darauf braten konnte. Nun schlich sie, unten herum nur noch mit ihrem
Slip bekleidet zu seinem Schreibtisch. Gott, es war ihr so unglaublich
peinlich, und sie fühlte sich neben ihm unglaublich unscheinbar und hässlich.
Das waren blöde Gedanken ihres Unterbewusstseins, aber… sie konnte es nicht
verhindern. Schließlich blieb sie neben ihm stehen. Er ergriff ihre Hand, zog
sie weiter nach vorne, dass sie zwischen ihm und dem Schreibtisch gefangen war.
„Setzen Sie sich, Miss Clark“, befahl er ruhig, und seine Augen funkelten
ungeduldig. Sie roch jetzt sein Parfum. Das machte es nicht besser, sich zu
konzentrieren.
Sie
setzte sich auf die kühle Schreibtischkante, und ließ zu, dass seine schönen
Hände sie weiter nach hinten schoben. Er rückte näher an den Schreibtisch, und
wenn sie nicht sprechen würde, dann wusste sie, dass sie wahrscheinlich
explodieren würde.
„Haben… haben Sie mich gestern ins Bett gebracht?“, piepste sie mit einer
Stimme, die unmöglich ihre sein konnte.
„Ja, ich
habe Sie nach oben getragen“, antwortete er, ohne sie anzusehen, während er
ihren Fuß auf seinen Oberschenkel stellte. Oh Gott, oh Gott! Nein, nein! Das
passierte nicht! Gut, dass sie geduscht war! Gut, dass sie die Einsicht hatte,
ihre Beine zu rasieren! Gut, dass sie keine hässlichen, blauen Flecken hatte
oder Sommerknie! Oh Gott, oh Gott!!!!
„Miss
Clark?“ Er hatte den Blick gehoben. Von unten sah er sie an, die Augen dunkel
und tief. Sie schluckte schwer.
„J…ja?“,
flüsterte sie, unfähig, sich zu bewegen.
„Puls“,
bemerkte er leise. Sie schluckte erneut. Was erwartete er denn bitte? Dass es
sie unbeeindruckt ließ, dass ein göttlicher schöner Mann, vor ihr saß, ihren
Oberschenkel in der Hand, nur Zentimeter mit seinen Lippen davon entfernt?!
„Ok…“,
erwiderte sie lediglich und schloss die Augen. Das konnte doch nicht passieren!
Wieso ließ sie es zu? Sie presste ihre Lippen zusammen, hielt die Luft an,
solange sie konnte, und nichts passierte.
„So
schlimm?“, hörte sie schließlich seine gereizte Stimme. Sie öffnete die Augen
und entließ die Luft in einem lauten Atemzug.
„Was
denken Sie?“, schnappte sie aufgeregt. „Ich soll nicht atmen? Ich soll keinen
Puls haben? Es soll mir einfach nichts ausmachen, dass sie vor mir sitzen, wo
ich halbnackt bin, und Sie gleich Ihre Zähne in meinen Oberschenkel schlagen?“,
krächzte sie, und wusste, ihr Puls schnellte geradezu nach oben.
„Schlagen?“, wiederholte er fast
amüsiert, und senkte plötzlich seine Lippen auf ihre Haut. Es war wie ein
elektrischer Schlag. Er küsste die Innenseite ihres Oberschenkels mit
geschlossenen Augen.
„Was… was tun Sie?“, fragte sie, unfähig sich zu bewegen, oder wegzusehen. Sie
konnte nur auf den perfekten Mann zwischen ihren Schenkeln hinab starren, und
seine Augen öffneten sich, sein Mund immer noch auf ihrer Haut.
„Ich
möchte, dass sie sich entspannen, Miss Clark“, murmelte er weich gegen die Haut
ihres inneren Oberschenkels. Entspannen? Machte er Witze? Wieder küsste er ihre
Haut mit seinen unglaublichen Lippen. Oh Gott! Oh Gott!
„Mr Cun..- hmm-au!“
entfuhr es ihr, und sein Blick hob sich zu ihrem Gesicht. Und das unfaire war,
es schien ihm überhaupt nichts auszumachen! Sie starb tausend Tode, und für ihn
war es wahrscheinlich ohne eine Bedeutung. Sie spürte Tränen der Verzweiflung
in sich aufkommen. Er sah sie weiterhin an.
„Wollen Sie
wirklich von mir hypnotisiert werden?“, fragte er schließlich, und sie
schnappte nach Luft.
„Nein“,
entfuhr es ihr leise. „Aber ich kann nicht… mein Puls…“
„Vergessen Sie Ihren Puls“, unterbrach er sie streng.
„Aber
ich…“
„Sie
vergessen die Klauseln. Ich darf Sie küssen. Ich darf Sie auch oral
befriedigen, wenn ich es will. Natürlich würde ich es lieber nicht tun müssen,
aber…“
Oh Gott!
Er fand es abstoßend. Er fand sie abstoßend! Ihre Beine schlossen sich
automatisch, und sie ignorierte den plötzlichen Schmerz des Ungehorsams. Ihre
Augen hatten sich wieder geschlossen, damit sie nicht weinen würde! Dachte er,
ihr machte es Spaß ein Sklave zu sein? Das konnte er nicht wirklich denken!
„Wie wäre es, wenn Sie dann einfach nicht meinen Puls zum Kochen bringen, und
sich auf mein Handgelenk beschränken? Dann ersparen Sie sich das große
Bedauern, mich… zu… küssen, oder sonst etwas zu tun!“, brachte sie hastig
hervor, rutschte von der Kante, stellte sich vor ihm und reichte ihm ihr linkes
Handgelenk. Er sah sie überrascht an. Überraschung stand ihm genauso gut wie
jeder andere Ausdruck.
„Miss
Clark, was tun Sie da?“, fragte er also. „Ich scheine mich nicht richtig
auszudrücken, denn Sie missachten alle meine Befehle.“ Er war wütend. Er schob
sie mit herrischer Bewegung zurück auf die Tischplatte. Er spreizte ihre Beine
ohne sie aus dem Blick zu lassen. Ihr Herz raste wieder.
Und er
sagte nichts weiter, stellte ihren Fuß zurück auf seinen Oberschenkel, und
dieses Mal leckte seine Zunge über ihre Haut. Sie hörte wie er hart die Luft
einatmete. Ihre Finger krallten sich panisch um die Tischkante. Puls hin oder
her… sie konnte einfach nicht mehr!
Sein
Gesicht verwandelte sich. Sie erkannte das helle Rot seiner Augen im
Tageslicht.
Es würde weh tun! Sie wusste es. Seine Atmung änderte sich. Sie wurde
flacher, gepresster, als müsse er sich beherrschen. Ihr Körper kribbelte, ihr
Handgelenk mit seinem Namen summte angenehm, und seine Augen hatten sich
geschlossen.
„Es ist
schwer“, flüsterte er gegen ihre Haut. „Ihr Duft ist… kaum zu ertragen“, fügte
er gepresst hinzu. War das gut? War das schlecht? Stank sie? Oder meinte er…
sie roch gut?
Sie war
verwirrt, und sie wusste, ihr Puls musste ihn irritieren. Zumindest ihr Puls.
Sie
spürte seinen Atem an der Innenseite ihres Oberschenkels. Er hatte seinen Mund
geschlossen, noch schien er sie nicht beißen zu wollen.
Oder…
nicht zu können. Er schüttelte sanft den Kopf, und die dämonischen Züge
schmolzen zurück und zeigten wieder sein wunderschönes Gesicht.
Übergangslos
presste er seinen Lippen gegen ihre Haut, schien den Duft einzuatmen, und seine
Hand strich langsam über ihren Schenkel nach oben.
Er wirkte
komplett überfordert und unbeherrscht, als sich sein dunkler Blick zu ihrem
Gesicht hob. Sie spürte, wie es in ihrer Bauchmitte angenehm zog, wie sich ihre
Brust schneller hob und senkte.
„Miss Clark, was machen Sie mit mir?“, fragte seine raue Stimme tatsächlich,
ohne seine Aufgewühltheit zu verbergen, und mit der
Neugierde eines Jungen wanderte seine Hand, mit schönen langen Fingern und
akribisch gepflegten Nägeln, höher. Er schob den Saum ihres Pullovers achtlos
nach oben, und der breite silberne Ring auf seinem Zeigefinger lag kühl auf
ihrer warmen Haut. Sie hielt die Luft an, als seine Fingerspitzen über ihren
flachen Bauch strichen.
Sie
konnte nicht mehr! Zumindest ihr Unterbewusstsein fiel soeben in Ohnmacht!
Alles in ihrem Körper kribbelte! Absolut alles! Sogar ihre Zehen!
Und er
erhob sich fast ungeduldig, schob den Pullover noch höher über den schwarzen
BH, der auch von ihm geschenkt war, und er sog ihren Anblick in sich auf.
Sie
fragte sich, ob er überhaupt atmen musste, aber seine Brust senkte sich genauso
schnell wie ihre.
Er stand
zwischen ihren Beinen, und mit einer schnellen, harten Bewegung, hatte er beide
Hände unter ihre Schenkel gelegt und zog sie näher zu sich.
Sein
Blick war so anders, jagte ihr Millionen Schauer den Rücken hinab, und er
wirkte unbeherrscht, unkontrolliert und sah vor allem nicht so aus, als bedaure
er nur eine Sekunde von dem, was er tat! Wie konnte er es dann später so gut?
Wie konnte er all das bereuen, wo sie jetzt nicht mal die Kraft hatte, ihn
aufzuhalten, fragte sie sich verzweifelt, während sie nichts weiter tun konnte,
als ihn mit klopfendem Herzen anzusehen, ihm zuzusehen, wie er sie komplett
verzauberte.
Beide
Hände legten sich verlangend um ihre Taille, während er sie langsam mit seinem
Gewicht auf den Schreibtisch drückte. Ihr Rücken lag nun auf Papier, Stiften
und sonstigen Büroartikeln, und es könnte ihr kaum egaler sein. Sein Kopf war
über ihrem, seine Hände lagen um ihre Taille, und sie glaubte, es wieder zu
spüren. Seine harte Erektion an ihrer Mitte. Sie schluckte schwer, denn ihr
Mund war komplett trocken geworden, während nur das Geräusch seines
unregelmäßigen Atems im Zimmer hing.
Er senkte
schließlich den Kopf. Oh Gott! Seine Lippen fuhren verlangend über ihren Hals,
während seine Finger von ihrer Taille aus höher wanderten, über ihre
Bauchdecke, ihren Brustkorb, und unter dem BH Halt machten. Seine Zunge fuhr
zwischen ihre beiden Schlüsselbeine, und sie spürte erneute Schauer. Seine
Lippen sanken tiefer, über den hochgeschobenen Pullover und hinab zu ihren
Brüsten. Er küsste sie auf den Punkt zwischen ihren Brüsten, und sie glaubte,
zu sterben. Seine kühlen Berührungen verbannten sie völlig! Ihre Hände lagen
angespannt neben ihren Seiten auf dem Schreibtisch, denn sie wagte nicht, sich
zu bewegen.
„Verdammt“,
murmelte er rau, und sie hörte seinen Akzent das erste Mal wieder so stark, wie
bei den ersten Malen als sie ihn hatte sprechen hören. Es war unglaublich
erregend.
„Mr… Cunning“, sagte sie fest, während der süße Schmerz
ihren Körper erfasste. Sie hatte es sagen müssen! Sie hatte sich auflehnen
müssen! Sie wollte den Namen sagen, den ihr Handgelenk trug. Ihr Herz raste
schneller, während es die Schmerzen kompensierte, die von ihrem Handgelenk
ausgingen.
Schon hob
sich sein Kopf, bis er über ihrem Gesicht verharrte.
„Joanna,
Sie sollen mir gehorchen“, entfuhr es ihm ungehalten, und dass er das sagte, wo
er zwischen ihr lag, sie nur mit ihrem Slip bekleidet und dem schwarzen BH,
erregte sie nur noch mehr. „Zur Strafe sollte ich jeden Tropfen Blut aus Ihrem
Körper saugen!“, fuhr er bedrohlich fort, aber seine Augen sagten ihr, dass er
das wohl nicht vorhatte. Sie verfingen sich an ihren Lippen, ehe sie tiefer
wanderten. Er presste sich gegen sie als er erneut ihren Hals küsste. Er küsste
die Stelle, wo ihr Puls hämmerte. Sie hörte ihn unterdrückt stöhnen, spürte
sogar wie er härter wurde, und als sie spürte, wie ihr Slip tatsächlich feucht
wurde, verwandelte er sich. Im Bruchteil einer Sekunde.
Seine
Zähne sanken mühelos in ihren Hals, während sie erschrocken aufkeuchte.
Es war
unglaublich! Sie spürte, wie ihr Blut ihren Körper verließ, wie er es aus ihrem
Körper saugte, mit großem Verlangen, anscheinend ohne aufhören zu können. Wie
sich eine Hand um ihren Hals schlang, ihn fixierte, und wie die andere sehr
plötzlich tiefer wanderte, wie seine Finger mühelos in ihren Slip rutschten und
auf die verräterische Nässe trafen. Ein Grollen verließ seinen Mund, so tief,
dass ihr Körper vibrierte, und sie konnte gar nichts mehr.
Sie lag
unter ihm, ließ ihn gewähren, während Sensationen ihren Geist befielen. Sie
presste sich gegen seine Hand, gab sich völlig hin, gab alle Deckung auf und kehlige, unmenschliche Laute rangen sich aus ihrem eigenen
Mund, während er ungeduldig einen Finger in sie stieß und sein Daumen sanfte
Kreise über ihrer empfindlichsten Stelle zeichnete.
Ihr Atem
ging abgehackt, während sie kaum verhindern konnte, was passieren musste!
Aber so
etwas hatte sie noch nie gespürt! Noch niemals in ihrem gesamten Leben!
Sie
fühlte keine Scham, als ihr Stöhnen lauter wurde, denn Wellen erfassten ihren
Körper, sammelten sich in ihrer Mitte. Ihre Kraft baute sich ohne Vorwarnung in
ihr auf, und als die Lichter in ihrem Kopf angingen öffneten sich alle
Schranken zu ihrer Macht.
Die Welt
schien zu beben. Komplett.
Der
Orgasmus war so unglaublich. Sie spürte ein Knacken unter sich, als der
Schreibtisch brach, spürte, wie ihre gesamte Kraft Liam nach hinten warf, und
sie sich schließlich zitternd wieder beruhigte.
Es kam
ihr vor wie eine Ewigkeit, dass sie sich auf ihre Ellbogen stützen konnte.
Sie
blinzelte träge.
Oh du lieber
Gott! Ihre Kraft hatte ihn zurück in seinen Stuhl geworfen. Sein Gesicht war
wieder normal, aber seine Augen waren geweitet, die Iris dunkelgrau. Sofort
fuhren ihre Hände zu ihrem Hals, dort, wo er sie gebissen hatte. Sie spürte die
beiden kleinen Wunden.
Und ihre
natürliche Scham kehrte zurück. Oh mein Gott! Was hatte er gerade getan? Sie
zog sehr hastig ihren Pullover gerade. Was hatte sie gerade getan?
„Ich…“,
begann er, ehe er abrupt innehielt, den Kopf alarmiert nach oben reckte und
Bitterkeit auf seine Züge trat. Er erhob sich aus dem Stuhl und sah sie an.
„Der Besuch hat schlechtes Timing“, erklärte er sehr plötzlich, und sie starrte
ihn an.
„Er… ist
hier?“, flüsterte sie panisch, und er ruckte mit dem Kopf.
„Am
besten ziehen Sie sich an“, erklärte er ungerührt, als wäre nichts passiert!
Wie schaffte er das? Wie schaffte dieser Mistkerl so etwas? Sie spürte den
Schmerz des Ungehorsams und kniff die Augen zusammen. Was dachte er?! Dass sie
hier so sitzen bleiben würde?
Sie
rutschte vom Schreibtisch, und ihr Mund öffnete sich schockiert, als sie den
langen Riss durch das dunkle Holz bemerkte. Oh großer Gott! War sie das
gewesen? Sie hatte seinen Schreibtisch kaputt gemacht. Mit ihrem Orgasmus.
Sie
glaubte nicht, dass sie noch röter werden konnte. Sie glaubte nicht, dass sie
sich mehr schämen konnte, als sie es jetzt schon tat.
Er sah
aus wie immer. Es war ihm nicht anzusehen, dass er sie gerade… dass sie gerade…
oh du lieber Gott!!! Sie schüttelte den Kopf, um es zu verdrängen und zog sich
hastig die Socken und die Hose wieder an. Sie kam sich schmutzig vor. Sie kam
sich ausgenutzt und dumm vor. Da war es vielleicht nur gerecht, dass sie seinen
Schreibtisch kaputt gemacht hatte, überlegte sie wütend. Und sie ignorierte,
dass so etwas noch kein Mann bei ihr jemals gemacht hatte! Sie hatte Lucy von
Sex und Vorspiel und all diesen Dingen erzählen hören, aber… dass ihr das
selber passieren würde… das hatte sie sobald nicht kommen sehen!
Und es
war absolut unglaublich gewesen! So unglaublich, dass sie es kaum schaffte ihn
wieder anzusehen, ohne dass ihm ihr Blick verriet, wie unglaublich es gewesen
war!
Wenn das
schon so unglaublich war, überlegte sie dumpf, wie wäre dann Sex mit ihm? Gott,
sie wollte es sich gar nicht vorstellen, denn ihr Herz jagte jetzt ja immer
noch!
Sie stieg
in ihre Schuhe, fuhr sich fahrig durch das Haar und sah ihn wieder an. Er
betrachtete sie mit einem Ausdruck, der ihr Sorge
bereitete. Oh, er war selber schuld! Sie öffnete den Mund, um genau das zu
sagen, aber es klopfte in der Sekunde.
Sein
Blick verließ unwillig ihr Gesicht, denn er schien wohl selber noch etwas zu
sagen zu haben, aber seine Stimme klang gewöhnlich als er sprach.
Oh Gott! Hastig fuhr sie sich noch einmal
über die Haare, strich sie nach vorne über die Schulter, um die Wunde zu
verbergen. Gott, wie rot waren ihre Wangen wohl, überlegte sie? Jeder müsste
erraten können, was gerade passiert war, oder nicht? Sogar ein Blinder ohne
Krückstock, nahm sie an.
„Herein.“
Die Tür
öffnete sich lautlos, und ihre Augen weiteten sich. Das war der Mann. Der Mann
aus den Gedanken von Lester Leman!
Und er
lächelte jetzt.
„Miss
Clark, nehme ich an. Schon eingelebt?“, fragte er mit einem feinen Lächeln, angenehm
tiefer, rauchiger Stimme, und sie konnte nicht verarbeiten, was er gerade
gesagt hatte. Sie war zu beschäftigt ihn anzusehen. Über den schweren
Lederstiefeln trug er eine schwarze Lederhose, viel zu eng, als dass sie die
offensichtliche Beule in seiner Hose hätte übersehen können, ein rotes Hemd,
und eine kurze Lederjacke darüber. Seine braunen Haare fielen ihm wellig auf
die Schulter und ein kurzer Bart zeichnete sich auf dem Gesicht ab. Seine Augen
waren leuchtend Grün, und seine ebenmäßig weißen
Zähne wurden durch sein unglaubliches Lächeln entblößt.
Ein
sanfter Geruch umwehte ihn. Was war es… sie kannte es doch…?
Schwefel?
War es das?
Sie
wusste nicht, wie viele unglaublich gutaussehende Männer sie noch würde
ertragen können!
„William“,
begrüßte er immer noch lächelnd den Mann hinter ihr, der sie gerade zum Kommen
gebracht hatte, während seine Zähne in ihren Hals geschlagen waren.
„Lucius“, erwiderte Liam die Begrüßung unnahbar.
„So sieht
man sich wieder. Ich kann es nicht erwarten, ein paar Worte mit deiner… Sklavin zu reden.“ Und er betonte das
Wort wie etwas sehr lächerliches. „Wie fühlt es sich an, zu voreilig gehandelt
zu haben?“, wollte er plötzlich mit einem sehr künstlichen Grinsen wissen, das alle seine perfekten Zähne entblößte. Sie wandte sich
an Liam. Aber sein Ausdruck gab nichts preis. „Aber was rede ich…? Voreilig ist
doch genau deine Schiene, richtig?“ Es fand anscheinend eine Konversation
statt, der sie nur als ausgeschlossene Dritte beiwohnen konnte. Denn sie
begriff die Worte des Mannes nicht.
„Ich
dachte, du möchtest mit ihr sprechen. Für Beleidigungen bist du doch viel zu
beschäftigt“, gab Liam zurück, und sie wusste nicht, wer ihr mehr Angst
einjagte. Aber Liam würde ihr doch bestimmt nicht gestatten allein mit diesem…
Mann zu reden?!
„Wenn du
erlaubst?“ Und es klang kaum wie eine Frage aus dem schönen Mund des bösen
Mannes.
Denn wenn
sie ein Bild vom Teufel hatte, dann sah er wahrscheinlich so aus wie dieser
Mann. Zu gefährlich als dass man wirklich auch nur eine Sekunde alleine mit ihm
sprechen sollte. Aber Liam erwiderte ihren Blick nicht, fixierte den Mann im
dunklen Leder noch eine Sekunde länger voller Abscheu und Unwilligkeit, und
ruckte dann mit dem Kopf.
„Sicher“,
gab er kalt zurück. Nein! Er ließ sie gehen! Sie schluckte schwer. Oh Gott!
Fast panisch wandte sie sich zu dem Mann um, der ein weiterer Teufel war.
Verglichen mit ihm war Lester die Sparversion! Ungefährlich und ungelenk,
dachte sie panisch. Sie wusste nicht, was diesen Mann hier umgab, aber sie fürchtete
sich schon jetzt davor, es herauszufinden.
„Begleiten Sie mich dann ein Stück, Miss Clark?“ Ihr Name ging ihm leicht von
den Lippen. Seine Augen warteten geduldig, bis sie einmal nickte, denn was
sollte sie sonst tun?! Dann wartete er, bis sie auf ihn zugekommen war. Er warf
noch einen letzten Blick auf Liam, ehe sich seine leuchtend grünen Augen auf
den Schreibtisch senkten.
Wieder
spürte sie eine unglaubliche Hitze in sich aufsteigen. Seine Mundwinkel zuckten
sehr kurz, und Grübchen gruben sich in seine schönen Wangen. Sie war ihm zu
nahe! Sie spürte es sofort! Und sie roch den Geruch jetzt stärker. Ja,
Schwefel. Definitiv!
Und schon
bugsierte er sie raus aus Liams Büro. Gott, sie wollte nicht mehr! Und… was
wollte der Teufel höchstpersönlich von ihr? Oh Gott!
Sie
wollte nichts mehr erleben. Sie hatte genug gesehen, aber schweigend lief sie
neben ihm her. Anscheinend hatte er ein bestimmtes Ziel vor Augen.
Sie
glaubte allerdings, Liam würde es nicht zulassen, dass sie sich in Gefahr
begab. Sie war sich zumindest fast sicher, dass er das nicht tun würde. Sehr
sicher. Oder… fast sehr sicher.
~
The Devil’s Tale ~
Er sagte
eine Weile gar nichts. Er hatte sie nach draußen in den Garten geführt, wo vereinzelt
hypnotisierte Gärtner neue Pflanzen in die Beete pflanzten. Sie erkannte das
unnatürliche goldene Schimmern in ihren Augen auch auf diese Entfernung.
Es war
ein perverses Anwesen voller menschlicher Zombies, überlegte sie verzweifelt.
Und sie
war mitten drin.
„So…“,
begann er schließlich als sie ein verblühtes Rosenbeet erreichten. Er blieb
seufzend stehen. Seine Haare schimmerten in der Sonne. Seine Haut wirkte
gebräunt, und ihr fiel auf, wie groß er war. Der neue Mantel, den sie
übergezogen hatte, wärmte sie sehr gut.
„Ja?“,
wagte sie zu fragen, denn er jagte ihr Angst ein.
„Mein
Name ist Lucius“, stellte er sich vor und reichte ihr lächelnd seine Hand.
„Lesen
Sie meine Gedanken?“, wollte sie prompt wissen, auch wenn es wohl eine eher
ungehörige Antwort war. Er hob eine dunkle Augenbraue. Dann begriff er.
„Lester
hat dies mit Ihnen getan? Nein, ich wollte Ihre Hand nur schütteln“,
widersprach er ernst. „Gedanken lesen, wie Sie es nennen, entsteht nur durch
die Berührung in… ihrem Gesicht.“ Sie wusste nicht, ob sie ihm glaubte, aber
sie reichte ihm skeptisch ihre Hand.
Lächelnd
schüttelte er sie. Nichts passierte. Sie war jedoch glühend heiß. Sie konnte
seinen Akzent nicht zuordnen. Europäisch, würde sie es vage eingrenzen. Ob
gälisch, schottisch, englisch, russisch… - sie konnte es nicht deuten. So
bewandert war sie nicht, aber es klang angenehm verwegen.
„Joanna“,
stellte sie sich vor. Sie konnte es nicht ertragen, ständig mit ihrem Nachnamen
angesprochen zu werden.
„Es muss
ziemlich anstrengend sein“, bemerkte er jetzt. „Zuerst ein normales Leben, dann
entführt und versklavt“, fasste er ihre letzten Tage lapidar zusammen, während
er gelassen die Hände hinter seinem Rücken verschränkte. Sie antwortete nicht.
„Was
studieren Sie? Oder was haben Sie studiert?“ Sie hob überrascht den Blick. Er
fragte sie tatsächlich, was sie studierte?
„Englische
und amerikanische Literaturwissenschaften“, gab sie perplex zurück, und er
nickte langsam.
„Ja. Da war es ein Leichtes für William“, bestätigte er fast nachsichtig.
„Wer sind
Sie?“, fragte sie leise, ohne ihn aus dem Blick zu lassen. Es war auch fast
schwer, denn er war wunderschön. Aber sie sah ja nur noch wunderschöne Wesen.
Es war schon fast lästig. Man fühlte sich selber so unvollkommen, dachte sie
bitter. Er betrachtete sie und seufzte schließlich. „Auch ein Teufel?“, fügte
sie hinzu, als er nichts sagte.
„Wissen
Sie, die Menschen nennen uns so. Also, warum nicht“, schloss er achselzuckend.
„Ich bin der Teufel, ja.“ Sie sah ihn an.
„Dann holen
Sie also Seelen?“, erwiderte sie, weil es sie störte, dass er so lapidar mit
Fragen umging.
„Das
hingegen ist in etwa korrekt, Joanna“, bestätigte er lächelnd. „Aber wir holen
sie nicht. Sie kommen ohnehin zu uns. Der Grund, weshalb wir uns nicht weiter
um die Auserwählten, wie sie genannt werden, kümmern, ist schlicht und
ergreifend die Tatsache, dass sie sowieso am Ende in unsere Hände fallen.“
Sie sah
ihn an. Das klang… schrecklich.
„Was ist
mit dem Himmel? Wenn es eine Hölle gibt-“
„Wenn es eine Hölle gibt…“, wiederholte
er fast theatralisch. „Joanna, so einfach ist es nicht. Es gibt keine Hölle. Es
gibt keinen Himmel“, erwiderte er schlicht, und damit war wieder einmal wohl
eine Jahrhunderte alte Diskussion entfacht. Nur er schien
ihr keine Bedeutung beizumessen. Er… als Teufel.
„Teufel
sind in der Hölle“, sagte sie langsam. „Sie riechen nach Schwefel“, fügte sie
hinzu. Er roch sofort an seiner Jacke. Dann nickte er überrascht.
„Liegt
wohl an meinem Motorrad“, erklärte er und deutete zum Eingang des Anwesens.
Eine riesige, schmutzige Maschine lehnte dort. Daneben ein monströser Hund. Ein
Wolf? Nein, bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass es weder ein Wolf, noch ein
Hund war. Sein Fell war rostbraun, fast rot. Er schlief und Dampf schien aus seinen
Nüstern zu steigen. Seine Schnauze war länger als die eines Hundes, die Ohren
kurz und spitz und sein Körper unglaublich massig. Sie war froh, dass er
schlief. „Hector“, stellte Lucius erklärend vor.
„Ihr
Schoßhund?“, wagte sie zu fragen, und er lachte auf. Rau, tief, angenehm.
„So in
etwa“, gab er zurück. „Er ist ein Höllenhund“, sagte er und hob abwehrend die
Arme. „Er kommt nicht aus der Hölle. Er wird nur so genannt. Wissen Sie, es
gibt Momente, da ist es schwer mit der Dummheit der Menschen zurecht
zu kommen, Joanna“, erklärte er ruhig, während er die verwelkten Rosen
betrachtete. „Und wenn man sich zu sehr aufregt kann es passieren, dass man
etwas Dummes tut“, fuhr er fort. Sie verstand wohl in etwa, was er meinte. „Und
jedes Mal, wenn es zu schlimm wird, zuzusehen, verschwinden wir dahin, wo unser
Zorn keinem schadet“, endete er schulterzuckend. „Wie Sie festgestellt haben,
sind wir unnatürlich heißblütig. Und da, wo unser Zorn, wenn er ausbricht,
keinen Schaden anrichtet, ist im Mittelpunkt der Erde. Die Gradtemperatur dort
unten beträgt über 5000 Grad Celsius. Da fällt ein Wutausbruch nicht auf.“ Sie
starrte ihn an. Machte er Scherze? Er war zum Mittelpunkt der Erde gereist, um…
einen Wutausbruch zu bekommen?
„Das ist
wohl der Grund, weshalb man es Hölle nennt“, ergänzte er gleichmütig. Jetzt
schwiegen sie, und er betrachtete sie eingehend. Es wurde ihr unangenehm.
„Was
wollen Sie von mir?“, fragte sie jetzt. „Das was alle wollen?“, fügte sie
ängstlich hinzu, aber er lachte wieder.
„Was? Ihr
Blut? Ich bin der oberste Rat. Ich brauche überhaupt nichts, Joanna. Und wie
ich William schon vor Jahrzehnten sagte, nicht jeder Auserwählter ist ein
Auserwählter. Aber er war so besessen von der Idee der Macht, dass er nicht
zugehört hat“, erläuterte er kopfschüttelnd.
„Was soll
das bedeuten?“ Denn plötzlich begriff sie. Sie war… also nicht auserwählt? „Der
Vertrag-“
„Ist von Lester gemacht“, unterbrach er sie und verdrehte die Augen. „Aber ich
will nicht über den Vertrag reden. Er ist lächerlich unter dem Gesichtspunkt,
dass William sie nun lediglich als lebendige Blutbank missbrauchen kann.“
„Er… kann
also durch mein Blut niemals mächtig werden?“, vergewisserte sie sich jetzt
ernst, und Lucius sah sie nachdenklich an.
„Es gibt nicht
nur schwarz und nur weiß, Joanna. Es gibt immer Mittel und Wege. Aber solche zu
bestreiten… wäre manchmal nicht klug“, erklärte er kryptisch, wie alle um sie
herum. „Sie sind immun gegen Bisse von Wölfen, Vampiren… allen anderen
Dämonen“, schloss er achselzuckend. „Und deshalb bin ich hier“, ergänzte er mit
einem teuflischen Lächeln. „Ich habe die Vergewisserung, und Sie werden das
Interesse von einer weitaus größeren Legion erwecken“, fuhr er fort.
„Was? Die
Allianzen-“
„Die
Allianzen sind reine Vampirstämme. Ich spreche nicht von Vampiren. William mag
jetzt noch die Herrschaft über sie besitzen, aber wie ich die Situation
einschätze, haben Sie ähnlich viel Macht, nicht wahr?“ Sie dachte mit Schrecken
an den Schreibtisch, und vermied es, ihn anzusehen. Aber sie verstand seine
Worte.
„Neben Vampiren gibt es Wölfe“, sagte sie langsam. „Und Jäger.“
„Ja.
Hier“, erklärte er. „Es gibt mehr als diese eine Welt“, fügte er nachsichtig
hinzu. „Ich bin hier, um Ihnen lediglich anzubieten… etwas anderes zu tun.
Außerdem… bald werden nicht nur Vampire Schlange stehen. Die Wölfe werden
schließlich begreifen, dass Sie nicht verwandelbar sind. Die Jäger werden es
auch feststellen, und das verringert die Beliebtheit unter den Dunkelwesen.“
Dunkelwesen? Sie verstand nicht.
„Ein
Vampir mag vielleicht, unter großen, unwahrscheinlichen Umständen und mit Glück
in der Lage sein, Sie zu verwandeln. Mit viel Glück. Aber es ist nicht Ihre
Bestimmung.“ Ihre Bestimmung? Was war ihre Bestimmung bitteschön?
„Ich
implodiere morgen nicht?“, wollte sie vorsichtig wissen, und er lächelte.
„Nein. Ihr Geburtstag wird die Welt nicht in den Untergang stürzen“, erwiderte
er freundlich.
„Aber
wieso…?“ Sie begriff es nicht.
„Wieso William Cunning einen Fehler gemacht hat? Weil er vor tausendfünfhundert
Jahren nicht auf mich hören wollte, und das hat sich bis jetzt nicht
geändert!“, entfuhr es ihm fast zornig. Ihr wurde klar, wie lange sich die
beiden kennen mussten. „Er denkt, er hat immer recht.
Aber… ganz klar hat er das nicht!“ Fast entschuldigend sah er sie an.
„Sie…
sind keine Freunde“, stellte sie schließlich fest. Aber davon war sie
ausgegangen.
„Freunde?
Nein“, gab er knapp zurück. „Er ist ein verdammter Vampir. Natürlich sind wir
keine Freunde.“
„Weil
Sie…?“
„Weil ich
der Teufel bin? Alle Vampire stammen von uns ab, Joanna. Darum geht es nicht.
Aber ich kann nicht einmal meinen Bruder besonders gut leiden. Es gibt immer
schwarze Schafe.“ Er bezog sich wohl auf Lester.
Was? Alle
Vampire stammten von den Teufeln ab? Ihr schwirrte der Kopf.
„Und
ich?“, wagte sie zu fragen. Er seufzte.
„Es gibt
immer Ausnahmen unter den Menschen. Und es gibt auch Auserwählte.“ Er lächelte
plötzlich. „Und es gibt auch jetzt eine Auserwählte“, fügte er hinzu. Warum
lächelte er auf diese Art und Weise? „Aber Ihre Ausprägungen waren stärker,
offensichtlicher“, fügte er hinzu. „Und William hat sich davon täuschen
lassen“, ergänzte er. „Aber… ich habe dafür gesorgt, dass die Auserwählte in
die richtigen Hände fällt.“ Ihr schwante Übles. Sehr Übles.
So musste
sie ihn wohl ansehen, denn er seufzte auf.
„Auserwählte
werden Jäger. So ist es vorbestimmt. Wenn ein Vampir plötzlich den Funken
Verstand besitzt, Macht für sich zu beanspruchen… das ist gegen die Natur“,
erklärte er nur.
„Und
dieser… Vampir hat schon immer einen Funken Verstand besessen und deswegen
können Sie ihn nicht leiden?“, schloss sie diplomatisch, und er lächelte
breiter.
„So in etwa. Sehen Sie, ich bin lediglich… dafür zuständig, zu sehen, dass alle
in ihren Kompetenzen bleiben. Auserwählte werden Jäger und töten die Vampire.
Auserwählte werden nicht vorher entführt, versklavt, und ihre Kraft wird auch
nicht schamlos ausgenutzt, um ein größeres Machtimperium aufzubauen. Es gibt
Gut, und es gibt Schlecht, Joanna. Das wissen Sie bestimmt. Mit Ihnen… nun… da
ist eine Ausnahme zur Regelbestätigung geworden.“ Sie lauschte ihm jetzt
gebannt.
„Ich bin
keine Auserwählte?“, flüsterte sie jetzt, und sie wusste nicht, ob sie
erleichtert oder… noch panischer werden sollte.
„Nein“,
gab er lächelnd zurück. „Sie sind so besonders, dass selbst der Teufel
Interesse bekommt“, fügte er weich hinzu. Und sie schämte sich wieder einmal.
„Das…
kann nicht sein“, hauchte sie und schüttelte fest den Kopf. Er lächelte wieder.
„Wissen
Sie, Sie sind es doch gewöhnt, nach Fakten zu suchen. Nach Beweisen, Belegen
für Ihre studentischen Arbeiten?“, wandte er jetzt ein, und sie runzelte die
Stirn. „Man sollte den logischen Ursprung eines Buches kennen. Man sollte… über
den Autor Bescheid wissen, wenn man etwas beurteilt, nicht wahr?“
„Theoretisch“,
erwiderte sie unsicher, und er verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wenn Sie
ein Buch wären…?“, begann er also langsam.
„Dann
muss ich meinen logischen Ursprung finden?“, beendete sie unsicher den Satz,
und er lächelte. „Meinen Autor… - meine Eltern“, schloss sie knapp. Sie sah ihn
an. Er wirkte ernster. „Ich habe keine Eltern“, sagte sie, und wusste, das war
dumm. Natürlich hatte sie Eltern, aber….
„Viele
Kinder wurden damals gestohlen.“
„Damals?
Wo?“, fragte sie sofort.
„In
Geschichten…“, holte er gedehnt aus.
„Was? Vielleicht in Göttergeschichten, ja. Oder Sagen… oder…“ Sie sah ihn
skeptisch an.
„Ich gebe Ihnen lediglich Denkanstöße. Halten Sie es nicht für möglich, dass
Sie nicht die sind, die Sie zu glauben scheinen? Denken Sie nicht, es ist
möglich, dass jemand anders Sie von Ihren Eltern trennen wollte, dass er
verhindern wollte, dass Ihre Geschichte so wahr wird, wie es hätte sein
sollen?“ Sie sah ihn ungläubig an.
„Wovon
sprechen Sie?“, flüsterte sie jetzt. „Liam-“
„William ist nicht die Person, auf die ich mich beziehe. William hatte seine
Ohren wieder einmal in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen. Das ist alles,
was ich zu ihm sagen kann“, gab er bitter zurück.
„Aber ich…
bin ein Mensch“, schloss sie schließlich und kam sich lächerlich vor.
„Sie sind
weit mehr als das, Joanna. Wären Sie ein gewöhnlicher Mensch, glauben Sie, der
Teufel persönlich würde sich die Mühe machen, einen solchen Weg zu gehen?“ Und
sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Sie wusste nicht, was stimmte und was
nicht.
„Es gibt
Dinge, die gehen über das Auge hinaus.“
Sie sah
ihm zu, während er die Hand abwesend hob. Und die verwelkten Rosen hoben ihre
Köpfe und standen plötzlich in voller Blüte. Erschrocken war sie einen Schritt
zurückgewichen. „Wir nehmen nicht nur Seelen, wir können sie auch
zurückbringen“, fügte er langsam hinzu. „Jeder hat seinen Platz. Und Sie werden
Ihren nur zu bald finden. Und ich will, dass Sie daran denken, dass ich Ihnen
meine Hilfe angeboten habe. Und mein Angebot steht, wenn Sie sich entscheiden
möchten.“
„Was ist…
mit…“ Sie löste den Blick von den blühenden Rosen. „Dem Vertrag?“, schloss sie
schließlich.
„Alles zu
seiner Zeit. Er hat nicht auf mich gehört, jetzt trägt er die Konsequenz. Dass
Lester einen weichen Kern hat, ist nicht meine Schuld.“ Er vergrub die Hände
wieder in seinen Taschen. „Begleiten Sie mich zu meinem Motorrad, Joanna“,
sagte er schließlich.
„Lester
hat den Vertrag aufgesetzt?“
„Sicher.
Er ist vernarrt in Vampire. Was denken Sie, weshalb er Georgiana
ihren größten Wunsch erfüllt hat?“ Jetzt hob sich ihr Blick interessiert.
„Welchen Wunsch?“ Kurz dachte sie, er würde nicht weiter sprechen, aber er
atmete knapp aus.
„Ich bin
sicher der vierte Wunsch ist in Ihrem Vertrag erwähnt?“ Sie nickte nur, wusste
aber nicht, was es bedeutete. „Eine Vampirin gebärt
viermal. Und dann stirbt sie. Sie altert nach jeder Geburt, und die letzte
endet mit dem Tod. Sie gebärt kein Kind desselben Vampirs… alles gut und schön.
Aber wir schätzen die Stellung der Vampirin, Joanna.
Der vierte Wunsch bedeutet, sie verschreibt uns ihr ewiges Leben, und wir
verhindern eine vierte Geburt. Auf ewig“, erklärte er. „Und Georgiana
wollte weder gebären, noch sterben. Sie scheute das Alter, und kam zu Lester.
Und sie flehte ihn an, sie auf ewig von jeder Geburt zu entbinden. Und weil
mein Bruder ein emotionaler Trottel ist, gewährte er ihr den Wunsch.“
Sie sah
ihn an. „Sie wurde aus ihrer Familie verstoßen, aber William war gnädig genug,
sie in seinem Stamm aufzunehmen, wenn Lester ihr denn erlaubt das Haus zu
verlassen. Sie kennen bestimmt die dramatische Geschichte der Cunnings?“,
wollte er lächelnd wissen, aber sie schüttelte den Kopf. „Nein? Cilians Tragik und sein Wunsch nach vielen Söhnen?“ Er
lachte jetzt kühl.
„Die
Mutter von William und Cilian liebte den Vater beider so inniglich, dass es für
sie nicht in Frage gekommen wäre, einem anderen Vampir ein Kind zu gebären“,
erklärte er lächelnd.
„Aber…
eine zweite Geburt vom selben Vampir führt direkt zum Tode.“ Er seufzte schwer.
„Nur Probleme mit den Cunnings. Jedenfalls führte ihr Vater nach Cilians Geburt und dem Tod seiner Gefährtin ein
jämmerliches Dasein, verabscheute jede weitere Vampirin,
die sich als geeignet anbot, und alle weiteren Kinder brachte er um. Bis sein
tapferer Sohn dem ganzen Einhalt gebot.“ Sie schluckte plötzlich.
„Was soll
das heißen?“
„Das soll
heißen, dass William es nicht länger geduldet hat, dass sein eigener Vater ihm
den Rangplatz der mächtigsten Blutlinie versagt, weil er Kinder von anderen
Vampirinnen nicht akzeptierte“, schloss Lucius kopfschüttelnd. „Und so begann
er den Krieg gegen seinen eigenen Vater und… siegte.“ Ihr Mund öffnete sich
stumm.
„Er…?“ Sie
konnte es gar nicht sagen. Aber Lucius ruckte nur mit Kopf.
„Er hat
seinen Vater getötet. Und seitdem raubt er mir den letzten Nerv“, fügte er
gereizt hinzu. Sie starrte ihn nur an. Er lächelte breiter. „Ich sehe, man hat
Ihnen noch keine netten Familiengeschichten aufgetischt. Cilian rettete
Gabrielle und verabscheute seinen Bruder für weitere fünfhundert Jahre für den
Mord an ihrem Vater. Ach Sie kennen doch solche Geschichten…“, winkte er
lapidar ab. „Cilian zeugte mit Gabrielle ein Kind, was William bedauerlicher weise im ersten Krieg gegen den Rat getötet hat… alles sehr
dramatisch.“
„Cilian
und Gabrielle…?“ Sie konnte ihn nur anstarren.
„Ja, ich
sage Ihnen. Wie eine griechische Tragödie für einen Großteil meiner Amtszeit.
Und es gibt noch hundert weitere Geschichten zwischen den Brüdern, mit denen
ich Sie jetzt aber bestimmt nicht langweilen möchte“, lachte er jetzt. „Und… es
gibt keine Inzest unter Vampiren, Joanna“, ergänzte er schließlich
augenzwinkernd, als er ihren Blick deutete. „Ist ähnlich wie bei Ratten.“ Sie
starrte ihn an. Er atmete erschöpft aus. „Wenn Sie mich fragen, was meine
Einstellung gegenüber Vampiren ist… dann sage ich Ihnen offen, sie ist nicht
die beste. Unsere Späher… sind völlig in Ordnung. Weniger Gehirnmasse. Aber die
hohen Linien… jedes Jahrhundert ein Problem. Und William wird sich jetzt selber
in den nächsten Krieg reiten, und wer muss es gerade biegen?“ Er betrachtete
sie eindeutig.
„Krieg?
Wegen mir?“, stutzte sie verwirrt, und Lucius zuckte die Achseln.
„Wer weiß“,
erwiderte er kryptisch. „Ich wollte Sie kennenlernen, und ich wiederhole mein
Angebot.“ Er ergriff schließlich zum Abschied ihre Hand. Glühend heiß
unterschied sie sich enorm von Liams. „Wenn der Zeitpunkt kommt, an dem Sie
sich entscheiden müssen, bin ich gerne bereit, Sie zu mir zu holen.“ Sofort
schoss ihr das Bild der lodernden Flammen der Hölle ins Gedächtnis, aber
wahrscheinlich… stimmte es nicht. Sie schluckte deshalb nur, nickte unwirsch,
und er lächelte ein charmantes Lächeln.
„Es tut
mir leid, dass Sie in diese Welt hineingeraten sind“, entschuldigte er sich
offen. „Ich hoffe nur, dass Sie sich nicht entschließen, hier zu bleiben“,
fügte er hinzu, und sein Ausdruck wurde ernster. „Es wäre zu schade.“ Es lag
echtes Bedauern in seinem Blick. Und etwas anderes. Etwas nicht so Nettes.
Ihr Herz
schlug laut. War das gerade alles passiert? Hatte er gerade wirklich all das
erzählt? Er ließ ihre Hand los, schwang das Bein über die schwere Maschine, und
der Hund wachte auf.
Er gähnte
und entblößte zwei Reihen messerscharfer Zähne. Ihr Kopf schwirrte von den
vielen Informationen. Und er hatte ihr auch nicht gesagt, was sie wissen
wollte.
„Bis zum
nächsten Mal, Joanna!“, rief er mit wissendem Lächeln, und der Hund jaulte
laut, als Lucius die Leine härter zog. Kaum drehte er das Gas auf, löste sich
die stinkende Schwefelmaschine in Luft auf. Mitsamt dem Hund und dem Fahrer.
Nur
gelber Schwefeldampf blieb zurück und hustend wich sie nach hinten.
Sie
versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Sie war keine Auserwählte? Es war… alles
ein Missverständnis, was einen Krieg auslösen konnte? Wer waren ihre Eltern?
Wieso war das wichtig? War sie gestohlen worden? Weswegen? Und von wem?
Die
Verandatür öffnete sich lautlos, aber sie nahm die Bewegung wahr.
„Ich
nehme an, die Märchenstunde ist vorbei?“ Seine Stimme klang alles andere als
freundlich. Und so sah er auch aus. Alles andere als freundlich. Und die Angst
befiel sie wieder. Die ewige Angst vor Liam Cunning.
~
Surprise ~
Sie aß. Stumm.
Sie musste ja schließlich essen, es war ja ein Uhr…. Sie hatte keinen Hunger.
Keinen großen zumindest. Das Gespräch mit Lucius Leman war aufschlussreich
gewesen, aber eigentlich war sie verwirrter als vorher.
Ab und an
hob sie ihren Blick und sah zu ihm hinüber. Sie saß am großen Esstisch, während
er auf der Couch in ein Buch vertieft war.
Er hatte
seinen Vater getötet…. Stur nahm sie einen weiteren Bissen. Er hatte Cilians Sohn getötet. Den er mit seiner Schwester gehabt
hatte. Noch einen Bissen.
Er… war
ein schlechter Mann. Zumindest nahm sie es an. Musste er doch sein! Er war ein
Monster. Ein seelenloses Biest! Ein Biest, das seit ihrer Geburt geplant hatte,
sie zu entführen und sich anzueignen, damit sie ihm mehr Macht verschaffen
konnte! Und es war ihm völlig egal gewesen, dass er damit ihr Leben zerstörte!
Und dann
hatte er sich auch noch vertan, und sie verschaffte ihm gar keine Macht!
Zornig aß
sie weiter.
Wahrscheinlich
wäre keiner ihrer Freunde überhaupt jemals mit ihr befreundet gewesen, hätten
sie alle gewusst, dass sie doch nicht die war, für die sie alle gehalten
hatten! Und jetzt? Würde er sie jetzt rauswerfen, und sie konnte sich nur auf
das fragwürdige Angebot des Teufels berufen, weil sie sonst keiner haben
wollte?
Grimmig
aß sie einen weiteren Bissen, obwohl der Hunger verebbt war.
„Wütend?“,
unterbrach er schließlich mit erhobener Braue ihre Gedanken, und sie erwiderte
den Blick, ohne zu antworten. Ihre ehrliche Antwort würde wieder einmal den
Schmerz ihres Ungehorsams auslösen, und plötzlich war sie auf alles wütend!
Wenn sie Eltern hatte, wieso hatten die zugelassen, dass sie entführt wurde?
Wenn es sie jetzt noch gab, dann – wieso zum Teufel – ließen sie sie in einem
Waisenhaus schmoren, bis verrückte Vampire sie holten, damit ein seltsamer
Machtplan zustande kommen konnte?
„Anscheinend“,
schloss er knapp und erhob sich. Er schritt langsam zum Esstisch und setzte
sich an das andere Ende.
„Lucius
ist…“, begann er langsam, aber sie schüttelte den Kopf.
„Ich will
es nicht hören“, unterbrach sie ihn leise. Er seufzte auf.
„Es ist
alles nicht so dramatisch. Es wird keinen Krieg geben, Joanna“, erwiderte er
gereizt und benutzte tatsächlich ihren Vornamen. Sie legte die Gabel zur Seite.
„Und
jetzt was? Jetzt brechen Sie den Vertrag, weil ich Ihnen nichts bringe? Oder…
wollen Sie abwarten, ob irgendwer anderes kommt, der mich holen möchte, und Sie
schlagen ein riesiges Lösegeld raus? Oder was wollen Sie?“ Sie hatte die Arme
vor der Brust verschränkt, und ihr Handgelenk ziepte unangenehm. „Oder
hypnotisieren Sie mich und schicken mich so weit weg, bis ich tot umfalle?“
Seine Augen verengten sich. Sie sah, wie er Zorn an seinen Mundwinkeln zerrte.
„Cilian hat…“
„Ich
weiß, dass er bestimmt nicht gezögert hat, Ihnen meine Vergangenheit zu
erzählen. Aber es ging Sie nichts an. Sie müssen mich nicht ansehen, als hätte
ich Sie belogen. Ich habe Ihnen klar gesagt, was ich von Ihnen wollte“,
entgegnete er.
„Und
jetzt? Jetzt, wo Sie es nicht bekommen können?“
„Ich sehe,
Lucius hat Sie nervös gemacht.“ Er verdrehte die Augen.
„Nein,
sagen Sie es mir!“
„Sie
wollen, dass ich den Vertrag löse? Damit Sie zu Lucius gehen können? Glauben
Sie tatsächlich, der Teufel bietet Ihnen bessere Perspektiven? Denken Sie, er
bringt Sie dort hin, wo sie hingehören? Glauben Sie
nicht, dass jeder im obersten Rat nicht auf seinen Vorteil bedacht ist? Sie
scheinen eine falsche Urteilslage zu besitzen“, fasste er wütend zusammen, und
sie erhob sich ebenso wütend.
Er fuhr
sich gereizt durch die dunkelblonden Haare.
„Was
passiert jetzt?“, verlangte sie gepresst zu wissen. Er atmete langsam aus, und
sie dachte schon, er würde ihr nicht mehr antworten, denn seine Hand legte sich
nachdenklich über seinen Mund.
„Jetzt…
werden hundert neue Dämonen aus weiß Gott welchen Welten vor meiner Tür stehen
und versuchen, mein Haus zu demolieren“, knurrte er schließlich und erhob sich
ebenfalls.
„Das
heißt…, Sie lassen mich gehen?“, flüsterte sie. Er kam näher. „Sie versuchen,
die richtige Auserwählte zu finden, und den Vertrag mit ihr zu machen?“, fügte
sie tonlos hinzu, als er vor ihr stehen geblieben war, und seine Mundwinkel
zuckten.
„Nein“,
erwiderte er ruhig und betrachtete sie. „Wenn Lucius die Auserwählte gefunden
hat, ist es jetzt unmöglich, sie zu holen.“ Wieder spürte sie im Innern einen
Stich. „Ich wollte Sie. Ich wollte Ihre Macht. Ich werde Sie nicht gehen
lassen“, schloss er ernst. „Auch… wenn ich diese Macht nicht bekomme“, ergänzte
er bitter. Sie sah ihn an.
„Was für
ein Nutzen soll das bringen?“, wagte sie zu fragen, denn sie sah nicht ein, was
er davon haben könnte.
„Die
Frage ist, bleibt Ihre Macht erhalten, wenn ich Sie verwandeln würde“,
korrigierte er sie schließlich, und sie wich vor ihm zurück.
„Sie
haben… versprochen, dass ich ein Mensch bleibe! Der Vertrag wäre gebrochen, und
Sie…“ Er hob abwehrend die Hände.
„Natürlich wäre der Vertrag gebrochen. Ihre Macht wäre frei, Sie könnten mich
wahrscheinlich zerreißen, aber… ich würde es Ihnen anbieten“, erklärte er
deutlicher. „Sie hätten dann die freie Wahl, Joanna. Wer weiß, ob das, wofür
Sie bestimmt sind, das ist, was Sie möchten.“ Wieso sagten das alle? Und sie
fixierte ihn.
„Was wissen Sie?“, entfuhr es ihr, denn wieder einmal hatte sie das Gefühl, er
verheimlichte ihr etwas Wichtiges. Aber er sagte daraufhin nichts.
„Heute
ist nicht die Zeit“, erwiderte er schließlich. Sie spürte, wie sie wieder
wütend wurde, wie ihre Macht unterschwellig zu kochen begann. Er registrierte
dies mit erhobener Augenbraue. „Richtig. Kommen wir auf meinen Schreibtisch zu
sprechen, Miss Clark.“ Und er schaffte es tatsächlich, sie abzulenken.
~*~
„Es ist
unglaublich! Ich habe es dir die ganze Zeit über gesagt! Die ganze Zeit über!“,
schrie Cilian seit geschlagenen fünfzehn Minuten. Sie saß neben Liam, der das
Geschrei seines Bruders gelassen zur Kenntnis nahm.
„Jetzt
haben wir einen Krieg vor der Tür!“, fügte er ungläubig hinzu. „Lucius kommt
persönlich, bietet ihr einen Ausweg an, und du…? Du hast keine Lösung dafür?“
Er wurde wieder lauter.
„Ich bin mir nicht sicher, dass ich dich überhaupt eingeladen habe“, bemerkte
Liam nachdenklich.
„Oh, halt
deinen Mund!“, schrie Cilian zurück. „Der gesamte Stamm redet darüber! Sie
befürchten, ausgelöscht zu werden.“
„Von
Joannas… Eltern, nehme ich an?“,
mutmaßte Liam amüsiert.
„Du weißt
es nicht! Du weißt anscheinend gar nichts! Du und deine scheiß Macht! Siehst
du, wohin es uns bringt? Immer wieder?“
„Oh bitte.
Cilian, verschon mich heute.“ Er starrte ihn an.
„Was denkst du? Dass das vorübergehen wird? Wenn sie aus der anderen Welt ist,
dann bist du machtlos!“
„Wirklich?
Was soll kommen? Eine Horde Windlinge? Brownees? Ganz
Walhalla vor meinem Haus?“, schnappte er ungehalten, und Cilian atmete zornig
aus. Er fuhr sich durch die hellen Haare, und sein wütender Blick traf jetzt
sie. War sie jetzt an der Reihe? Sofort setzte sie sich gerade hin. Hatte er Windlinge gesagt?!
„Wieso
bringst du ihn nicht um?“, verlangte er gepresst zu wissen, und ihre Augen
weiteten sich. „Willst du abwarten, bis sie kommen?“
„Wer?“,
fragte sie vorsichtig.
„Wer?“, wiederholte er, nahe an der Grenze zur Hysterie. „Ist das dein
Training, Liam? Absolute Gleichgültigkeit für deine Sklavin? Joanna, was auch
immer kommen wird, es wird mächtig sein! Begreifst du nicht?“, schrie er
wieder, aber sie sah ihn unsicher an. Dann stutzte er. „Er hat dich in den Hals
gebissen!“, stellte er, nahe einem Tobsuchtsanfall fest. Wieder schoss sein Blick
zu seinem Bruder.
„Bist du
wahnsinnig? Willst du sie umbringen, noch bevor der Krieg beginnt?“
Sie warf
Liam einen Blick zu. Dieser erhob sich seufzend.
„Noch ein
Wort, und ich beiße deine Kehle
durch, hast du mich verstanden?“, erkundigte er sich leise, und Cilian fixierte
ihn voller Hass. „Lucius stellt uns ohnehin als hitzköpfige, emotionale
Blutsauger dar. Es reicht mir heute. Dass du dich von der Panik anstecken
lässt, ist mir nur zu bewusst.“
„Liam,
du-“
„Ruhe!“, befahl
er streng. „Nichts wird passieren.“ Sein Blick war stechend, und etwas änderte
sich. Die Macht wechselte im Raum. Und widerwillig neigte sich Cilians Kopf. „Schon besser“, bestätigte Liam nickend, und
Cilian schien um Fassung zu kämpfen.
„Miss
Clark, verzeihen Sie den Ausbruch meines Bruders“, entschuldigte er sich
spöttisch, aber sie fühlte sich nur noch unwohl. „Er wird jetzt gehen“, fügte
er mit einem Blick auf ihn hinzu. „Es ist ohnehin schon spät“, ergänzte er mit
einem Blick auf die Standuhr.
„Vampire
schlafen nicht“, gab sie langsam zurück.
„Nein.
Aber Auserwählte, die keine sind, schlafen, Miss Clark“, entgegnete er. In
einer halben Stunde hatte sie Geburtstag. Sie wurde neunzehn. Und sie war
gefangen in einem fremden Haus. Als Sklavin.
Sie sah
Cilian an, dass er nicht zufrieden war, mit dem Ausgang des Gesprächs, aber er
widersprach nicht. Sie erntete noch einen zornigen Blick von ihm, und kaum, als
er aus dem Haus geschickt worden war, sah Liam sie an.
„Ich
möchte, dass Sie jetzt in Ihre Gemächer gehen“, erklärte er streng.
„Hat er
Recht?“, fragte sie leise, und er fuhr sich fast müde über die Stirn.
„Wer?
Heute waren genügend Idioten hier, dass die Antwort auf diese Frage sehr
leicht, bezogen auf alle, verneint werden kann“, gab er zurück.
„Cilian“,
erwiderte sie. „Dass Sie sich keine Gedanken gemacht haben, dass Sie nur an die
Macht-“ Sie unterbrach sich, als er näher gekommen war.
„Genug“,
befahl er tonlos. Er betrachtete sie wieder. Seine angespannten Züge schmolzen
langsam. „Ich habe versprochen, es wird Ihnen nichts geschehen“, wiederholte er
schließlich. Und sie wusste ihn nicht zu deuten. Er war so schwierig zu
bestimmen. Mal war er furchtbar kalt, und jetzt… jetzt schützte er sie? Immer
noch? Obwohl sie für ihn nicht wichtig war? Erhoffte er sich jetzt etwa noch
größere Macht? Sie schluckte schwer.
Am
liebsten würde sie weinen. Nein, er schützte sie nicht. Von Anfang an hatte er…
seinen Vorteil im Blick gehabt. Daran änderte sich nichts. Sein Vertrag hielt
sie gefangen, und er würde sich schon ein passendes Ende für sie überlegen,
wenn er sie nicht mehr gebrauchen würde.
Kurz
glaubte sie, er würde etwas sagen. Irgendetwas.
„Gehen
Sie. Jetzt“, knurrte er, und sie spürte den direkten Befehl. Und ehe er ihre
Tränen fallen sehen konnte, schritt sie aus dem Zimmer.
Und sie
hasste ihn! Sie hasste ihn, weil es sie verletzte, was er tat! Sie hasste ihn.
Und der
Befehl schickte sie nach oben. Sein Befehl jagte sie
praktisch die Treppen hinauf.
Sie
wischte sich zornig über die Wange. Wie konnte sie fliehen ohne zu sterben,
überlegte sie panisch und öffnete verzweifelt ihre Tür.
„-nein,
ich denke, es ist zu weit herge-“ Und sie blieb
abrupt in der Tür stehen. Libby hatte sich sofort unterbrochen, als sie sie
erkannte. Joannas Mund klappte auf.
„Überraschung“,
sagte Lucy jetzt und erhob sich langsam. Joanna schüttelte ungläubig den Kopf.
„Dass…
ihr…“, stammelte sie zusammenhanglos, und Blake erhob sich ebenfalls.
„Oh, ich habe
mir solche Sorgen gemacht, Jo!“, rief Libby, die sich von ihrem Bett nach oben
quälte, zu ihr lief und sie in ihre Arme schloss. Nach einer quälende Sekunde
erwiderte sie die Umarmung und spürte, wie erlösende Tränen aus ihren Augen
rollten.
„Libby!“,
flüsterte sie. „Lucy!“, rief sie ebenfalls, und mit einem Grinsen umarmte Lucy
sie ebenfalls. Sie legte ihre Arme einfach um Libbys herum. „Blake“, sagte sie,
als sich die Mädchen von ihr lösten. „Geht es dir…?“ Sie konnte nicht mal die
Frage zu Ende stellen.
Er
verdrehte die Augen. „Komm schon her!“, sagte er nur. „Unkraut vergeht nicht“,
sagte er nur. Sie umarmte ihren besten Freund.
„Verdammt
großes Badezimmer für eine Person“, erklärte Hawker
beeindruckt, als er aus ihrem Badezimmer schritt. Überrascht hielt er inne.
„Ah, das Geburtstagskind.“ Und sogar er trieb ihr die Tränen in die Augen.
„Tränen? Für mich?“, fragte er lachend, und sie fiel praktisch auch in seine
Arme. Überrascht verstummte er, während er sie kurz an sich drückte.
„Ist die
Auserwählte angekommen?“, schniefte sie in seinen Arm, und er räusperte sich,
unangenehm berührt.
„Ja,
angekommen, versteckt und in Sicherheit“, erwiderte er unsicher. Sie ließ ihn
los. Er betrachtete sie. „Es tut mir leid“, fügte er leiser hinzu.
Wahrscheinlich sprach er von dem Tag, als er versucht hatte, sie zu retten. Sie
schüttelte nur den Kopf.
„Nein. Es hätte ja ohnehin nicht funktioniert“, erklärte sie, und endlich
versiegten ihre Tränen und sie wischte sich erneut über die Wange.
„Völlig
egal“, gestand er jetzt ein. „Ich hätte… ich hätte einfach…“ Er schloss kurz
die Augen. „Was macht er hier mit dir?“, fragte er jetzt, und sie sah, wie sich
seine Hände zu Fäusten ballten.
„Nichts“,
log sie hastig und senkte den Blick. „Hat… hat er euch geholt?“, wechselte sie
eilig das Thema und fixierte Blake. Sie glaubte nicht, dass sie Hawker belügen konnte. Er würde es nicht glauben. Sie
wollte mit keinem über den Vertrag sprechen.
„Ja. Er…
war im College, heute Morgen“, erklärte Libby kleinlaut. College. Richtig, alle
anderen gingen zum College. Kurz traf sie der Stich, dass sie hier gefangen war
und nichts machen konnte. „Und… er hat erklärt, dass…“
„Dass er
sich geirrt hat. Elender Scheißkerl“, schnappte Hawker
wütend. „Was ist das für ein Vertrag, Joanna?“, wollte er jetzt wissen, und sie
spürte die unangenehme Röte in ihre Wangen steigen.
„Ich will
nicht darüber reden. Ich habe gleich Geburtstag und werde nicht implodieren“,
schloss sie fröhlich.
„Ich habe
eine Liste gemacht, was du sonst für ein Wesen sein könntest!“, rief Libby
begeistert und wedelte mit ihrem Collegeblock. Sie schüttelte lächelnd den
Kopf.
„Keine bösen Mächte! Keine Vampire, Wölfe, Hexen, Jäger – gar nichts!“, befahl
sie jetzt. „Und ihr dürft hier sein? Einfach so?“, wollte sie lächelnd wissen,
und Hawker wirkte nicht zufrieden. Er öffnete seine
Lederjacke.
„Keine
Waffen. Kein gar nichts“, erläuterte er beleidigt.
„Er hat
uns gesagt, wenn wir versuchen, dich mitzunehmen, stirbst du, wegen… des Vertrags?“,
sagte Blake jetzt, und sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ja, ist
schon ok. Das regel ich noch irgendwie“, behauptete
sie fest. Und fast traten wieder Tränen in ihre Augen. Er hatte ihre Freunde
geholt.
Das
Monster hatte ihre Freunde eingeladen. Kurz herrschte ein unangenehmer Moment,
wo sie wohl alle darüber nachdachten, dass sie gerade im Vampirhaus saßen, und
dass sie nicht fortkonnte.
Aber die
Tür öffnete sich.
„So, hier
sind einige Kleinigkeiten!“, rief Darcy, während sie und ein paar anderen
hypnotisierte Dienstmädchen eine Torte und einen ganzen Wangen Chips und
Cracker hinein brachten.
„Von
Liam?“, wollte sie zitternd wissen, und Darcy lächelte verträumt.
„Nein.
Wir sollen sagen, dass es von Sandford ist“, erklärte
sie. Und sie musste lächeln.
„Ach,
sollt ihr das?“, wollte sie amüsiert wissen, und Darcy nickte sehr ernsthaft.
Joanna nickte zurück, und die Dienstmädchen verschwanden.
„Sekt
klingt gut“, beschloss Hawker, während er den Korken
aus der Flasche zog und fünf Gläser füllte. Er reichte sie reihum weiter. „Auf
dich“, sagte er schließlich. „Neunzehn und Vampirsklavin“, flüsterte er bitter.
„Auf, dass wir dich hier rausholen. Wenn auch… nicht heute“, räumte er ein, und
sein Kiefer spannte sich eine Spur wütend an.
„Ok“,
sagte sie fröhlich. Ihre Freunde waren hier! Und alles sah zum ersten Mal nicht
so bitter aus.
„Du lebst
also mit einem Vampir zusammen? Wie ist das so?“, wollte Lucy wissen, den
Abscheu fast aus ihrer Stimme verbannt.
„Keine
Ahnung. Bisher habe ich mein Zimmer nur mit einer Wölfin geteilt…“, erwiderte
sie mit erhobener Braue.
~*~
Natürlich
war es unmöglich gewesen, das Hauptthema zu umgehen. Sie war hier gefangen. Sie
war keine Auserwählte, und sie hatte den Fehler gemacht, Lucius zu erwähnen. Libby
saß seit einer halben Stunde bei Google und betrachtete verträumt Bilder von
Dr. Lucius Leman. Ehrenbürgermeister der Stadt Three Forks, Chefarzt von zwei Krankenhäusern in Three Forks und Mann des Jahres.
Das war
ihr nicht bewusst gewesen. Und Blake stand neben Libby, die Arme missmutig vor
der Brust verschränkt, während er ihr zusah.
Hawker jedoch schüttelte nur den Kopf.
„Das ist
doch unglaublich! Dieser Mistkerl kommt tatsächlich hier hin und bietet dir
Hilfe an? Weißt du, wie die Hilfe vom Teufel aussieht?“, fragte er gereizt, und
sie ruckte halb mit dem Kopf. Nein, wusste sie nicht.
„Nein? Du
wirst seine verdammte SM-Sexsklavin!“, fuhr er sie an, als hätte sie sich
soeben dafür ausgesprochen.
„Echt?“,
hörte sie Libby vom Bett aus rufen, wo sie mit dem Laptop saß. Hawker schenkte ihr einen säuerlichen Blick.
„Tja,
Joanna. Kaum bist du was Besonderes klinken sich die Teufel mit ein“, bemerkte
Lucy, die genüsslich den Sekt trank. Joanna sah sie dankbar an.
„Ich bin
so froh, dass du bei der Attacke nicht dabei warst.“ Aber ihr ging plötzlich
auf, dass… andere dabei gestorben sind. Lucy setzte das Glas auf den Tisch
zurück. „Und… es tut mir so unglaublich leid. Ich habe… versucht rauszukommen,
aber…“
„Der
Vertrag“, schloss sie schlicht. „Das ist in Ordnung. Ich habe sie gewarnt“,
erklärte Lucy bitter. „Ich… habe gesagt, sie werden gegen die Cunnings nichts
ausrichten können, zu so wenigen“, schloss sie leise. Ihr Gesicht wirkte
versteinert. Joanna biss sich auf die Lippe. Ach, hätte sie doch nichts gesagt!
„Hat… hat
er sich bei dir entschuldigt?“, fragte sie vorsichtig, und Hawker
sowohl als auch Lucy lächelten freudlos.
„Wieso
sollte er? Es war ein Kampf, er hat gewonnen. Es gibt nichts zu entschuldigen.
So läuft es“, erklärte sie bitter. „Er hat mir angeboten, herzukommen, und ich
habe mir überlegt, dass ich für dich heute Nacht eine Ausnahme machen kann. Wie
wir alle“, schloss sie. „Außerdem… bin ich machtlos. Vollmond ist vorüber“,
fügte sie achselzuckend hinzu. Hawker ließ seine
Knöchel knacken.
„Das ist
nicht richtig. Er darf dich hier nicht halten“, brachte er zornig über die
Lippen, und sie stand auf und stellte sich neben ihn.
„Es ist
ok“, sagte sie leise.
„Was will
er noch mit dir?“ Und er stellte die gleichen Fragen, die sie sich nur noch in
ihrem Kopf stellte. „Will er dich verwandeln?“ Nur wenn sie die gleichen Kräfte
beibehalten würde, dachte sie dumpf. Aber sie sagte es Hawker
nicht. Wahrscheinlich würde er dann ausrasten.
Er sah
sie wieder an. Die dunklen Augen voller Sorge, der Mund schmal und wütend zu
einer Linie gepresst. Die starken Arme vor der Brust verschränkt, und er wirkte
tatsächlich machtlos.
Und sie
sah, er wollte sie wirklich beschützen. Er wollte sie ehrlich retten, wollte
sie hier weg holen, und etwas in ihrem Innern erwärmte sich für ihn.
Sie
mochte den ungehobelten Jäger. Sie lächelte jetzt entschuldigend und hob ihre
Hand langsam zu seiner Schulter, um sie zu berühren. Er folgte dieser Bewegung
mit den Augen.
„Es wird schon
alles gut“, beschwichtigte sie ihn leise, aber er reagierte nicht.
„Will er
mit dir schlafen?“, fragte er plötzlich, ohne sie anzusehen, den Blick aus dem
Fenster gerichtet.
„Was?“,
brachte sie überrumpelt hervor, und versuchte, die Röte in ihren Wangen zu
verhindern. „Was ist das für eine Frage?“, flüsterte sie beschämt. Jetzt senkte
er den Blick.
„Eine sehr simple“, gab er zurück.
„Der Vertrag schließt es aus“, sagte sie also fest.
„Das
beantwortet die Frage nicht“, erwiderte er tonlos.
„Nein!“, behauptete sie fest, und ihr Herz flatterte. Natürlich wollte er das
wohl eher nicht…, oder? Wollte er? Ihr Herz schlug lächerlich laut. Und sie war
ernsthaft froh, dass er sie nicht gefragt hatte, ob sie mit ihm schlafen
wollte, denn dann wäre ihr Kopf wohl explodiert. „Nein!“, wiederholte sie
ernsthaft, denn sie wusste… er würde es nicht tun, denn… sein Vertrag wäre ihm
immer wichtiger. Und sie wusste, sie hatte recht.
Hawker nickte schließlich.
„Gut.“
Und damit atmete er gepresst aus. „Und sein Bruder?“, fragte er plötzlich, und
sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Cilian
will, dass ich verwandelt werde, damit ich Kinder gebären kann“, erklärte sie
lapidar.
„Deshalb
lungert er zwischen den Bäumen rum?“, erkundigte er sich glatt, während sein Blick
immer noch nach draußen gerichtet war. Sie stellte sich neben ihn und spähte
nach unten. Tatsächlich stand jemand zwischen den Bäumen, sah nach oben, und
wandte sich ab, kaum, dass sie an die Scheibe getreten war.
„Das… war
er?“, fragte sie leise, und Hawker nickte grimmig.
„Ja.“
Sie
dachte an Cilians Worte. Würde sie sich verlieben,
wäre der Vertrag gebrochen. War sie verliebt? In irgendwen? Sie war noch nicht
verliebt gewesen, also wusste sie darauf nichts zu sagen. In Liam? Sie
versuchte die Absurdheit daran zu ignorieren. Nein,
wahrscheinlich war sie nicht in ihn verliebt, denn… er war ein Monster. Und sie
war seine Sklavin.
Fast
wurde sie traurig. Sie sah hinunter auf die Stelle, wo Cilian wohl gerade noch
gestanden hatte. Greyson…. Gott, hatte er sie wahnsinnig gemacht! Greyson
Adler, Quarterback. Fast lächelte sie. Sie vermisste das College.
Und sie
wandte sich um, zu ihren Freunden, die nun alle auf ihrem Bett hockten und
schräge Fabelwesen googelten. Und keiner hatte sie im
Stich gelassen, weil sie doch keine Auserwählte war. Sie spürte, wie sich Hawker ebenfalls umwandte.
„Er muss
dich mögen. Also sei am besten vorsichtig“, erklärte er bitter. Sie nahm an, er
sprach von Liam. Wieso dachte er so etwas?
„Er zwingt
mich, seine Sklavin zu sein, Hawker“, erwiderte sie
ungläubig. „Er mag mich definitiv nicht.“ Er hob seine Augenbraue.
„Ich
würde es mir dreimal überlegen, wäre ich ein Vampir, ob ich tatsächlich einen
Jäger in mein Haus einladen würde“, entgegnete er mit eindeutigem Tonfall.
„Du… könntest ihn töten, richtig?“, entfuhr es ihr, denn diese Frage hatte ihr
Liam nicht beantwortet.
„Dafür
bin ich da“, gab Hawker zurück, und sie begriff, dass
es ihn wohl umbringen musste, seinen Job nicht zu erfüllen. „Und ich hätte auch
allen Grund“, fügte er bedächtig hinzu. Sie dachte daran, wie Hawker durch die Wand gestürzt war – die mittlerweise magischerweise
wieder stand, ging ihr auf.
„Das
kostet dich bestimmt Überwindung“, murmelte sie nickend.
„Nein“,
gab er schließlich zurück, und sein Blick senkte sich. Seine Augen waren so
intensiv, dass sich etwas in ihrem Innern zusammen zog. Ihr Mund öffnete sich
sehr langsam. Und sein Ausdruck wurde weicher. Und wenn er nicht grimmig oder
wütend guckte, dann… war auch er verdammt attraktiv. Sie musste schlucken, denn
sein Blick war fast unangenehm. „Nein, es kostet mich keine Überwindung,
Joanna“, fügte er rau hinzu, und ihr Handgelenk zog vor Schmerz. Aua, dachte
sie und biss die Zähne zusammen, damit sie keinen Laut von sich geben würde.
Hastig
wandte sie den Blick von ihm ab, mied seinen intensiven Blick und wusste, er
war jemand, der sie abwerben wollte. Und… anscheinend… hatte er… Gefühle? Für
sie? War das möglich? Nein. Nein? Sie kaute vergessen auf ihrer Unterlippe.
„Hey, kommt jetzt hier hin!“, beschwerte sich Lucy. „Was soll das für eine
Party sein?“ Sie schwenkte die zweite Sektflasche, und Joanna beschloss, alle
Probleme erst mal zu ignorieren. Hawker zog sich
schließlich die Jacke aus, setzte sich ebenfalls auf das Bett, und Joanna
rückte soweit wie möglich ab von ihm. „Also…, ihr glaubt nicht, was für Frauen
in meinem Pilateskurs gekommen sind!“, begann Lucy
verschwörerisch, und Joanna musste grinsen. Sie nippte an ihrem frisch
gefüllten Glas und lauschte Lucy.
Zum
ersten Mal fühlte sie sich wohl.
~ The Gift ~
Als sie
aufwachte, fühlte sie sich nicht mehr völlig verloren. Gestern waren ihre
Freunde noch bis weit nach zwei geblieben, ehe Darcy nach oben kam, um ihnen
mitzuteilen, dass es jetzt Zeit wurde zu gehen. Joanna hatte noch kurz
überlegt, zu Liam zu gehen, sich zu bedanken, aber… sie hatte sich dagegen
entschieden.
Wahrscheinlich
wäre es ihm unangenehm gewesen, oder er hätte es nicht hören wollen, oder… eben
irgendwas. Sie betrachtete die Geschenke, die noch verpackt auf dem Nachttisch
lagen. Sie hatte nichts erwartet, aber Libby hatte ihr gesagt, sie hätte das
Geschenk ohnehin schon vor Wochen bestellt gehabt, und dass Geschenke ja wohl
zu einem Geburtstag gehören würde.
Sie würde
die Geschenke später auspacken.
Jetzt
stand sie auf, ohne dass jemand in ihrem Zimmer sie geweckt hätte.
Sie
fühlte sich gut. Tatsächlich fühlte sie sich ausgeschlafen, munter und stark.
Und sie hatte kurz davon geträumt, aufzuwachen und zu implodieren, aber auch
das war nicht passiert.
Jetzt…
wusste sie nur nicht, wie es weiter gehen sollte. Sie schritt zu ihrem
begehbaren Schrank. Er war komplett eingerichtet, und sie fragte sich, ob Darcy
die Sachen gekauft hatte. Sie traute es Liam eigentlich nicht zu. Ihr Blick
fiel auf einen schwarzen Minirock. Für gewöhnlich trug sie keine Röcke, aber…
etwas in ihr wurde fast sehnsüchtig davon angezogen. Dazu passend wählte sie
ein schwarzes Top. Es war ausgeschnitten, und sie wusste nicht, weshalb es ihr
so gut gefiel. Weil es schwarz war? Für gewöhnlich trug sie selten schwarz,
aber heute…? Oder glaubte sie, dass es ihm gefallen könnte?
Sie
ignorierte die Röte in ihren Wangen.
Sie
ignorierte auch das Bedauern, das sie empfunden hatte, als er sie nicht geküsst
hatte, gestern. Sie ignorierte es.
Sie
beschloss zu duschen, ihre Haare zu waschen und sich viel Zeit zu lassen.
Sie
prüfte, ob ihr Handgelenk bei diesem Gedanken ansprang, aber die Schmerzen
blieben aus. Aha. Anscheinend durfte sie sich viel Zeit lassen.
Sie
entdeckte noch ein paar passende schwarze Stiefel, die sie dazu tragen würde.
Sie sahen aus, als würden sie eng an ihren Beinen liegen. Und sie bemerkte, sie
besaß anscheinend vier Paar in vier verschiedenen Farben. Ihr Blick glitt über
das Schuhregal, was von oben bis unten voll mit Schuhen stand.
Es war
wie ihr eigenes Bekleidungsgeschäft.
Mit der
Kleidung auf dem Arm spazierte sie in das ausladende Badezimmer.
Sie trug
den sehr engen Rock, das schwarze Oberteil, die schwarzen Stiefel, und sie
fühlte sich sogar sehr wohl. Die Haare hatte sie glatt nach hinten geföhnt, und
sie fielen ihr lang über den Rücken.
In der
Halle angekommen, griff sie sich ein paar Erdbeeren aus einer Schale. Sie war
überrascht, dass sie schmeckten, denn es war absolut keine Zeit mehr für
Erdbeeren.
Niemand
war zu sehen, und als sie überlegte, einen Weg in die Küche zu wagen, um nach
etwas zu essen zu suchen, schloss sich die Haustür. Sie hörte, wie ein Mantel
ausgezogen und aufgehangen wurde, und sie hörte die
Schritte, die sich der Halle näherten. Er hatte sie nicht bemerkt, stellte in
der Halle seine Aktentasche auf einen Stuhl vor einem Sekretär, während er die
Post durchging. Und es hatte etwas… Menschliches. Er wirkte, wie ein Mensch,
fiel ihr lächelnd auf. Seine Stirn runzelte sich, als er irgendeinen Brief las,
er fuhr sich durch die Haare, als er prüfte, ob er die Zeitung noch mitnehmen
sollte, und schließlich hob sich sein Blick zu ihr, als hätte er sie erst jetzt
gespürt.
„Guten
Morgen“, sagte sie leise. Er sah unglaublich aus. Gott, sie würde diese
Gedanken niemals abschütteln können! Er schien sie zu betrachten, sagte aber
dazu nichts. Er legte die Post nieder.
„Es ist eins“, erwiderte er, und sie merkte, er war nicht wütend. „Herzlichen
Glückwunsch, Miss Clark“, ergänzte er freundlich. Sie lächelte jetzt.
„Danke,
für… meine Freunde“, entgegnete sie tonlos. „Das war… wirklich… das beste
Geschenk.“ Er hob kurz eine Augenbraue.
„Wenn es
weiter nichts ist. Sie haben Hunger?“, wechselte er das Thema, und sie nickte langsam.
Er sah auf die Uhr. „Das trifft sich gut. Der Tisch ist auf halb zwei
reserviert. Sie sind fertig?“
Der Tisch war was…? Sie sah ihn perplex an. „Miss
Clark, es ist Ihr Geburtstag, und wir gehen aus“, klärte er sie auf. Sie
starrte ihn an. Sie gingen aus? Zu zweit? Ihr Puls erhöhte sich, aber nur
minimal.
„Ok“, gab
sie zurück, und hatte nicht gedacht, auszugehen. Vielleicht war ihr Outfit zu
gewagt? Eigentlich hatte sie gedacht, dass nur er sie heute zu Gesicht bekam…!
Sie strich sich abwesend über den engen Rock. Ob sie sich umziehen sollte? Er
kam näher.
„Und
schwarz ist wohl definitiv meine Lieblingsfarbe an Ihnen“, fügte er ruhiger
hinzu, und sie wich gegen den Tisch zurück. Nein! Er würde sie nicht dazu
bringen, rot zu werden, nur, damit er sich beschweren konnte, dass ihr Puls zu
hoch sei. „Meine Tische scheinen es Ihnen angetan zu haben“, murmelte er
amüsiert, und sie senkte hastig den Blick.
„Wir können gehen“, sagte sie gepresst und wich zur Seite aus. Heute würde er
es nicht schaffen, sie zu manipulieren mit… seinem Gesicht, seinem Körper…
seinen… Händen! Er hatte sie in den Hals gebissen, das bedeutete, er durfte
heute nicht! Jetzt wo sie sich diese Klausel ins Gedächtnis rief, spürte sie
fast so etwas wie… Bedauern? Sie
wurde langsam verrückt. Sie schluckte schwer und schritt zur Garderobe.
Nicht an
ihn denken, befahl sie sich. Nicht auf diese Art!
„Gut“,
erwiderte er amüsiert, und sie würde vieles dafür geben, nur einen Blick in
seinen Kopf werfen zu können! Nur einmal….
~*~
Sie fuhren
seit einer Weile. Und anscheinend nicht direkt in die Stadt. Sie war sich nicht
sicher, ob er gesagt hatte, wo der Tisch reserviert war, aber anscheinend
kostete es sie Zeit dorthin zu gelangen. Sie biss sich auf die Lippe, denn es
drängte sich ihr eine entscheidende Frage auf. Immer wieder dieselbe,
natürlich.
„Was
passiert jetzt?“, flüsterte sie fast, aber er atmete entspannt aus.
„Nun, wir
fahren jetzt noch etwa zwanzig Minuten, parken den Wagen und genießen das
Essen, Miss Clark.“ Sie sah ihn an. Schließlich wandte er den Kopf in ihre
Richtung. „Aber… das meinten Sie wohl nicht?“ Er versuchte sich an einem
Lächeln, aber sie sah, dass es seine grauen Augen nicht erreichen konnte.
„Ich…
will nur wissen, ob…“ Aber sie sah, wie sich sein Körper anspannte, wie er sich
bereits jetzt schon physisch weigerte, auf ihre Fragen einzugehen. „Ich glaube,
ich habe keinen Hunger“, schloss sie, während ihr Blick streng nach vorne aus
dem Fenster gerichtet war. Sie spürte sie Augen auf ihrem Gesicht, und sie wusste,
sie wurde rot.
„Keinen
Hunger?“, wiederholte er jetzt, aber sie konnte den Ton nicht einordnen.
„Nein“,
log sie, allerdings schlug ihr Herz so laut, dass sie wohl ohnehin nichts essen
konnte. Zumindest nicht jetzt gerade. Er atmete gereizt aus.
„Wir sind
unterwegs, der Tisch ist reserviert, und deshalb werden wir essen“, erklärte er
gereizt.
„Sie
essen doch ohnehin nichts!“, fuhr sie ihn zornig an, und ihr Handgelenk zog
heftig unter ihren Worten. Ihre Hand schloss sich unbewusst um das Tattoo, während
sie unterdrückte ihren Mund zu verziehen. Und tatsächlich trat er auf die
Bremse, lenkte den Wagen nach rechts an den Seitenstreifen, und mitten im Wald
auf der unmarkierten Landstraße hielten sie an.
Er
stellte den Motor ab und wandte sich in seinem Sitz ihr gänzlich zu. Oh nein!
Er sah zu gut aus, als dass sie sich streiten könnte! Außerdem hatte sie das
kleine Problem mit den unkontrollierbaren Schmerzen, jedes Mal, wenn sie es
denn wagen sollte ihre Meinung zu sagen. Widerwillig sah sie ihn an. In sein
wütendes Gesicht. Oh nein, er war wirklich wütend.
„Ich
denke, ich war ziemlich entgegenkommend, oder irre ich mich, Miss Clark? Ich
denke, ich habe Ihre Freunde in mein Haus geholt, keinen von ihnen umgebracht,
ich habe Sie nicht dem Teufel verkauft und noch immer sind Sie am Leben, obwohl
Sie mir keinerlei Nutzen bringen!“, fuhr er sie an, und jedes Wort brannte
messerscharf.
Sie
unterdrückte die Tränen nicht mal, schüttelte lediglich den Kopf und schnallte
sich hastig ab. „Was wird das?“, erkundigte er sich kalt, aber sie zog es vor,
nichts zu sagen, und somit keine Schmerzen zu riskieren.
Aber
sobald sie die Autotür geöffnet hatte und ausgestiegen war, kehrte der Schmerz
in ihrem Handgelenk mit aller Macht zurück.
„Miss
Clark!“, hörte sie seine zornige Stimme nahezu augenblicklich, nachdem sie die
Tür zugeschlagen hatte. Er war hinter ihr, schneller als es menschlich möglich
sein könnte, und umfing hart ihr Handgelenk. Sie versuchte ihre Hand aus seinem
Griff zu ziehen, aber er war zu stark. Wo war ihre verdammte Kraft jetzt?
Gerade in diesem Augenblick?
„Was
denken Sie tun Sie da? Wollen Sie weglaufen und sterben? Ist es das?“, knurrte
er, und die Herbstsonne tanzte auf den dunkelblonden Strähnen und ließ sie
golden schimmern.
Seine Augen
waren wachsam, wütend und entließen sie keine Sekunde lang aus seinem Blick.
„Mich anzuschweigen wird Ihnen auch nichts bringen!“, fügte er bitter hinzu.
Sie wandte sich schließlich aus seinem Griff und schaffte es sogar, zornig
auszusehen.
„Ich habe
es satt, dass mir keiner erzählt, was anscheinend alle zu wissen scheinen!“,
fuhr sie ihn an, ignorierte den Schmerz in ihrem Handgelenk, und er runzelte
tatsächlich die Stirn.
„Warum so
wütend, Miss Clark?“
„Warum?
Weil Sie mich seit Tagen gefangen halten und mir nicht sagen, was-“
„Weil ich es nicht weiß!“, unterbrach er sie lauter. „Und es steht Ihnen auch
nicht wirklich zu, so etwas von mir zu verlangen. Der Schmerz in Ihrem
Handgelenk müsste mittlerweile unerträglich sein, so oft wie Sie mir widersprechen!“,
ergänzte er, während er näher kam. Die Nähe seines Körpers löste das bekannte
Kribbeln in ihr aus. Und immer noch betrachtete er sie, als wäre sie plötzlich
jemand anderes.
„Sie
werden jetzt in das Auto steigen. Wir werden essen gehen. Und sie lassen es
verdammt noch mal meine Sorge sein, was in Zukunft passieren wird. Wir haben
einen Vertrag.“
Und sie
hätte gerne widersprochen, hätte gerne geschrien, ihre Kraft aktiviert und
dafür genutzt, ihn von sich zu stoßen, aber… sie war viel zu schockiert.
Sie war
wütend. Sie war wirklich wütend. Und es war nichts, was sie tatsächlich
erklären konnte. Es brodelte in ihrem Innern. Sie fühlte sich… anders, neu… und
mächtig wütend.
„Sie
werden mich umbringen, sobald Sie wissen, dass meine Kraft nicht mehr vorhanden
ist, wenn Sie mich verwandelt haben, richtig?“, entfuhr es ihr heiser und sie
ließ ihn nicht aus den Augen. Er atmete angestrengt aus.
„Miss
Clark-“
„Wieso
sagen Sie es nicht?“, unterbrach sie ihn zornig und wieder sah er sie ungläubig
an.
„Steigen
Sie ein“, entgegnete er kalt, ohne auf ihre Frage zu antworten. Ihr Herz
klopfte so laut, dass es ihn wahnsinnig machen musste, überlegte sie zufrieden.
Gut so.
Und dann
hörte sie es. Es war wie ein… Klingeln. Ein Klirren. Ein Geräusch, das aus den
Wäldern kam. Liam war genauso schnell alarmiert wie sie und horchte auf.
Als sie
sich umwandte erhaschte sie nur noch einen letzten Blick auf eine Gestalt, die
unmenschlich schnell zwischen den Bäumen verschwand.
Sie
spürte, dass er näher gekommen war. Er griff nach ihrem Arm. „Einsteigen.
Jetzt“, informiert sie seine ruhige Stimme einsilbig.
„Was war
das?“ Aber sie spürte die bekannte Angst wieder. Sie würde nicht länger
diskutieren. Wahrscheinlich war es sicherer in der Gefahr von Liam Cunning zu
bleiben, wenn sie die anderen Gefahren alle noch nicht kannte.
Sie war
sich nicht sicher, woher die neue Unruhe und der Unmut kam, die sie spüren
konnte, aber es machte sie nervös. Sie stieg wieder ein.
Und schnell
saß er wieder neben ihr, startete den Wagen und sie sausten die Straße entlang.
Wortlos. Richtig, sie waren immer noch im Streit, fiel ihr wieder missmutig
ein. Wusste er, wer im Wald gewesen war? Wer lief so schnell? Waren es Vampire?
Oder etwas anderes? Und war es alleine unterwegs? War es überhaupt auf der
Suche nach ihr? Sie kaute wieder auf ihrer Unterlippe und wusste nicht, ob sie
ihn fragen sollte.
„Wer war
das?“, fragte sie schließlich nach einer Weile, als ihr die Stille zu drückend
wurde. Zuerst antwortete er nicht. Schließlich seufzte er.
„Ich weiß
es nicht.“ Und er log! Sie wusste es so sicher, wie jedes Mal, wenn er sie
nicht ansah. Aber sie beschloss nicht weiter nach zu fragen. Nachher
hypnotisierte er sie noch, das Auto zu verlassen und sich dem Tod auszuliefern.
Sie wusste nicht, wie es gerade um seine Laune stand.
Aber viel
wichtiger war, er wusste wieder einmal viel mehr!
Sie
knetete ihre Hände, verschränkte die Finger im Schoß, nur um sie wieder zu
lösen. Ab und an traf sie sein entnervter Blick. Sie konnte es aber nicht
verhindern. Eine Ruhelosigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen.
Endlich
erreichten sie ihr Ziel. Es war eine Ortschaft, die sie nicht kannte. Eine
Geschäftsstraße erstreckte sich meilenweit, so kam es ihr vor. Er parkte den
Wagen auf einem eingezäunten Platz, der direkt zu einem riesigen Haus führte.
Sie stieg
aus, ohne auf ihn zu warten, ohne sich die Tür öffnen zu lassen und sah sich
um.
Alles war
gepflegt. Die Grünflächen, die Auffahrt, sogar die Angestellten hier wirkten
extrem trainiert darauf, gut auszusehen.
Er stand
neben ihr und deutete mit einem Nicken zum Eingang des großen Gebäudes. Zwei
Männer standen vor den Türen. Sonnenbrillen schirmten ihre Blicke ab, aber als
sie näher kamen, nickten beide nur und wichen zurück. Die Türen schwangen nach
innen auf, und geschäftig zog er bereits den Mantel aus.
Er wurde
ihm abgenommen, und eilig zog sie auch ihren Mantel aus.
Die
Scheiben liefen durchgehend von Wand zu Wand, waren vor der Sonne verspiegelt,
und es war angenehm hier drin. Eine weite Treppe mit wenigen Stufen führte
hinunter in einen Saal, wo mehrere Tische verteilt standen, und Menschen
plaudernd verteilt saßen, Kaffee tranken oder lasen. Es war ein hübscher Ort.
Und es
wirkte teuer. Erst als sie von einem Kellner die Treppe hinab geführt wurden,
bemerkte sie etwas Auffälliges. Alle Menschen hier wirkten… viel zu schön. Viel
zu… zeitlos. Sie hatte inne gehalten. Er hatte ebenfalls neben ihr gehalten.
„Was
ist?“, fragte er ruhig, aber sie ruckte nur mit dem Kopf. „Kommen Sie“, fügte
er hinzu und legte seinen Arm auf ihre untere Rückenpartie. Sofort machte ihr
Herz einen Satz bei seiner Berührung, und sie glaubte ihn lächeln zu sehen.
Aber es war schnell verschwunden.
Sie
wurden zu einem großen Tisch geführt, der umrandet mit großen Terrakottatöpfen
voller blühender Rosen stand. Der Blick bot Aussicht in ein riesiges Gelände.
Alles erinnerte sie an einen Golfclub. Aber der Ausblick nach hinten zeigte ihr
zwar eine riesige Grünfläche, aber keine Golfanlage.
„Miss
Clark, was wünschen Sie zu speisen?“, erkundigte sich der Kellner, und er
wirkte fast aufgeregt. Sie schenkte Liam einen kurzen Blick. Die Leute hier
kannten anscheinend ihren Namen.
„Ahem…?“ Sie sah ihn hilfesuchend an, aber er lächelte
tatsächlich.
„Sehen
Sie mich nicht an. Ich esse nicht. Suchen Sie sich aus, was immer Sie möchten.
Egal, was“, erklärte er.
„Gibt es… ein Menü?“, fragte sie vorsichtig und kam sich albern vor. Der
Kellner betrachtete sie fasziniert.
„Nein.
Kein Menü, Miss. Nennen Sie, was Sie möchten.“ Sie verdrehte die Augen. Was war
das hier für ein seltsames Restaurant? Sie zuckte schließlich die Achseln. Wenn
Liam sie ärgern wollte, gut. Dann sollte er nur.
„Ok, ich nehme
eine englische Frühstückspfanne, mit Bacon, Bohnen und Bratkartoffeln, dazu Pancakes und Gingerale“, erwiderte sie lächelnd. Der
Kellner verließ sie mit einem amüsierten Nicken.
„Sie
bestellen gar nichts?“, fragte sie gereizt, denn das ganze Konzept von
Essengehen war wohl vollständig aufgehoben, wenn er nicht mal aß!
„Man
kennt mich hier“, erwiderte er nur. Sie atmete laut aus, verschränkte wieder
die Finger ineinander und sah sich nervös um.
„Sie sind
sehr aufgeregt“, stellte er schließlich fest. Sie atmete wieder aus, versuchte
ernsthaft, sich zu beruhigen, aber er schüttelte den Kopf. „Es liegt an der
Kraft. Sie sind nicht ausgelastet. Aber dafür sind wir hier“, schloss er
lächelnd. Sie sah ihn sofort an.
„Was?“, erwiderte sie, aber sobald er ihre Kraft erwähnt hatte, spürte sie es
in sich brodeln und kochen, als könne ihre Kraft nicht erwarten, getestet zu
werden. Und sie fühlte sich unwohl hier. Die Menschen schienen sie zu
betrachten.
Und sie
bemerkte, keiner aß etwas. Sofort schoss ihr Blick hoch in sein Gesicht.
„Das sind
Vampire!“, flüsterte sie tonlos. Er nickte lächelnd. „Sie bringen mich in ein
Haus voller Vampire?“, fügte sie entrüstet hinzu, aber er zuckte die Schultern.
„Haben
Sie Angst?“ Sie schüttelte unbewegt den Kopf, und sein Lächeln irritierte sie.
Anscheinend war seine Wut verraucht. „War Ihr Abend gestern unterhaltsam?“,
erkundigte er sich höflich, und der Kellner brachte bereits die Getränke.
Sie war
fast überrascht, dass er nicht Blut in irgendeiner Form brachte. Nein, er stellte
ihm einen Espresso auf den Tisch. Dazu ein Glas Wasser. Sie bekam eine ganze
Flasche Gingerale. Sie bedankte sich zögerlich, während Liam es ignorierte.
„Mein
Abend war sehr nett, danke“, erwiderte sie also, bemüht um Höflichkeit. Es war
schwierig. Sie war aufgeregt. Gereizt. Rastlos. Und er sah es ihr anscheinend
an.
„Ich
dachte, Sie würden Blut bestellen“, bemerkte sie jetzt, als sie sich sicher
genug fühlte, dass er wohl nicht schreien würde. Er lächelte sogar breiter.
„Das wäre auch überhaupt kein Klischee, nicht wahr?“
Und bevor
sie antworten konnte, zog er eine Schachtel aus der Innentasche seines dunklen
Jacketts. Er schob es über den Tisch, und sie starrte auf die Schachtel.
Es war…
ein Geschenk? Sie sah ihn an. Mit großen Augen.
„Herzlichen Glückwunsch, Miss Clark“, erklärte er freundlich, und sie konnte
seinen Blick nicht deuten. Seine Augen hatten sie fixiert, wirkten dunkler als
vorher, und sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Wieder einmal
sah er unglaublich gut aus. Wieder einmal machte er ihr das Atmen schwer, in
seinem dunklen Anzug, dem dunkelgrünen Hemd, was perfekt zu seinen Haaren
passte, und seiner ganzen Erscheinung.
Er war
ein verflucht schöner Mann. Sie senkte hastig den Blick.
„Ein
Geschenk? Für mich?“, vergewisserte sie sich leise, und er nickte nachsichtig.
„Natürlich.
Das ist doch so üblich an einem Geburtstag.“
„Was
sollen die Leute hier denken?“, wagte sie zu fragen. „Wenn alle wissen, dass
Sie hier mit einem Menschen…“
„Das ist mir
verdammt egal, Miss Clark. Und außerdem… die mächtigsten Personen in diesem
Raum sitzen hier. An diesem Tisch“, erwiderte er leise. Und sie schluckte
schwer.
Und sie
konnte nicht verheimlichen, wie angenehm überrascht sie war. Vor allem, da dies
dann das erste Geschenk sein würde, das sie auspackte.
Und das
Geschenk auszupacken lenkte ihre ruhelose Macht ein wenig ab. Vorsichtig zupfte
sie an dem silbernen Geschenkband. Es war um eine Samtschachtel gewickelt, also
konnte sie ziemlich sicher, dass es sich hier um Schmuck handelte.
Sie hatte
noch nie Schmuck geschenkt bekommen! Schon gar nicht von einem Mann. Einem
Mann, der ein Vampir war. Und dessen Blutsklave sie war.
Sie
atmete angespannt aus, als sie die Schachtel öffnete. Er betrachtete sie, ohne
sie aus den Augen zu lassen. Die Kette war silbern und schlicht. Es war kein
Schmuckstück aus einem Juweliergeschäft, fiel ihr sofort auf. Der Anhänger war
ein grobgeschliffener Stein. Er wirkte milchig, undurchsichtig und hatte die
Größe ihres Daumennagels. Sie hob den Blick.
„Keine
Diamanten, falls Sie so etwas erwartet hatten“, erklärte er lächelnd, aber sie
hatte überhaupt nichts erwartet. Also war das – was auch immer es für eine
Kette war – ein ziemlich schönes Geschenk.
„Danke“,
sagte sie also. Er lehnte sich näher vor. Seine grauen Augen betrachteten sie
warm.
„Das ist
ein Orthoklas. Der Stein kommt aus Brasilien. In dieser Form ist er selten zu
finden. Er ist ein… eine Art Kompass.“ Sie sah ihn an. Er entließ sie noch
nicht aus seinem fesselnden Blick.
„Ein Kompass? Für was?“, flüsterte sie leise, und er lächelte.
„Für
gewöhnlich trägt jeder Jäger einen solchen Stein“, erwiderte er ruhig. Und sie
erinnerte sich. Hatte Hawker nicht auch so einen
ähnlichen Stein getragen? Ja, er trug ihn um den Hals. Ihre Stirn runzelte
sich.
„Woher
haben Sie das?“ Und sein Lächeln wurde schmaler.
„Ist das wichtig?“ Aber sie konnte es sich denken. Wenn jemand Jäger als Hobby
tötete, dann sollte es wohl ein leichtes sein an einen solchen Stein zu kommen.
Sie schob ihn wieder über den Tisch zurück.
„Ich
könnte nicht-“
„Miss
Clark, dieser Stein ist tausend Jahre alt. Niemand wird ihn mehr beschlagnahmen
wollen. Tragen Sie die Kette, dann werden Sie immer aufzufinden sein. Zumindest
für einen Jäger.“ Und ihr Blick hob sich verblüfft zu seinen Augen.
„Wieso
geben Sie mir das?“, hauchte sie, aber er antwortete nicht sofort. Sein Blick
hielt sie gefangen. Er war wunderschön.
„Würden
Sie es tragen?“ Und sie zwang sich, ihren Herzschlag zu beruhigen.
„Ich bin ihre Sklavin, wieso zwingen Sie mich nicht?“, wollte sie verblüfft
wissen, aber er quittierte ihre Worte mit einem anerkennenden Nicken.
„Weil ich
nicht will, dass Sie diese Kette wieder ablegen, sollten Sie es nicht mehr
sein.“
Und ihr Mund
öffnete sich verblüfft. Was?! Sollte sie was nicht sein? Seine Sklavin? Es
bestand eine solche Aussicht?! Hieß das, es gäbe ein Szenario, in dem sie nicht
mehr verpflichtet war, ihm hörig zu sein und sie würde noch leben, um diese
Kette zu tragen?
„Bitte“,
fügte er ruhiger hinzu, bevor sie etwas erwidern konnte, und sie spürte die
Hitze in ihren Wangen. Ehe sie etwas Entsprechendes sagen konnte wurde ihr
tatsächlich ihr Essen gebracht. Ihr Mund öffnete sich erstaunt. Sie bekam
tatsächlich ein englisches Frühstück serviert. Und riesige Pancakes.
Und
ausnahmslos alle Vampire im Raum wandten sich um, sahen ihr praktisch zu, wie
sie die Gabel prüfend in eine Bratkartoffel steckte, um zu testen, ob sie durch
war. Aber es sah köstlich aus.
„Alle
Augen sind auf Sie gerichtet“, informierte er sie amüsiert. Ja, es war ihr
wirklich unangenehm, aber sie hatte wirklich Hunger. Sie ignorierte also die
verstummten, versammelten Vampire und aß voller Genuss.
Er hatte
ihre eine Kette geschenkt, damit ein Jäger sie würde finden können, falls sie
irgendwann nicht mehr bei ihm war.
Sie
wollte es gar nicht deuten. Sie konnte es nicht einmal wirklich deuten. Sie
wusste nur,
er hatte
ihr ein Geschenk gemacht. Und es freute sie. Das würde sie aber nicht zugeben.
Nicht laut zumindest.
~
Daughter of the King ~
Etwas
skeptisch betrachtete sie den angrenzenden weiten Platz. Sie hatte den Mantel
ausgezogen, denn ihr war unnatürlich heiß. Schon seit einer Weile betrachtete
er sie unverhohlen.
„Dann zeigen Sie, was Sie können, Miss Clark“, erklärte er offen und deutete
auf die weite Fläche. „Sie können rennen, Dinge heben, werfen, zerschlagen –
egal.“ Und unsicher trat sie vor zu einem großen Felsquader. Sie würde die Arme
allerhöchsten um die Längsseite bekommen. Er sah aus, als wöge er hundert
Tonnen. Nein, vielleicht eine Tonne. Aber trotzdem sah er schwer aus.
„Ich soll
ihn hochheben?“, vergewisserte sie
sich unsicher, aber sie würde es probieren.
Sie ging
in die Knie, und sie spürte, wie ihre Kraft vor Spannung kribbelte. Sie schloss
die Arme um den Quader. Und… er wog gar nichts. Sie hob ihn aus dem grünen
Gras, spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten, wie sie sich überhaupt erst zu
entwickeln schienen, und ein überraschter Laut verließ ihren Mund, als sie den
Quader hoch in die Luft warf, nur um ihn nach zwei Sekunden wieder aufzufangen.
Sie
spürte eine seltsame, sehr alte Macht. Sie setzte den Stein zurück auf den
Boden.
Und mit
einem untypischen Schrei schlug sie ihren ausgestreckten Arm auf den Stein
nieder.
Und als
wäre es das natürlichste auf der Welt, zerbröselte er unter der Intensität
ihres Schlags.
Sie
atmete schnell. Ihre Arme fühlten sich etwas taub an, aber schon ließ dieses
Gefühl nach. Sie stand breitbeinig in ihren Stiefeln vor den Gesteinsbrocken, und
eine eigenartige Ruhe befiel sie.
„Wie schnell sind Sie?“, wollte er unbeeindruckt wissen, und sie sah ihn nicht
mal an, bevor sie ihren Oberkörper senkte. „Sie dürfen bis zum Rand des
Grundstücks rennen“, fügte er hinzu. Sie spürte seine Erlaubnis in ihrem
Körper, spürte, einen Hauch an Freiheit, und schon sprintete sie los.
Und das
Grün sauste an ihr vorbei, ihre Beine bewegten sich so schnell, als wären sie
weicher Pudding, und außer Atem krachte sie mit ausgestreckten Armen gegen die Grundstücksmauaer, die nun ebenfalls bröselte.
Er war
keine Sekunde später neben ihr.
Sie
stützte die Hände auf die Knie.
„Das war bemerkenswert. Wie fühlen Sie sich?“ Aber er klang nicht freundlich.
Er klang nicht… wirklich begeistert. Er wirkte… bestätigt. Er sah aus, als
wolle er resignieren. Als hätte ihn etwas besiegt, und sie verstand nicht.
„Ich
fühle mich großartig.“ Und sie konnte ihn nicht fragen, denn sie setzte bereits
zum nächsten Sprint an. Sie wollte rennen, wollte schneller sein, wollte den
Wind im Gesicht spüren. Sie wollte ihre Kraft einsetzen, und wieder wartete er
auf sie am anderen Ende der Grünfläche.
„Wir
sollten uns auf den Rückweg machen“, eröffnete er plötzlich. „Wir sind nicht
mehr allein“, fügte er hinzu. Und weit über der abgegrenzten Parkanlage hinaus
ragten Berge in den Himmel, Wälder so dunkel, dass sie glaubte, die Sonne würde
den Boden dort nie erreichen.
Aber in
einer Luftlinie von keinen hundert Metern erkannte sie eine Reihe an Gestalten
im Wald. Und fast sah es so aus, als betrachteten sie diese Gestalten.
„Vampire?“, vermutete sie außer Atem, aber er ruckte mit dem Kopf.
„Nein.
Keine Vampire. Kommen Sie. Es gibt Dinge zu erledigen“, erwiderte er, kryptisch
wie eh und je.
„Dinge?“,
wiederholte sie jetzt, und er sah sie an. Und in seinem Blick lag plötzlich ein
seltsames Interesse.
„Bitte,
ziehen Sie den Mantel über, Miss Clark“, bat er sie, ohne jeden Zusammenhang.
„Oh, mir ist nicht kalt, ich-“
„Er soll Sie auch nicht vor der Kälte schützen“, erklärte er, und all seine Freundlichkeit
war verschwunden.
„Ich verstehe nicht…?“, begann sie, aber er führte es nicht aus, hielt ihr
lediglich ihren Mantel entgegen, und sie sah ihn ratlos an.
„Ziehen
Sie ihn bitte über. Ich will nicht, dass…“ Doch er sprach nicht weiter. Sie
spürte, dass er einen Befehl geäußert hatte, denn ihr Handgelenk ziepte
unangenehm stark. Sie ergriff den Mantel zog ihn über, und er deutete nach
vorne.
Sie waren
keine halbe Stunde hier draußen gewesen.
Und die Gestalten
beobachteten sie immer noch. Wer waren diese Leute? Und waren sie hinter ihr
her? Sie hatte Angst ihn zu fragen. Und ihr Herz pochte laut. Sie war nicht
ausgelastet, bemerkte sie. Sie hatte sich verändert. Sie hatte sich doch an
ihrem Geburtstag verändert.
„Können
wir zum Haus sprinten?“, fragte sie ihn, aber er verneinte, ohne sie anzusehen.
„Das wäre
nicht sicher.“
„Nicht
sicher?“
„Außerdem
wären diese Personen eher da“, fügte er knapp hinzu. Und sie sah, wie er sein iPhone aus seiner Tasche holte. Er telefonierte. Sie hatte
ihn noch nie ein technisches Gerät benutzen sehen, wusste allerdings, dass er
so etwas besitzen musste, hatte sie doch E-Mail-Kontakt mit ihm gehabt. Er
hielt sich das Telefon an Ohr, während sie das Grundstück durch ein Tor in der
Mauer verließen und sich auf dem Parkplatz wiederfanden.
„Komm zum
Haus. Jetzt gleich. Wir haben da ein Problem“, hörte sie ihn sagen, und sie
wusste nicht, mit wem er telefonierte. Aber sie hatte eine Ahnung….
~*~
Die
Rückfahrt verlief… still. Und etwas lag in der Luft. Er sah sie nicht an, sah
starr nach vorne, und immer noch kribbelte etwas Neues in ihr. Sie wollte ihn
fragen, wer die Personen waren, die mitten in den Wäldern standen, und
anscheinend ihn beobachteten. Oder sie?
„Muss ich
Angst vor den Personen haben?“, fragte sie plötzlich, und kurz streifte sie
sein ungläubiger Blick.
„Angst?
Sie haben einen Felsquader mit Leichtigkeit zerschlagen und fragen mich, ob sie
vor diesen Personen Angst haben müssen?“ Sie wusste, wahrscheinlich war sie
stärker, als sie dachte, aber dennoch! Sie konnte unmöglich stärker sein als
Liam, und… sie wusste nicht, was sonst noch auf sie wartete!
„Muss
ich?“, wiederholte sie also eindringlicher, und er seufzte.
„Nein.
Sie nicht, Miss Clark.“
Aber… Sie?“,
entfuhr es ihr entgeistert, ehe sie nachgedacht hatte. Er ruckte lediglich mit
dem Kopf, was ein Ja oder Nein signalisieren konnte. Sie wurde unruhiger.
Plötzlich
wandte sie den Kopf zum Fenster. Sie hatte etwas gesehen! Da draußen war etwas!
„Ich glaube-“,
begann sie, aber er beschleunigte plötzlich, und mit bestimmt 180
Stundenkilometern sausten sie nun durch über den schwarzen Asphalt.
„Ja, sie
verfolgen uns“, bestätigte er grimmig.
Und sie verfolgte
die Gestalten, anstatt noch mehr Fragen zu stellen. Sie schienen neben dem Auto
herzurennen. Ab und an blitzte eine Gestalt im Wald hervor, wenn sich die Bäume
lichteten.
Und als
sie endlich nach einer Ewigkeit das Anwesen erreichten war nichts mehr von den
Gestalten zu sehen. Aber es lag ja auch angeblich ein Schutz auf dem
Zombiegarten! Es schauderte sie. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Liam fuhr so
eilig die Auffahrt hoch, dass der Kies den Staub nur so aufwirbelte.
Als er
innehielt konnte Joanna nicht mehr sagen, wo oben oder unten war. Der Staub war
überall. Kurz warteten beide, dass sich der Kiesstaub lichtete, und Joanna
erkannte, dass Greyson bereits auf sie wartete. Nein, nicht Greyson, erinnerte
sie sich.
Sie stieg
aus, ohne auf Liams Erlaubnis zu warten. Es ziepte kurz in ihrem Handgelenk,
aber er schien es ihr nicht übel zu nehmen, denn er folgte ihr sofort.
„Ich habe
es dir gesagt!“, knurrte Cilian, ohne ihn zu begrüßen. „Ich wusste es!“
„Was?“,
entfuhr es ihr. „Was ist los?“ Aber Cilian sah sie mit einem verstohlenen Blick
an. Sie wusste, dass er vor ihrem Fenster gestanden hatte. Sie wusste, dass er
sie mochte. Sie wusste es! Aber es war alles gerade unwichtig.
„Deine
Grenze wird sie nicht aufhalten!“, bemerkte Cilian gereizt.
„Das weiß
ich.“
„Ich
hasse dich so sehr dafür“, murmelte Cilian stiller.
„Und
dennoch bist du hier“, schloss Liam, ohne darauf einzugehen. Jo merkte, wie
angespannt er war. „Ich möchte jetzt, dass sie bei mir bleiben. Sie werden
meine Seite auf gar keinen Fall verlassen.“ Sie nickte perplex. Er zog seinen
Mantel aus. Und Cilian stellte sich fluchend neben sie. Sie stand in der Mitte
der beiden Brüder, und sie sahen alle in Richtung Tor.
Allerdings
wusste sie nicht, was es dort zu sehen gab, außer der weiten Grünfläche davor.
„Worauf
warten-“ Aber ein klirrendes Geräusch unterbrach ihre Worte. Sie zuckte
reflexartig zusammen, duckte sich knapp, aber weder Liam noch Cilian hatten
reagiert. Und ihr Mund öffnete sich ungläubig, als sie erkannte, dass das Tor
einfach aus den Angeln geschlagen worden war. Innerhalb von wenigen Sekunden
sah sie die Schatten auf dem Grundstück deutlicher werden. Und in einer
immensen Geschwindigkeit standen sie jetzt direkt vor ihnen.
Sie war
vor Schreck zurückgewichen, aber Liams Macht hielt sie an seiner Seite. Sie
starrte die Personen an.
Es waren
Frauen! Es waren bloß eine Handvoll Frauen, aber sie sahen bitterböse aus!
Sie
spürte, wie Cilian neben ihr nervös wurde.
Ihr Herz schlug
schnell, während ihr Blick über die gefährlich aussehenden Frauen wanderte. Sie
trugen schwarze Lederröcke, behangen mit kleinen Beuteln, Nieten, Bändern und
Schlaufen für Waffen. Einige hatten lange, breite Schwerter direkt auf sie
gerichtet, andere hielten knarzend die Pfeile hart gespannt in den langen
Bögen.
Sie
hatten alle dunkle Haare. Lange dunkle Haare, hoch und
streng gebunden, und die Zöpfe fielen ihnen voll und lang über die Schulter,
und Jo glaubte, seltsame Knochen in den schwarzen Strähnen erkennen zu können.
Was sollte das sein? Trophäen? Es war eklig. Sie trugen schwarze Korsagen,
ebenfalls aus Leder, und Messer steckten in den Seiten, leicht zu ziehen.
Schmuck zierte ihre Hälse, Ohren und Handgelenke. Sie trugen schwere
Ringe und schwarze Schminke auf ihren Augen. Auf ihren Oberarmen hatte sie
verschiedene Tattoos, in ihr unbekannten Formen oder Schriften. Eine goldene
Münze blitzte um den Hals der Frau, die am weitesten vorne stand.
Sie
erkannte jetzt zwei Männer hinter den fünf Frauen. Sie trugen schwere
Leinenbündel über ihren Rücken und hatten zwei auffällig breite Silberbänder um
ihre Handgelenke. Auch in die Silberbänder waren die seltsamen Zeichen
eingraviert.
„William
Cunning“, sagte plötzlich die grimmigste Frau, und sie klang nicht wirklich so,
als ob sie einen alten Freund begrüßen würde. Nein. Ganz und gar nicht. Jo
schätzte sie auf höchsten Anfang zwanzig. Auf gar keinen Fall älter! Auch wenn
ihre Haut gebräunt und ihr Gesicht durch die viele Schminke älter wirkte.
Sie hatte
eine unglaubliche Figur. Aber alle Frauen vor ihr hatten eine ähnlich
beeindruckende Figur.
„Ravêna“, entgegnete Liam nickend. Sein Ton gab kein Gefühl
preis. Sie fühlte einen kurzen Stich, denn anscheinend kannte Liam die Frau mit
der mörderisch guten Figur. „Ich sehe, man hat dich zum Schergen verdammt?“,
entfuhr es ihm tatsächlich abschätzend.
„Mein
Name ist in deinem Mund verboten, Geschöpf der Dunkelheit. König Tyr hat dich
also nicht umgebracht“, entgegnete sie kalt, und die restlichen Frauen schienen
sich kaum noch zurückhalten zu können, so laut knarrten jetzt die Sehnen ihrer
Bögen. „Cilian“, fügte die Frau jetzt mit einem abschätzenden Blick auf ihn
hinzu. „Wie ich sehe, versuchst du dich an der nächsten Königin?“
Und Jo
verstand nicht richtig. Eigentlich verstand sie gar nichts! Wer waren diese
Frauen? Und neben ihr wurde Liam merklich ruhiger.
„Was soll
das bedeuten?“, entfuhr es Cilian tonlos.
„Das bedeutet, ihr gebt uns die Auserwählte und könnt froh sein, wenn wir euch
besonders schnell in Stücke zerfetzen!“, erwiderte die Anführerin, wie es
schien. Und… was?
„Ich bin
nicht die Auserwählte!“, entfuhr es ihr so hastig, dass sich alle Blicke auf
sie richteten. Und plötzlich verneigten sich die Frauen und die zwei Männer vor
ihr. Alle, außer der Frau namens Ravêna. Jo sah
verdattert zu.
„Was?“,
entgegnete diese schlicht und sprach zum ersten Mal direkt mit ihr.
„Ich…
ich…“, stotterte Joanna hilflos, aber sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie
einen Quader zerschlagen hatte! „Ich… es war ein Missverständnis. Ich habe nie…
ich war nie die Auserwählte“, stammelte sie. Sie konnte förmlich sehen, wie die
Frau vor ihr zorniger wurde.
„Cunning,
was-“, fuhr sie Liam jetzt an, aber dieser atmete aus.
„Sie ist nicht
unsere Auserwählte. Aber anscheinend…“, erwiderte er langsam, aber führte den
Gedanken nicht aus.
„Eure…?
Eine Vampirmörderin?“, sagte Ravêna jetzt
unbeeindruckt. „Nein, so etwas Niederes bist du nicht“, knurrte sie. Und sie
sah Jo allerdings an, als wäre sie noch etwas wesentlich Niederes als das. Jo
fühlte sich unter ihrem Blick nicht wohl.
Überhaupt
nicht wohl.
„Du bist
die erstgeborene Tochter von König Tyr, Tochter der Amazonen-Königin Kâya.“
„Fuck…“,
entfuhr es Cilian neben ihr, und er machte tatsächlich einen Schritt nach
vorne.
„Ravêna, wir-“
„Müssen
wir das wieder tun, widerliches Geschöpf der Dunkelheit? Dass wir überhaupt mit
euch reden ist keine Freude!“ Und die Spitze eines Pfeils drückte sich gegen
seine Brust.
„Wir
haben nicht-“
„Was?“,
unterbrach Ravêna ihn überlegen. „Dass dein
verdammter Bruder einen Fehler begangen hat?“ Jetzt bewegte sich Liam neben
ihr.
„Es tut
mir leid, deine Pläne zu durchkreuzen, allerdings… wird es nicht möglich sein,
sie dir zu übergeben“, erklärte er leichthin und schien sich mit diesen neuen
Informationen nur zu schnell abgefunden zu haben. Was zur Hölle…?
„Was? Was
soll das bedeuten?“ Sie kam näher, und Jo zuckte vor Schreck zusammen, als die
fremde Frau ihren Arm umfasste. Liam ließ es geschehen, aber nur zu schnell
hatte die Frau ihren Arm fahren gelassen und war zurückgewichen. „Du hast sie
unterworfen!“, entfuhr es ihr tonlos vor Schreck. Das Murmeln unter den übrigen
Frauen schwoll an.
„Wenn ich
sterbe, stirbt sie auch“, informierte Liam sie kalt. Joannas Herz schlug ihr
bis zum Hals.
„Gut“,
erwiderte Ravêna grimmig. Und mit ihrem Zeichen
ließen die Frauen die Sehnen fahren. Drei Pfeile durchbohrten Liam in
unfassbarer Geschwindigkeit. Jo schrie auf, aber die Frauen blieben
unbeeindruckt. Und Cilian neben ihr machte keine Anstalten, etwas zu
unternehmen.
„Dann
werden wir dich lediglich foltern, William“, knurrte sie. „Nehmt sie mit“,
fügte sie mit einer Geste auf sie und Cilian hinzu.
„Was… was
passiert jetzt? Was ist mit Liam?“, entfuhr es ihr zitternd. Und sie erntete
einen ungläubigen Blick.
„Das Schicksal der Vampire ist nicht unsere Sorge, Annâ“,
erwiderte sie, und Joanna runzelte die Stirn. Ihr Name war ein anderer. Wie
selbstverständlich diese Frau sie ansprach!
„Liams Schicksal
ist meine Sorge!“, widersprach sie jetzt. Und Ravêna
sah sie prüfend an.
„Solltest
du Gefühle für diesen Abschaum entwickelt haben, schlage ich dir schnellsten
vor, sie zu vergessen, Mädchen!“ Und ihr Ärger wurde deutlicher. Einer der
Männer hatte sie nun ergriffen und zog sie fort, aber sie spürte den Zauber
wirken, spürte, wie ihr Herz lauter schlug.
„Nein!“,
rief Cilian jetzt. „Sie ist an Liam gebunden. Sie stirbt, wenn sie… wenn sie
sich entfernt!“
Und Ravêna verdrehte tatsächlich zornig die Augen.
„Was für
eine Verschwendung die Linie der Vampire doch ist! Dafür wird er bezahlen!
Aber…“, sie machte eine knappe Pause, „ich habe sowieso den Auftrag beide
Cunnings mit nach Walhalla zu nehmen. Es wäre noch eine Rechnung offen.“
Jo sah,
wie Cilian Ravênas Blick nicht brach.
„Schließt
sie ein! Alle drei!“, befahl Ravêna kalt, und die
Männer packten schwere mit Eisen beschlagene Holzstangen aus den Bündeln. „Wir
brechen zur Dämmerung auf.“
„Was?
Wohin brechen wir auf?“ Jo wusste nur, sie würde nirgendwo hingehen! Ihre
Freunde waren hier! Und sie würde nicht mit wahnsinnigen Kampf-Weibern
loswandern!
Und die
Frau namens Ravêna schenkte ihr einen letzten
abschätzenden Blick.
„Nach
Hause. Nach Walhalla.“
Und Jo
wich näher an Cilians Seite. Dieser stand
bewegungslos neben ihr, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Blick war auf seinen
bewusstlosen Bruder gerichtet, der neben ihnen am Boden lag. Sie widerstand dem
Drang, sich neben ihn zu knien, denn sie wusste, er war nicht tot. Und Cilians Blick wirkte so tödlich, dass sie fast froh war,
dass Liam nicht bei Bewusstsein war.
Wahrscheinlich
hätten sie sich beide sonst noch umgebracht. Sie würde Cilian fragen! Sie würde
ihn fragen, denn… anscheinend wussten alle etwas, was sie nicht wusste. Und…
was war Walhalla? Doch nicht wirklich ein Ort, der existierte?
Sie
erinnerte sich an die Worte von Lucius. Es gab mehr als diese Welt.
Aber… das
war doch absurd! Und sie war die Tochter von wem? Sie hatte die Namen wieder vergessen, aber ihr war so elend
zumute, dass sie es nicht einmal mehr wissen wollte!
Sie
wollte weg von diesen… Frauen! Weg von hier!
Und ganz
bestimmt nicht nach… Walhalla, dachte sie mit einem Schaudern.
- The End –