Kapitel

Kapitel 1 , Kapitel 2 , Kapitel 3 , Kapitel 4 , Kapitel 5 , Kapitel 6 , Kapitel 7 , Kapitel 8 ,

Kapitel 9 , Kapitel 10 , Kapitel 11 , Kapitel 12 , Kapitel 13 , Kapitel 14 , Kapitel 15 , Kapitel 16 , Kapitel 17 , Kapitel 18

 

 

Prologue

 

 

Die beiden Männer hatten sie entdeckt. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie starrte sie an. Der Bär war längst ihren Fingern entglitten und auf den Boden gefallen. Ihre Zehen waren eiskalt, und sie wartete darauf, dass Mrs Fabian aufwachte.

 

„Es wird Zeit“, sagte der eine Mann jetzt, und ihr Atem beschleunigte sich sofort. Denn er sah in ihre Richtung. Alles war dunkel. Die Männer hatten die Lampen zerschlagen, hatten Tische und Regale umgeworfen, und sie wusste nicht warum. Sie versuchte, sich an Reime zu erinnern, Lieder, die Mrs Fabian ihnen beigebracht hatte, damit sie nicht weinen würde.

Das lernte sie hier. Nicht weinen, sonst würden die Paare keine Kinder adoptieren. Keiner wollte ein weinendes Kind.

 

„Bist du dir sicher, dass wir sie umbringen sollen?“, fragte der andere Mann jetzt. Sie sahen nicht älter aus als Kenny der Botenjunge, dachte sie. Waren sie auch Boten? Wieso hatten sie alles kaputt gemacht, und wieso hatten sie Mrs Fabian in den Hals gebissen? Wieso stand sie nicht auf?

 

Aber Joanna wusste, dass, wenn Mrs Fabian nicht aufstand… dann würde sie auch nicht mehr aufstehen.

 

„Geh nach draußen, halte Wache!“, befahl der andere jetzt wütend. Der erste Mann nickte nur, und der Blick, den er ihr zuwarf, ließ sie zittern. Seine Augen schienen zu leuchten. Wie die Augen einer Katze. Sie hielt die Luft an und kniff die Augen fest zusammen.

 

Einer der Männer ging. Sie wartete und hätte am liebsten den Bären wieder aufgehoben.

 

„Boys are rotten, made out of cotton…“, flüsterte sie, die Stimme fest, so dass sie nicht weinen musste. Paare adoptierten keine weinenden Kinder, hörte sie Mrs Fabian streng in ihrem Kopf sagen. Sie spürte einen kühlen Wind um ihr Gesicht, kniff die Augen aber nur fester zusammen. Erst als sie das schmerzhafte Stöhnen hörte, flogen ihre Lider wieder auf.

 

~*~

 

Er hatte den Pflock kommen sehen, noch ehe er sein Herz durchbohrte. Unter Anstrengung zog er ihn aus seiner Brust und warf ihn achtlos zu Boden.

 

„Verzeih, ich habe dich gar nicht erkannt, Cilian“, log die hochgewachsene Gestalt über ihm, während er noch vor dem Kind kniete, was zitterte vor Angst. Er konnte ihre Angst riechen. Neben allem anderem….

 

„Wirklich nicht?“, erkundigte er sich gepresst und verharrte weiterhin vor dem Kind.

 

„Wer sich mit der schwächsten Allianz verbindet, hat nur Nachteile davon“, unterrichtete ihn sein gegenüber und kniete sich ebenfalls vor das Kind. „Hallo, Joanna. Mein Name ist Liam“, stellte er sich vor, und das Mädchen starrte ihn an. Mit großen blauen Augen.

Ihr Duft traf sehr plötzlich Cilians Nase, und er musste sich bemühen, sie nicht in Stücke zu reißen.

Er hatte viele Kinder getötet, aber keines hatte solch einen Duft verströmt, keines war so gewesen wie dieses.

Waisenkinder waren anders. Kinder riefen nach ihrer Mutter, weinten und flehten, solange sie es konnten. Aber Waisenkinder hatten keine Mutter nach der sie rufen konnten.

 

Sie erwarteten keine Hilfe. Von niemandem. Liam neben ihm griff nach dem Teddybären, den das Mädchen verloren hatte und reichte ihn ihr. Langsam griff sie nach dem Stofftier und zog ihn dann heftig an ihre Brust.

 

„Hab keine Angst“, beruhigte Liam sie, und seine Stimme war in die Hypnose gerutscht.

 

„Was tust du?“, knurrte Cilian ungehalten, aber Liam richtete den Blick auf ihn.

 

„Was denkst du? Ich möchte nicht, dass sie schreit und wir heute Abend ein kleines Waisenkinder-Massaker anrichten! Wo ist dein Handlanger?“, fügte er kalt hinzu, und Cilian atmete aus.

 

„Drake ist draußen, hält Wache. Und macht dabei einen erdenklich schlechten Job“, fügte er mit einem eindeutigen Blick auf Liam hinzu. Dieser lächelte fast, aber Cilian sah, dass sein Lächeln seinen Unmut nicht zu verbergen mochte.

 

„Du denkst, ein Vampir könnte mich aufhalten?“ Er betonte das Wort wie etwas Lächerliches. Cilian atmete gereizt aus.


„Ich habe nicht wirklich mit deiner Erscheinung gerechnet“, gab er also zurück. Liam erhob sich in einer fließenden Bewegung. Die langen Haare fielen im Zopf seinen Rücken hinab. Sie waren länger geworden, stellte Cilian am Rande fest. Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Es war fünf Jahre her.

 

„Nein? Du dachtest, du kommst hier her und hast leichtes Spiel damit, das Kind umzubringen?“, fragte er knapp, und natürlich hätte Cilian es besser wissen müssen.

 

„Wenn sie überlebt, dann haben wir einen weiteren Jäger, um den wir uns kümmern müssen!“, beschwerte er sich. Aber Liam schüttelte nur nachsichtig den Kopf.


„Ich habe dir erklärt, es hat mehr mit dem Kind auf sich. Ein Jäger zu werden, ist nur eine der möglichen Optionen“, erklärte Liam gepresst.

 

„Ja? Ich weiß, aber wie viele kennst du, die kein Jäger geworden sind?“, wollte er wissen, und Liam schien kurz nachzudenken.

 

„Natürlich, wenn die verdammten Druiden schneller sind als wir, dann hat das Kind keine Chance, wird dem Ritual unterzogen, sobald es das Alter erreicht hat, und wir haben einen weiteren Job. Aber…“, begann er ruhiger und fesselte Cilian mit seinem Blick. „… du glaubst ja gar nicht, wie es sich anfühlt ihre Macht zu besitzen!“, flüsterte er ehrfürchtig. Cilian schluckte schwer und schüttelte dann den Kopf.

 

„Nein“, sagte er nur. „Sie würden uns keinen Tag lang in Ruhe lassen. Sie würden uns jagen, sobald das Wort die Runde macht“, erklärte er bitter.

 

„Wer? Die drei Jäger, die es noch gibt?“

 

„Nein, Liam!“, fuhr er ihn an. „Ich spreche von den Clans! Von den anderen. Denkst du, sie wollen es nicht? Denkst du, es gibt nicht einen einzigen von uns, der davon träumt über den anderen zu stehen? Eine Macht zu haben, die alles in den Schatten stellt?“

 

„Sie lassen uns schon jetzt nicht in Ruhe, Cilian. Denkst du etwa, deine kleine Allianz wird sich nicht irgendwann gegen dich richten? Ich habe gesagt, du hättest bei mir bleiben sollen. All dein Unglück legst du dir selber auf.“ Cilians Ausdruck wurde finster.

 

„Lieber den Zorn aller Clans als unter deinem Befehl zu handeln, Bruder“, erklärte er kalt, und Liam lächelte wieder ein gefährliches Lächeln.

 

„Ich bitte dich. Ich bin froh, dass du weg bist. Ich bin auch froh, wenn du zu Staub zerfällst, aber bis dahin… lässt du die Finger von dem Kind.“ Cilian wusste, Liams Worte waren ernst gemeint. Sein Blick senkte sich wieder auf das Kind.

 

„Und wieso tust du es jetzt nicht? Trink sie leer“, befahl er nur. Liam schüttelte sachte den Kopf.

 

„Sie ist noch nicht reif. Das, was du jetzt riechen kannst, ist nur eine Ahnung von ihrer Stärke. Sie ist wie ein guter Wein. Sie reift mit dem Alter. Und ihre Macht stirbt, wenn sie es tut“, erklärte er lächelnd. Cilian schüttelte den Kopf.

 

„Du kannst sie nicht versteckt halten. Du kannst sie nicht mitnehmen. Selbst deine Männer würden einen Weg finden, sie zu holen“, gab er zurück, und Liam nickte wissend.

 

„Ich bin nicht hier her gekommen, um zu essen, Cilian. Das Kind wird adoptiert.“ Cilian starrte ihn an.

 

„Und wer soll der glückliche sein, der mit dieser Qual“, er warf einen entsprechenden Blick auf das Mädchen, „leben muss, und sie niemals leer trinken darf?“ Es war ein dämliches Unterfangen.

 

„Es soll nicht deine Sorge sein“, erklärte Liam ruhig und betrachtete fast versonnen das junge Mädchen. Er wusste, sie war jetzt sechs Jahre alt. Cilian schloss gereizt die Augen.

 

„Liam, du kannst nicht garantieren, dass sie überlebt. Du kannst nicht garantieren, dass ein Druide sie nicht doch noch findet und zum Jäger macht!“, fuhr er ihn zornig an. „Was ist dein Plan? Du willst sie wachsen lassen und benutzen, wenn es soweit ist? Sie wird zu stark werden!“ Cilian fuhr sich durch die blonden Haare, langsam am Ende seiner Beherrschung und rückte von dem Kind ab, was immer noch hypnotisiert ins Leere blickte.

 

„Du solltest gehen. Ich kümmere mich um das Mädchen“, erwiderte sein Bruder, ohne auch nur eine Frage zu beantworten.

 

„Und was dann? Was, wenn es soweit ist?“ Was passiert in dreizehn Jahren?“ Cilian würde sich am liebsten auf ihn stürzen, würde ihn am liebsten selber umbringen.

 

„In dreizehn Jahren werde ich sie mir holen kommen. Du bist dann willkommen, dich wieder dem mächtigsten Clan anzuschließen, Cilian“, entgegnete er mit einem überlegenen Lächeln. „Und jetzt rate ich dir, zu verschwinden. Die Polizei ist auf ihrem Weg.“ Cilian schüttelte ungläubig den Kopf.

 

„Du hast die Polizei gerufen?“

 

„Natürlich. Den Freund und Helfer“, erklärte er lächelnd.

 

„Wo soll sie hin? Wenn sie ein Jäger wird, verspreche ich dir, dass ich persönlich vor deiner Tür stehen werde, welches Schloss du auch immer bewohnst, wie hoch der Berg, auf dem du dich versteckst, auch sein mag!“, knurrte er zornig.

 

„Ist das so? Ich weiß, du vertraust keinem, aber es geht dich ab hier nichts mehr an“, beendete er das Gespräch. Aber Cilian schüttelte den Kopf.


„Wo soll sie hin? Sag es mir!“, forderte er gepresst. Und Liam lächelte wieder.

 

„Dahin, wo die Wölfe wohnen“, gab er zufrieden zurück.

 

„Bist du verrückt geworden?“, flüsterte Cilian jetzt und wich zurück.


„Die Wölfe werden sie genauso lebendig wollen wie wir.“

 

„Was hätten die Wölfe davon?“ Und Cilian wusste, es gab etwas wichtiges, was sein Bruder ihm verschwieg. Es gab noch eine weitere Komponente, von der er keine Ahnung hatte. Er wusste selber nur, was Liam willig war, preiszugeben – und das schien zu wenig zu sein!

 

„Unsere kleine Unterhaltung ist hiermit beendet. Ich schätze, ich sehe dich in dreizehn Jahren, Bruder.“ Er betonte dieses Wort abfällig, als wäre es eine Lüge.

 

„Liam!“, warnte ihn Cilian jetzt, aber Liam hypnotisierte bereits das Mädchen, löschte die Erinnerung und erhob sich schließlich. Er hörte das Summen der Motoren, als eine ganze Kolonne an Fahrzeugen die Straße passierte.

 

„Vergiss das Mädchen. Ansonsten haben wir ein Problem“, erklärte er offen. Mit einem Knurren wollte Cilian nach vorne stürzen, aber Liam war verschwunden, ehe er die Luft zu fassen bekam, wo er gestanden hatte. Die Sirenen dröhnten durch die Nacht, und das rotierende Licht der Polizeiautos erfüllte das Zimmer auf gruselige Weise. Sie waren bereits im Gebäude und stürzten die Treppe hinauf. Mit einem letzten Blick auf das Kind, wandte er sich ab. Sie kam langsam wieder zu sich, und er wollte bestimmt nicht, dass sie sich sein Gesicht einprägen würde.

 

Mit einem unterdrückten Fluch war er in der Sekunde verschwunden, als die Beamten die Tür ins Zimmer auftraten.

 

 

 

Kapitel 1

~ Death is Cunning ~

 

Ihre Augen lasen die Schlagzeilen abwesend und blieben schließlich an den Wetterprognosen hängen. In der Cafeteria war es wie immer laut. Zu laut, als dass man wirklich einen Artikel in Ruhe hätte lesen können. Ihr Finger glitt gelangweilt über das kühle Glas des iPads, und neben ihr las Blake mit.

 

„Wieder ein Zugunglück“, hörte sie Blake sagen. Seit Wochen, so kam es ihr vor, häuften sich die Katastrophen. Nichts ungewöhnliches, natürlich. Es kam häufiger vor, dass Züge entgleisten, dass Autos ohne erkennbares Glatteis plötzlich auf die andere Fahrbahn abkamen oder dass Camper im Wald von den Bären angegriffen wurden.

 

Aber im Moment machten ihr die Zeitungen und Nachrichten nur schlechte Laune.

 

„Ja, fast alle sind umgekommen“, las sie die Hauptaussage des Berichts vor. Es war ein Mitternachtszug in Richtung Vermont gewesen. Die Strecke war noch einen Tag vorher ohne Probleme befahren worden, aber hier ist der Zug auf der Hälfte der Strecke um vier Uhr nachts entgleist. Die Ursachen seien unklar. Sie schüttelte langsam den Kopf.

 

„Es ist furchtbar. Ich begreife nicht, wie viele Katastrophen in den letzten Monaten vorgefallen sind“, erwiderte sie. Blake hob den Blick nicht, seufzte laut und schien wieder abwesend zu sein.

 

Ja. Blake war die meiste Zeit über abwesend. Er war nicht unbedingt ein Mann der vielen Worte oder der sozialen Kontakte. Er war ein Mann der Bücher. Das konnte man wohl so behaupten. Er zog sein riesiges Smartphone aus seiner Tasche und begann selber im Internet zu surfen. Sie wusste nicht genau, was er tat, aber er schien mächtig beschäftigt zu sein.

 

„Der Kreis schließt sich“, sagte er plötzlich, und so kryptisch seine Worte waren, so wenig Sinn machten sie. Er hob gedankenschwer den Blick. „Die Unglücke und Verbrechen ziehen einen engeren Kreis im Norden“, fügte er hinzu.

 

„Ich glaube nicht, dass Naturkatastrophen und Unfälle Kreise enger ziehen können, Blake. Bist du wieder paranoid?“, erkundigte sie sich mit einem feinen Lächeln, aber natürlich erwiderte er es nicht. Blake war schließlich auch Verfechter der Weltuntergangstheorie. Sie ließ den Blick aus den langen Fenstern schweifen, als klar war, dass Blake nicht mehr antworten würde.

 

Der Herbst kam langsam, und die Tage wurden kürzer und dunkler draußen. Sie hatte das Gefühl, je näher der Winter rückte, umso gefährlicher war es draußen. Aber Montana war immer gefährlich, wenn man sich an den falschen Stellen aufhielt. Vor allem die Verrückten, die ihre rituellen Trips in den Yellowstone Park unternahmen brauchten sich nicht wundern, wenn sie von Bären oder Wölfen angegriffen wurden.

 

Sie hatte nie begreifen können, wie man sich freiwillig eine Campingausrüstung in Montana kaufen konnte. Da würde sie lieber im Central Park campen gehen. In der finstersten Nacht, in der schlimmsten Ecke. Three Forks in Gallatin County, Montana, war bestimmt nicht der aufregendste Ort, bedachte man, dass die Küste endlos weit weg war.

Aber für alle die, die Berge und Wälder mochten, war hier der ideale Ort, um sich alle diese Träume zu erfüllen.

 

„Schon aufgeregt?“, fragte sie schließlich, um das Thema zu wechseln. Blake hob irritiert den Blick.


„Weswegen?“ Seine dunklen Augen verengten sich.

 

„Wegen unserem neuen Kurs!“, erklärte sie jetzt, und er schien zu begreifen. Er schüttelte nur den Kopf.

 

„Ich werde ihn mir nur ansehen. Mehr nicht.“

 

Lucy hatte sie alle angemeldet. Es war kein besonderer Kurs. Ein bisschen englische Literaturgeschichte, was sie nicht weiter tragisch fand. Und Blake, von dem sie überzeugt war, dass er seit einem Jahr in Lucy verliebt war, kam natürlich mit.

Und ein neuer Professor leitete ihn. Sie war sehr gespannt.

 

Die Lautstärke in der Cafeteria nahm zu. Sie hob den Blick, und wünschte sich, sie hätte es nicht getan. Greyson Adler stolzierte zielstrebig auf seinen Tisch zu. Die Sportler hatten ihren Stammtisch. Wahrscheinlich konnten sie so etwas nur beanspruchen, weil sie die Muskeln hatten, ihn zu verteidigen, oder sonst etwas.

Auch Blake hatte ihn bemerkt.

 

„Ich habe dir gesagt, du sollst dich bei der Schulleitung beschweren“, begann er wieder das alte Gespräch. Sie blickte missmutig zurück auf ihr iPad, ohne etwas zu lesen.

Sie hatte keine Lust, sich jetzt damit zu beschäftigen. Greyson Adler terrorisierte sie, seitdem sie am College hier angefangen hatte. Und er terrorisierte sie auf sehr subtile Weise. Denn sie würde es nie beweisen können, da sowieso alle auf seiner verdammten Seite standen.

 Und sie hatte Angst vor ihm. Nicht wirklich Angst, denn sie wusste, er war dumm, aber er strahlte etwas aus, was sie nicht zuordnen konnte, und das kam ihr gefährlich vor.

Alleine schon die Art, wie er Menschen ansah. Als wären alle Menschen, die er nicht leiden konnte Schuld an einem persönlichen Übel, dass ihm somit irgendwie widerfuhr.

 

„Ich kümmere mich darum“, gab sie bitter zurück. Sie ignorierte, dass sie gestern die Mitteilung erhalten hatte, dass der Fachschaftsurlaub in die Klausurenzeit der Literaturfakultät gelegt worden war. Somit konnte die gesamte Fachschaft nicht mit.

Und so etwas tat er andauernd! Absolut andauernd! Sie hatte sogar das Gefühl, dass er in ihren Gebäudekomplex auf den Campus gezogen war, nur um sicher zu gehen, dass die Literaturstudenten so wenig Spaß wie möglich hatten!

 

Die dämlichen Sportler, Wirtschaftswissenschaftler, sogar die Linguistiker, Pädagogen und Biochemiker konnten fahren und schienen alle auch noch einstimmig abgestimmt zu haben. Und das war verwaltungstechnisch gesehen einfach widerrechtlich!

 

„Und es geht wieder los“, hörte sie Blake knurren, und sie hob irritiert den Blick. Sie seufzte, als sie erkannte, was er meinte. Das war noch so ein Problem. Sie wusste nicht, weshalb es immer ein Problem war, aber beide schienen ihre Gründe zu haben.

 

„Hey Libby“, begrüßte sie ihre Freundin, die seit einem Jahr zu ihrer Gruppe gehörte, obwohl Blake immer gleich feindlich gesinnt war. Blake hob nur einen düsteren Blick, seine dunklen Augen gereizt, und sein Mund angespannt verschlossen. Sie sah, er hatte sich wohl nicht rasiert, denn dunkle Stoppeln bahnten langsam ihren Weg um seine Kinnpartie.

Sie unterdrückte ein Lächeln. Er sah wirklich aus, wie ein besonders schlecht gelaunter italienischer Mafiosi. Das sagte sie ihm natürlich nicht, denn auch nur eine Referenz bezüglich seiner italienischen Wurzeln zu machen, war verboten.

 

„Hey Jo, Blake! Na, aufgeregt?“ Sie klang ein bisschen angespannt, aber sie war häufig angespannt, wenn es darum ging einen weiteren Schein zu bestehen. Ihre Bluse war ein Hauch zu eng. Das schien Libby auch zu wissen, aber zu ignorieren. Jo wusste, Libby war sich sehr über ihr Aussehen bewusst, und schämte sich wohl mehr, als dass sie stolz und zufrieden mit sich war.

 

„Ja, ich weiß nicht, ob ich die Spannung deine Bluse ertrage“, murmelte Blake, ohne den Blick vom Bildschirm seines Smartphones zu heben. Libby setzte sich beleidigt neben sie und zupfte sofort am Bund ihrer Bluse.

 

„Ich bin sicher, Lucy kommt gleich, und dann bessert sich deine verdammt anstrengende Laune vielleicht“, gab sie bissig zurück, und Jo schloss kurz die Augen. Bitte nicht schon wieder! Nicht wieder in der Cafeteria!

 

„Meine verdammt anstrengende Laune?“, wiederholte er gepresst. „Wenn du nicht ständig mit mir sprechen würdest, wäre meine Laune vielleicht auch besser, meinst du nicht?“, knurrte er, und ehe Libby wütend werden würde, räusperte sich Jo.

 

„Hey, Libby, hast du von dem Zugunglück in Vermont gehört?“ Libby ließ sich tatsächlich ablenken.

 

„Ja, Vermont! Der Kreis schließt sich!“, sagte auch sie mit großen Augen und einem heftigen Nicken. Fast zuckten Jos Mundwinkel, während sie Blake einen knappen Blick zuwarf. Dieser verdrehte bloß gereizt seine Augen, und Libby setzte einen beleidigten Ausdruck auf.

 

„Was?“, fragte sie sofort.

 

„Nichts, gar nichts“, entgegnete Jo lächelnd.

 

Als Lucy die Cafeteria betrat hob sich sofort Blakes Blick, wurde entspannter, und eigentlich alle Jungen in der Cafeteria bekamen einen entspannten, gönnerhaften Blick. Es mochte daran liegen, dass Lucy der selbstbewussteste Mensch war, den Jo kannte, oder es mochte daran liegen, dass Lucy der schönste Mensch war, den sie kannte. Ihre roten Haare glänzten im Neonlicht der Lampen und wippten gottgegeben bei jedem grazilen Schritt, den Lucy tat. Ihre roten Locken endeten knapp über ihrer wohlgeformten Hüfte, und die hellblauen Augen funkelten amüsiert in die Runde. Sie hatte immer etwas Leichtes an sich, fand Jo, und sie war unglaublich dankbar, dass sich zumindest Blakes Laune bessern würde.

 

„Guten Morgen, Freunde“, begrüßte sie die kleine Runde. „Ich denke, es war eine gute Entscheidung, diesen Kurs zu belegen“, erklärte sie verschwörerisch, setzte sich und holte einen Apfel aus ihrer Tasche. „Uh… Greyson Adler ist wieder einmal böse auf uns?“, vermutete sie belustigt, und als Jo den Blick zum Sportlertisch umwandte, sah sie gerade noch, wie sich Greysons Blick abwandte.

Sie seufzte schwer.

„Libby, ich sehe, es wird mal wieder Zeit für eine Pilates-Stunde? Ich gebe heute Abend einen Doppelkurs“, bot Lucy mit einem Blick auf Libbys Bluse an. Schockiert öffnete sich Libbys Mund und fahrig zupften ihre Finger wieder am Bund ihrer Bluse.

 

Jo warf Libby einen mitleidigen Blick zu. „Oh, du könntest dich auch mal mehr bewesen, Jo!“, wandte sich Lucy jetzt an sie. „Ihr seid solche Couchpotatoes“, ergänzte sie kopfschüttelnd. „Blake, alles klar?“, fragte sie jetzt lächelnd, aber Blake brachte nie viele Worte raus, wenn Lucy anwesend war. Es war ein Jammer mit anzusehen. Er nickte lächelnd. „Sehr viel Bart“, merkte sie an. Jo nahm an, sie war jetzt fertig, ihre Freunde zu verurteilen. Gleich wurde es auch schon Zeit für den Kurs.

 

„Wir sollten mal losgehen. Ich will vorne sitzen“, erklärte Libby gedämpft. Ihre Laune hatte sich merklich abgekühlt. Jo tat sie leid. Wirklich leid. Aber sie durfte sich einfach nicht von Blake provozieren lassen. Und sie durfte sich nicht mit Lucy vergleichen. Das hatte Jo auch schon längst aufgegeben. Genauso wie Pilates. Jo fragte sich abwesend, ob alle Mädchen, die Lucys Kurs besuchten, heimlich planten, sie irgendwann umzubringen, denn Jo hatte keine Lust mehr auf Pilates gehabt, nachdem sie einmal mitgemacht hatte, und Lucy hatte zusehen müssen, wie sie mit Leichtigkeit, nur als Dehnungsübung, in einen Spagat gesprungen war.

 

Und als wäre es unglaubliches Pech, erhob sich auch Greyson Adler, als sie es taten.

Alles, was mit ihm zu tun hatte, war immer unglaubliches Pech, und Jo beschloss, es einfach zu ignorieren, als die Sportlertruppe lautstark redend hinter ihnen die Cafeteria verließ.

 

~*~

 

„Oh mein Gott…“, hauchte Libby tonlos neben ihr, während ihr Kopf knallrot anlief. So rot wie ihre neue Bluse.

 

Sie konnte ihr Grinsen kaum unterdrücken, während Libby tiefer in den Stuhl neben ihr sank. Eine Reihe hinter ihr stupste Lucy sie an. Sie lehnte sich unauffällig zurück, während Libby den Kopf ein weiteres Mal auf die Platte fallen ließ.

 

„Er hat noch nicht mal den Mund aufgemacht, und Libby ist fertig mit den Nerven“, flüsterte Lucy lächelnd.

 

„Es ist auch äußerst günstig, dass wir nur zehn Leute oder so sind“, beschwerte sich Blake, der es sich neben Lucy gemütlich gemacht hatte. Er sah sich missmutig um. Wahrscheinlich war ihm gerade aufgegangen, dass dieses Seminar weiblich dominiert wurde, und er, neben dem Dozenten, der einzige Mann war.

 

Du wolltest teilnehmen“, erinnerte sie ihn leise. Blake ruckte grimmig mit dem Kopf und warf Lucy abwesend einen Blick zu.  Lucy sprach seit Wochen von diesem historischen Seminar. Als ihr Mund ganz fusselig geworden war, hatte sie sich entschlossen, dass ein weiterer Schein nicht schaden könnte, wenn er leicht verdient war.

Und sie hoffte, dass dieses Fach keine großen Schwierigkeiten bereiten würde. Es war Englisch. Es war Literatur. Kein Problem, nahm sie an.

 

Blake bot hier einen unpassend lustigen Anblick. Die Farbe seiner Wahl war schwarz, und damit passte er schon kaum in ihre kleine Gruppe an eifrigen, bunten Literaturstudentinnen. Seine dunklen, schulterlangen Haare steckten relativ ungebändigt in einem Zopf. Es hatte heute Morgen noch geregnet, weshalb die dichten Wellen noch dichter schienen. Seine dunklen Augen sahen sich abweisend im kleinen Hörsaal um. Seine natürliche italienische Bräune schwand langsam, und er sah fast so aus, wie alle anderen auf dem College. Sie war nicht mehr neidisch, weil er aussah, als käme er gerade von einem zweiwöchigen Urlaub in der Karibik wieder. Nein, er wirkte ähnlich kränklich blass wie der gesamte Rest, den neuen Dozenten eingeschlossen.

 

Der Herbst war früh gekommen und hatte der Sonne all ihre Wärme geraubt.

Sein Blick blieb hin und wieder an Lucy hängen. Er musste auf sie stehen. Er musste einfach! Es war so offensichtlich. Es blieb doch eigentlich keinem verborgen, nur Lucy anscheinend schon.

 

Es war auch ein unwahrscheinliches Paar. Blake war düster, zog sein Smartphone jedem anderen Lebewesen, außer Lucy, vor, und Lucy war verglichen dazu ein Sonnenschein.

Lucy drehte belustigt eine lange Strähne um ihren Finger, während sie Libby beobachtete, die sich auf ihrem Sitz unwohl hin und her bewegte. Ihre Haare waren nicht gefärbt und strahlten im künstlichen Licht des Hörsaals in ihrer ganzen roten Pracht. Dazu kam der dunkelgrüne, tief ausgeschnittene Pullover besonders gut zur Geltung.

 

Sie war sich sicher, jedes Mädchen im Hörsaal war sich Lucys Anwesenheit gewahr.

Und das Schöne war, Lucy störte es nicht. Sie merkte nicht mal wie sie auf Leute wirkte.

 

„Oh… mein Gott!“, stöhnte Libby wieder und richtete ihre Bluse zum zehnten Mal in den letzten zehn Sekunden.

 

„Bitte, reiß dich zusammen“, knurrte Blake von hinten, während er die Augen verdrehte, weil auch der Rest der anwesenden Weiblichkeit im Hörsaal auf dem Rand der Sitze saß.

 

„Eine blöde, blöde Idee so weit vorne zu sitzen!“, murmelte Libby, während sie wieder an ihrer Bluse zog. Jo erinnerte sich, wie sich Libby vor einer Woche noch aufgeregt, dass sie einige Pfund zugenommen hatte, über Thanksgiving. Vergeblich versuchte sie ein unbeteiligtes Gesicht aufzusetzen. „Vielleicht sollten wir gehen?“, setzte sie hastig hinzu.

 

„Ich denke, das ist ohnehin zu spät“, sagte Blake von hinten, und Jo schüttelte nur den Kopf. Was machte sich Libby so einen Kopf?

 

Der Dozent war fertig, die Tafel sauber zu wischen und wandte sich um.

 

Er sah gut aus. Sehr gut, das gab sie zu. Auch sie konnte nicht anders, als seinen Anblick in sich aufzunehmen. Und neben ihr zuckte Libby alleine schon dadurch zusammen, dass er dem Hörsaal ein Lächeln schenkte. Sie hörte Blake unterdrückt fluchen, und sie musste ihr Lachen hinter ihrer Hand verstecken.

 

„Wie alt er wohl ist?“, hauchte Libby, und sie senkte den Blick, um nicht laut zu lachen.

 

„Zu alt“, hörte sie Blakes bittere Bemerkung. Sie konnte es selber nicht schätzen, aber sie sie glaubte nicht, dass er so alt sein konnte.

 

„Dann will ich mal die Anwesenheit prüfen. Allzu viel Aufmerksamkeit scheine ich dieses Semester nicht zu bekommen.“ Die anwesenden Mädchen lachten höflich und rutschten, so kam es ihr vor, auf ihren Sitzen noch weiter nach vorne.

Der Mann griff sich die Liste vom Pult vorne. Seine Stimme war angenehm ruhig gewesen.

„Den einzigen Mann werde ich wohl erraten können“, merkte er lächelnd an, und Lucy zuckte wieder zusammen, als der Dozent zwinkerte. Sie konnte förmlich spüren, wie Blake die Augen verdrehte.

 

„Bernard Da Corte, nehme ich an?“ Jetzt entwich ihr tatsächlich ein Lachen. Blake war plötzlich merklich still, und als sie sich umwandte erkannte sie, dass seine abweisende Fassade wie weggewischt, und nur noch Bestürzung in seinem Gesicht zu lesen war. Der Mann vorne hätte auch Rumpelstilzchen Da Corte vorlesen können, so verstört wirkte Blake.

 

„Blake. Mein… mein zweiter Name sollte dort stehen. Blake Da Corte“, bemerkte er kleinlaut, und sie nahm an, er schämte sich bereits jetzt. Einige Mädchen lachten verhalten. So auch Lucy. Der Dozent machte sich lächelnd eine Notiz.

 

„Italiener?“, fragte er amüsiert, und Blake ruckte mit dem Kopf. Er musste seine Familie jährlich zwanzig Mal nach Italien begleiten, weil eine seiner hundertdreißig Cousinen heiratete, Kinder bekam, Geburtstag hatte oder sonst irgendwas. Und er hasste es.

Und nicht nur, weil seine Eltern geschieden waren, es ihren Familien in Italien aber nicht gesagt hatten, sondern auch weil er kein Wort italienisch sprach und sich weigerte überhaupt irgendeinen Duktus seiner Heimat anzunehmen. Er mochte nicht mal Spaghetti.

 

„Ja“, bestätigte er also grimmig, wie eh und je, und Lucy warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

 

„Beginnen wir dann einfach von vorne. Joanna Clark?“ Ihr Name ging ihm leicht von den Lippen, und sein Blick ruhte beinahe wohlwollend auf ihr, als sie die Hand in die Höhe streckte. Libby sah sie von der Seite an.

 

„Auch irgendeinen zweiten Namen, der bevorzugt wird, Miss Clark?“, erkundigte er sich, den Stift in der Hand.

 

„Nein, Sir“, gab sie zurück, und aus irgendeinem Grund fiel es ihr schwer zu sprechen. Ihren zweiten Namen würde sie hier bestimmt nicht preisgeben, und Gott sei Dank war er auch nicht in den Anmeldelisten des Colleges hinterlegt. Dafür hatte sie gesorgt!

 

„Hat jemand ein Problem damit, wenn ich ihn duze?“, fragte er schließlich, und sie wusste, wer sich meldete.


„Für gewöhnlich werden wir gesiezt, Sir“, erwiderte Lucy schließlich.

 

„Ist das so? Gut, Miss…?“ Er wartete höflich, damit Lucy ihren Nachnamen sagen konnte.

 

„Tucker“, gab sie zurück. Sein Blick sank sehr kurz auf seine Liste zurück.

 

„Lucile Tucker will, dass ich die Studenten sieze“, notierte er sich leise. Sie sah wie sich Lucy zufrieden zurücklehnte und Libby verständnislos den Kopf schüttelte.

 

„Was tust du?“, flüsterte Libby verständnislos.


„Höflichkeit sollte immer geboten sein“, gab Lucy nur zurück, und Jo verstand nicht, weshalb sie Wert darauf legte.

 

„Weiter im Text. Georgiana Leman?“ Sie verdrehte die Augen. Königin Leman war also auch im Seminar? Dass hätte Lucy ihr sagen können. Dann wäre sie definitiv nicht aufgetaucht. „Abwesend“, schloss der Dozent schließlich. „Dana Grueson?“ Sein Blick ruhte auf Dana, als diese sich meldete. „Anna Kramer?“ Auch ihre Anwesenheit notierte er sich. So ging es weiter mit Nicole, Brittany und Jessica.

 

„Elizabeth Riley?“ Und neben ihr zuckte Libby erneut zusammen. Zitternd hob sich ihre Hand, während Lucy lachend in ihre Hand hustete.

 

„Irgendwelche Wünsche, Elizabeth?“, erkundigte er sich, und sie konnte seinen Akzent nicht zuordnen. Er war kein Amerikaner, so viel stand fest.

 

„L…li…li….“, stotterte Libby, ohne ihren Blick von ihm wenden zu können, während die Röte wieder in ihre Wangen zurückkehrte. Der Mann lächelte freundlich.


„Libby. Ihr Name ist Libby“, erklärte Lucy großmütig. Er notierte sich auch das.

 

„Vielen Dank, Miss Tucker. Wie würde ich ohne Sie zurecht kommen?“ Sie wusste, Blake explodierte wahrscheinlich hinter ihr. „Dann wollen wir beginnen.“ Er wandte sich um, legte die Liste zurück auf das Pult und schritt zur Tafel. „Mein Name ist Dr. William Cunning. Und wie sie bestimmt bereits scharfsinnig angenommen haben komme ich aus Irland. Miss Tucker, irische Vorfahren?“, warf er nun ein, und sie schüttelte stolz den rothaarigen Kopf.

 

„Nein.“ Und sie log. Ihre roten Haare hatte sie von ihrer irischen Großmutter geerbt, allerdings hegte sie kein gutes Verhältnis zu ihrer Großmutter weswegen irische Vorfahren nicht existent waren. Und der Dozent lächelte vage. Seine Mundwinkel kräuselten sich und bei Libby setzte erneut die Schnappatmung ein.

 

 „Gut, dann sagen sie mir doch mal, was sie über Geoffrey Chaucer wissen“, verlangte er mit einem weiten Blick in die Runde zu wissen. Sie hörte Blake erneut stöhnen, und sie hoffte, dass er das Seminar nicht noch mitten in der ersten Stunde schmeißen würde. Alle Mädchen kramten eilig nach Papier und Stift, und auch sie wandte sich schließlich an Libby, denn auf Grund einer unangenehmen Kleinigkeit hatte sie ihren Spint nicht öffnen können, weswegen sie kurzfristig blattlos planen musste.

Aber für Greyson würde sie auch noch Zeit finden. Denn sie erkannte seine Unterschrift unter diesem sinnlosen Streich. Wie immer.

 

Aber Rache genoss man am besten kalt….

 

~*~

 

Und unterdrückte ihr Lächeln, als sich Libby wieder ächzend auf den freien Stuhl in der Cafeteria fallen ließ. Sie sortierte wie beiläufig die schätzungsweise siebzig Kilo schweren Bücher neben ihr. Nur Blake schenkte ihr keine Beachtung. Sie fuhr sich durch die dunkelblonden, glatten Haare, die nicht mehr ganz taufrisch aussahen.

Sie hatte sie wohl den gesamten Tag über hinter ihre Ohren gestrichen, denn sie hingen ihr müde und zausig über die Schultern.

 

„Na, hat er dich hart drangenommen?“, erkundigte sich Lucy kauend, und Libby lief knallrot an, ehe sie antwortete.

 

„Wer?“, fragte sie um Gleichgültigkeit bemüht, die ihre Stimme aber nicht erreichen konnte.

 

„Dr. Stunning“, erwiderte Lucy grinsend.

 

„Du bist einfach nur furchtbar!“, beschwerte sich Libby und zog demonstrativ ihre Bluse tiefer, damit sie über ihrem Busen keine Falten warf. Blake hatte gereizt den Blick von seinem Taschenbuch gehoben.

 

„Cunning ist nicht stunning. Ich bitte dich! Sieh ihn dir an!“ Libby wirkte daraufhin beleidigt.

 

„Er ist sehr klug.“

 

„Ja, sicher. Es war eine unglaublich intelligente Entscheidung, den Job sofort nach seiner ersten Vorlesung anzunehmen, Riley“, gab er mit erhobenen Brauen zurück, und sie hoffte, dass Blake Libby nicht noch zum Weinen bringen würde. Sie hasste es schon, wenn er ihren Nachnamen benutzte.

 

„Es war eine gute Gelegenheit“, betonte sie ungewöhnlich streng, so dass sich Blakes Blick kurz hob. „Mir… mir fehlt sowieso noch die Praktikumsbewertung“, fügte sie eilig hinzu.

 

„Ja, sicher. Du hast die Stelle als seine Sklaven-Assistentin angenommen, weil du schon immer ein Praktikum dort machen wolltest, wo du genauso schlecht aufgehoben bist wie…“ Er unterbrach sich. Libby hatte die Arme wütend vor der Brust verschränkt, und ihre Bluse rutschte wieder einige Zentimeter höher und warf die Falten, die sie so verabscheute.

 

„Wie wo?“, wollte sie verärgert wissen. Lucy stöhnte auf.

 

„Leute, bitte…“, mahnte sie, aber Blake senkte den Blick zurück in seine Lektüre.

 

„Wie in einem Fitnessstudio“, endete er mit einem bösen Blick, und Libby schnappte nach Luft.

 

„Du bist so ein…!“

 

„Also, ich finde es gut, dass sie die Stelle angenommen hat, Bernard! Übernimmst du dich nicht vielleicht mit diesen Büchern? Eins hätte doch gereicht“, unterbrach sie den Streit, der sich anzubahnen drohte, laut, und auch Lucy schüttelte nur den Kopf. Blake schenkte ihr einen gehässigen Blick. Libby schien abzuwägen, ob sie Blake antworten sollte oder ob sie ihn ignorierte. Aber Tränen standen bereits in ihren Augen und sie zog ihre Bluse erneut zurecht.

 

„Nein, ich brauche all diese Bücher.“

 

Blake mochte Libby nicht. Aber Libby konnte Blake auch nicht leiden. Sie sagte oft, dass er überall störte, dass sie es nicht mochte, wie er Lucy anschmachtete, und dass er sich lieber bei den anderen Computernerds verstecken sollte.

Blake hatte ihr mal gesagt, dass ihm Libby zu weinerlich war. Zu mädchenhaft. Zu kindisch. Zu dick. Also seufzte sie, und schenkte Libby ein aufmunterndes Lächeln.

 

„Ok. Ich bin sicher, Dr. Cunning freut sich, dass du ihm hilfst“, fügte sie weiter hinzu.

 

„Danke, Jo“, antwortete sie und schoss Blake einen bösen Blick zu, den er nicht registrierte.

 

„Death is Cunning“, erklärte Lucy geheimnisvoll, während sie durch die neuen Unterlagen blätterte.

 

„Was?“ Libby sah sie verwirrt an.

 

„Na, die Zeile aus der Chaucer Geschichte. Der Tod ist listig. Das ist ein ziemlich cooles Wortspiel mit seinem Namen. Death is Cunning…“, wiederholte sie mit tiefer Stimme, aber Libby schüttelte den Kopf.

 

„Das ist einfach nur albern“, bemerkte Libby beleidigt, aber eilig suchte sie die Unterlagen ab, anscheinend um es selber noch mal nachzulesen. Jo sprach nicht schlecht über Libby, aber… von englischer Literatur hatte sie… wenig Ahnung. Erschreckend wenig, dafür dass sie Literaturwissenschaften studierte.

Aber anscheinend hatte sie die neuentfachte Liebe zu ihrem Professor Höhen erklimmen lassen, die vorher unüberwindbar gewesen waren. Schaden konnte es zumindest ihrer Weiterbildung nicht. Aber sie würde diese hundert Bücher niemals schaffen können.

 

„Als ob er sie beachten würde“, merkte Blake lächelnd an, ohne den Blick zu heben. Und wütend packte Libby eilig alle ihre Bücher wieder zusammen.

 

„Ich werde gehen, ich habe nämlich noch zu tun. Wenn ihr mich entschuldigt?“, giftete sie, mit einem weiteren Blick auf Blake, den er aber auch ignorierte.

 

„Libby-“

 

„Schon gut, Jo.“ Das war es nicht. Und sie wusste, Libby würde später noch bei ihr vorbeikommen. Und dann konnte sie sich wieder eine Stunde lang anhören, dass Libby Blake nicht leiden konnte, und sie hoffte nur, dass sie sich nicht wieder dem Ultimatum stellen musste Blake-oder-Libby.

 

Denn sie mochte Blake. Er gehörte seit Monaten dazu. Nur schade, dass Lucy sein Herz gestohlen hatte, wo er doch viel leichteres Spiel mit Libbys Herz hätte haben können.

Jo war überzeugt, dass Libby mittlerweile in Blake verknallt war. Hals über Kopf. Aber das würde sie niemals laut sagen.

Und wahrscheinlich würde Blake Libby niemals beachten.

Und Lucy würde Blake niemals als würdigen Kandidaten erachten. Eigentlich war es fast traurig.


„War das nötig?“, fragte sie Blake gereizt, aber dieser zuckte nur die Achseln.


„Wenn sie alles persönlich nimmt, ist sie selber schuld.“

 

„Du bist ziemlich unfair!“ Jetzt hob er den Blick.

 

„Hört auf zu streiten. Es reicht mir heute mit den Streitereien“, unterbrach Lucy sie genervt, und Jo fiel wieder ein, weshalb sie eigentlich noch sauer auf Lucy war.

 

„Und wieso hast du mir nicht gesagt, dass Georgiana auch im Seminar ist?“, wollte sie schließlich wissen.

 

„Oh, ich bitte dich! Sie war doch gar nicht da!“, widersprach Lucy mit einem einnehmenden Lächeln, was aber diesmal nicht bei ihr ziehen würde.

 

„Ich mag sie nicht.“

 

„Und das hat nichts damit zu tun, dass sie deine Cousine ist?“

 

„Nein. Sie ist einfach furchtbar, Lucy!“, beschwerte sich Jo zornig. Lucy lächelte daraufhin. „Und wenn, dann ist sie meine Stiefcousine. Nicht meine richtige“, fügte sie beleidigt hinzu.

Georgiana war einfach… Oh sie hasste Georgiana! Das hatte sie schon immer getan – und es beruhte auf Gegenseitigkeit!

 

„Dr. Stunning wird schon nicht zulassen, dass sich irgendwer daneben benimmt!“, versprach Lucy mit einem vielversprechenden Zwinkern, und gereizt drehte Blake die nächste Seite seines Buches um.

 

„Er ist nicht stunning“, murmelte er zornig.

 

„Was auch immer. Ich muss los. Hab gleich noch meine Pilates-Gruppe“, erklärte sie, während sie die schönen vollen roten Haare über die Schulter warf.

 

Sie war froh, nicht mit Libby um Blakes Aufmerksamkeit buhlen zu müssen. Gott sei Dank war sie überhaupt nicht an ihm interessiert.

 

„Soll ich dich begleiten?“, fragte er sofort, und Lucy verzog den Mund.

 

„Nein, schon gut. Ich schaff den Weg alleine. Du kannst Jo ja zurück zu den Apartments begleiten. Es ist schon dunkel draußen“, erwiderte sie gönnerhaft, und enttäuscht wandte sich Blake ab.

 

„Ok, klar“, entgegnete er jedoch, denn er erfüllte Lucy so ziemlich jeden ihrer Wünsche.

Blake war der einzige, der nicht auf dem Campus wohnte. Sein Vater wohnte in der Nähe, und er wohnte dort im zweiten Stock, allerdings mit getrennter Eingangstür.

Lucy verabschiedete sich mit einem Zwinkern von ihnen.

 

„Du musst mich nicht begleiten. Ich kann Lucy sagen, dass du es getan hast“, sagte sie sofort, denn sie hasste es, wenn Lucy sie bevormundete. Aber er sah sie an, als hätte sie einen Scherz gemacht.

 

„Nein, ich begleite dich. Muss sowieso in die Richtung. Mein Auto steht auf eurem Parkplatz“, erwiderte er ernst. Seine Laune schien noch weiter gesunken zu sein.

Seine dunklen Augen lasen die Zeilen nicht mehr, sondern fixierten stur einen Punkt in seinem Taschenbuch. Es war unangenehm, und Jo wollte nicht darüber reden müssen, weshalb Lucy nie ein geeignetes Ziel für einen Jungen war.

 

Wenn sie nachdachte, hatte Lucy überhaupt selten Interesse an Jungen. Zumindest an keinem auf ihrem College. Es drängte sich ihr eine Vermutung auf, die sie – schon für Blakes Herz – nicht bestätigt haben wollte….

 

Ein Raunen erfüllte erneut die Cafeteria. Sie hob den Blick. Die Sportler hatten auch Schluss für heute, erkannte sie, und packte reflexartig ihre Sachen zusammen. Da war noch die Sache mit ihrem Spint. Gott, sie hasste es von ihm gedemütigt zu werden. Wegen diesem verdammten Streich hatte sie heute das Treffen der Fachschaft versäumt, weil sie nicht an ihre Unterlagen gekommen war. Er war Tyrann, wie all die anderen Idioten, von denen sie gedacht hatte, sie längst in der Grundschule hinter sich gelassen zu haben.

 

„Komm, wir gehen“, raunte sie Blake zu. Auch dieser hob den Blick, und widerwillig erhob er sich. Er hatte aufgegeben, mit ihr zu diskutieren. Sie konnte die Sportler einfach nicht leiden.

Sie erinnerte sich, dass sie in einem fachübergreifenden Kurs ein Referat mit Greyson, dem scheiß Quarterback hatte halten müssen, über Kommunikation und Eloquenz. Die Sportler belegten dieses Fach, weil sie mit ihrem Sportstipendium nicht viel mehr werden konnten als Coach an einer Highschool, und sie hatte den Kurs belegt, weil sie eine ausführende Verwaltungsposition im Lektorat anstrebte, und somit auch vor Menschen sprechen musste.

 

Und es war in einer einzigen Katastrophe geendet, wo der dumme Quarterback nie die Termine eingehalten hatte und ihr anschließend auch noch verboten hatte, vor der Menge zu sprechen, weil sie es ja nicht drauf hatte! Sie hatte das Seminar geschmissen. Und das hatte sie noch nie vorher getan.

 

Und jetzt nahm sie an, er hatte aus Spaß irgendeinen Handlanger in der Verwaltung bestochen, um ihr Schloss zu wechseln. Denn sie wusste, er selbst würde niemals einen Finger krumm machen.

 

Greyson Adler war blond, hünenhaft riesig und bedauerlicherweise der wirklich falsche Feind. Ihn als Gegner zu haben war eine dumme Entscheidung gewesen. Das wusste sie jetzt, aber es ließ sich nicht mehr ändern, denn sie lief mit zorniger Überzeugung geradewegs auf ihn zu.

 

Neben den üblichen Sorgen, der anstrengenden Freundschaft mit Libby und Blake und dem Studium, was nicht einfacher wurde, musste sie sich auch noch mit Kindereien rumärgern.

Sie hatte den Tisch erreicht und beschloss, sich nicht von den schwitzenden riesigen Erscheinungen einschüchtern zu lassen. Sie tat es nie.

 

„Gib mir den Code“, verlangte sie zu wissen, als niemand sie beachtete. Blake erschien neben ihr und verstaute sein Buch. Sie wusste, er würde gerne Kräfte messen, auch wenn sie annehmen musste, dass er gegen zehn Footballspieler kaum eine Chance hatte. Blake war nicht klein oder schwach – aber er war eben kein Sportler. Sie glaubte, er hielt ohnehin nicht besonders viel von überhaupt einem Sport. Oder von Greyson Adler.

 

Der blonde Idiot hob schließlich mit gespielter Überraschung den Blick.

 

„Code?“, fragte er gelangweilt und sah sie desinteressiert an. „Tut mir wahnsinnig leid, Josie, aber ich weiß nicht, was du meinst.“ Sie ignorierte, dass er ihren Namen mit Absicht nicht wusste, und sie zählte innerlich bis drei, ehe sie wieder sprach.

 

„Für meinen Spint. Gib ihn mir, oder ich beschwere mich, Greyson.“ Sie beschwerte sich in der Woche bestimmt zweimal über ihn. Sei es, weil er es schaffte, dass ihre Fachschaft ausgeschlossen wurde, sei es, weil er Gerüchte verbreitete. Leider konnte sie sich aber nur bei Mr. Leman beschweren. Und das war der Vater von Georgiana – und deshalb endeten die Beschwerden meistens… erfolglos.

 

Sie fragte sich, wann der Zeitpunkt kommen würde, an dem er endlich seine gerechte Strafe bekam. Wahrscheinlich niemals, aber sie würde nicht aufgeben.

 

„Jetzt habe ich Angst. Unheimliche Angst…“, erklärte er trocken und schob sich eine Pommes in den ernsten Mund.

 

„Gibt es hier ein Problem?“, hörte sie plötzlich eine Stimme neben sich. Der neue Dozent – Dr. Stunning – drehte eine Flasche Coke in seiner Hand, während er den Blick interessiert auf Greyson gesenkt hatte. Greyson betrachtete den Mann, die grünen Augen verengt, fast skeptisch. „Joanna, richtig?“, erkundigte sich Dr. Stunning anschließend, und sie nickte perplex. Blake kam aus dem Augenverdrehen nicht raus, antwortete aber.

 

„Es gibt kein Problem, danke sehr“, erklärte er gepresst. Dr. Stunning wandte seinen Blick ihm zu und schien ihn kurz zu durchleuchten. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Greyson räusperte sich gereizt.


„Er hat das Schloss an meinem Spint ausgetauscht, Dr. St…- Cunning“, flüsterte sie, und verfluchte sich, dass sie seinen Namen falsch aussprechen wollte. Greyson atmete gepresst aus, aber sie ignorierte ihn. Sie wusste nicht, ob er sich mit Absicht keine Mühe gab, Entrüstung zu zeigen, oder ob er wusste, dass er immer mit allem durchkam, und es deshalb gar nicht erst musste. Allerdings entließ er den Dozenten nicht aus seinem Blick.

 

„Ist das so?“ Die Frage hing unbeantwortet im Raum, während scheinbar eine Art Kräfte messen durch Blickkontakt stattfand. Greyson, der Idiot, schien sich tatsächlich auch gegen einen Professor hier quer stellen zu wollen. Sie tauschten einen langen, intensiven Blick, der ihr fast unangenehm war, obwohl Dr. Stunning ja schließlich nicht sie so intensiv anstarrte.

 

„Wenn das stimmt, würde ich vorschlagen, dass Mr Adler den Code verrät.“ Seine Stimme klang ruhig, aber dahinter verbarg sich eine dunkle Mahnung. Er ließ Greyson immer noch nicht aus den Augen, und sie wunderte sich kurz, woher er den Namen wissen konnte. Vielleicht hatte er die Sportstudenten bereits kennen gelernt? Aber wo? Sie runzelte die Stirn. Bestimmt in keiner Vorlesung, denn Sportstudenten konnten doch gar nicht lesen…. Vielleicht hatte er das Foto des Quarterbacks auch oben auf den Fluren entdeckt. Es war nicht leicht zu übersehen, denn das College lebte praktisch von den lächerlich hohen Einnahmen, die Footballspiele hier einbrachten.

 

Das Team war bedauerlicherweise gut. Sie gönnte es ihm nicht. Gar nicht.

 

„Sie lügt“, erwiderte Greyson ungerührt. Und Dr. Stunning stützte sich auf beiden Handflächen auf dem Tisch ab, während er sein Gesicht näher zu Greyson hinab senkte.

 

Mr Adler, ich verstehe einiges von Lügen. Ich rate Ihnen, keine Probleme mit mir zu haben. Das würde sehr… sehr schlecht für Sie ausgehen.“ Seine Stimme blieb weiterhin ruhig, aber ein seltsamer Schauer erfasste sie, erfasste praktisch die gesamte Cafeteria. Sie war nahezu ausgestorben, aber plötzlich kam es ihr eine Spur kälter vor.

 

 Und selbst der arroganteste Quarterback von allen schien es zu spüren. Zuerst dachte sie, er würde nicht sprechen, aber dann schien er sich zu überwinden, seinen Stolz und seine Arroganz zu schlucken und öffnete den Mund.

 

„Sechs, sechs, sechs, sechs“, sprach er schließlich. Widerwillig aber resignierend hatten die Worte seinen Mund verlassen, und er ließ den neuen Dozenten noch immer nicht aus den Augen. Jo versuchte wieder sein Alter zu schätzen, aber sie scheiterte. Rein logisch müsste er älter als dreißig sein. Nur seltsamerweise war es ihm nicht anzusehen. Müsste sie es laut sagen, dann würde sie behaupten, er hätte kein Alter.

 

„Vielen Dank.“ Sie glaubte, dass ein Grinsen an seinen Mundwinkeln zog, aber sie hätte sich irren können. Und diese Worte klangen so unaufrichtig, wie sie falsch waren.

 

„Miss Clark, Mr Da Corte“, verabschiedete er sich nickend und drehte die Coke in seiner Hand.

 

„Danke, Dr. Stu...- Cunning!“, verbesserte sie sich hastig, während Blake neben ihr genervt ausatmete. Der Dozent schenkte ihr einen letzten Blick und schritt aus der Cafeteria, ohne sich umzusehen. Die Stimmung war immer noch seltsam angespannt, und mit einem letzten verachtenden Blick ließ auch sie die Sportler hinter sich. Greysons stechender Blick versprach ihr die Rache, mit der sie täglich rechnete, und sie hoffte, Cunning würde sein Wort halten. Himmel, sie hatte ihn fast zweimal Stunning genannt! Lucy hatte einen unpassenden Einfluss auf sie. Manchmal. Und… er war angsteinflößend. Das war es, was er war. Genauso wie sie Greyson angsteinflößend fand, dachte sie knapp.

 

Blakes Laune schien einen ungeahnten Tiefpunkt erreicht zu haben. Sie sah, dass er wohl einen kurzen Blick mit Greyson tauschte, der noch finsterer war, als die, die er sonst Libby zuteilwerden ließ. Jo runzelte die Stirn. Lieber legte sich Blake nicht mit Greyson an. Dieser erhob sich auch. Er sah sie nicht mehr an, und verließ stumm mit seinem Gefolge die Cafeteria.

 

„Zeit zu gehen“, murmelte Blake neben ihr. Sie folgte ihm kopfschüttelnd, fragte ihn aber nicht, weshalb er jetzt wieder wütend war, denn ihre Gedanken waren bei dem Professor hängen geblieben. Bei dem seltsam schönen Professor, mit den grauen Augen.

 

Der erste Literaturprofessor, der ihr Angst einflößte.

 

 

Kapitel 2

~ Shifting Moods ~

 

Blake war pünktlich am nächsten Morgen da. Wie jeden Morgen. Er wartete mit Kaffee vor ihrem Apartmenthaus, während Lucy immer noch damit beschäftigt war, ihre Haare zu föhnen. Auch wie jeden Morgen. Jo hatte das Apartment schon verlassen.

 

„Hey, Morgen!“, begrüßte sie ihn. Wieder trug er schwarz. Heute allerdings ein Hemd über einer schwarzen Jeans, die Haare wie immer im Zopf nach hinten gebunden. Er war wohl wieder nicht zum Rasieren gekommen, und die Stoppeln waren nun schon dichter zu erkennen. Er sah verwegen aus, fand sie. Es hatte auch nicht geregnet, also warfen seine Haare auch die eindrucksvollen Wellen, die wohl Libbys Herz höher schlagen ließen.

 

Libby war gestern auch nur sehr kurz vorbeigekommen, mit ein paar Büchern in ihrer Handtasche. Sie hatte sogar erstaunlich wenig Zeit damit verbracht, über Blake herzuziehen, obwohl es ihr immer so gut tat, behauptete sie. Nein, sie hatte sie förmlich ausgefragt über das Zusammentreffen mit Greyson und Dr. Stunning. Sie glaubte langsam, Cunning war Konkurrenz für Blake geworden.

Und was Cunnings Aufgaben anging, war sie auch etwas überfordert. Sie hatte es selber nicht mehr so gut im Gedächtnis, wer alles für die Königin, wer Romane, wer nur Theater geschrieben hat – und es war wie ein böser Wissenstest für sie gewesen.

Ihr Schwerpunkt lag nicht auf englischer Literatur, aber englische Literatur bot den größten Unterhaltungswert.

 

„Morgen, Jo. Ist Lucy fertig?“, fragte er sofort, denn natürlich galt sein erster Gedanke Lucy.

 

„Ja, die Dame föhnt sich noch ihr rotgoldenes Haar“, bemerkte sie lächelnd, und er sah wieder zum Eingang des Apartmenthauses. Einige andere Mädchen verließen plappernd das Gebäude, die Blicke kurz auf Blake geheftet, um dann tuschelnd weiter zu laufen.

Wenn sie ihn betrachtete, gab sie zu, dass er wirklich nicht schlecht aussah. Und wenn Lucy tatsächlich… Männer bevorzugte, dann war ihr nicht ganz klar, was sie an Blake nicht mochte. Er war zwar nicht hünenhaft groß, aber dafür war er nicht hässlich oder dick oder stank oder war langweilig.

 

Für einen Moment fragte sie sich, weshalb sie sich nicht zu dem klugen, italienischen Literaturwissenschaftsstudent hingezogen fühlte, verwarf den Gedanken aber wieder. Wahrscheinlich war es für sie von Anfang an abschreckend gewesen, wie sehr er auf Lucy fixiert war.

Aber so ziemlich jeder Junge war auf Lucy fixiert. Sie hatte sie an ihrem ersten Tag kennen gelernt. Direkt als sie sich dafür eingeschrieben hatte, dass sie hier in einem der Apartmenthäuser des Campus‘ wohnen wollte. Denn natürlich wollte sie nicht mehr bei ihrer Stiefmutter wohnen! Bei Gott nicht mehr! Und Lucy hatte ihr direkt die Hand entgegengestreckt, ihr erklärt, dass sie hier auch ihr erstes Semester hatte und ihr vorgeschlagen, dass sie sich ein Apartment teilen konnten.

 

Und so war es eben gekommen, dass sie zusammen wohnten. Nun schon seit fast sechs Semestern. Sie hatte noch keinen Tag ohne Lucy verbracht, ging ihr auf. Außer vielleicht an den Feiertagen, wenn sie wohl oder übel ihr Stiefmonster besuchen musste. Ihre Stiefmutter war ein egoistisches Exemplar von Mensch. Sie war froh, sie erst mal nicht sehen zu müssen.

Sie war dankbar für ihre Freunde. Blake hatte sie vor fast zwei Jahren kennen gelernt. 

Er hatte zur gleichen Zeit angefangen, und fast gleichzeitig mit ihm war auch Libby aufgetaucht, die in Lucys Pilates-Gruppe gewesen war.

 

Irgendwann hatten sie sich alle nach ihren Vorlesungen oder Pilates-Treffen in der Cafeteria getroffen. Blake hatte sich ein paar Unterlagen von ihr geliehen, und Libby hatte Lucy in ein Gespräch über die besten Dehnungsübungen für die Sehnen verwickelt gehabt, was beide dann in der Cafeteria fortgeführt hatten.

Blakes Aufmerksamkeit hatte sich schnell von den Büchern ganz auf Lucy gerichtet, und Libbys Aufmerksamkeit hatte Blake gegolten.

 

Und so waren sie jetzt verblieben. Eigentlich hatte sich nichts geändert. Niemand hatte sich auf einer Party daneben benommen und wen anders geküsst, der besser nicht hätte geküsst werden sollen, niemand hatte sich jemals so sehr gestritten, dass sie keinen Kontakt mehr hatten, und hätte sie es bewerten müssen, dann war ihr Studentenleben nicht zu spannend, wie sie es aus Teeniekomödien kannte.

Sie hatte großartig noch kein Date gehabt. Vielleicht zweimal war sie von Wirtschaftsstudenten zum Kaffee eingeladen worden. Danach war nichts weiter passiert.

 

Aber Lucy war auch ständig in ihrer Nähe. Vielleicht war es wie ein natürlicher Schutz, denn Lucy zog alle Aufmerksamkeit auf sich – ohne, dass sie es merkte.

 

„Gut geschlafen?“, fragte sie weiter, als Blake immer noch auf die Türen starrte.

 

„Was? Ja, gut geschlafen“, antwortete er abwesend.

 

„Sie kommt ja gleich“, fügte sie knapp hinzu. Er riss den Blick von den Türen los. Schließlich schien er seine Aufmerksamkeit komplett auf sie zu richten.

 

„Hast du die Literaturvorschläge angesehen? Von Cunning?“, wechselte er nun völlig glatt das Thema. Kurz war sie verdutzt.

 

„Sind du und Libby jetzt unter die Power-Studenten gegangen?“, wollte sie lächelnd wissen, aber er ging darauf nicht ein.

 

„Er hat überwiegend Chaucer empfohlen, mit dem Tod als zentrale Figur. Ich glaube, er ist nicht ganz dicht“, fügte er missmutig hinzu. Sie runzelte die Stirn.

 

„Der Tod war damals oft zentrales Thema in den Märchen, denn-“

 

„Alle waren arm und krank und hatten Hunger, ja, ich weiß. Aber es gibt noch anderes als Shakespeare, Cochran, White und Utterson, weißt du?“ Es schien ihn ernsthaft zu stören. „Nicht alles handelt von Tod und Verwesung und Untoten, die daraus resultieren.“

 

„Ok“, unterbrach sie ihn beruhigend. Er atmete langsam aus. Sein Blick glitt wieder zur Tür. Der Lärmpegel stieg an. Sie schloss gereizt die Augen. Sie würde nicht verschont bleiben. Nicht einen einzigen Tag.


„Seit wann wohnt er eigentlich in eurem Komplex?“, wollte Blake noch missmutiger wissen. Greyson Adler und seine dummen Kumpanen joggten an ihnen vorbei, einige Mädchen im Schlepptau, die bestimmt noch, bevor sie den Sportplatz erreichten, schlapp machen würden.

Er ignorierte sie, aber sie hatte das Gefühl, er hatte sie gesehen. Sie blickte ihm nach.

Sie hoffte, ihr Spint würde sich gleich noch öffnen lassen.

 

„Keine Ahnung. Vor einer Weile?“, beantwortete sie seine Frage gedankenverloren, und Lucy kam frisch frisiert nach draußen.


„Jo, ich habe mir deinen BH geliehen. Ich hoffe, das war ok?“ Sie strahlte in die Runde, und Jo glaubte, Blake erröten zu sehen. Minimal. Italiener wurden nicht rot, nahm sie an. Nicht komplett zumindest. Sie musste grinsen.

 

„Holen wir Libby noch ab?“ Libby wohnte im Komplex nebenan, und sie sah, wie Blake die Augen verdrehte.

 

„Muss das sein? Sie ist doch kein entlaufener Hund. Sie weiß schon, wo wir zu finden sind“, merkte er kalt an.

 

„Du könntest ruhig etwas netter zu ihr sein. Sie hat dir nichts getan, weißt du?“, beschwerte sie sich jetzt kopfschüttelnd, aber Blake zuckte nur die Achseln.

 

„Sie kniet jetzt ohnehin bestimmt schon vor Dr. Stunnings Schreibtisch und betet ihn an“, vermutete Lucy lachend. Blakes Blick war fast schockiert, und Jo begriff nicht, weshalb. Aber sie konnte nicht mehr fragen.

 

„Lasst uns gehen“, bemerkte Blake schlecht gelaunt, und Jo überlegte, ob sie ihn überhaupt jemals fröhlich erlebt hatte. Nein. Nein, noch nicht. Aber sie meinte sich zu erinnern, dass sie genau diese düstere Art an ihm sympathisch gefunden hatte, als er das erste Mal mit ihr gesprochen hatte.

 

Sie schritten durch den diesigen Morgen, Richtung Hauptgebäude. Nebel stieg aus den Gräsern empor, und der Winter schien langsam näher zu rücken. Sie zog sich ihren Mantel fester um die Schultern.

Es war erstaunlich ruhig in der Eingangshalle des Colleges. Anscheinend hatte niemand Lust auf Vorlesungen heute, aber es kam ihr ganz recht. Heute hatte sie nach den beiden Vorlesungen heute Morgen noch eine lange Schicht in der Bibliothek.

 

Am besten waren so wenige wie möglich da, dann konnte sie all die Unterlagen nacharbeiten, die ihr noch fehlten, und nebenbei die neuen Bücher ausleihen, die noch keiner in die Finger bekommen hatte. Arbeiten in der Bibliothek war äußerst praktisch. Für einen Literaturstudenten zumindest, befand sie.

 

Als sie den Hörsaal betreten hatten, sahen sie, dass Libby bereits mit all ihren Kleidungsstücken, die sie ausziehen konnte, Plätze freigehalten hatte. Moderne Sprache war immer sehr gut besucht, und sie atmete erleichtert aus, als sie sie erkannte.

 

„Da seid ihr ja endlich!“, rief sie aus und sammelte ihre Kleidungsstücke wieder ein.

 

„Endlich?“, wiederholte Jo verwirrt und warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand. „Es sind noch zwanzig Minuten bis zum Anfang, Libby“, fügte sie unsicher hinzu.

 

„Ja, aber es wird immer voll!“, rechtfertigte sich Libby, die sich wieder setzte und ein Buch aufschlug, was sie bis zur Hälfte gelesen hatte.

 

„Seit wann bist du hier?“, erkundigte sich Lucy ungläubig, und Libby ruckte mit dem Kopf.

 

„Ich weiß nicht. Seit einer Weile. Ich musste noch für… Dr. Cunning Sachen erledigen.“ Jos Augen weiteten sich verblüfft. Sie hörte Blake gereizt ausatmen.

 

„Ging es um Untote und Verwesung?“, wollte er trocken wissen, aber Libby ignorierte ihn einfach, während sie ihre Unterlagen neu sortierte. Er hielt seinen Blick dennoch auf sie geheftet.

 

„Es ist unheimlich spannend!“, bestätigte Libby stattdessen.

 

„Was… tust du denn? Bringst du ihm Kaffee und kopierst seinen Stundenplan?“ Desinteressiert betrachtete Lucy ihre Fingernägel und setzte sich an den Rand der Reihe. Aber auch ihr Blick konnte das Interesse nicht ganz verbergen.

 

„Nicht nur das…“, erwiderte Libby etwas kleinlaut, und Jo musste grinsen.

 

„Lass dich bloß nicht ausnutzen.“

 

„Nein! Er ist wirklich… wirklich…!“ Ihr schienen die Worte zu fehlen.

 

„Gott!“, knurrte Blake, als er seine Tasche auf den Klapptisch knallte.

 

„Er ist immerhin nicht so ungehobelt und unhöflich wie manch anderer hier“, bemerkte Libby spitz, und Blake ignorierte ihre Worte – wie immer. Demonstrativ setzte sich Jo zwischen beide und sah Libby zu, wie sie ein altes englisches Märchen, dessen Titel sie gerade nicht wusste, verschlang, als würde es die Frage nach endlosem Reichtum oder ewigem Leben beantworten können.

 

Na ja, wenn es nur einen Mann brauchte, damit sie mehr lernte – das sollte ihr Recht sein.

Sie lehnte sich zurück, nachdem Ruhe eingekehrt war. Libby las, Blake starrte stur geradeaus, ab und zu Richtung Lucy, und Lucy selber hatte die Augen wieder geschlossen.

Der Tag war ruhig. Nichts Spektakuläres würde passieren. Das war das Schöne an Literatur. Alles aufregende, was sie erlebte, passierte grundsätzlich nur in den Büchern, die sie las.

Es war beruhigend. Wirklich.

 

~*~

 

„Ich komm dich später besuchen“, erklärte Lucy während sie ihre Schulter drückte. „Muss ein bisschen Sport machen gehen.“ Wie sie noch mehr Sport machen konnte, war Jo unbegreiflich, aber sie nickte.

 

„In meiner Pause können wir essen gehen.“

 

„Ich komme auch mit“, erklärte Blake, und es wunderte sie überhaupt nicht.


„Ich weiß noch nicht, ob ich kann“, entschuldigte sich Libby, aber sie wirkte nicht traurig, nein, sie lächelte sogar. Selbst Jo musste die Augen verdrehen.

 

„Ja, viel Spaß mit Dr. Stunning“, rief Lucy noch, ehe sie winkend verschwand und Blake ihr folgte.

 

„Er ist so doof“, bemerkte Libby als beide weg waren.

 

„Wer? Stunning oder Blake?“

 

„Ha ha. Rate“, verlangte sie bitter.

 

„Er kriegt sich schon wieder ein. Hat wohl gerade einen dicken Schub Liebeskummer bekommen“, erwiderte Jo achselzuckend. Libby schien das nicht unbedingt glücklicher zu stimmen.

 

„Schreib mir zwischendurch“, entgegnete sie, ehe sie sich winkend verabschiedete.

 

„Ok“, versprach Jo, band sich die braunen Haare, die mittlerweile wirklich lang geworden waren, im Zopf zusammen und machte sich auf den Weg zu ihrer Schicht.

Die Bibliothek war ruhig, wie immer. Dana wartete schon neben der Theke.

 

„Da bist du ja. Ich muss so dringend auf die Toilette, ich wollte schon hinter das nächste Bücherregal gehen“, beschwerte sie sich. Sie loggte sich aus dem System aus, und schwang sich die Tasche über die Schulter. „Oh, und viel Spaß. Die Sportgötter haben sich hierhin verirrt und nerven“, erklärte sie knapp. Jo mochte ihren Studiengang. Denn alle diejenigen, die Wert auf Literatur und Bildung legten, verachteten die Sportstudenten.

Sogar die Mädchen, die eigentlich auf Typen wie Greyson Adler fliegen sollten, fanden ihn überwiegend ätzend.

 

Auch wenn sie sich erinnerte, dass Dana auf irgendeiner Semesterparty in seinem Zimmer gelandet war, wenn die Gerüchte stimmten.

Aber sie hoffte, es stimmte nicht. Sie hoffte es einfach.

 

„Danke für die Warnung. Bis später“, verabschiedete sie sich und Dana war auf gefährlich hohen Absätzen verschwunden. Sie loggte sich mit ihrer Chipkarte ein, warf ihre Tasche achtlos auf den Schreibtisch hinter der Theke und ließ sich auf den Lederstuhl sinken.

 

Aus ihrer Tasche kramte sie die vorgeschlagene Lektüre von Dr. Cunning hervor und blätterte durch die ersten Seiten von Tales of the Dead. Sie hatte es sich noch von Libby ausgeliehen, die es gestern Nacht noch zu Ende gelesen hatte.

Deswegen sah sie wohl auch so furchtbar müde aus. Ob sie überhaupt geschlafen hatte, wunderte sich Jo knapp, aber sie begann seufzend zu lesen.

 

Sie kam allerdings nicht besonders weit.

 

Chrm chrm…“ Langsam hob sie den Blick. Seine Finger trommelten ungeduldig auf dem Holztresen vor ihr auf Augenhöhe, und er schaffte es tatsächlich komplett überlegen zu wirken.

 

„Was?“, fragte sie höchst unfreundlich, und er schenkte ihr ein kühles Lächeln. Seine breiten Finger fuhren durch seine hellen, blonden Haare, und es erstaunte sie, dass er seinen muskelbepackten Idiotenarm überhaupt soweit empor heben konnte, ohne vornüber zu kippen.

 

„Du solltest vielleicht etwas höflicher sein, sonst schwärze ich dich noch bei der Verwaltung an, Josie“, erwiderte er, immer noch arrogant und schlecht gelaunt, als wäre sie schuld.

 

„Joanna, mein Name ist Joanna, und das weißt du auch. Also, wieso zeige ich dir und deinen Freunden nicht einfach den Ausgang und ihr könnt weiter Ball spielen gehen?“ Wieder wünschte sie sich, sie würde sich etwas mehr zusammennehmen und niemanden provozieren. Seine Augen verengten sich knapp.

 

„Josie, wieso kommst du heute nicht zu unserem Spiel?“, schlug er ihr scheinheilig vor und lehnte sich nun mit seinem Oberkörper auf den Tresen. Seine grünen Augen blitzten kurz, aber sie wusste, es bedeutete nichts Gutes.

 

„Wieso sollte ich?“ Sie verbesserte ihn dieses Mal nicht.

 

„Keine Ahnung. Vielleicht… weil du deinen Ausweis wiederhaben möchtest?“, fragte er, und hielt tatsächlich ihren Ausweis nach oben. Wo… hatte er ihn her? Ihr Mund öffnete sich perplex, denn sie hatte nicht gesehen, wie er ihn sich gegriffen hatte! Wie hatte er so schnell in ihre Tasche greifen können?! Er war ein verdammter Dieb! Er ließ den Ausweis in seiner mächtigen Hand verschwinden. Ihr Mund öffnete sich ungläubig.

 

„Du klaust meinen Ausweis?“ Schon war sie aufgestanden, völlig egal, dass er zwei Köpfe größer war als sie!

 

„Nein, ich borge ihn, Josie“, erwiderte er, tatsächlich ein sehr feines Lächeln auf den Zügen. Ansonsten sah er sie unnahbar kalt an. Es war fast widersprüchlich. Er hielt ihn hoch über seinen Kopf, so dass sie niemals drankommen würde.

 

„Greyson! Gib ihn her! Sofort! Ich werde-“

 

„Was?“, unterbrach er ihre Bemühungen, und sie hatte seinen Oberarm umfasst und zerrte vergebens daran. Sein Körper war kühl, und abweisend beobachtete er ihre Versuche. Sie schoss ihm einen zornigen Blick zu.

 

„Das ist doch nicht dein ernst oder? Du klaust doch nicht wirklich gerade meinen Ausweis, du Arschloch?“ Sie sah sich um, ob irgendein Lehrkörper, irgendein Verwaltungsangestellter unterwegs war, aber sie war leider allein. Was sie vorher noch begrüßt hatte, war jetzt ihr eigenes Pech.

 

„Ich klaue nicht. Wir spielen heute Abend. Komm zum Spiel, und du bekommst ihn wieder“, bot er ihr ungerührt an. Seine Freunde kamen um die nächste Ecke und feixten in die Runde, als sie das Schauspiel beobachteten.

Und nicht nur seine Freunde, stellte sie zu ihrem großen Leid fest.

 

„Gott, Joanna, du bist so peinlich“, hörte sie Georgiana nachsichtig murmeln. Immer mit einem Hauch Verachtung in der Stimme. „Greyson kommst du?“, fügte sie glockenhell hinzu, und die schöne, blonde Georgiana sah natürlich um einiges besser aus, in ihren Selbstmörderschuhe, dem stark geschminkten Gesicht, dem Minirock und der perfekten Figur. Sie raubte ihr noch den letzten Nerv.

 

„Gib ihn mir!“, verlangte sie drohend und ignorierte Georgiana so gut sie konnte, aber er tat ihr natürlich diesen Gefallen nicht. „Gib meinen Ausweis, Adler!“, schrie sie praktisch, und erntete von den Literatur-Nerds, die sich auf der Galerie befanden, genervte Blicke. Helfen tat ihr natürlich keiner! Die Sportler lachten bloß, und ihre Stiefcousine stöhnte entnervt auf.

 

 

„Seid ihr fertig?“, fragte sie, während sie ihre Fingernägel betrachtete. Greyson entzog ihr ohne Mühe seinen Arm und steckte ihren Ausweis in seine hintere Hosentasche.

 

„Komm zum Spiel. Sechs Uhr.“ Sie konnte kaum atmen, so wütend war sie. So machtlos und so komplett wütend.

 

„Wieso bist du bei diesem Bücherwurm?“, murrte Georgiana, und Jo zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Sie stand völlig hilflos vor dem Tresen. Wieder allein. Fast.

 

„Hallo? Kannst du mir das ausleihen?“, erkundigte sich ein Junge gereizt und wedelte mit einem Buch vor ihrer Nase. Sie starrte ihn zornig an. Dieses Arschloch hatte es wieder einmal zu weit getrieben! Nur weil sie ihn gestern zwingen konnte, ihre Spintnummer zu verraten?! Sie hasste ihn! Hasste ihn! Sie hätte vor Wut weinen können! Aber nicht einmal Greyson Adler konnte dumm genug sein, ihren Ausweis zu zerstören, denn er würde ihn bezahlen müssen. Und das würde er nicht tun! Was wollte er denn von ihr? Sie begriff es einfach nicht!

 

Er wollte sie nerven, sie ärgern, sich rächen. Und das wohl noch solange sie hier auf dem College war!

 

Fast riss sie die erste Seite des Buches aus, als sie den Scanner mit zittrigen Fingern über den Strichcode führte. Der Junge packte das Buch hastig ein und sah sie an, wie eine Verrückte.

 

Sie verdrängte die Tränen des Zorns und lenkte sich ab, indem sie durch das Buch blätterte. Sie würde es ihm nicht gönnen, dass ein kleiner bebrillter Verwaltungsangestellter auf den Sportplatz kam, um ihm zu drohen und den Ausweis abzunehmen.

 

Sie könnte Dr. Stunning fragen! Er schien gut mit Greyson zurecht zu kommen! Fast wollte sie das wirklich tun, entschied sich aber dagegen. Sie schüttelte für sich selber den Kopf. Er wollte sehen, dass sie Schwäche zeigte? Das konnte er vergessen!

Sie wusste nicht, weshalb er sie zwang zu dem dämlichen Spiel zu gehen, aber sie würde es tun! Und sie würde seine Umkleide zerstören! Die ganze verdammte Umkleidekabine!

 

Am besten verbrannte sie alle seine Sachen auch noch, damit er nackt zurück musste.

Wütend las sie die Zeilen, ohne dass auch nur ein Wort davon hängen blieb.

 

 

Kapitel 3

~ Broken Glass ~

 

„Zum Spiel? Du willst wirklich zu dem Spiel gehen?“, vergewisserte sich Lucy zum zweiten Mal.

 

„Ja, will ich.“ Jo nickte bestätigend.

 

„Sicher?“, wiederholte Lucy noch einmal und fixierte sie genauer.

 

„Ja, ich dachte das wäre mal eine nette Ablenkung.“ Sie sah aufmunternd in die Runde. Und Blake schien nicht halb so abgeneigt zu sein, wie sie angenommen hatte. Ihre Lüge wurde also vielleicht abgekauft.


„Seit wann magst du Greyson Adler so sehr, dass du zu einem seiner Spiele gehen willst?“, wollte Lucy jetzt wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

 

„Ich mag ihn überhaupt nicht“, rechtfertigte sie sich. „Ich gehe nicht dahin, weil dieser Idiot spielt, ich… dachte, es wäre mal was anderes, als abends bei Chang Pizza zu bestellen.“ Der Chinese auf dem Campusgelände machte zwar eindrucksvoll gute Pizza, aber sie würde, ihrem Ausweis zuliebe, heute darauf verzichten. Lucy wirkte noch nicht überzeugt.

 

„Wenn wir alle gehen“, erklärte Blake gleichmütig, und Jos Augen weiteten sich fast prüfend.

 

„Ich weiß nicht“, entgegnete Libby langsam, die Augen verließen die Seiten des nächsten Buches keine Sekunde.


„Du kannst dein Buch auch mitnehmen“, versuchte Jo es freundlich. Es jagte ihr ein wenig Angst ein.

 

„Vielleicht solltest du nicht für ihn arbeiten“, bemerkte Blake jetzt ohne jede erkennbare Wertung. Libby hob schließlich den Blick.

 

„Der Job ist gut. Und es ist wichtig, dass ich es mache“, erklärte sie würdevoll.

 

„Deine dämliche Bescheinigung stellt dir auch jeder andere Professor aus, verdammt noch mal“, gab er gepresst zurück.


„Es geht dich nichts an, oder Blake?“, wagte Libby zu sagen, und sein Kiefermuskel schien sich überrascht zu entspannen.

 

„Nein, tut es nicht“, erwiderte er schlicht, und wandte sich sofort an Lucy. „Hast du Lust? Popcorn, schreiende Menschen?“ Er sagte es mit wenig Enthusiasmus, aber wahrscheinlich würde er mit Lucy auch eine Achterbahnfahrt durch die Hölle mitmachen. Sie runzelte die Stirn.

 

„Wenn Jo unbedingt will“, gab sie schließlich nach, aber die Skepsis verließ nicht ihren Blick.

Jo wusste nicht, weshalb sie nicht einfach zugab, dass der Arsch Greyson ihren Ausweis gestohlen hatte, und sie ihren Freunden versicherte, dass sie Football immer noch grenzenlos verabscheute, aber… irgendwie schien ihr diese Lüge verträglicher zu sein, und sie fühlte sich nicht ganz so schwach, als wenn sie Mr Kettleman in der Verwaltung hätte Bescheid sagen müssen, dass Greyson Adler ihren Ausweis weggenommen hatte, und sie nicht wusste, wie sie ihn wieder bekommen sollte.

 

Sie atmete langsam aus.

 

„Danke. Das… wird bestimmt lustig!“, versprach sie.

 

Und sie merkte wie Libby den Blick hob und zum Eingang der Cafeteria blickte. Sie hörte Blakes unterdrücktes Stöhnen. Sie sahen zu, wie sich Dr. Stunning eine Coke aus dem Tiefkühler holte, sie bezahlte und dann gelassen zu ihrem Tisch schlenderte. Einige Köpfe der Mädchen drehten sich automatisch in seine Richtung, und sein Blick ruhte auf ihr. Sie schluckte, ohne es verhindern zu können, denn ihre Kehle war merklich trocken.


„Miss Clark“, begrüßte er sie freundlich und drehte die Flasche in seiner Hand. „Alles in Ordnung? Kann ich noch irgendwas für Sie tun?“ Sofort sah Lucy sie wieder an. Richtig. Sie hatte ihr nicht erzählt, dass Dr. Stunning sie gerettet hatte. Sie schüttelte also freundlich den Kopf.


„Nein, heute ist… alles in Ordnung, Dr. St…- Cunning“, korrigierte sie sich schnell und sah Lucy ihr Grinsen hinter ihrer Hand verstecken. Seine Haare schimmerten dunkelblond im künstlichen Licht und fielen dicht in seine Stirn. Er trug ein sportliches Jackett, eine dunkle Jeans und verkörperte eine angenehme Erscheinung. Sein Blick verließ ihr Gesicht, und sie konnte wieder aufatmen. Sein Blick wanderte über Blake, ehe er sich Libby zuwandte.

 

„Miss Riley, wenn Sie das neue Literaturverzeichnis noch vierzigmal kopieren könnten, wäre ich Ihnen äußerst dankbar.“ Er wandte sich noch mal an den gesamten Tisch. „Auf einmal ist meine Vorlesung mehr als begehrt“, erklärte er entschuldigend.

 

„K…kein Problem, Dr. Cunning“, hauchte Libby ehrfürchtig, und er schenkte ihr ein Lächeln.

 

„Vielen Dank, meine Liebe. Später können Sie mir noch die Exemplare bringen, die ich bestellt habe?“, fügte er hinzu, und sie nickte unterwürfig. „Meine Damen, Mr Da Corte“, verabschiedete er sich und verschwand.


„Der isst wohl nie“, bemerkte sie schließlich.

 

„Du hast ja mächtig viel mit ihm zu tun?“, entfuhr es Lucy prüfend, und Blake schwieg mit missmutiger Miene.

 

„Nein… ich…, das war ein ganz dummer Zufall.“ Sie verfluchte ihr Pech und alle seltsamen Zufälle und fuhr fort, ihren Salat zu essen. Lucy schüttelte grinsend den Kopf, während Libby seufzend in die Ferne starrte.

 

~* ~

 

Gott, sie wusste nicht, mit was sie dieses Erlebnis würde später rechtfertigen können. Sie waren wahrscheinlich die einzigen Literaturstudenten weit und breit. Das College versuchte zwar jedem Außenstehenden weiß zu machen, dass die Studenten als Einigkeit zusammen hielten, aber das war einfach eine glatte Lüge.

 

Natürlich hielten die Studenten nicht zusammen. So wenig wie die Sportstudenten zu Dichterlesungen kamen, umso seltener besuchten die Literaturstudenten Sportveranstaltungen. Es schloss sich einfach aus! Es war nicht möglich. Öl und gefrorener Joghurt ließen sich auch nicht vermischen, weil es chemisch einfach eine unmögliche Grenze war!

 

Und jetzt waren sie hier. Sogar Libby hatte sich breit schlagen lassen, auch wenn Jo nicht genau wusste, weswegen. Dr. Stunning sitzen zu lassen kam doch bestimmt einem Rufmord gleich!

 

„Bier?“, fragte Lucy mit einem übertriebenen Lächeln, und Jo zuckte die Achseln. Bier konnte nicht schaden.


„Klar“, entgegnete sie nur.

 

„Ich hole welches. Such dir schon mal den perfekten Platz, du Expertin“, neckte Lucy sie, und Jo verdrehte die Augen. Sie brauchte eigentlich nur die perfekte Gelegenheit, um in die Jungenkabine einzubrechen.

 

„Ich komme mit dir“, bot sich Blake sofort an, und gemeinsam verließen sie die vollen Tribünen. Weil sie es gewohnt war, hatte sich Libby schon nach Plätzen in der ersten Reihe umgesehen. So machte sie es schließlich auch im Hörsaal. Sie sah ihr Lächeln schließlich, und schüttelte knapp den Kopf.

 

„Oder… weiter hinten? Wie läuft das hier? Sitzt man weiter hinten?“ Sie sah sich ratlos um, als ob sie nach Wegweisern suchte.

 

„Erste Reihe ist schon in Ordnung“, erwiderte Jo laut, denn irgendwelche Krachmacher bliesen gerade in ziemlich laute Tröten. So konnte sie auch einfacher wegkommen, beschloss sie. „Popcorn?“, fragte sie Libby, die bereits begonnen hatte, ihre Jacken und Westen auf vier Sitzen zu verteilen. Fast musste Jo lachen.

 

„Nein, bloß nicht! Ich bin dick genug, oder bist du blind, Jo?“, wollte sie unglücklich wissen, und Jo atmete langsam aus. Nein, sie würde das jetzt nicht diskutieren.

 

„Ok. Ich hol mir welches“, erklärte sie deshalb. „Bin gleich wieder da!“, rief sie, und sah aus knapper Entfernung, wie Lucy und Blake das Bier bezahlten. Eilig mischte sie sich unter die Menschen und bahnte sich einen Weg zu den Umkleidekabinen. Eigentlich ritt sie sich immer tiefer in die Misere, denn wenn es rauskommen würde, dass sie sich heimlich in die Umkleidekabine von Greyson Adler schlich, dann würde sie sich vor Lucy bestimmt nicht mit dem Argument retten können, dass es ihr peinlich war, ihnen zu erzählen, dass er ihren Ausweis geklaut hatte.

 

Lucy würde es irgendwie so drehen, dass sie auf einmal in Greyson verliebt war oder so etwas derartiges! So wie die verdammte Georgiana.

 

Seufzend setzte sie ihren Weg fort, und als sie das flache Gebäude erreichte, sah sie sich zur Sicherheit noch einmal um. Aber natürlich gab es hier niemanden, der sie erkennen würde. Gott, wie groß das College war, und wie viele Menschen es eigentlich gab, die sie noch nie gesehen hatte! Kopfschüttelnd drückte sie die Tür auf. Sie wusste nicht mal, ob sie hier erlaubt war.

 

Es roch nach Fliesenreiniger und weißem Magnesiumoxid, was sie noch vom Barrenunterricht aus dem Highschool-Sportunterricht her kannte, womit man sich übertrieben häufig die Hände eingerieben hatte, eigentlich nur um Zeit zu schinden, um nicht auf den Barren zu müssen. Bei der Erinnerung überkam sie ein unangenehmer Schauer.

Nein, sie war kein Sportler, absolut nicht.

 

Sie sah sich um. Mit jedem Schritt nahm sie lautere Geräusche war. Überall hingen die Banner des Colleges und das Reynolds-College Logo war rot unterlegt mit der traditionellen Farbe der California Killers. Ein dämlicher Name für die Mannschaft.

Sie hörte grölende Männerstimmen und Mädchengelächter. Sie erreichte die letzte Tür auf der linken Seite. Sie roch Zigarettenqualm. Sie wollte nicht wissen, was da drin ablief.

 

„Los, raus mit euch! Wir müssen uns noch aufwärmen. Die scheiß Seattle 79ers werden sich noch wünschen, nicht gekommen zu sein!“, rief einer der Jungen laut, und wenig später stolperten einige angetrunkene Blondinen aus der Umkleide, und Jo wich hastig zurück hinter den Trophäenschrank.

 

„Greyson, kommst du?“, hörte sie ein Mädchen rufen, und sie betete, dass er sich beeilte. Sie wollte hier nämlich schleunigst weg.

 

„Kill, kill, kill, kill!“, grölten die Jungen einstimmig, und nachdem alle ihre Highfive-Tänze beendet hatten, stürmten sie aus der Umkleide in Richtung Ausgang. 

Sie wartete noch ein paar endlose Momente, bis es wieder still wurde, und sie in einiger Entfernung wohl die Gegenmannschaft hörte, die sich im rechten Trakt umzog.

 

Sie machte einen Schritt nach vorne, sehr leise auf ihren dunkelbraunen Lieblings-Chucks. Sie kam hinter dem Trophäenschrank hervor und ignorierte die sinnlosen vergoldeten Pokale dafür, dass ein Haufen Idioten einen Ball hinter einer Linie auf den Boden geworfen hatte. Sie machte einen Schritt in Richtung der Schwingtüren – und zuckte vor Schreck zusammen.

 

Greyson Adler lehnte auf der anderen Seite des Trophäenschranks an der Wand, den Kopf schief gelegt und eine Augenbraue abwartend in die Höhe gezogen.

 

„Na, auf der Suche?“, wollte er kalt wissen und hatte die Arme vor der Brust vor verschränkt. Sie hatte wieder einmal Angst vor ihm. Er trug bereits seinen Jersey und die Polster und wirkte noch mächtiger als sonst schon. Nur den Helm und seinen Mundschutz hatte er noch nicht, und völlig perplex stand sie nun mitten auf dem Flur.

Das letzte Mal, dass sie mit ihm ganz alleine gewesen war, war im Seminarraum im College, als sie zusammen an dem Referat gearbeitet hatten. Aber das war auch nur einmal vorgekommen, weil er einfach ein Idiot gewesen war.

 

„Du bist ziemlich laut. Nicht gerade geeignet für eine schnelle Aktion“, merkte er mit einem eindeutigen Blick an. Sie besann sich wieder und baute sich relativ furchtlos vor ihm auf.


„Meinen Ausweis.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er hob die Arme in die Höhe.

 

„Was denkst du? Dass ich ihn jetzt gerade bei mir habe, Josie?“ Er schien wieder einmal wütend zu sein, betrachtete sie genau, und sie konnte nicht sagen, was er ist jetzt wieder vorwarf! Am liebsten würde sie ihn vor die gepolsterte Brust stoßen.


„Gib ihn mir!“, schrie sie, so dass ihr Echo den Flur entlang hallte.

 

„Ich will doch sicher gehen, dass du das gesamte Spiel über bleibst“, informierte er sie, während er sich von der Wand abstieß und näher kam. Sie hatte nicht wirklich Angst, aber es war beängstigend, wie viel Körpermasse ein einzelner Mensch haben konnte.

 

„Wieso tust du das?“, wollte sie verzweifelt wissen, und seine Stirn legte sich in verwirrte Falten.

 

„Kein bestimmter Grund“, entgegnete er gepresst, und ihre Nähe schien ihm Übelkeit zu bereiten, so abweisend sah er sie jetzt an.

 

„Lass mich doch einfach in Ruhe!“, presste sie hervor, und konnte eine Träne nicht verhindern. „Du bist so ein Arschloch! Du gibst mir sofort meinen Ausweis wieder oder ich hole Mr Kettleman!“, drohte sie nun doch mit der schwächsten aller Lösungen und kam sich vor als wäre sie zwölf Jahre alt. Eine Spur belustigt öffnete er tatsächlich den Mund, bis er plötzlich inne hielt und sich nicht mehr bewegte. Er reckte den Kopf höher und schien zu lauschen.

 

„Du solltest jetzt nach draußen gehen“, informierte er sie wieder ruhiger, und sie schüttelte ungläubig den Kopf.


„Du ziehst das wirklich durch?“, wollte sie warnend von ihm wissen, und er betrachtete sie fragend.

 

„Am besten gehst du sofort.“

 

„Tu nicht so! Du begehst Diebstahl, nur um mich zu quälen?“ Und sein Ausdruck war für sie nicht zu deuten. Er hob die Hand, legte den Zeigefinger unter ihr Kinn, und zitternd entwich ihr die Luft, als er sich näher zu ihr lehnte. Er fasste sie an! Sein Blick bohrte sich in ihren, die grünen Augen dunkel und intensiv. Ihr Mund öffnete sich automatisch, damit sie nach Luft schnappen konnte.

 

„Ja“, beantwortete er die Frage, die sie schon längst vergessen hatte, und mit aller Macht zog ihren Kopf zurück. Ihre Fäuste zitterten.

Und er hatte den Kopf gehoben, noch ehe sie die Stimme sprechen hörte.


„Miss Clark?“, vernahm sie die mittlerweile bekannte Stimme. Hastig wich sie einen Schritt nach hinten und wandte den Blick.


„Dr. Cunning“, entfuhr es ihr überrascht, und plötzlich erfasste eine Angst ihr Bewusstsein. Eine seltsame, instinktive, sehr bekannte Angst. Was war es? Woher kam es?

 

„Sollten Sie nicht auf den Tribünen sitzen?“ Er trug einen schwarzen Mantel über dem blauen Sportjackett, die Hände zwanglos in den Taschen vergraben und wirkte nonchalant. Kurz sah er sich im Gang um, betrachtete den Trophäenschrank und wandte sich dann an Greyson. „Man wartet auf Sie“, erklärte er lächelnd. Immer noch jagte ihr Herzschlag und verwirrt sah sie von einem zum anderen.

 

„Und man schickt Sie, um mich zu holen?“, wollte Greyson plötzlich wissen, und pure Ablehnung ging von seinem Körper aus, sie spürte es. Es machte sogar einen Schritt nach vorne und sein massiger, in Polster gepackter Körper, verdeckte sie fast zur Hälfte.

 

„Gibt es hier Probleme?“, fragte Dr. Stunning nun mit seiner angenehmen Stimme, und Jo schluckte wieder schwer, denn jetzt lag sein Blick auf ihr.

 

„Joanna, geh nach draußen.“ Und neben der Tatsache, dass Greyson Adler wohl das erste Mal ihren Namen benutzt hatte, hörte sie noch etwas anderes in seiner Stimme. Sie konnte sich nicht bewegen, denn Dr. Stunnings fesselnder Blick lag immer noch auf ihrem Gesicht, und das Atmen fiel ihr schwerer. Greyson drehte sich nun zur Gänze zu ihr herum, und Ungeduld zeichnete sich auf seinen Zügen ab. „Ich habe gesagt, du sollst raus gehen.“ Und unüberhörbar schnappte sie nach Luft, denn der gleiche intensive Blick traf sie nun auch von Greyson, und ihre Beine machten haltlose Schritte nach vorne, während die Blicke der beiden sie verfolgten. Es schien, als hätte sich sein Blick in ihr Bewusstsein eingeklinkt, und alleine sein Blick, zwang ihre Gliedmaßen, sich zu bewegen.

 

Und sie blickte sich nicht um, aber keiner der beiden Männer bewegte sich in Richtung Ausgang. Immer schneller wurden ihre Schritte jedoch, und als sie ins Freie trat fiel ihr wieder ein, dass sie ihren Ausweis immer noch nicht hatte!

 

„Jo!“, rief Blake eine Spur wütend. „Wo warst du? Wir warten die ganze Zeit auf dich!“ Er betrachtet sie kurz. „Alles in Ordnung? Ist was passiert?“ Seine Augen verengten sich, als er sie näher in Augenschein nahm.

 

„Nein, ich… mein…!“ Sie schüttelte wie benommen den Kopf. „Ich muss noch mal zurück!“, entfuhr es ihr. Sie machte wieder kehrt, und Blake folgte ihr direkt.

 

„Jo, komm zurück!“, rief er. Aber sie war wieder im Gebäude, roch wieder den Duft, und irgendwas lag in der Luft. Irgendwas elektrisierendes. Hastig bog sie um die Ecke, als sich Blakes Hand fest um ihren Unterarm schloss.


„Jo-“

 

Er unterbrach sich selbst, den Blick nach vorn gerichtet. Sie folgte ihm und verharrte in der Bewegung. Beide Männer standen noch immer vor der Umkleide, nur näher voreinander.

Sie glaubte zu sehen, wie Greyson seine Polster in einer hastigen Bewegung richtet, aber ihr Blick senkte sich auf die endlos vielen Scherben, die sich auf dem Boden verteilt hatten. Der Trophäenschrank schien in seine Einzelteile zerlegt zu sein, denn lose Bretter waren zerbrochen und die goldenen Pokale rollten mit einem leisen, metallenen Geräusch langsam über den Boden. Scherben glitzerten im Neonlicht und mit einem kurzen Blick auf Blake war Greyson an ihnen vorbei geschritten.

 

Er sah sie nicht mehr an.

 

„Was…?“, murmelte sie verstört, und ihr Blick hob sich zu Dr. Cunning. Blakes Griff um ihren Unterarm wurde fester. Cunning schien sich zu besinnen und nickte schlicht, während er ebenfalls den Gang verließ. Sein Blick traf ihren für den Bruchteil einer Sekunde, und ihr Herz machte einen Satz.

 

„Komm“, flüsterte Blake, tonlos und wachsam.


„Aber… - die Scherben! Gerade eben war-“

 

„Es ist nichts“, unterbrach sie Blake fest.


„Was?“ Sie starrte ihn ungläubig an. „Der Trophäenschrank! Greyson hat bestimmt…!“

 

„Es ist nichts!“, wiederholte Blake eindringlicher. „Komm jetzt mit nach draußen, die anderen warten.“ Er zog sie einfach mit sich, ließ die Scherben und das Chaos einfach zurück.


„Blake!“, wehrte sie sich lautstark, aber er zog sie erbarmungslos weiter. Als sie den Blick zurückwandte entdeckte sie einen Riss in der Wand, der vorher bestimmt nicht dagewesen war! Dort, wo der Schrank gestanden hatte, war der Putz geplatzt, und ein breiter Riss zog sich bis nach oben zur Decke. Unter welcher Kraft war bitteschön die Wand aufgebrochen?

Ihr Mund öffnete sich schockiert, und ungerührt hatte Blake sie nach draußen geschoben.

 

Anscheinend begann das Spiel, denn die Menge jubelte und ihre Augen suchten das Gelände ab. Aber Cunning war nicht mehr zu entdecken.

 

 

Kapitel 4

~ Secrets ~

 

Sie hatte nicht gut geschlafen, hatte nichts Gutes geträumt und hatte sich die komplette Nacht paranoid gefühlt. Jetzt war sie wie gerädert aufgestanden, und die Dusche hatte sie nicht gerade belebt. Lucy summte irgendeine Melodie, aber Jo sah sich immer wieder um, als erwarte sie den Teufel persönlich in ihrem Schrank.

 

„Kommst du?“, hörte sie Lucy rufen. „Blake wartet wie ein Hund vor dem Gebäude.“ Ja, Blake. Was war das gewesen? Er hatte ihr gestern praktisch den Arm ausgerenkt.

 

Und wie konnte sich Greyson Adler tatsächlich mit einem Professor anlegen, nur weil ihm etwas nicht passte? Und wo war Cunning hingegangen? Hatte er dafür gesorgt, dass Greyson verwiesen wurde? Es wäre nicht das Schlimmste! Lucy deutete ihren Blick.

 

„Denkst du wieder über diese Schrank-Geschichte nach?“, erkundigte sie sich, und Jo atmete langsam aus.

 

„Ich habe es doch gesehen!“

 

„Du glaubst, Greyson Adler prügelt sich mit dem neuen Professor durch die Umkleidekabinen der Jungen, weil er möchte, dass er auf das Spielfeld kommt? Was hast du überhaupt dort zu suchen gehabt?“, entfuhr es Lucy knapp, und Jos Mund schloss sich wieder.

 

„Das ist doch egal! Und Blake hat-“

 

„Blake hat gesagt, du dramatisierst es viel zu sehr.“ Lucy zuckte die Schultern.

 

„Was? Er war doch dabei! Er hat es doch gesehen!“, gab sie lauter zurück, als beabsichtigt.


„Hey! Ich habe doch gar nichts gesagt, Jo!“ Beschwichtigend hatte Lucy beide Hände gehoben. „Ich… finde es nur komisch, das ist alles“, fügte sie hinzu. Jo beschloss, nicht weiter darüber zu diskutieren. Sie wusste, was sie gesehen hatte. Und zu allem Überfluss hatte sie ihren Ausweis nicht wieder! „Und es ist doch auch egal, oder nicht?“

 

Ja, wahrscheinlich war es egal, und sie war einfach nur verrückt geworden.

 

Aber ihren Ausweis wollte sie – und brauchte sie – dennoch zurück. Sie würde im Computer nachsehen, wo die Sportstudenten sich aufhielten, und dann würde sie schlicht und einfach ihren Ausweis zurückverlangen und keinen weiteren Kontakt mehr mit Greyson haben.

 

Draußen standen mittlerweile Libby und Blake und schienen sich wie immer zu streiten.

 

„Alles in Ordnung bei euch?“, fragte Jo, sichtlich besorgt, aber Libby atmete wütend aus und drehte Blake den Rücken zu.

 

„Alles bestens“, gab er zurück und musterte sie genau.

 

„Ja, offensichtlich“, erwiderte sie langsam. Lucy sagte gar nichts, drehte ihre Haare um den Finger und blickte auffordernd in die Runde.

 

„Wollen wir?“

 

„Ja. Gleich wieder Cunnings Gruselshow“, murrte Blake, der sich direkt hinter ihr in Bewegung setzte.

 

„Oh, Jo, ich bräuchte das Buch wieder. Ich wollte mir noch ein paar Notizen machen.“ Jo seufzte auf.


„Ja, klar. Es ist in meinem Spint. Falls ich ihn denn heute aufbekomme“, fügte sie knapp hinzu. Blake reagierte darauf nicht, und Lucy lächelte nur.

 

„Ok, wir können ja vorher dort vorbeigehen.“

 

Im Eingang des Hauptgebäudes angekommen, entledigte sich Libby der Millionen Mäntelschichten und zog sich wieder einmal eine zu enge Bluse zurecht. Jos Blick blieb an ihrem Unterarm hängen.

 

„Hast du dich verletzt?“ Libby blickte selber kurz verwirrt hinab auf das große Pflaster.

 

„Oh, ja. Geschnitten“, erklärte sie und verdrehte die Augen.

 

„Ist es desinfiziert? Tut es sehr weh? Scheint ein großer Schnitt zu sein.“ Jo hörte Blake gepresst ausatmen, während er die Hände in den Taschen vergrub. Libby zuckte die Achseln.

 

„Es ist wirklich nur ein Kratzer“, informierte sie sie gleichmütig. „Wollen wir zu deinem Spint? Wir treffen euch einfach im Saal“, schlug sie diplomatisch vor, und Jo wusste, der Streit zwischen Libby und Blake war nicht vorbei.

 

„Ok“, sagte sie schließlich und folgte Libby in den Gang mit den Spinten als sich Lucy und Blake verabschiedet hatten.

 

Immerhin stellte ihr Libby nicht die Frage, weshalb sie gestern in der Umkleidekabine der Jungen war. Sie gab den neuen Code für ihren Spint ein, den sie noch gestern geändert hatte, und fast wunderte es sie, dass sie ihn öffnen konnte.

 

Und sie erstarrte.

 

Dort lag ihr Ausweis. Gut, dachte sie nur. Dann musste sie immerhin nicht Greyson suchen.

Sie steckte ihn eilig ein und reichte Libby dann das Buch, was sie nicht geschafft hatte, zu lesen.

 

„Danke“, erwiderte diese abwesend. „Komm, wir wollen nicht zu spät kommen.“ Anscheinend war auch Libby nicht besonders gut gelaunt.

 

„Was ist los?“, fragte Jo vorsichtig, aber Libby setzte sofort eine heitere Miene auf.

 

„Nichts“, log Libby schlecht, aber Jo war klar, dass Libby bestimmt nichts erzählen würde, was sie nicht wollte. Sie trug heute eine dunkle Stoffhose, dazu niedrige Pumps, eine etwas zu enge dunkle Bluse und ihre Jacke und den Mantel über dem Arm. Die dunkelblonden Haare waren zu einem Dutt nach hinten gesteckt, und sie war dezent geschminkt. Das war neu. Das war sie für gewöhnlich nicht.

 

„Schminkst du dich für Dr. Stunning?“, fragte Jo plötzlich, und Libbys Augen weiteten sich erstaunt.

 

„Was? Nein! Ich tue das hin und wieder, ok?“ Jo hob abwehrend die Hände.

 

„Ok, klar.“ Gott, Libby war also wirklich schlecht gelaunt.

 

Sie erreichten den Hörsaal und Blake war vertieft über seinem Smartphone und beachtete Lucy vielleicht zum ersten Mal nicht. In der gesamten Zeit, in der sie ihn kannte war das noch nie vorgekommen.

 

Sie setzten sich neben Blake, und er sah nicht von seiner Lektüre auf.

Auch Georgiana Leman stattete der Veranstaltung einen Besuch ab, erkannte sie. Auf die letzten Minuten füllte sich der Hörsaal zur Gänze, und sie war sich sicher, Blake hatte erkannt, dass tatsächlich nur Frauen anwesend waren. Wie sehr musste er es wohl gerade hassen, hier zu sein?

 

Und die hintere Tür öffnete sich, und sehr gut gelaunt betrat Dr. Cunning den Hörsaal, gekleidet in elegantem schwarz. Selbst die Uhr um sein Handgelenk war schwarz. Er zog das schwarze Jackett aus, legte es über einen Tisch vorne, und schlagartig trat Stille ein. Widerwillig legte Blake sein Smartphone zur Seite und lehnte sich gelangweilt zurück.

 

„Meine Damen, mein Herr“, begann er zwinkernd, und Blake verdrehte die Augen. Seine Stimme war angenehm einlullend, fand sie. Die Tür zum Hörsaal öffnete sich ein weiteres Mal. Alle wandten die Blicke nach hinten. Ihr Mund öffnete sich perplex.

Mr Adler, haben Sie sich verlaufen?“, erkundigte sich Cunning glatt, aber Greyson Adler schritt zielsicher die Stufen ganz nach unten, um sich in den Block neben ihr in die erste Reihe zu setzen.

 

„Nein. Ich bin angemeldet, Dr. Cunning“, erklärte er schlicht, ohne den Blick abzuwenden. Er legte einen Collegeblock vor sich auf den Klapptisch.

 

„Ist das so?“ Cunning sah kurz durch seine Liste, sagte aber nichts weiter.

 

„Schön, fahren wir also fort.“ Seine Stimme klang abgeklärter. Sofort wurde Greyson von Georgiana Leman in ein Gespräch verwickelt, in dem sie auf ihn einredete, während sie sich immer wieder durch die hellblonden Haare fuhr. Jo verengte die Augen, denn auch Georgiana trug ein großes Pflaster auf ihrem Unterarm. Weitere Mädchen lehnten sich nach vorne, um Greyson zum Sieg gestern zu gratulieren oder einfach, um mit ihm zu sprechen.

 

Demonstrativ blickte Jo wieder nach vorne, und Blake sah mittlerweile so genervt aus, dass sie dachte, gleich würde er aufstehen und gehen.

 

„Wieso bist du so angespannt?“, fragte sie ihn vorsichtig, während Cunning die Charaktere einiger wichtiger Werke an die Tafel schrieb. Zuerst dachte sie, er würde nicht antworten, aber dann öffnete er den Mund.

 

„Ich bin kein großer Fan von diesem Cunning oder Greyson Adler“, erklärte er leise, ohne den Blick von der Tafel abzuwenden. Das verstand sie vielleicht. Auch wenn sie keine Begebenheit nennen konnte, an dem Greyson Blake irgendwie angegriffen oder beleidigt hätte.

Und sie hatte das dumpfe Gefühl, dass es kälter geworden war. Immer wieder wandte sich ihr Blick in Greysons Richtung, und jedes Mal ertappte sie sich dabei und blickte wieder wütend nach vorne.

 

Nicht genug, dass er tatsächlich wieder einmal in ihren Spint eingebrochen war, nein! Jetzt besaß er auch noch die Dreistigkeit hier aufzutauchen!

 

Die Zeit war träge vergangen, und sie hatte eher widerwillig mitgeschrieben. Aber sie hatte ihm zugehört, seiner Stimme erlaubt, in ihr Bewusstsein einzudringen und bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sie Greyson Adler fast verdrängt. Lucy hatte sich erhoben und so auch Blake. Libby packte eilig ihre Unterlagen zusammen.

 

Nur Greyson blieb anscheinend sitzen. Entspannt klappte er den Block zu und zog den Reißverschluss seiner blauen Kapuzenjacke nach oben. Aber er erhob sich nicht.

Und jetzt fing er ihren Blick auf. Sie hielt die Luft an. Sie wusste, sie war wahrscheinlich zu paranoid, aber er war gewalttätig! Und gefährlich! Aber Cunning sah nicht verletzt aus oder schien sich bedroht zu fühlen.

 

Er hatte ebenfalls begonnen, seine Unterlagen einzustecken, aber jetzt löste Greyson den Blick von ihr, um nach vorne zu sehen. Ehe sich ihre Atmung regulieren konnte, zuckte sie vor Schreck zusammen.

 

„Miss Clark, hätten Sie vielleicht eine Minute Zeit?“ Sie war sich gewahr, dass sie bestimmt hundert Mädchen anstarrten, während der schöne Mann ihr ein Lächeln schenkte.

Neben ihr wirkte auch Libby nicht gerade begeistert, und Blake stand nun neben ihr.

 

„Ich?“, wiederholte sie verwirrt, und Cunning schenkte ihr ein breiteres Lächeln. „Ok?“ Das Wort verließ als Frage ihren Mund, und sein Gesicht erhellte sich erfreut. Zuerst dachte sie, Blake würde sie nicht aus der Reihe lassen, aber schließlich machte er einen Schritt zur Seite. Greyson saß immer noch ruhig auf seinem Platz.

 

Cunning registrierte dies mit einem Stirnrunzeln. Auch Lucy hatte eine Augenbraue gehoben. Wahrscheinlich wunderte sie sich, dass Dr. Stunning nicht sie auf ein Wort nach vorne gebeten hatte.

Sie folgte ihm mit weichen Knien. Libby und Lucy, sowie Blake gingen langsam die Stufen empor, aber immer den Blick zurück gerichtet. Cunning führte sie um das Pult herum, zum äußersten Ende des Hörsaals.

 

„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, in keiner Art und Weise, Miss Clark“, begann der Mann vor ihr jetzt, und sie fand, er wirkte noch jünger. Sie verengte die Augen. Sie konnte keine Falte in seinem Gesicht entdecken. Nichts, was ihr Anzeichen liefern könnte, dass er tatsächlich über dreißig war – was er wohl nicht war?!

 

„Wie alt sind Sie?“, platzte es aus ihr heraus, bevor sie nachdenken konnte. Überrascht hatte er eine Augenbraue gehoben, schien ihr ihre Impertinenz aber nicht übel zu nehmen.

 

„Bitte?“, entgegnete er, aber sie glaubte, dass er fast lächelte.

 

„Entschuldigen Sie, Dr. St…- Cunning.“ Und schon wieder hätte sie sich fast versprochen. Seine Augen schienen sie zu durchleuchten.

 

„Ich möchte wirklich, dass Sie zu mir kommen, wenn Ihnen dieser junge Mann Probleme bereitet. Ich bin mir nicht sicher, weshalb er es auf Sie abgesehen hat, aber er scheint äußerst lästig zu sein“, erklärte er mit einem Blick über ihre Schulter. Anscheinend sprach er von Greyson. Aber zurzeit hatte sie ihren Ausweis wieder, und sie war froh, überhaupt ein Wort vor diesem schönen Mann raus zu bekommen.

 

„Nein, keine Probleme“, erklärte sie tapfer. Er ließ sie nicht aus den Augen.

 

„Wenn… Sie sich auch noch für eine private Stelle bei mir interessieren, Miss Clark – das ließe sich einrichten“, fügte er jetzt ruhiger hinzu. Und sie wusste nicht, weshalb dies wie ein unmoralisches Angebot klang, aber ihr Herz machte einen Satz.

 

„Ich… denke nicht, dass… ich die Zeit dafür hätte“, erklärte sie tonlos. Ihre Stimme hatte sich verabschiedet.


„Falls Sie Ihre Meinung ändern sollten, meine Tür steht Ihnen offen. Ich habe auch gern ein Auge auf diesen… Jungen für Sie, Miss Clark, wenn Sie es wünschen. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn es Ihnen unangenehm ist zum Direktorat zu gehen“, erwiderte er fast verschwörerisch.

 

„Ok, Dr. Cunning“, gab sie perplex zurück. Sein Mund kräuselte sich im Anflug eines betörenden Lächelns. Schwarz stand ihm gut.

 

„Miss Clark, falls es von besonderer schulischer Wichtigkeit für Sie sein sollte, schlage ich vor, Sie versuchen mein Alter selber rauszufinden. Sie scheinen mir ein kluges Mädchen zu sein.“ Er lächelte charmant und machte keine Anstalten den Blick von ihr abzuwenden.

 

Sie spürte, wie Hitze in ihre Wangen trat. Himmel! Flirtete er mit ihr? Ein Professor? Konnte das sein? Sie hielt es nicht für möglich. Nach wenigen Sekunden schaffte sie es, den Blick zu senken. Er hatte ihr eine Stelle angeboten. Aber er schüchterte sie ein. Auf eine seltsame Weise.

 

Sie lächelte zaghaft und drehte sich um. Blake wartete oben, soweit sie es erkennen konnte, und auch Greyson hatte sich von seinem Platz erhoben. Er hatte den Blick auf etwas hinter ihr fixiert. Sie nahm an, er funkelte Cunning böse an, aber als sie sich noch einmal umwandte, sah sie nur, wie sich die hintere Tür langsam schloss. Cunning war schon fort.

Wo war eigentlich sein Büro?

 

Sie kam zur ersten Stufe der Treppe, die nach oben führte und war sich wieder Greysons Blick gewahr, den sie beim besten Willen nicht deuten konnte.

Er ließ ihr den Vortritt, mit dem schlichten Rucken seines Kopfes. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, und so würdevoll es mit ihren weichen Knien ging, stapfte sie an ihm vorbei.

 

Oben angekommen, erkannte sie, dass einige seiner Sportkollegen auf ihn warteten.

Sie hörte, wie sie über die Unnötigkeit dieser Vorlesung sprachen. Greyson kam kurz nach ihr aus dem Hörsaal.

 

„Hey, bist du jetzt fertig?“, wollte ein großer, schwarzer Junge wissen, der ihm kollegial die Hand auf die Schulter schlug, als hätte Greyson so eben eine furchtbar anstrengende Prüfung abgelegt.

 

„Was wollte er?“, fragte Lucy sofort. War sie wirklich eifersüchtig?

 

„Nichts weiter. Wollte mir eine Stelle anbieten, und-“

 

„Eine Stelle?“, unterbrach sie Libby offensichtlich skeptisch. „Wirklich?“ Blake hatte auch seufzend die Arme vor der Brust verschränkt, und fuhr sich über die Stirn.

 

„Was ist los? Du bist unentspannt und verhältst dich seit Tagen furchtbar anstrengend!“, erklärte Lucy jetzt und war definitiv gereizt. Jo hörte, wie sich Greyson mit einigen Handschlägen verabschiedete, und offensichtlich den Weg zu ihrer Gruppe zurücklegte. Sie legte entgeistert den Kopf in den Nacken als er neben ihr zum Stehen kam. Er tauschte einen Blick mit Blake.

Dieser atmete sehr langsam aus, und Lucy schüttete verwirrt den Kopf.

 

„Was wird das hier?“, verlangte sie zu wissen. „Husch, geh zu deinen Sportlern, Quarterback!“, befahl sie, und es war bezeichnend, dass sie nicht einmal versuchte, sein Interesse zu wecken. Andere Mädchen wären über sein Auftauchen bestimmt begeistert gewesen. Aber er wandte sich ihr zu, als wäre es selbstverständlich, und schüttelte den Kopf.

 

„Nein“, erklärte er, anscheinend befehlsgewohnt. Seine Stimme klang autoritär genug, dass sich Lucys Mund überrascht schloss. Ihre Augen weiteten sich jedoch. „Ich begleite Joanna jetzt in die Bibliothek.“ Und er sagte dies, während sein Blick wieder zu Blake gewandert war, mit einer Selbstverständlichkeit, die ihren Mund offen stehen ließ. Blake war mehr als einen Kopf kleiner, aber nichts Lächerliches war an diesem Gespräch zu finden.

Nachdenklich rieb sich Blake das Kinn, ehe er den Blick zu Greysons Augen hob.

 

„Ja“, erwiderte er schließlich nickend. Und sie schüttelte heftig den Kopf.


„Was passiert hier gerade?“, wollte sie wissen, aber Blake musterte Greyson skeptisch und ignorierte ihre Worte.

 

„Ich hoffe, du weißt, ich vertraue dir nicht“, entgegnete Blake offen, und Greyson nickte.

 

„Ich weiß. Aber im Moment gibt es keine bessere Wahl“, gab Greyson zurück, als würden seine Worte irgendeinen Sinn ergeben!


„Hallo?“, wagte sie zu rufen, aber Lucy verschränkte lediglich die Arme vor der Brust, Libby sortierte ihre Unterlagen neu, und Blake schien hin und hergerissen zu sein.

Nur sie fühlte sich ausgeschlossen von einem Film, auf den sie sich keinen Reim machen konnte. Es musste verrückt aussehen! Ihre Gruppe, zusammen mit dem Football-Idioten!

 

„Er begleitet dich“, informierte sie Blake schließlich. Greyson nickte daraufhin nur.


„Was? Wieso? Was soll das, Blake?“, wollte sie ungeduldig wissen, denn sie hatte keine Lust auf dieses seltsame Spiel. Aber Blake schien ihr nicht mal antworten zu wollen.

 

„Es gibt einige bessere Möglichkeiten als ihn!“, beschwerte sich Lucy plötzlich, die Arme immer noch verschränkt, plötzlich ernster, als schien sie die Absurdheit dieser Unterhaltung tatsächlich zu begreifen.


„Ich glaube, jetzt ist nicht unbedingt der beste Zeitpunkt, um das zu diskutieren?“, warf Libby nervös ein und zog ihre Bluse zurecht.

 

„Nein“, bestätigte Blake. „Du musst zurück, richtig?“, wandte er sich neutral an Libby, die nickte. Jo spürte, wie sich Falten der Verwirrung tief in ihre Stirn gruben. „Und kein Wort!“, fügte er warnend hinzu, und Libby verdrehte tatsächlich genervt die Augen.

 

„Ich jagt mir Angst ein, Leute. Was ist los? Was soll das hier? Seit wann reden wir mit Sportler-Idioten?“ Sie wandte sich mit offenem Mund an Greyson, wartete auf irgendeine Antwort, aber er sah sich nur abwartend um.

 

„Gibt es einen besseren Plan als den, dass sich der Hüne kümmert?“, wollte Lucy jetzt wissen, zog an einer roten Strähne und wickelte diese abwesend um ihren Zeigefinger, während sie darauf zu warten schien, dass Blake eine bessere Lösung parat hatte.

 

„Ich weiß es nicht. Im Moment ist es nicht sicher. Gesten Nacht waren die Spuren nicht zu übersehen“, erklärte er nur.

 

„Und wir vertrauen dem Hünen? Ich dachte, das hätten wir vor Monaten abgelehnt“, beschwerte sie sich, und Jo wedelte mittlerweile verzweifelt mit den Händen.

 

„Hallo? Was soll das? Wovon sprecht ihr? Ich werde gehen, denn ihr seid verrückt geworden!“, erklärte sie nur und wandte sich ab. Und Greyson folgte ihr in derselben Sekunde.

„Wehe, du folgst mir!“, warnte sie ihn verstört. „Geh weg von mir!“, fügte sie hinzu, als er nicht reagierte. Sie machte größere Schritte, aber er hielt problemlos Schritt.

Sie stoppte abrupt, strich sich zornig eine dunkle Strähne hinter das Ohr, und starrte ihn von unten an. „Hör auf damit!“

 

„Es ist völlig egal, was du sagst oder was du willst, Clark. Du wirst keinen Schritt alleine machen.“ Und er sagte es auf eine so beunruhigende Art und Weise, dass sie eine Gänsehaut auf ihren Unterarmen spürte. Als sie den Kopf wandte, sah sie, dass Blake und Lucy ins Gespräch vertieft waren, und es anscheinend niemand weiter störte, dass Greyson Adler ihr erklärte, dass er sie verfolgen würde!

 

Kopfschüttelnd hatte sie sich umgewandt und zornig schritt sie durch die langen Gänge. Und niemand schien sich wirklich zu stören. Er folgte ihr lautlos, hielt mit ihr Schritt, aber niemand schenkte ihnen weiter Beachtung, dabei war jedem klar, wer er war – aber niemand kannte sie!

 

„Wo gehst du hin?“, fragte er, als sie zum Eingang abgebogen war.

 

„Raus!“, rief sie hysterisch, aber er versperrte ihr kopfschüttelnd den Weg.

 

„Raus ist keine Option.“ Ihr Mund öffnete sich, und hilfesuchend sah sie sich um.

 

„Keine Option?“, wiederholte sie ungläubig. „Was soll das? Ist das ein Scherz? Verfolgst du mich jetzt aus Sport? Hast du Blake gedroht? Bestichst du die anderen? Was ist das für eine bescheuerte Nummer, Adler?“ Und tatsächlich zuckten seine Mundwinkel, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. „Lass mich in Ruhe!“

 

„Sehr gerne, aber…“

 

„Aber?“, wiederholte sie verzweifelt, reckte die Hände in die Höhe und hätte weinen können.

 

„Aber das geht nicht.“

 

„Es geht nicht?“

 

„Nein“, bestätigte er, und dieses Gespräch hatte keinen Sinn ergeben. „Am besten gehen wir zur Bibliothek, du arbeitest deine Schicht ab und dann sehen wir weiter“, erklärte er abwesend und sah sich um.

 

„Bist du völlig übergeschnappt?“

 

Er schloss in einer einzigen fließenden Bewegung den Abstand zu ihr, fixierte ihre Augen mit seinem stechenden Blick und jagte ihren Puls in eine ungeahnte Höhe.

 

„Du wirst jetzt mit mir zur Bibliothek gehen, Joanna.“ Seine Stimme erreichte eine Tiefe, die nur noch ein Grollen war, und wie hypnotisiert öffnete sich ihr Mund, und eine Art von Willenlosigkeit überkam ihren Geist.

 

„Ok…“, sagte sie nur, während sie den Blick nicht von ihm wenden konnte.

 

Sie nahm am Rande ihres Bewusstseins war, wie sich seine Atmung beschleunigte und er sich fast nervös durch die Haare fuhr. Benommen schüttelte sie den Kopf, denn die Stimmung hatte sich verändert. Ihre Fingerspitzen kribbelten plötzlich.

 

„Komm jetzt“, befahl er tonlos und deutete mit dem Arm in die Richtung, aus der sie gekommen war. Und es war die plötzliche Angst, die ihre Beine laufen ließ, die sich seinen Worten fügte, und ihr gesamter Körper kribbelte unangenehm.

Greyson sah sie nicht mehr an, bis sie die Bibliothek erreicht hatten.

 

 

Kapitel 5

~ Mails ~

 

Es war so absurd, dass sie keine Erklärung parat hatte, als sie Dana ablöste.

 

„Du… bringst ihn mit?“ Und anscheinend nahm sie es ihr mehr als übel, aber Jo konnte es ihr nicht mal erklären.

 

Er folgt mir einfach“, sagte sie also, und wünschte sich, Dana würde sie nicht so ansehen, als ob sie gerade log. „Wirklich“, fügte sie hinzu. „Ich habe versucht, ihn loszuwerden, aber anscheinend ist er jetzt verrückt geworden!“, erklärte sie ernsthaft, aber Dana zuckte die Achseln.

 

„Das erste Mal interessiert sich also jemand für dich, der nicht aussieht wie ein Troll und du lässt dich einfach beeinflussen.“ Dana schüttelte bedauernd den Kopf, und Jo verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.


„Es geht dich überhaupt nichts an, aber ich lasse mich nicht beeinflussen. Und bist du nicht längst in seinem Bett gelandet, Dana? Willst du mir wirklich, unter allen Menschen, eine Moralpredigt halten? Denn im Gegensatz zu dir werfe ich mich an keinen Hals!“ Und das waren mehr Worte, als sie je mit Dana Grueson gewechselt hatte.

Beleidigt war diese abgezogen, während Greyson wachsam am Tresen lehnte.

 

„Zufrieden?“, erkundigte sie sich vollkommen genervt, und er betrachtete sie wie etwas äußerst Lästiges.

 

„Wie wäre es, wenn wir uns nicht unterhalten würden, Josie?“ Und er schien ihren Namen wieder einmal vergessen zu haben.

 

„Vielleicht nehme ich Dr. Cunnings Vorschlag an“, erklärte sie wütend. Er hob belustigt eine blonde Augenbraue.

 

„Ja, welchen? Für ihn zu arbeiten oder mich bei ihm anzuschwärzen?“ Kurz war sie verblüfft, aber es wunderte sie nicht, dass er gelauscht hatte! Vielleicht konnte er auch Lippen lesen oder sonst was.


„Ich bin sicher, er würde dich nur zu gerne von unserem College werfen lassen!“, drohte sie jetzt, aber er seufzte nur.

 

„Ja, würde er gerne“, bestätigte er und lächelte bitter.

 

Mr Leman hat schon andere Studenten von hier entlassen!“, gab sie zurück.

 

Mr Leman hat anderes zu tun“, blockte er schlicht ab, und sie schüttelte den Kopf bei so viel Dreistigkeit.

 

„Was ist los mit euch allen?“, fragte sie, und er verdrehte gereizt die Augen.


„Halt endlich deinen Mund, mach dir keine Gedanken, und lass mich in Ruhe.“ Ihr Mund öffnete sich zornig. Als ob sie diejenige wäre, die sich komisch verhielt! Es reicht ihr!


„Du… du quälst mich seit… seit über zwei Jahren, Adler! Du hältst meine Fachschaft davon ab, an überhaupt irgendwelchen Ausflügen und Freizeitbetätigungen teilzunehmen, du verhinderst jede Party, und ständig bist du in meiner Nähe, nur um mein Leben zur Hölle zu machen!“, fuhr sie ihn zornig an. Aber ihre Worte ließen ihn nur noch gereizter werden.

Ich lasse dich in Ruhe, du scheiß Idiot! Du willst mich von jedem zwischenmenschlichen Kontakt abschotten? Und weshalb? Weil du verhindern willst, dass ich überhaupt Spaß habe?“, ergänzte sie nahezu hysterisch, und ignorierte, dass man in der Bibliothek nicht schreien durfte. Alle waren verrückt geworden!

 

Er schien abzuwarten, bis ihr Ausbruch beendet war. Sie atmete schneller und konnte nicht begreifen, wie er sie so kalt und gleichmütig ansehen konnte. Sie wollte eine Antwort, aber er schien sich beharrlich zu weigern, und es regte sie auf.

 

„Bist du fertig?“, erkundigte er sich langsam, und er trieb sie zur Weißglut.

 

„Wieso verpisst du dich nicht?“ Und kurz schien er antworten zu wollen, kurz funkelte etwas in seinen Augen. Kurz wirkten sie grüner, kurz schien es, als drohe er seine Fassung zu verlieren, aber der Moment war so schnell weg, wie er gekommen war.

 

„Setz dich, beende deine Schicht, und bitte, Clark, lass mich in Ruhe!“ Und es war eine Drohung. Und es machte den Anschein, als wolle er genau da stehen bleiben, wo er war.

 

Und sie schrie erneut.

 

Sie stieß ihm sogar vor die Brust.

 

Sie versuchte sogar, erneut zu gehen.

 

Aber ohne Erfolg.

 

Stumm hatte er sie aufgehalten, erduldete ihre Ausbrüche, bis sie sich, nach einer geschlagenen halben Stunde auf den Stuhl fallen ließ. Sie fixierte seinen Rücken und hatte nicht mal Lust, zu lesen.

 

Im dunklen, verspiegelten Bildschirm des PCs betrachtete sie ihr verwirrtes Spiegelbild. Einige dunkle Strähnen hatten sich auf ihrem Zopf gelöst und fielen ihr in die Augen, welche sie groß und völlig planlos anblickten. Ihr Mund war zu einer schmalen Linie zusammen gepresst, und ihr kam eine Idee.

 

Vielleicht konnte sie die Emailadresse von Dr. Stunning über das Netzwerk des Colleges herausfinden. Sie hatte einen Zugang zu diesem Netzwerk, denn sie arbeitete schließlich für das College, und sei es nur, dass sie Bücher für Studenten auslieh.

 

Sie startete den Rechner und wartete auf eine Internetverbindung.

Sie hatte den Namen in der Suchoption eingegeben, und der College Server prüfte gerade sämtliche Verzeichnisse.

 

Sie öffnete Google, um seinen Namen dort einzugeben. Wenn auch nur aus Spaß oder Langeweile, oder was eben der Grund für so etwas war.

Und es gab ziemlich viele Hits. Ziemlich viele. Sie fand auch einen Link zurück zu der College Homepage mit seinen Angaben.

Viele Bilder erschienen, aber auf keinem war er zusehen. Der Name war häufig in Irland zu finden, stellte sie fest, denn viele irische Referenzen liefen über den Bildschirm.

Ehe sie den Link zum College öffnete blieb ihr Blick an einer anderen Überschrift hängen.

 

Einzig Überlebender der Callahan, Strait of Georgia, April 1911

 

Sie überflog den Bericht über eine Schiffsfahrt nach Kanada, die unter mysteriösen Umständen nie beendet wurde. Neben dem einzig überlebenden Passagier dieses Schiffes hatte ein Augenzeuge an der Anlegestelle durch sein Fernglas verfolgt, wie das erwartete Schiff plötzlich eine Kehrtwende machte und kippte.

Es brach unter dem Wasserdruck in mehrere Teile, und als die Küstenrettung zwei stundenlang vergebens nach Überlebenden oder Körpern gesucht hatte, konnten sie nur einen Mann unversehrt aus den Fluten retten.

Der Mann namens William Cunning erklärte, er hätte keine Erinnerung mehr an das Geschehene. Er wurde zur Küste ins nächste Hospital gebracht, und nach weiteren sechs Stunden konnte das Wrack gefunden und geborgen werden.

Die hundertfünfzig weiteren Passagiere, inklusive des Kapitäns und der Besatzung, hatten nicht überlebt, und ihre kaum erkennbaren Überreste waren von der Küstenrettung geborgen und an Land gebracht worden.

Weiter verwies der Link noch auf ähnliche Unglücke, ein weiteres mit einem Mann namens William Cunning, allerdings hundert Jahre zuvor.

 

Sie klickte gelangweilt auf diesen Link, aber bei diesem Unglück hatten zwei Männer überlebt, so hieß es in dem Bericht. Zwei Brüder, William und Cilian Cunning, konnten aus den Überbleibseln des Wracks gerettet werden, während die gesamte übrige Besatzung nur vereinzelt, weit verteilt gefunden werden konnte. Das Meer hätte sie verschluckt, wurde hier angenommen.

 

Es schauderte sie kurz.

 

Sie klickte sich zurück zu der Google Seite.

 

Cunning war auch der Name eines Hotels in Irland, was wohl mit fünf Sternen bewertet worden und seit über dreihundert Jahren immer im Familienbesitz gewesen war, außerdem gab es Referenzen zur Marine, zum ersten Weltkrieg, unter den Namen der Soldaten, und eigentlich gab es zu jeder möglichen geschichtlichen Besonderheit diesen Namen mindestens einmal, auch Cilian Cunning tauchte ab und auf.

 

Sie klickte auf Bilder, und es erschien eine ganze Reihe an Fotos auf dem Bildschirm. Und sie entdeckte tatsächlich sein Bild. Es konnte kein altes Bild sein, denn er sah nicht älter aus als jetzt. Das Datum daneben war 2004. Also war es doch fast zehn Jahre her. Dennoch sah er nicht älter aus. Sie klickte auf die Website, die das Foto enthielt.

Es war nur ein Steckbrief. Professor für Literaturgeschichte, geboren in Irland. Nichts weiter. Kein Geburtsdatum, gar nichts.

 

Zurück bei den Ergebnissen fiel ihr Blick auch auf die sprachliche Besonderheit des Namens.

Eine nicht gerade seriös aussehende Seite beschäftigte sich wohl mit den Ursprüngen von Wörtern. Sie scrollte langsam die Definitionen nach unten.

Und fast schüttelte sie den Kopf.

 

Der lateinische Ursprung kam von dem Wort Cunnus, was verbergen bedeutete, aber innerhalb einer weiteren Zeitepoche wurde das Wort auf die Weiblichkeit der Frau verwendet. Des Weiteren kam es in den frühen Sprachgebrauch mit der Bedeutung von List und Tücke, anscheinend geprägt durch eine lange Familientradition. Die Familie Cunning war Großgrundbesitzer einer Grafschaft in England gewesen, so versuchte der Text es hervorzuheben. Und die Pächter im Dorf verbanden mit der Familie Cunning die Habgier und Heimtücke, mit der sie ihr Geld eintrieb.

 

Es endete in gruseligen Ausführungen, dass die Cunnings die jungen Mädchen des Dorfes entführten, die sich durch Wohlstand und Luxus blenden ließen. Das Wort stand für Attraktivität in negativen Einflüssen und der Ersteller dieser Seite verband das Entstehen des Wortes mit der englischen Familie, die diesen Namen getragen hatte.

 

Sie klickte sich zurück, um endlich den Link zum College zu öffnen.

 

Dort kam sie auch auf seine persönliche Seite. Dr. William Cunning, Professor für Literaturgeschichte, geboren in Irland. Keine weiteren Informationen, wo doch manche Professoren ihr ganzes Leben und sogar die Namen ihrer Haustiere dort verwalteten.

Es war eine Emailadresse angegeben. W.Cunning@reynold-college.com.

Sie zögerte, vergewisserte sich, dass Greyson sich nicht die Mühe machte, sich umzudrehen, aber sie musste nichts befürchten. Er sah sich lediglich um, machte kein Geräusch und schien einfach nur genervt zu sein.

 

Sie öffnete die Emailadresse, und sofort sprang ein Fenster auf, wo sie ihre Nachricht eingeben und mit ihrem Passwort ihren Account öffnen konnte. Sie zögerte. Als sie einen weiteren Blick in Greysons Richtung riskierte, begann sie langsam zu tippen.

 

_______________________________________________________________________

An: W.Cunning@reynold-college.com

Betreff: Greyson Adler

Absender: J.Clark@reynold-college.com

 

Sehr geehrter Dr. Cunning,

ich würde Ihr Angebot gerne annehmen.

Ich glaube, Greyson Adler erpresst meine Freunde, und ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen, falls Ihr Angebot noch bestehen sollte.

Bitte schreiben Sie mir, sobald Sie es einrichten können.

Meine Emailadresse ist die angegebene.

 

Ich bedanke mich,

Joanna Clark

_______________________________________________________________________

 

Damit hatte sie die E-Mail abgeschickt und atmete erleichtert auf, als sich Greyson immer noch nicht die Mühe machte, sich umzudrehen.

Ihr Herz schlug allerdings eine Spur schneller, und abwesend biss sie sich auf die Fingernägel, während sie den Bildschirm beschwor, dass er die Mail schon bald lesen würde.

 

Ihr Blick hob sich wieder zu Greyson, und sie fixierte seinen blonden Hinterkopf. Und als hätte er es gespürt, drehte er sich nach einem Moment um.

 

„Was?“, fragte er kühl, und sie schüttelte den Kopf.

 

„Nichts“, gab sie nur zurück, und fühlte sich innerlich schon wohler, dass ihr Dr. Cunning höchstwahrscheinlich helfen würde. Er hatte es ihr angeboten! Vor etwas mehr als einer Stunde! Sein Angebot würde bestimmt noch gelten.

 

Es ertönte das Ping aus ihrem Emailpostfach, und sie zuckte vor Schreck auf dem Stuhl zusammen. Das ging wirklich schnell. Greyson verengte die Augen, und sie sah so unschuldig, wie sie es nur fertig brachte, zu ihm auf.

 

„Post“, erklärte sie gleichmütig, und gereizt wandte er den Blick wieder von ihr ab. Ihre Hand führte die Maus hastig zur Anzeige, und tatsächlich öffnete sich eine Mail von Cunning.

 

__________________________________________________________________________

An: J.Clark@reynold-college.com

Betreff: Greyson Adler

Absender: W.Cunning@reynold-college.com

 

Sehr geehrte Miss Clark,

 

ich kann Ihnen versichern, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, damit Mr Adler Sie nicht mehr belästigt. Ich hatte schon einige Auseinandersetzungen mit ihm, und er hat die größten Probleme mit Autorität, aber eine Auseinandersetzung haben Sie ja bedauerlicherweise mitbekommen, nicht wahr?

 

Ich kann Ihnen eine persönliche Beratung anbieten, wenn Sie noch heute daran Interesse haben. Um sechs Uhr endet meine Dienstzeit. Wenn Sie wollen, kommen Sie in mein Büro im zweiten Stock, Zimmer 206.

 

Prof. Dr. W.C. Cunning

Fachbereich Literaturgeschichte

___________________________________________________________________________

 

Sie fühlte wieder Hitze in ihre Wangen steigen. Er hatte sie also darauf angesprochen! Sie hatte also recht gehabt, und Greyson hatte ihn bedroht! Er verdiente es sofort des Colleges verwiesen zu werden! Sie hatte einfach wieder einmal recht gehabt.

 

Sie hatte keine Ahnung, wie sie heute Abend um sechs Uhr unbemerkt zu seinem Büro kommen sollte? Vielleicht würde Greyson selber noch zu tun haben? Er konnte ja unmöglich den ganzen Tag und die ganze Nacht damit zubringen, sie zu terrorisieren, richtig? Er würde doch irgendwann Blake zwingen, den er anscheinend auch kontrolliert, und dann würde sie eine Möglichkeit haben, zu entkommen.

 

Sie atmete verzweifelt aus. Noch drei Stunden musste sie hier aushalten, bis ihre Schicht zu Ende war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es schaffen sollte. Ihre Finger trommelten abwesend auf der Schreibtischplatte, und sie wollte nur, dass er endlich ging!

Aber er tat ihr den Gefallen einfach nicht.

 

Widerwillig meldete sie sich von ihrem Konto ab und kramte ein Buch aus ihrer Tasche.

Es war von keiner großen Wichtigkeit, wie sie feststellte.

Der Titel lautete „The Grey Room“ und schien eine der uralten Geschichten zu sein, die Cunning ihnen zu lesen aufgetragen hatte. Wofür stand wohl das „C“ in seinem zweiten Vornamen…?

 

Missmutig begann sie zu lesen. Und Greyson zu ignorieren.

 

~*~

 

Es war eine schiere Endlosigkeit vergangen. Greyson folgte ihr tatsächlich, als sie die Bibliothek verließ, aber in der Halle trafen sie auf Blake. Die meisten Studenten beendeten gerade ihren Tag, und es herrschte reges Treiben in den Gängen.

Alle schoben sich aneinander vorbei, drängten in die Cafeteria, aber das Essen heute roch nicht gerade besonders verlockend.

 

„Irgendwas passiert?“, fragte er, immer noch nachdenkliche Falten auf der Stirn, und er wandte sich direkt an Greyson.

 

„Nichts passiert“, gab dieser zurück, als würden sie irgendeine Art Code sprechen. Sie biss sich auf die Lippe und überlegte sehr schnell.

 

„Ich will meinen Abend jetzt mit meinen Freunden verbringen, wenn das möglich ist?“, giftete sie, und hoffte, sie könnte gleich mit Blake darüber reden, wie sie Greyson austricksen konnten. Es war doch wohl lächerlich, dass er sie so einschüchtern und bedrohen konnte. Vielleicht konnte sie auch jetzt noch zu Mr Leman gehen! Er hatte bestimmt ein offenes Ohr für Studenten seines Colleges, die drangsaliert wurden. Immerhin war er der Direktor.

 

Blake und Greyson tauschten einen Blick, der sie ihre Augen verdrehen ließ.

 

„Was denkst du, was wir tun, Adler?“, murrte sie, und beide Jungen warfen ihr einen knappen Blick zu. „Was auch immer du von willst, es ist nicht nötig, dass du uns 24 Stunden am Tag beschattest!“ Blake betrachtete sie eingehender.

 

„Wir müssen uns mal unterhalten, Jo“, begann er zögerlich. Und Greyson atmete zusehends gereizter aus.

 

„Das bezweifle ich.“ Er beendete seine mutmaßliche Drohung nicht, aber Jo verstand es nicht. Was? Über was wollte er reden? Wie Greyson ihn erpresste?  Was konnte Blake schon verheimlichen? Sie verstand es nicht, aber anscheinend war die Entscheidung gut, dass sie Cunning geschrieben hatte. Sie würde es Blake gleich berichten.

 

„Alles in Ordnung hier?“ Lucy gesellte sich zu ihnen. Mit einem Blick auf Blake nickte sie. „Alles ok“, fügte sie leiser hinzu. Er nickte daraufhin.


„Leute, ihr seid doch bescheuert“, murmelte sie kopfschüttelnd, und als wäre es abgesprochen, kamen Greysons Leute auf ihn zu.

 

„Hunger, Grey?“ Und sie beachteten sie und Lucy und Blake überhaupt nicht. Nicht mit einem Blick. Nicht mit einem Wort, wurde seit dreistündige Abwesenheit überhaupt kommentiert. Sie starrte ihnen nach, als sie sie einfach stehen ließen und abzogen.

 

„Wieso lasst ihr euch von ihm erpressen? Ich begreife es nicht!“ Lucy hob eine Augenbraue und schüttelte die roten Haare über die Schulter.


„Erpressen? Von diesem Idioten?“, wiederholte sie ungläubig und unterdrückte wohl ihr Lachen. „Oh Mann, deine Fantasie, Jo…“ Sie tat ihre Unterstellung mit einem Handwinken ab.


„Kommt Libby?“, erkundigte sich Blake, der auch nicht weiter auf ihren Vorwurf einging, und beide schoben sie zu einem Tisch. Mit dem Blick auf die Uhr, stellte sie fest, dass sie noch eine Stunde Zeit hatte, ehe sie in sein Büro konnte.

Und sie entschied sich schnell. Sie beschloss, Lucy und Blake nichts von dem Treffen zu erzählen. Stattdessen folgte sie ihnen schweigend.

 

Als sie saßen, auf dem Tablett nicht vertrauenerweckendes Kartoffelgratin, legte sie ihre Gabel zur Seite.


„Ihr wollt mir also nicht erzählen, was es damit auf sich hat, dass Greyson Adler – Greyson Adler – mich begleiten musste?“ Sie wiederholte den Namen, falls es beiden entgangen sein sollte, wie absurd es war! Beide tauschten wieder einen Blick, aber Blake stach lediglich missmutig eine Kartoffel auf seine Gabel. „Also nicht? Ich verstehe es nicht!“, wiederholte sie bestimmt zum hundertsten Mal, und Lucy atmete entnervt aus.

 

„Jo…“, begann sie, brach dann aber ab, und wandte sich wieder an Blake.

 

„Wieso isst du nicht? Du musst doch umkommen vor Hunger?“, sagte er lediglich und sie schüttelte ungläubig den Kopf.


„Wirklich? Das ist alles, was du zu mir sagst?“

 

„Ich kann dir nicht viel mehr sagen, Joanna“, erklärte er, fast zu gereizt. „Solange ich mir nicht sicher bin, lohnt es sich nicht, irgendwelche Märchen zu erzählen“, fügte er hinzu und biss grimmig in die Kartoffel. Lucy grinste wieder.

 

„Vertrau mir, es ist nichts weiter von so dramatischer Wichtigkeit.“

 

„Ich will wissen, ob wir von Greyson und seinen Leuten erpresst werden, oder was auch immer! Wir können ihn von der Schule werfen lassen, das wisst ihr, richtig?“, begann sie wieder, und Lucys Grinsen wurde breiter.

 

„Also, das fände ich auch eine gute Idee“, bestätigte sie.


„Ja, das würde dir gefallen, ich weiß“, bemerkte Blake bitter. „Nein, das ist keine Option, und ob du es glaubst oder nicht, wir werden nicht von Greyson erpresst. Zumindest noch nicht“, ergänzte er leiser.


Noch nicht? Was läuft dann hier?“

 

„Oh je, das ist ja eine lustige Runde“, bemerkte Libby, die unbemerkt an den Tisch gekommen war.

 

„Ja, unheimlich lustig! Wir werden anscheinend bald von Greyson Adler erpresst!“, wiederholte sie Blakes Worte, und Libbys Stirn legte sich in Falten.


„Mit was?“, wollte sie lediglich wissen, und mit Erstaunen bemerkte Jo ein weiteres Pflaster auf Libbys anderem Arm.

 

„Was hast du da? Noch einen… Kratzer?“, wollte sie wissen, und Blake sog scharf die Luft ein.


„Ja. Viele Bücher, scharfe Seiten“, erklärte sie ruhig. Sie setzte sich allerdings nicht, schien sich äußerst unwohl zu fühlen. „So…“

 

„Bist du… ritzt du?“, fragte Jo sie nun prüfend, und zuerst schien Libby nicht zu verstehen, dann tauschte sie einen Blick mit Blake, und ihr Mund öffnete sich langsam.

 

„Ich… nein! Ich…“ Sie blickte zur Seite, schien nachzudenken, und sah sie dann wieder an. „Oh, ich will darüber jetzt nicht reden, ok?“ Ihr Blick war ernsthaft, ehrlich und sie zog sich kopfschüttelnd den Stuhl näher zum Tisch. „Was machen wir?“, wandte sie sich jetzt an Blake, als hätte Jo gerade überhaupt keine Suizidfrage gestellt.

Jos Mund öffnete sich, aber immerhin schien Blake wieder tödlich beleidigt zu sein.

 

Niemand sprach für eine Weile, und sie räusperte sich schließlich.


„Ich muss zur Toilette. Komme gleich wieder.“ Und wie selbstverständlich erhob sich Lucy nach einem kurzen Blickwechsel mit den anderen.

 

„Ich begleite dich“, erklärte sie nur. Und Jo wartete kurz, sah wieder ungläubig in die Runde und begann wieder den Kopf zu schütteln.

 

„Ernsthaft?“, fragte sie jetzt und hob die Arme.

 

„Ich muss auch“, erklärte Lucy ungerührt. Jos Mund öffnete sich verständnislos.

 

„Ich werde zur Toilette gehen. Und das möchte ich alleine tun, denn bisher habe ich heute noch nichts alleine getan, außer zu duschen. Ich werde gezwungen, meine Schicht mit Greyson zu verbringen, und jetzt willst du mich auch noch bis aufs Klo begleiten? Ich glaube nicht!“, beschwerte sie sich eisig. Alle Freunde tauschten einen kurzen Blick.

Lucys helle Augen wirkten plötzlich fremd für sie. Alle ihre Freunde hatten auf einmal etwas Befremdliches an sich.

 

„Ich sehe auf die Uhr, Jo“, erklärte Lucy jetzt, und von Freundlichkeit oder Scherz war keine Spur in ihrer Stimme. Wenn du in zehn Minuten nicht genau wieder hier an diesem Platz bist, komme ich hinter dir her, und glaub mir, meine Nase ist gut genug, um dich zu finden, verstanden?“ Und auch Lucy sprach tatsächlich eine Drohung aus. Blake rieb sich wieder einmal die Schläfen und schien überfordert zu sein.

 

„Zehn Minuten“, wiederholte er ebenfalls.

 

„Deine Zeit läuft“, informierte sie Lucy übertriebener weise, wackelte kurz mit den Augenbrauen, und hastig machte Jo kehrt.

 

Zehn Minuten. Sie hatte noch gar keinen Termin mit Dr. Cunning. Aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte. Sie bog also ab, zu den Treppen und lief eilig Stufe um Stufe nach oben, interessierte sich nicht für die Leute, die sie anrempelte und hastete durch die Gänge, als würde sie gejagt werden. Von ihren verrückten Freunden!

 

Sie erreichte den Flur mit seinem Büro. 206… wo war das Zimmer? Sie prüfte die Nummern, sie verliefen absteigend, und sie stolperte vorwärts. Da! Hastig klopfte sie, und als sie keine Antwort hörte, drückte sie die Klinke.

 

Verschlossen! Nein! Das konnte nicht wahr sein!

 

Wieder drückte sie die Klinke, klopfte noch einmal und hörte plötzlich ein dumpfes Geräusch. Nach einer kurzen Weile wurde ein Schlüssel gedreht. Sie wich zurück und Cunnings Kopf erschien im Türspalt. Kurz weiteten sich seine hellen Augen.

 

„Miss Clark“, entgegnete er zufrieden. „Ich hatte sie noch nicht erwartet“, fügte er ruhig hinzu.

 

„Ich… verzeihen Sie, aber…“

 

„Keine Sorge. Geben Sie mir eine Sekunde“, unterbrach er sie, schloss die Tür wieder, und keinen Moment später wurde sie geöffnet. Sein Büro war groß. Sie hatte vergessen, welcher Professor hier vorher drin gesessen hatte, aber ihr ging auf, dass sie nicht alleine waren. Georgiana Leman zog sich gerade ihre Jacke an.

 

„Joanna“, begrüßte sie diese mit einem feinen Lächeln und einem Blick, den Jo nicht deuten konnte. Wieso war die Tür verschlossen, wenn Georgiana hier drinnen war? Georgiana strich sich die glatten, langen, blonden Haare nach hinten über die Schulter und warf Dr. Cunning einen fast sehnsüchtigen Blick zu.

 

Oh…!?

 

Jos Mund öffnete sich langsam, und sie spürte wieder die bekannte Hitze in den Wangen. Das konnte doch nicht…!

 

Die Ärmel von Georgianas Lederjacke reichten nicht ihre Arme hinab, und ihr fiel wieder ein, dass auch Georgiana ein Pflaster getragen hatte. Jetzt hatte sich auch bei ihr ein zweites dazu gesellt, aber ehe Jo darüber nachdenken konnte, verabschiedete sich Georgiana.

 

„Wiedersehen, Dr. Cunning“, hauchte sie und ignorierte sie erfolgreich als sie das Büro verließ.

 

„Entschuldigen Sie, aber Miss Leman hat sich für ein Referat angemeldet“, erklärte er, während er mit einem wachsamen Blick die untersten Knöpfe am Ärmel seines Hemdes öffnete, um es hochzukrempeln. Sie überlegte, ob sie so tun sollte, als würde sie ihm das glauben.

Sie betrachtete ihn. Cunning… Weiblichkeit….. Wieder spürte sie die Hitze.

 

Er schien sie nun ausgiebiger zu betrachten, und sie fühlte sich nicht wohl unter seinem Blick. „Dann erzählen Sie doch bitte. Sie glauben, Mr Adler verhält sich… regelwidrig?“ Und sein Blick wanderte über ihre Erscheinung. Langsam öffnete sich ihr Mund.

Gott, sah er wirklich so gut aus? Sie blinzelte knapp.

 

In seinem Büro standen Bücher gestapelt an jeder freien Stelle. Zwei Sessel zierten die triste Ecke am Fenster, und sie wirkten fast antik. Rotes Leder, mit schwarzen Nieten beschlagen. Davor stand ein schwarzer, flacher Tisch, und er schien die weiteren Regale mitgebracht zu haben. – Die ebenfalls mit Büchern gefüllt waren.

 

„Ich brauche meine Bücher dringend“, erläuterte er, ihren Blick deutend. Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln.

 

Jaah, ich verstehe“, gab sie tonlos zurück. Er kam um seinen Schreibtisch herum.

 

„Haben Sie schon mein Alter rausgefunden, Miss Clark?“, erkundigte er sich, immer noch lächelnd, und sie schüttelte nur den Kopf.

 

„Es gibt Familien in England mit Ihrem Namen seit mehr als siebenhundert Jahren“, rezitierte sie, was ihr noch von ihrer Google Suche im Gedächtnis geblieben war. Und erst eine Sekunde später registrierte sie, was sie da von sich gegeben hatte.

 

„Wirklich, ist das so?“, wollte er lachend wissen. Sie wurde noch röter. „Setzen Sie sich doch bitte, Miss Clark“, fuhr er sanfter fort und deutete einladend auf einen der roten Sessel. „Ich beiße nicht“, fügte er verschwörerisch hinzu.

 

 

Kapitel 6

~ The Hunter ~

 

Der Sessel war bequemer als sie angenommen hatte, und auch Dr. Cunning verfolgte ihre Erzählungen interessiert und tat es nicht als lächerlich ab. Schließlich lehnte er seine langen Finger aneinander, die Ellbogen auf die Knie gestützte und betrachtete sie über seine Fingerspitzen hinweg.


„Und glauben Sie nicht vielleicht, dass… Mr Adler andere Absichten hat als vielleicht… eine Erpressung?“, fragte er vorsichtig, den Blick nicht von ihr lassend. Sie kam sich schrecklich deplatziert vor, fast wie im Rampenlicht.

 

„Was?“, erwiderte sie ehrlich, und runzelte die Stirn.

 

„Ich meine, es mag kindisch klingen, aber in der Grundschule ist so ein Verhalten auch nicht untypisch, Miss Clark“, erläuterte er mit einem kleinen Lächeln. „Ausweise verstecken, Mädchen ärgern und verfolgen…“, fuhr er fort, und ihre Augen weiteten sich.

 

„Nein!“, wehrte sie heftig ab. „Nein, nein! Das ist nicht, was das hier ist, Dr. Cunning!“ Er hob lächelnd die Hände.

 

„Gut, wie Sie meinen. Nenn Sie mich Liam“, fügte er lapidar hinzu. Liam… - sie sollte ihn beim Vornamen nennen? Nicht nur das! Bei seinem Spitznamen?! Wieder machte ihr Herz einen Satz! „Es ist also etwas wirklich Ernstes. Ihnen ist klar, dass ich mehr Gründe brauche, als eine Verfolgung und das Verstecken Ihres Ausweises, um ihn zu verweisen? Mr Leman ist da etwas…“ Er schien nach Worten zu suchen.

 

Ja, sie wusste, Mr Leman war ein Teufel. Er beschäftigte sich eher selten mit schulischen Notwendigkeiten und plante lieber Wohltätigkeitsveranstaltungen, wo man dem Alkohol nicht abgeneigt war. Sie nahm an, er hatte die Stelle nur wegen den großzügigen Spenden bekommen, die seine Familie seit jeher ausgerichtet hatte. Sie konnte ihn und seine Tochter nicht leiden!

 

„Aber… ich meine…“, fuhr sie beschämter fort, „was ist denn mit dem Vorfall in den Umkleidekabinen?“


„Wie, denken Sie, fasst es der Direktor auf, wenn ich ihm erzähle, dass ich selber eine physische Auseinandersetzung mit einem Studenten hatte?“, stellte er prompt die Gegenfrage, und wieder musste sie ihn betrachten. Er hatte es einfach zugegeben, und sie war nicht mal schockiert. Greyson war ein Arsch. Dafür, dass ein ganzer Trophäenschrank und eine Wand zu Bruch gegangen waren, sah er ziemlich unverletzt aus. Keine Schrammen, keine Kratzer – gar nichts. Nicht mal einen blauen Fleck. Aber vielleicht sah sie diese auch nicht. Ihr Blick glitt kurz über seinen Körper. Er besaß nicht Greysons Muskeln, schien aber weder schmächtig noch unterernährt zu sein.

 

„Einen Penny für Ihre Gedanken, Miss Clark?“, unterbrach er sie lächelnd, und erschrocken hob sie wieder den Blick zu seinem Gesicht. Und etwas in seinem Blick, ließ sie zögern, ließ sie etwas tiefer in den Sessel zurückweichen.

 

„Dr. Cunning, wieso haben Sie mir eine Stelle bei Ihnen angeboten?“, fragte sie, zwar ehrlich, aber mit tonloser Stimme. Sie hoffte, sie wurde nicht rot. Sie hoffte, er fasste es nicht falsch auf! Aber tatsächlich lächelte er. Seine weißen Zähne reihten sich schön nebeneinander, und eigentlich war es ein sehr ansteckendes Lächeln.

 

„Was denken Sie, Miss Clark? Und bitte, bei allem Respekt, nennen Sie mich außerhalb der Vorlesungen Liam“, fügte er lächelnd hinzu, und sein Grinsen vertiefte sich. „Dass ich überwiegend Frauen frage, hat damit zu tun, dass meine Kurse überwiegend von Frauen besucht werden – und ich denke, Mr Da Corte hat kein Interesse, meine Assistentin zu werden. Glauben Sie mir, meine Anliegen sind von professioneller Natur“, versprach er.

Oh Gott! Sie hatte das Gefühl, noch kleiner im Sessel zu werden. Wie schaffte er es, alle ihre Gedanken richtig zu deuten? Als ob sie ihm wirklich unterstellen wollte, dass… dass… - sie konnte es nicht mal denken! Plötzlich reckte er den Kopf in die Höhe, wirkte etwas abgelenkt, und sein Blick richtete sich auf die Standuhr in der Ecke.

 

Sie folgte seinem Blick. Mist! Zwanzig Minuten! Sie war schon seit zwanzig Minuten hier! Zwar hatte sie keine Angst vor Lucys Worten, denn es war immerhin nur Lucy, aber… sie hatte kein gutes Gefühl.

 

„Dr. Cunning, ich wollte Sie gar nicht solange belästigen!“ Hastig erhob sie sich. Er tat es ihr gleich. Und er hatte tadelnd eine Augenbraue gehoben. Sie schluckte schwer. „Liam.. ich danke Ihnen“, fügte sie hinzu und fühlte sich nun mehr als unwohl.

 

„Da ist keine Rede von. Ich finde, Sie sind ein angenehmer Gesprächspartner.“ Sein Blick war nicht höhnisch oder ließ erkennen, dass er einen Scherz machte. Er kam allerdings nicht näher, reichte ihr nicht seine Hand, und etwas verwirrt stand sie vor ihm.

 

„Ich…“ Und etwas in ihr weigerte sich fast, zu gehen. „vielleicht kann ich mich wieder bei Ihnen melden, wenn…“

 

„Jederzeit“, unterbrach er sie lächelnd, den Blick nicht von ihren Augen abgewandt. Sie riss sich von seinem Anblick los, und schon war er an ihr vorbei, um seine Tür zu öffnen. Sie war nicht verschlossen. Sie verkniff sich die Frage bezüglich Georgiana Leman, der blöden Kuh.

„Ach, und Miss Clark…“, hielt er sie ein letztes Mal auf, die Tür in der Hand, ein Knopf seines Hemdes offen, so dass sie einen Blick aus nächster Nähe auf seine makellose Haut werfen konnte, „ich denke, ich bin wesentlich zu alt für Sie“, sagte er schließlich, und peinlich berührt schoss ihr waidwunder Blick nach oben zu seinem Gesicht.

 

Dieser schöne Professor sah sich also gehalten, ihr zu erklären, dass er wesentlich zu alt für sie war! Wie zur Hölle musste sie ihn bitteschön anstarren, dass er sich sogar dazu gehalten fühlte, es laut zu äußern? Hastig senkte sie wieder den Blick, räusperte sich und nickte heftig.

 

„Ja, natürlich, ich… ich muss gehen, Dr. St…- Cunning, Dr. … Liam!“, schloss sie hastig, fühlte sich so unglaublich dämlich und schüttelte verzeihend den Kopf, während sie so rot wurde, wie noch nie in ihrem gesamten Leben. Sie biss sich auf die Lippe und stolperte praktisch aus seiner Tür.

 

„Ja, Sie sollten gehen“, forderte er sie lächelnd auf. Und kurz schien er zu zögern, schien seine Hand ausstrecken zu wollen, hielt sich dann aber selber zurück, und schloss lediglich mit einem Nicken die Tür vor ihrer Nase.

Völlig perplex stand sie vor seinem Büro. Was war gerade passiert? Sie erinnerte sich kaum noch an die Worte, die sie zu ihm gesagt hatte, erinnerte sich an gar nichts mehr, außer an seine angenehme Stimme, seine schönen Haaren, seine Haut, seinen unglaublichen Mund.

 

Sie schüttelte verärgert den Kopf.

 

Als hätte sie noch nie einen Mann gesehen!

 

Keinen so schönen zumindest!

 

Als sie sich endlich abwandte, zwang sie sich, eilige Schritte zu gehen.

Als sie um die nächste Kurve kam, stolperte sie fast, so sehr erschreckte sie sich.

 

„Erschreckend wenig Toiletten hier oben“, bemerkte Lucy kalt, als sie fast in sie hineingelaufen wäre. Aber Jo war immer noch wie verzaubert und die Wut ihrer Freundin ging gänzlich an ihr vorbei. „Jo?“, fügte dieser etwas verwirrt hinzu, als sie merkte, dass ihr Zorn keinen Effekt auf sie zu haben schien. „Ist alles in Ordnung?“ Und bevor Jo sie aufhalten konnte, hatte Lucy mit Schnelligkeit nach ihren Armen gegriffen, die Ärmel des Pullovers hochgeschoben und betrachtete ihre Arme, ehe sich ihr Blick ihrem Hals zuwandte und anscheinend ratlos über ihren Körper glitt.


„Bist du verrückt?“, schnappte Jo, richtete eilig ihren Pullover, und Lucys Augen verengten sich, schienen dunkler zu werden.

 

„Wo warst du?“, knurrte sie förmlich, und Jo machte unbewusst einen Schritt zurück.


„Was?“, flüsterte sie ertappt, aber Lucy griff sofort nach ihrem Arm. Der Griff war brutal und erbarmungslos, während sie sie mit sich zog. Sie ignorierte ihre Proteste völlig, und Jo hörte, wie Lucy immer zorniger atmete.

 

„Ich fasse es nicht! Das ist doch wirklich…“, murmelte sie gepresst, zerrte sie zurück in die Halle, zurück in die Cafeteria, und Blake erhob sich augenblicklich, als er Lucys Zorn sah.

 

„Sie war in seinem Büro!“, platzte es aus ihr hervor. Blake stürzte praktisch nach vorne, griff ebenfalls nach ihren Armen, aber Lucy hob die Hand.


„Es ist nichts“, beschwichtigte sie leiser.

 

„Nein?“, vergewisserte sich Blake, und Jo wich ängstlich zurück.

 

„Was ist los mit euch?“, flüsterte sie ängstlich und erntete einen prüfenden Blick von Libby, die vergessen in ihrem Joghurt rührte.

 

Blake schien sich zu beruhigen. „Vielleicht haben wir uns geirrt“, begann er nun langsam. Lucy schüttelte sofort den Kopf.

 

„Nein, unter keinen Umständen. Was denkst du, weshalb dieses College…“ Sie unterbrach sich ärgerlich. „Außerdem spüre ich es“, fügte sie gepresster hinzu, mit einem kurzen Blick auf sie. Unangenehm berührt wich Jo noch weiter zurück.


„Ihr sagt mir sofort, was ihr hier spielt!“, flüsterte sie, völlig hilflos. „Ihr macht mir Angst!“, fügte sie leiser hinzu. Blake tauschte einen Blick mit den anderen beiden Mädchen und seufzte schließlich.

 

„Morgen“, beschloss er streng. „Jetzt isst du was, und ich halte es für das Beste, wenn du nicht auf dem Campus schläfst. Wir können eine Pyjamaparty bei mir veranstalten. Mein Vater ist nicht da“, fügte er hinzu. „Und ein… Cousin kommt zu Besuch. Also ein lustiger Abend“, schloss er, den Mund nicht zu einer ganz so schmalen Linie gepresst.

 

Ihr Mund öffnete sich langsam.

 

„Morgen? Morgen erzählst du mir was genau, Blake?“, flüsterte sie, denn plötzlich bekam sie Angst.

 

„Jo, bitte setz dich, iss etwas, und entschuldige unser Verhalten“, ignorierte er ihre Frage. „Bitte“, sagte er schließlich, und warf schließlich Libby und Lucy einen knappen Blick zu. Lucy verdrehte die Augen, setzte sich aber schließlich. Sie räusperte sich, schien sich zu überwinden, und sah Libby an.

 

„Wieso warst du eigentlich nicht bei dem Pilates-Kurs heute? Du wirst nicht glauben, was Amanda Bishop wieder für einen Unsinn von sich gegeben hat!“ Libby hob den Blick.


„Ich konnte nicht, ich hatte Aufgaben zu erledigen von… Dr. Cunning.“

 

„Ich glaube, jemand ist in seinen Professor verliebt“, merkte Lucy grinsend an. „Ist er nicht zu alt?“, fügte sie hinzu, während sie in ihrer Götterspeise nur die Vanillesoße auf den Löffel nahm. Und Libby wurde so knallrot, wie Jo es schon vorher geworden war.

 

„Es gibt also immer noch kein anderes Thema?“, merkte er Blake nur an, während er demonstrativ sein Taschenbuch von irgendeinem Sciencefiction-Autor aufschlug. Und Jo setzte sich langsam, skeptisch, an den Tisch. Blake schob ihr ein Tablett mit kalten Hähnchennuggets zu, während Lucy vollkommen selbstverständlich über Amanda Bishop zu erzählen begann.

 

Kurz – ganz kurz – hatte sie das Gefühl, ein bisschen Alltag war zurückgekehrt.

 

Blake ignorierte jede von ihnen, Libby schien sich immer noch zu schämen, und Lucy war ganz in ihrem Element, Leute zu verurteilen, die glaubten, anderen überlegen zu sein.

Und Jo aß die kalten Nuggets und merkte erst jetzt, wie groß ihr Hunger eigentlich war.

Ihr Blick suchte fast panisch die Cafeteria ab, aber keine Spur von Greyson Adler.

Die Studenten plapperten aufgeregt, und langsam beruhigte sich ihr Herzschlag wieder.

 

Sie hörte auf, nach Merkwürdigkeiten Ausschau zu halten und machte sich schließlich über die weiche Götterspeise her. Ja, es schien alles wieder normal zu sein. Im Moment.

 

~*~

 

Das letzte Mal, als sie in Blakes Haus gewesen war, war ihr gar nicht aufgefallen, wie dick die Haustüre wirklich war, und mit vielen Schlössern und Riegeln sie von innen gesichert werden konnte. Bücher stapelten sich auf dem Treppenabsatz und jede weitere Stufe nach oben. Er schob sie unwirsch mit dem Fuß beiseite.


„Kommt einfach mit hoch“, seufzte er, als ihm klar wurde, dass er das Chaos nicht in einer Nacht würde beseitigen können. Libby sah sich interessiert um, während Lucy die Nase in die Luft reckte und zu schnüffeln schien.

 

„Brennt irgendwas?“, wollte sie plötzlich wissen, aber er schüttelte den Kopf.

 

„Baldriankraut“, erklärte er nur, als würde das irgendeinen Sinn machen. Jo roch es nicht mal.


„Baldrian? Das ist eine völlig falsche Basis“, meckerte Libby schockiert. Jo runzelte die Stirn, als sie nach oben schritten. Vielleicht waren ihre Freunde verrückt. Und nicht sie!

 

Blakes Zimmer war ebenfalls vollgestellt mit Büchern und zwei riesige Flachbildschirme flackerten hell, mit Texten auf einer Sprache, die Jo nicht verstand.

Ansonsten standen zwei große U-förmige Sofas in jeder Ecke, beide zum Ausziehen, und eilig holte er Cracker und ein paar Flaschen Bier nach oben.

Lucy trank sofort die erste Flasche halb leer, und sah sich dann aufmerksam um.


„Wann kommt er? Dein… Cousin?“, fügte sie hinzu, und Blake sah auf die Uhr.


„Jeden Moment.“ Er wirkte angespannt.

 

„Sicher?“

 

„Nein. Aber ungefähr“, gab er zurück. Die Stimmung war merklich angespannt. Libby hatte sich einfach ein buch von einem Stapel gegriffen und blätterte darin.


„Bring mir nichts durcheinander!“, hörte Jo Blake murmeln, aber Libby verdrehte nur die Augen. Blake zog sich das Haargummi aus den Haaren und ließ sie über seine Schultern fallen, während seine Augen die Texte auf dem Bildschirm lasen.

 

„Bei Gelegenheit könnt ihr euch das mal ansehen. Ich denke, das dürfte noch interessant werden“, bemerkte er still. Lucy hatte sich sofort erhoben. Anscheinend konnte sie die Sprache lesen.

 

„Jo, ist dein Geburtstag am Samstag oder am Sonntag?“, erkundigte sich Lucy, ohne sich umzudrehen.

 

„Am Samstag, warum?“ Das hatte sie ganz vergessen. Sie wurde am Samstag neunzehn. Hatte das was mit diesen Texten da zu tun?!

 

„Nur so. Wir sollten feiern“, schloss Lucy abwesend, ohne ihr den Blick zuzuwenden, immer noch gefangen von dem Text.

 

„Da wärt ihr nicht alleine.“

 

Und sie schreckten alle zusammen. Jo war auf die Beine gesprungen und Lucy hatte sich reflexartig umgewandt. Blake erhob sich langsam, musterte den Fremden, und Jo spürte ihren Herzschlag in ihrem Mund, so leise hatte er sich angeschlichen.

 

Hawker?“, fragte Blake langsam, und der Mann nickte langsam.

 

„Bernard Da Corte?“

 

„Blake. Mein Name… ist Blake“, verbesserte Blake hastig, wagte aber anscheinend nicht, wütend zu werden.

 

„Dein Haus ist nicht gut gesichert.“ Erst jetzt erkannte Jo eine Armbrust über der Schulter des Mannes, der nicht älter als fünfundzwanzig sein konnte. Er trug eine dunkle Lederjacke, eine schwarze Jeans und einen Motorradhelm unter dem Arm. Seine braunen Augen richteten sich jetzt auf sie. Sein Kinn war markant, sein Bart rau und Dreck klebte an seinen Händen und an seinem Rucksack.

 

„Wie war die Reise?“, fragte Blake jetzt, während er langsam näher kam.

 

„Beschwerlich und anstrengend. Bier wäre fantastisch“, fügte der Fremde jetzt hinzu. Seine Stimme klang ebenfalls rau, als wäre er Raucher. Jo musterte ihn skeptisch. Wieso störte sich keiner an der Armbrust?

 

„Das… ist dein Cousin?“, fragte sie tonlos, und der Fremde lächelte.

 

„Das ist sie also? Sieht nicht gerade vielversprechend aus“, fügte er knapp hinzu, während er ihren Körper inspizierte und sie sich furchtbar vorkam. Sie sah vielleicht heute nicht mehr topfit aus, aber sie würde niemals behaupten, sie sähe nicht vielversprechend aus! Was dachte sich dieser Fremde? Der äußerlich keine Ähnlichkeiten mit Blake aufwies!

 

„Vielversprechend?“, wiederholte sie langsam, aber Blake winkte ab.

 

„Ja, das ist sie. Joanna Clark.“

 

„Die Dunklen sind hier“, sagte er schließlich, ignorierte ihren Namen und sah alle abwechselnd an.

 

„Das wissen wir“, meldete sich Lucy schließlich zu Wort. Der Mann namens Hawker sah sie skeptisch an.

 

„Gut, dass sie Angst vor Hunden haben. Auf meiner Reise kam ich an vielen Blutbädern vorbei. Die Rote Pest geht bis nach Montana. Ich denke, alle werden zum Geburtstag vorbei kommen.“ Libby hatte ihm ein Bier gebracht, was er dankbar mit bloßen Händen öffnete.

Jo sah ihn immer noch an.

 

„Die Rote Pest?“, fragte Libby beunruhigt, und Hawker trank einen großen Schluck. Dann kratzte er seinen Kopf und zerstrubbelte die platten dunklen Strähnen, die wohl durch den Helm ihren Halt verloren hatten. Er sah auch nicht gerade vielversprechend aus, dachte sie böse.

 

„Wenn die Dunklen unvorsichtig werden, hinterlassen sie die Spuren, die die Nachrichten dann als Unglücke oder Campingunfälle darstellen“, erläuterte er mit einem freudlosen Lächeln. Dann wandte er sich wieder ihr zu und zog den Reißverschluss seiner Jacke auf, um sich aus ihr zu schälen. Seine Oberarme waren breit und muskulös, und in seiner Lederjacke waren tatsächlich Holzpflöcke eingenäht, oder etwas, was so aussah. Sie starrte ihn an.

 

Er trug lediglich ein schwarzes Rock Café New York T-Shirt und ein Lederband um den Hals. Den Anhänger konnte sie nicht erkennen, er steckte unter dem alten Shirt. Zahllose Kratzer zierten seine bloßen Unterarme, sowie verschiedene dicke Armbänder aus Leder und runenhafte Tattoos. Seine Boots klebten vor Dreck, aber das schien keinen zu stören. Er streckte sich, gähnte und griff sich eine Handvoll Chips, während er sich einfach setzte.

 

„Also… ist sie Jungfrau?“, fragte er mit schief gelegtem Kopf, und Jos Mund öffnete sich vor Entrüstung. Langsam wandte sie sich um, fixierte Blake, und hatte nicht vor, den Blick von ihm abzuwenden. Er schien merklich ertappt und senkte hastig den Blick.

 

Ahem… Mr. … Hawker“, begann er zögerlich.


Mr Hawker…“, wiederholte dieser lächelnd. „Einfach nur Hawker. Meinen Nachnamen gebrauche ich nicht“, fügte er grinsend hinzu und hatte immer noch die Augenbraue fragend in die Höhe geschoben. Sie war dicht und schwarz, und sein Blick, den er auf sie geheftet hatte, störte sie ungemein. „Also?“, wiederholte er, und sie schüttelte perplex den Kopf.

 

„Was erlaubst du dir eigentlich?“, knurrte sie wütend. Dann geriet seine Arroganz langsam ins Wanken. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, und er fixierte Blake.


„Sie weiß es noch gar nicht? Oh Leute! Hattet ihr nicht genügend Zeit? Woher wisst ihr es dann überhaupt sicher?“, wollte er wissen, und war schon wieder im Begriff aufzustehen.


„Ich spüre es“, erklärte Lucy gleichmütig. „Es ist offensichtlich.“ Hawker verengte die Augen und kam näher. Sie versteifte sich sofort unter seinem prüfenden Blick. Er roch nach Wald, nach Tabak und nach etwas anderem. Irgendein Kraut… sie kam auf den Namen nicht.

 

„Was weiß ich nicht?“, knurrte sie förmlich, während sie ihn böse ansah.

 

„Na dann, viel Spaß“, bemerkte er, leerte mit einem weiteren Schluck sein Bier und sank wieder auf die Couch zurück, während er sein Handy aus der Hosentasche zog. Er schien nichts weiter zu sagen zu haben, und sie wandte sich wieder an Blake.

 

Dieser atmete langsam aus.

 

„Jo…“, begann er heiser, und Libby bedeckte ihre Augen kopfschüttelnd mit ihrer Handfläche. „Du bist auserwählt“, erklärte er also und wirkte fast peinlich berührt.

 

O-K…. Sie sah sich aus den Augenwinkeln um. Es wären zwei Schritte, und sie hätte ihre Tasche und ihre Jacke griffbereit und würde verschwinden!

 

„Aha“, sagte sie also freundlich, um Blake nicht aufzuregen, machte sich vorsichtig auf den Weg zur Couch und griff langsam nach ihrer Jacke. „Ich denke… ich werde gehen“, erklärte sie, immer noch lächelnd. Als sie sich zur Tür umwandte, schnappte sie nach Luft.

Der Mann namens Hawker musste in unglaublicher Geschwindigkeit aufgestanden sein, und versperrte gerade mit seinem großen Körper die Tür.

 

„Prinzessin, das ist eine schlechte Idee“, erklärte er mit einem Grinsen, das seine Augen nicht erreichte. Im Gegensatz zu seinem schmutzigen Gesicht, waren seine Zähne regelrecht schneeweiß.

 

„Jo, bitte…“, fuhr Blake flehend fort.

 

„Was soll das? Lasst mich hier raus!“, fuhr sie ihre Freunde an, aber niemand rührte sich. Der Fremde streckte ihr schließlich seine Hand entgegen, während er genervt die Augen verdrehte.

Sie starrte völlig ungläubig darauf hinab.

 

„Ich bin der Jäger. Und ich werde dich ausbilden, Baby.“

 

Alles, was sie denken konnte, war, dass nun ein weiterer arroganter Schönling ihren Namen nicht aussprechen konnte. Sie ignorierte seine Hand und sah in sein Gesicht.

„Und glaub mir – ich kann dich auch nicht leiden“, erklärte er mit einem dreckigen Grinsen, und ihr wurde klar, dass sie dieses Zimmer heute nicht mehr verlassen würde….

 

 

Kapitel 7

 

~ Lesson One ~

 

Es ging. Sie musste wirklich sagen, die Informationen zu verarbeiten ging ganz gut. Sie drehte die leere Bierflasche in ihren Händen, während sie mit halbem Ohr zuhörte, was der Mann erzählte. Es klang wie ein Märchen. Ein seltsames, brutales Märchen, dessen Hintergrund sie wieder vergessen hatte, irgendwann nach dem zweiten Bier.

 

Es war ziemlich spät. Oder ziemlich früh, wie man es eben betrachtete. Lucy sah sie seit einer Weile prüfend an.

 

Ihr Handy vibrierte in ihrer Hosentasche, und abwesend holte sie es hervor, ließ ihren Finger über die kühle Glasfläche gleiten, und öffnete ihr Postfach.

 

„Und… sie hört mir nicht mehr zu“, murmelte Hawker grimmig, während er gereizt ausatmete. „Und sie verträgt überhaupt keinen Alkohol“, fügte er hinzu und warf Blake einen bitterbösen Blick zu.

 

Sie spürte, wie sie schlucken musste. Schon war ihr Mund trocken, und sie öffnete die Mail.

 

___________________________________________________________________________

An: J.Clark@reynold-college.com

Betreff: Gedanken…

Absender: W.Cunning@reynold-college.com

 

Sehr geehrte Miss Clark,

 

verzeihen Sie meine späte Störung, aber ich kam nicht umhin, nachzudenken.

Anscheinend kann ich Sie nicht für eine Stelle in meiner Abteilung begeistern, allerdings hoffe ich doch, dass Sie mich morgen wieder aufsuchen.

Ich habe mir ein anderes Arrangement überlegt. Vielleicht könnten Sie gefallen daran finden? Bitte, lassen Sie mir zukommen, ob Sie ein Treffen morgen um sechs Uhr einrichten können.

 

Sehr diskret,

Ihr Liam

 

Prof. Dr. W.C. Cunning

Fachbereich Literaturgeschichte

___________________________________________________________________________

 

Sie schluckte. Sehr schwer. Oh Gott! Dr. Stunning schrieb ihr! Dr. Stunning hatte sich ein anderes Arrangement überlegt? Was zur Hölle sollte das denn bitteschön heißen?

 

„Hallo? Erde an Joanna?!“, schrie Hawker fast, und ihr ertappter Blick schoss zu ihm hoch.

 

„Wer schreibt dir bitte um zwei Uhr morgens?“, wollte der Mann ungehalten wissen. Sie zuckte nur die Achseln.

 

„Niemand weiter“, sagte sie nur, versuchte nicht zu lallen und setzte eine aufmerksame Miene auf. Sie konnte Dr. Stunning wohl kaum jetzt zurück schreiben. Sie würde es später tun. Ihr Herz klopfte unpassend laut. Ihr Professor schrieb ihr. Mitten in der Nacht. Gott! Das war bestimmt verboten, überlegte sie dumpf.

 

„Hast du mir wenigstens zugehört?“, schnappte Hawker zornig, und sie nickte, während sie sich die Märchengeschichten wieder ins Gedächtnis rief.

 

„Jäger-Zeug, du tötest die Dunklen, Wölfe – bla bla…“, nuschelte sie.

 

„Das ist absolute Zeitverschwendung!“, schnappte er empört nach Luft.

 

„Jo, bitte, konzentrier dich. Es ist absolut wichtig!“

 

„Ja, es ist absolut wichtig!“, unterbrach Hawker Blake wütend, und ging vor ihr in die Hocke, um sie mit seinen zornigen Augen näher zu fixieren. Das hellbraun war nahezu schwarz, und er wirkte reichlich außer sich. „Wenn ein Dunkler dich in die Finger bekommt, dich aussaugt und tötet geht deine Macht über. Er wird somit der mächtigste Vampir, den die Erde zusehen bekommt, und das wäre was?“

 

„Schlecht“, beantwortete sie feierlich seine Frage. Aber das Lächeln zerrte an ihren Mundwinkeln. „Du glaubst das wirklich, richtig?“, fragte sie amüsiert, und sah belustigt in die Runde. Der Mann schloss kurz die Augen.

 

„Du bist ein dummes, naives Miststück!“, brachte er hervor, so dass ihr Grinsen gefror. „Du hast Glück, dass du überhaupt Freunde hast, die sich um dich kümmern!“, fügte er leise hinzu, und sie schüttelte nur den Kopf.

 

„Du bist einfach nur wahnsinnig! Vampire, Wölfe? Das ist kompletter Bullshit!“

 

„Ach ja? Wieso fragst du nicht deine Freundin hier, weshalb sie seit dem ersten Tag deine Fährte aufgenommen hat, du Besserwisserin?“, forderte er jetzt kalt, während er seine gefühlte zwanzigste Zigarette aus der Packung fingerte und zum Fenster schritt.

 

Jos Blick hob sich zu Lucy, die plötzlich mächtig damit beschäftigt war, den Blick sonst wohin zu richten, nur nicht auf sie.

 

„Oh ja, richtig. Deine Wolf-Theorie“, begann Jo, vom Bier ziemlich mutig. Bier war gut! Sie sah, wie Hawker den Kopf schüttelte, ihr den Rücken zugewandt, während er den Rauch wütend aus dem offenen Fenster blies.

 

„Arrogantes Miststück“, murmelte er bloß.

 

„Ich will, dass er geht, Blake!“, brauste sie plötzlich auf. „Ich glaube den Mist nicht, und ich habe keine Lust mehr, ihn mir anzuhören! Er geht oder ich!“

 

„Du kannst nicht gehen“, erwiderte Blake nur, traurig und müde.


„Du willst mich hier festhalten?“, fragte sie nun herausfordernd, aber Blake reagierte nicht, las weiter Texte, und sie sah zu Libby, die sich ebenfalls ein Buch geschnappt hatte. „Ihr könnt mich nicht zwingen! Ich werde nicht bleiben!“

 

„Ja? Willst du versuchen, zu fliehen? Die Gegend stinkt nach ihnen. Sie werden nicht weit sein, und sie werden sich verdammt noch mal freuen, wenn du ihnen in die Arme läufst! Deine Chance zu überleben, ist Jäger zu werden. Und das ist deine einzige Chance. Auch wenn deine Hunde-Freundin es gerne anders hätte“, knurrte Hawker verbissen.

 

„Hey, halt deinen Mund, ja?“, gab Lucy zurück.

 

„Als ob du nicht deine eigenen Vorstellungen hättest, Lucy.“ Und er betonte ihren Namen, als wäre er erfunden oder besonders lächerlich. Er wandte sich wieder zu ihr um, nachdem er die Zigarette aus dem Fenster geworfen hatte. „Du brauchst nur den richtigen Moment“, sagte er jetzt, plötzlich ernst. „All deine Macht braucht nur einen einzigen Auslöser. Du brauchst nur die richtige Portion Angst, und dann wirst du begreifen, warum es für dich nur einen Ausweg gibt, Joanna. Was denkst du, weshalb die Dunklen dich so gerne in die Finger kriegen würden?“ Er hatte die Augen verengt, und sah sie an, als wäre sie ein kleines Mädchen, was nichts begreifen würde. Sie hasste ihn!

 

„Anscheinend um mich auszusaugen!“, gab sie zurück. Den Kopf trotzig erhoben. Und Hawker lächelte.

 

„Das ist die eine Möglichkeit. Und die machtbesessenen werden auch nur diese Möglichkeit in Augenschein nehmen. Aber genau wie deine Wölfin hier, verfolgen eine handvoll anderer Vampire eine andere Aussicht, Baby“, fuhr er bitter fort.

 

„Oh ja? Und was will meine Wölfin?“, fragte sie, die Hände in die Hüften gestemmt, einen belustigten Blick auf Lucy gerichtet. Aber Hawker schien nicht aus der Fassung gebracht.

 

„Du bist so unglaublich dumm, dass ich kaum noch Lust verspüre, dich vor irgendwas oder irgendwem zu retten“, erwiderte er, aber behielt das Lächeln bei. „Deine Wölfin ist, wie alle Wölfinnen, lesbisch, Joanna. Und Wölfe vermehren sich, genau wie Vampire, absolut selten. Dass sie sich auf Frauen orientieren hilft ihnen dabei umso weniger“, fügte er bitter hinzu, und sie hörte Lucy gefährlich laut Schnauben. „Neben der unübersehbaren Tatsache, dass sie von dir besessen ist, wie vom blauen Mond, liegt auf der Hand, dass sie es kaum erwarten kann, ihre Zähne in dich zu schlagen, um dich zu verwandeln.“ Und er sagte dies völlig ruhig, völlig selbstverständlich. Blake jedoch schloss nur stöhnend die Augen, und Lucy hatte sich sofort vom Schreibtisch abgestoßen, um den Abstand zu schließen.

 

„Verdammter Jäger! Du denkst wohl, du weißt alles, richtig!“, schrie Lucy außer sich, stieß dem Mann vor die Brust, so dass er taumelte, aber er lachte jetzt.

 

„Oh? Also stehst du nicht auf Frauen? Irre ich mich in diesem Punkt, Wölfin?“, wollte er grinsend wissen und erntete einen weiteren Stoß von Lucy, der eigentlich zu heftig für einen Menschen schien. Jo wich ängstlich zurück. „Oder irre ich mich in der Tatsache, dass du ein Wolf bist und sie rekrutieren willst? Weshalb wagst du dich sonst in die Stadt? Du witterst deine Chance, wie du ihren Duft gewittert hast!“, fügte er glatt hinzu. Und Lucy atmete heftig, schubste ihn aber kein weiteres Mal. „Und dein Druide hier weiß es ziemlich genau. Deswegen weicht er nicht von deiner Seite“, fügte er mit einem Seitenblick auf Blake hinzu.

 

Jo runzelte jedoch die Stirn. „Mir? Von der Seite? Blake ist in Lucy verliebt, deswegen ist er überall, wo sie ist, Himmel noch mal!“ Und Hawker hob wieder eine Augenbraue.

 

„Du bist unglaublich“, erwiderte er kopfschüttelnd. „Absolut unglaublich! Ich sollte dich aus dem Fenster werfen, damit du es endlich begreifst, und wir diese Albernheiten beenden können. Ich habe nämlich neben diesem Babysitterjob noch andere Dinge zu erledigen, ob du es glaubst, oder nicht, Prinzessin!“, erläuterte er nun wieder in seiner überlegenen Tonlage.

 

„Dich hat keiner gebeten zu bleiben, du unhöfliches Arschloch!“, sagte sie nur und vermisste dringend ein neues Bier, denn wieder kam er beunruhigend nahe.

 

„Oh, du wirst noch betteln! Wenn die älteste Familie der Blutlinie kommt, dann wirst du noch betteln. Ohne mich werden die Vampire dich finden. Und ohne mich ist dein letzter Tag nur zu bald zu Ende, hast du mich verstanden? Deswegen wäre es keine gute Idee, mich auch noch zu beleidigen, Baby“, erklärte er jovial, und sie kam ebenfalls näher zu ihm.

 

„Nenn mich nicht Baby“, presste sie wütend hervor. In ihrem Kopf spukte noch das Wort Druide rum, mit dem sie absolut nichts anfangen konnte.

 

„Vielleicht sollten wir es für heute gut sein lassen. Wir haben ihr gesagt, was sie erst mal wissen muss“, meldete sich Libby nach einer Ewigkeit zu Wort. Hawker wandte sich gereizt um.

 

„Wirklich? Bis jetzt hat sie nichts von dem begriffen, was ich ihr erzählt habe, denn niemand von euch hat sich die Mühe gemacht, überhaupt irgendwo anzufangen. Eine Riley-Hexe begeht den wahrscheinlich größten Fehler! Ich habe von deiner Linie gehört. Du hättest sie längst einweihen können. Du hättest längst beginnen können!“, fuhr er sie an, aber Jo verstand gar nichts.

 

„Es war nicht an der Zeit!“, unterbrach ihn Libby nervös.

 

„Nicht an der Zeit? Du lässt mich vom einem Druiden finden! Es ist nicht mal völlig klar, was er von all dem hat!“ Blake verdrehte daraufhin die Augen.

 

„Du musst es nicht dramatisieren“, sagte er bloß, aber als Hawker einen zornigen Schritt auf ihn zu machte, zuckte Blake in seinem Schreibtischstuhl zusammen und umklammerte sein Buch fester. Jo verstand absolut überhaupt kein Wort. Und das wollte sie nicht mal. Sie wollte nur hier weg. Sogar ihre Stiefmutter war nicht halb so verrückt wie diese Leute hier!

 

„Das ist keine Daily Soap, verstanden? Dass ihr überhaupt den Mut hattet sie auf einer Schule zu lassen, wo die Lemans ein und ausgehen! Wahrscheinlich war es kein Mut, sondern unglaubliche Dummheit!“, schnappte er zornig, und plötzlich schwieg er abrupt. Und sie sah wie auch Lucy den Kopf gehoben hatte.

„Sie sind da“, fügte Hawker tonlos hinzu, während er nach seiner Jacke griff.

 

„Nein, nur einer“, korrigierte ihn Lucy abwesend.

 

„Ich finde, das reicht schon! Dafür, dass sie so gut wie ausgestorben sind, musste ich ungeheuer viele beseitigen auf dem Weg hierher“, bemerkte er, während er, wie beiläufig, seine Armbrust mit zwei weißen Pflöcken bespannte. „Du kannst mitkommen.“

 

Jo starrte ihn an, als er sie ungeduldig ansah. Dann weiteten sich ihre Augen.


„Mitkommen? Wohin?“ Sie schüttelte nur den Kopf. Als ob sie mit irgendeinem Mann mitkommen würde! So dumm war sie nicht!

 

„Das war keine Frage, Prinzessin“, erklärte er nur. Er ergriff gereizt ihren Arm und zog sie zum Fenster.

 

„Er kann nicht rein. Es ist ungefährlich“, erklärte Blake eilig, während er sich erhob.

 

„Ich habe nicht vor ein Risiko einzugehen, nur weil die kleine Scoobydoo-Gang hier entschieden hat, einen Bann auf die Haustür zu legen. Er wird weiter draußen rum schleichen, und je mehr zu Staub zerfallen, desto besser“, erklärte Hawker grimmig, und tatsächlich sah sie, als sie die Augen zusammen kniff, einen Schatten zwischen den Bäumen umher schleichen.

 

Und der Schatten atmete.

 

Konnte das sein? Das konnte sie nicht hören.

 

„Und jetzt lernen wir die erste Lektion, Baby.“ Der verrückte Mann brachte sie so nahe an sich, dass sie alle goldenen Flecken in seiner Iris erkennen konnte, ehe er ihr ein weißes Lächeln schenkte, was keine Freundlichkeit versprach.

„Am besten hörst du immer auf deinen Ausbilder. Und das bin ich“, fügte er mit übertriebener Arroganz hinzu. Sie versuchte sich loszumachen.


„Das soll die erste Lektion sein? Lass mich los, du wahnsinniges Arschloch!“, schnappte sie zornig, aber sein Lächeln vertiefte sich auf unheimliche Weise. Er machte ihr Angst. Wie eigentlich alle heute. Seine Haare lagen strubbelig auf seinem Kopf, sein Gesicht stand vor Dreck und fast kam es ihr so vor, als würde er Spaß dabei empfinden, als sich feine Grübchen in seine stoppeligen Wangen gruben. Seine Muskeln spannten sich plötzlich an, als er fester um ihren Arm griff, und sie mit nur einer Hand empor hob. Sie versuchte sich festzuhalten, aber schon hob er sie zum Fenster hinaus. Ihr Atem stockte vor Angst.

 

Sie sah, wie Blake aufsprang.

 

„Nein. Die erste Lektion ist: Unsere Knochen brechen nicht“, sagte er schlicht, und keine Sekunde später löste sich die Spannung in seinem Arm, und im Bruchteil einer Sekunde, hatte er sie lächelnd losgelassen. Jeder Schrei erstickte in ihrer Kehle, und ihr Magen zog sich zusammen, als ihre Beine hilflos in der Luft strampelten, während sie in unglaublicher Schnelligkeit mehr als zwei Meter weit in die Tiefe.

 

~*~

 

 

 

 

Sie schüttelte etwas benebelt den Kopf, um Klarheit in ihre Gedanken zu bringen.

 

„Bist du wahnsinnig?“, hörte sie Lucy schreien, die Anstalten machte, ebenfalls zu springen, aber er hielt sie zurück, so weit sie es hörte. Das Atmen des Schattens war lauter geworden. Sie sah ihn aus dem Dickicht schleichen, und ehe sie darüber nachgedacht hatte, dass sie sich durch den Sturz sonst was zugezogen haben könnte, erwachten ihre Instinkte und sie krabbelte hastig über das kalte Gras in Richtung Hauswand zurück, ihr Herz in ihrem Hals.

 

Sie hörte ein dumpfes Geräusch, und als sie den Blick hob, sah sie, wie Hawker sanft auf dem Boden gelandet war, die Hände auf dem Gras abgestützt. Er war aus dem Fenster gesprungen!

Dieser Arsch hatte sie aus dem ersten Stock geworfen! Sie war fast so wütend, dass sie die Gestalt vergaß, aber diese sprang unvermittelt nach vorne.

 

„Lektion Nummer zwei“, fuhr Hawker unbeeindruckt fort, während er gelassen die Armbrust von der Schulter zog und ihr einen eindeutigen Blick zuwarf. „Niemals in die Brust zielen. Das Herz zu treffen, ist ein Mythos, denn es schlägt nicht mal mehr“, erklärte er, als wäre ein Lehrer in der Schule.

 

Und mit einem panischen Schrei wich sie zurück an die Hauswand. Denn Hawker hatte die Gestalt gepackt. Der gierige Blick war furchteinflößend. Die Augen waren so sehr geweitet, dass sie das blutunterlaufene Weiß auch im Dunkeln der Nacht ausmachen konnte.

Weiße, lange, ungleiche Zähne ragten der Gestalt aus dem Mund und Geifer rann von den spitzesten beiden hinab.

 

Hawker zerrte das Monster näher zu ihr.

 

„Sie ihn dir genau an!“, rief er, fast mühelos über das Gekeuche und Geknurre der Gestalt hinweg, die sie fast manisch, mit katzengleichen, funkelnden Augen anstarrte und mit wilden Geräuschen versuchte, aus dem Griff zu entkommen. Die Gestalt versuchte sich loszureißen, schien unmenschliche Kräfte anzuwenden, und Jo hatte das Gefühl, sich sofort übergeben zu müssen. Ihr fiel auf, dass das Wesen, der Mensch vor ihr, zerlumpte Kleider trug, ausgemergelt und ungepflegt war. Blut schien an den Fetzen zu kleben, die irren Augen auf keinen Punkt fixiert, und jetzt schleuderte es Hawker mühelos zwei Meter von ihnen weg, so dass es mit einem hässlichen Knacken auf dem Boden landete. Dann setzte er die Armbrust an.

 

„Und das hier ist nur ein Späher. Ein Sklave der echten Dunklen“, erklärte er konzentriert, während er zielte. „Er hat nicht die Kraft, nicht die Präzision, wie die gefährlichen. Er belegt keinerlei Rang, vermag es aber dennoch, dich in Fetzen zu reißen“, fügte er so lapidar hinzu, als ging es lediglich um eine Kleinigkeit.

 

„Oh Gott!“, flüsterte sie, als das Wesen zum Sprung ansetzte, zu einem weiten, unmenschlichen Sprung. Der Pflock sirrte mit tödlicher Präzision durch die Luft und bohrte sich in die Mitte des Körpers. Hawker schoss direkt einen zweiten Pflock blind in die Nacht. Er traf wieder das erste Ziel.

 

„In den Magen. Da ist das Blut. Das ist die einzig sinnvolle Stelle, auf die du zielen solltest. Niemals auf das Herz, niemals auf den Kopf. Nur in den Magen“, informierte er sie, während er sich die Armbrust gelassen über die Schulter legte, und zusah, wie das Wesen vor ihm zusammenbrach. Sie wich angewiderte und geschockt zurück, als rotes Blut, wie Wasser aus dem Wesen zu fließen begann, die Kleidung weiter tränkte, dann den Boden, und sich Liter um Liter ausbreitete.

 

Mit einem grauenvollen Röcheln schien das Wesen zu schrumpeln, faltiger zu werden, bevor es zusammenbrach und wie altes Pergament zu zerbröseln begann. Der leichte Wind trug den feinen Staub in die Nacht, und es war wieder still im Garten. Ihr Blick hob sich panisch zum Wald, der hinter dem Grundstück begann.

 

„Es kommen keine weiteren. Nicht heute Nacht“, deutete er ihren Blick und reichte ihr seine Hand, um ihr aufzuhelfen. Ihr Atem ging schnell und unkontrolliert. Noch als sie seine Hand zitternd ergriff, bemerkte sie, dass ihr nichts weh tat. Keine Knochen, kein Muskel. Sie spürte nichts. Keine Schmerzen – kein gar nichts!

 

Allerdings bahnte sich ein Gefühl an, dass sie dennoch kannte.

Und ohne seine Hand loszulassen krümmte sie den Rücken nach vorne, und konnte nicht mehr an sich halten. Sie erbrach das Bier, das sie noch vor einer halben Stunde so beruhigt hatte, und die wenigen Chips, die sie gegessen hatte.

 

Sie hörte ihn gereizt ausatmen, aber es war ihr egal. Sie würgte ein weiteres Mal, versuchte abzuschütteln, was sie gesehen hatte, und er entzog ihr angewidert seine Hand.

 

„Bloß nicht auf meine Schuhe, Prinzessin, sonst breche ich dir das Genick“, erklärte er, und sie spürte, wie Lucy ebenfalls nach unten sprang und sich beeilte, ihre Haare nach hinten zu halten. Ihre Hand fuhr ihr über den Rücken, und Jo schämte sich unglaublich.

 

„Ich glaube, jetzt reicht es für heute. Ich komme morgen wieder. Behaltet sie hier. Und lass deine Zähne von ihr, Wölfin“, rief Hawker Lucy noch zu, ehe er im Wald verschwunden war. Sie sah ihm nicht nach, konnte den Kopf nicht heben, und nahm tiefe Atemzüge, während Lucy ihren Rücken streichelte.

 

Vampire… - Vampire gab es doch gar nicht! Sie schloss verzweifelt die Augen und neben dem bitteren Geschmack in ihrem Mund spürte sie die heißen Tränen ihre Wange hinab laufen. Sie wollte hier weg! Sie würde niemals wieder schlafen, und sie wollte nur noch hier weg! Aber… wenn sie schlafen würde, dann würde sie aufwachen. Und es wäre nur ein Traum gewesen. Es musste einer sein!

Denn so etwas… passierte in Büchern. Oder in Träumen. Also konnte sie sicher sein. Es war nur ein Traum. Ein furchtbarer Albtraum, der hoffentlich bald enden würde.

 

 

Kapitel 8

~ The Decent Proposal ~

 

Das Gefühl war nicht angenehm. Sie sah sich um, aber alles war dunkel. Sie kannte den Traum bereits. Sie hatte ihn immer mal wieder, alle paar Monate.

Es musste das Waisenhaus sein. Sie konnte sich nicht mehr in aller Fülle daran erinnern, aber sie erinnerte sich an Mrs Fabian.

Sie hatte sich schützend vor sie gestellt in dieser Nacht, hatte geschrien, hatte sich gewehrt und war nicht zurückgewichen, als die beiden Männer den Raum betreten hatten. Sie hatten die Lampen zerschlagen, hatten sich lautlos genähert – und jedes Mal wachte sie auf.

 

Aber dieses Mal ging der Traum weiter. Dieses Mal sah sie, wie einer der beiden Männer Mrs Fabian gepackt und an sich gerissen hatte, die Augen leuchtend gelb. Er öffnete den Mund in der Dunkelheit, und –

 

Träge öffneten sich ihre Augen und verschwommen blinzelte sie in die Dämmerung. Sie registrierte, was sie geweckt hatte und kramte ihr Handy unter sich hervor.

Sie rieb sich die Augen, ehe sie gähnend die Tastensperre löste.

Ihre Gedanken waren noch nicht sortiert genug, um zu begreifen, dass sie wach war.

 

Ihr Gehirn sprang nur sehr langsam an.

 

Portionsweise fiel ihr der gestrige Abend wieder ein. Und mit einem Blick auf die Handyuhr war es nicht schwer zu rechnen, dass sie vier Stunden geschlafen hatte. Es war sechs Uhr dreißig und neben ihr hatte sich Lucy zusammengekauert und schlief still. Am Schreibtisch war Blake über einem Buch zusammen gesunken und im Sessel schnarchte Libby leise vor sich hin.

 

Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. Sie fuhr sich durch die dunklen Haare, blinzelte die Müdigkeit fort und öffnete ihr Postfach.

 

___________________________________________________________________________

An: J.Clark@reynold-college.com

Betreff: Guten Morgen

Absender: W.Cunning@reynold-college.com

 

Ich erwarte Sie vor der Tür.

L.

 

Prof. Dr. W.C. Cunning

Fachbereich Literaturgeschichte

___________________________________________________________________________

 

Sie stutzte. Sie las die Nachricht noch einmal. Ja, sie war von jetzt. Und… anscheinend wartete er vor der Tür? Ihre Finger kribbelten, als sie hastig das Display ausschaltete, als Lucy im Schlaf knurrte. Vorsichtig erhob sich Jo und ihre Beine wankten unter ihrem eigenen Gewicht. Sie hatte zu wenig geschlafen, um ausgeruht zu sein. Sie hatte zu wenig erfahren, um tatsächlich zu wissen, was passiert war.

 

Sie wusste nur, sie hatte nicht traumlos geschlafen. Aber immerhin hatte sie nicht von dem  Monster der letzten Nacht geträumt. Oder… war es überhaupt passiert? Jetzt gerade war sie damit beschäftigt, ihre Tasche zu nehmen, aus dem Zimmer zu schleichen und draußen auf dem Flur nach ihrer Bürste zu kramen.

 

Oh Himmel! Wie sie aussah! Hastig kämmte sie die knotigen Strähnen glatt, prüfte ihre Zähne auf ihre Sauberkeit und ignorierte ihr schlagendes Herz. Aber ein Gedanke trieb sie voran. Nämlich der, dass Dr. Cunning ihr angeboten hatte, sie vor Greyson zu beschützen. Und jetzt hatte sie doch wohl ein ziemlich ähnliches Problem mit einer weiteren Riege an verrückten.

 

Vielleicht konnte er helfen! Vielleicht wusste er es schon! Vielleicht… - egal, was es war, aber sie wusste, sie konnte hier nicht bleiben. Sie war nicht das, was Blake dachte. Denn Blake war schließlich auch wahnsinnig geworden! Und sie war froh, dass dieser Hawker abgehauen war, der ihr erklären wollte, dass er ein Jäger war. Ihr Verstand hatte die Begegnung der letzten Nacht mit dem Monster erfolgreich verdrängt, und jetzt zählte nur, dass ein normaler Mensch in ihrer Umgebung war. Sie richtete hastig ihre Jeans, strich sich das Top glatt, hauchte sich noch einmal in die Hand, nur um noch eilig nach einem Pfefferminz zu kramen, ehe sie die Treppe nach unten schlich.

 

Ihre Hand lag auf der Klinke, die Tasche hatte sie bereits über die Schulter geschlungen, und ehe ihr Gehirn vollständig erwacht war, drängte sich eine wichtige Frage dennoch an die Oberfläche.

 

Sie öffnete die Tür.

 

Woher wusste er, dass sie hier war?

 

Fast verzweifelt versuchte ihr Gehirn diese Frage noch zu beantworten, die Botschaft dahinter zu begreifen, aber er sah einfach umwerfend aus, also gefroren alle Gedanken in ihrem übermüdeten Kopf.

 

Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Die dunkelblonden Haare frisch gewaschen und frisiert, sein Alter, wie immer, unschätzbar, und er hob zwei Kaffeebecher in die Höhe.

 

„Guten Morgen, Miss Clark“, begrüßte er sie mit butterweicher Stimme.

 

„Dr. Cunn- Liam“, erwiderte sie in nur einem Hauch. Er lächelte so freundlich, so vertraut, dass sie den großen Kloß in ihrer Kehle spürte. Müdigkeit, Verzweiflung und Angst hatten sich mühelos an ihre Oberfläche geschlichen und gewannen nun den Kampf um ihre Kontenance.

 

„Miss Clark, ist alles in Ordnung?“, fragte er sofort, das Lächeln fortgewischt.

 

„Ich… ich… nein!“, brachte sie hervor. „Ich will hier weg!“, fügte sie gepresst hinzu, und sofort kam er näher, legte tatsächlich eine Hand auf ihre untere Rückenpartie und führte sie fort von dem Haus, nachdem er lautlos die Türe geschlossen hatte.

 

Die Tür war geschützt. Diese Information war auch wieder in Gedächtnis gerutscht. Jetzt war sie draußen. Also nicht mehr geschützt.

 

Woher wusste er, dass sie hier war? Frag es, befahl ihr Verstand jetzt.

 

Eilig hatte er sie von der Auffahrt weggeführt, und sie befanden sich auf dem asphaltierten Weg zu den Parkplätzen.

 

„Habe ich Sie gestern Nacht noch mit meiner Nachricht geweckt?“, erkundigte er sich schließlich, als er beiläufig einen Wagen mit Zentralverriegelung öffnete. Sie schüttelte kurz den Kopf. Der Sportwagen war rot, ein Oldtimer, und das Kennzeichen trug seine Initialien.

 

Er hatte ihr die Beifahrertür geöffnet. Schließlich hob sie den Blick zu seinem Gesicht.

 

„Woher wussten Sie, dass ich hier war?“, flüsterte sie schließlich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er sah sie einen momentlang an.

 

„Von Miss Riley. Sie hat es mir erzählt.“ Oh. Libby hatte Cunning erzählt, dass sie eine Pyjamaparty bei Blake veranstalteten? Was es dann nicht war. Libby plapperte wohl alles aus.

 

„Richtig“, erwiderte sie nickend.

 

„Steigen Sie bitte ein.“


„Wo… fahren wir hin?“, rang sich die nächste nervöse Frage aus ihrem Mund.

 

„Ich werde Ihnen helfen, Miss Clark“, entgegnete er schlicht. „Bitte, steigen Sie ein.“ Die aufgehende Sonne beleuchtete seine Haare und ließ sie golden funkeln. Sein Blick war nicht zu deuten, aber sie mochte behaupten, er wirkte besorgt. Sein voller Mund lächelte nicht mehr, und die grauen Augen suchten ihr Gesicht ab. Sie musste einfach scheußlich aussehen, ging ihr plötzlich durch den Kopf, als sie seine Erscheinung in sich aufnahm. Er trug eine helle Stoffhose, ein hellblaues Hemd, einen dunkelblauen Blazer und das Jackett offen darüber.

 

Es stand ihm sehr gut, während ihre Jeans mit Dreckflecken übersäht war.

 

Sie spürte die Röte in ihren Wangen.

 

„Wollen Sie, dass ich Ihnen helfe, Miss Clark?“ Und eine Intensität lag in seinem Blick, der ihren Puls in ungeahnte Höhen schickte. Und sie nickte, ehe sie die Worte verstanden hatte. „Dann steigen Sie bitte ein. Es ist hier nicht sicher“, fügte er hinzu, mit einem Blick auf den Wald. „Die Dunklen sind unterwegs, und ich alleine kann Sie nur schwer aufhalten.“ Diese Worte! Er sagte es auch!

 

„Die… Dunklen…?“, wiederholte sie, was auch schon Hawker gestern gesagt hatte.

 

„Die Geschichten sind wahr, Miss Clark. Aber ich kann Ihnen helfen!“, versicherte er, und wieder sah er sich um. „Vertrauen Sie mir“, fügte er mit einem langen Blick hinzu. Die Farbe seiner Augen schien dunkler zu werden. Und ihr Körper durchfuhr ein Ruck, und sie setzte sich in Bewegung und stieg ein.

 

Die Sitze waren aus Leder und angenehm bequem. Er hatte den Wagen umrundet, stieg selber ein und reichte ihr den Kaffe.

 

„Trinken Sie. Sie müssen unheimlich müde sein“, fügte er hinzu. Ja, das war sie. Woher wusste er das?! Sie nahm einen Schluck, und der Kaffee belebte ihre Sinne sofort. Er war köstlich und vor allem noch heiß. Und kaum hatte Cunning den Motor gestartet, hörte sie ein weiteres Motorengeheul. Sie sah, wie sich sein Blick zum Rückspiegel hob. „Ein Freund von Ihnen?“, fragte er, während er sicher den Gang einlegte und das Gaspedal fast unverzüglich durchtrat. Der Motor des Oldtimers bockte fast auf, während die Reifen von der Straße sprangen und zum Leben erwachten.

 

Sie sah sich irritiert um. Ein Motorradfahrer. Hawker!

 

„Nein! Kein Freund!“, flüsterte sie ängstlich und sank tiefer in ihren Sitz. Cunning schaltete hoch, gewann an Geschwindigkeit, und die Bäume sausten so schnell an ihr vorbei, dass sie in den Sitz gedrückt wurde. Nach einer kleinen Weile, wagte sie in ihren Seitenspiegel zu blicken, um zu sehen, dass Hawker verschwunden war.

 

„Wollen Sie mir erzählen wer der Mann war?“, fragte Cunning neben ihr, den Blick auf die Straße gerichtet, und Jo nippte noch einmal an ihrem Kaffee. Sie sah ihn jetzt direkt an und verlor ein wenig an Scheu vor dem schönen Mann neben ihr.

 

„Woher wissen alle über diese Mythen bescheid, die angeblich mit mir zu tun haben?“, verlangte sie nun zu wissen. Er löste den Blick von der menschenleeren Straße für einen Moment, um sie anzusehen. Die Augen wachsam und die Stirn in Falten gelegt.

 

„Die Mythen sind wahr, Miss Clark. Und ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht umbringen“, fügte er ruhig hinzu. Er sagte dies mit erschreckender Ehrlichkeit, nur war sie völlig fehl am Platze, wie ihr rasendes Herz feststellte.

 

„Was?“, flüsterte sie und glaubte, ihn missverstanden zu haben. Ihre Handflächen begannen zu schwitzen, und er fuhr viel zu schnell. Ihr Atem beschleunigte sich als Vorbote einer Panikattacke.

 

„Ich habe Ihnen doch gestern geschrieben, dass ich Ihnen ein Arrangement vorzuschlagen habe“, erläuterte er, wieder mit einem Seitenblick auf sie. Sie spürte, wie ihr Mund wieder trocken wurde.

 

„Wieso… wieso müssen Sie sagen, dass Sie mich nicht umbringen werden?“, brachte sie tonlos hervor, und tatsächlich zuckten seine Mundwinkel.

 

„Ich will nicht, dass Sie Angst vor mir haben. Mein Vorschlag ist sehr simpel, Miss Clark“, fuhr er geschäftlicher fort. Sie wich vor seinem intensiven Blick zurück. Er wirkte kaum älter als sie es war, aber er jagte ihr eine Angst ein, die kein Alter kannte. Es war eine instinktive Angst. Sein Blick wurde sanfter, als er sie wieder ansah. „Bitte, haben Sie keine Angst“, sagte er jetzt ernster. Dann sah er wieder nach vorne auf die Straße. Ein Gefühlsumschwung oder überhaupt ein Gemütszustand war ihm nicht anzumerken.

 

Sie versuchte, ihre Atmung zu beruhigen, versuchte, nicht in Tränen auszubrechen, versuchte, nichts zu denken. Sie war noch niemals in einer Situation gewesen, in der ihr Leben bedroht gewesen war. Zumindest glaubte sie das. Und jetzt, innerhalb kürzester Zeit hatte sich aller verändert.

Und er, Dr. Stunning, nennen-Sie-mich-Liam, sprach nicht mehr. Und sie wagte es nicht.

 

Sie fuhren stumm eine ganze Weile lang. Der Wald säumte sich links an der Straße, und die Sonne schien heute an einem freundlich blauen Himmel.

Nach einer Endlosigkeit erreichten sie ein Tor, geschützt von einer umläufigen, hohen Mauer, und er fuhr direkt an einen Schalter. Er ließ das Fenster hinab surren und lehnte sich hinaus.

 

„Öffnet das Tor“, befahl er knapp in einen kleinen Lautsprecher, und keine Sekunde später schwangen die schweren Holztüren auf. Ihr Mund öffnete sich perplex. Eine Parkanlage erstreckte sich wie es schien kilometerweit. Sie fuhren einen sauber angelegten Kiesweg empor. Rechts und links waren Rosenbüsche angepflanzt, die langsam all ihre Pracht verloren, aber Gärtner schienen bereits Winterpflanzen zu setzen. Springbrunnen waren nicht mehr aktiv, machten aber einen pompösen Eindruck zu beiden Seiten der Straße.

 

Sie fuhren eine Steigung empor, und durch die Allee, die von Linden gesäumt war, erkannte sie weit hinten ein Haus. Ein Haus? Ein Palast, ein Schloss? Was auch immer es war, es war riesig. Als sie in einem Rondell vor dem Haus hielten, wurden sie bereits erwartet. Sie starrte auf die Personen, die anscheinend die Dienerschaft verkörperten, da sie entsprechende Kleidung und Schürzen trugen.

 

Er war ausgestiegen, ohne ein weiteres Wort, und ein Mann in einem schwarzen Anzug mit schmaler Fliege öffnete ihre Tür.

 

„Miss“, begrüßte er sie, ohne den Blick zu heben und wartete, dass sie ausstieg. Ihre Beine waren wie gelähmt.

 

„Joanna!“, rief Cunning jetzt lauter, und nickte auffordernd. Schluckend setzte sie sich in Bewegung, klammerte sich an ihre Umhängetasche als böte sie einen Schutz, und verließ das Auto. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um das Dach des Hauses auszumachen. Wie viele Stockwerke waren das?

 

„Kommen Sie?“, erkundigte sich Cunning neben ihr, der lächelnd die Hände in die Taschen seiner Anzughose geschoben hatte. Sie sah ihn an.

 

„Was ist das hier?“, flüsterte sie, denn ihre Stimme war längst verloren gegangen.

 

„Mein Haus“, erwiderte er, ehrlich überrascht. „Ich wohne hier. Oder ich sollte sagen, wir wohnen hier“, fügte er lächelnd hinzu. Sie wurde nur noch ängstlicher. Wie viele waren hier?

 

„Wir? Wer ist wir?“ Und dieses Mal lachte er tatsächlich.

 

„Aber Miss Clark, was denken Sie? Sie und ich natürlich“, erklärte er jovial, und ihr Mund öffnete sich.

 

„Ich… Sie?“, stammelte sie, aber er gebot ihr mit der Hand das Haus zu betreten. Ein weiterer Mann hielt bereits die Türe offen, und er war wesentlich älter als der Mann, der ihr die Tür des Wagens geöffnet hatte.

 

„Das ist Sandford. Sollten Sie irgendwelche Wünsche haben, wird er sie ohne Zögern erfüllen“, erklärte er beiläufig, während sie das riesige Anwesen betraten.


„Was mache ich hier?“, fragte sie jetzt und war in der Halle stehen geblieben. Sein Ausdruck wurde wieder ernster.

 

„Miss Clark, ich diskutiere geschäftliches nicht in meinem Flur“, gab er zurück, und wieder deutete er mit der Hand nach vorne. Es war allerdings weniger eine Geste als ein deutlicher Befehl. Ängstlich bewegte sie sich vorwärts. Sie beachtete die Gemälde mit keinem Blick, auch wenn sie annahm, dass es sich um Kostbarkeiten handelte.

Genauso wenig wie die Wandteppiche, die abstrakte Kunst und all die anderen Wunderlichkeiten, die die Räume hier säumten. Sie hielten vor zwei Flügeltüren, die in ein rundes Zimmer führten.

 

„Mein Arbeitszimmer. Nach Ihnen“, fügte er hinzu, öffnete die Türen, und nach kurzem Zögern trat sie hinein. Er folgte ihr und schloss die Türen hinter sich. Das Zimmer hatte Ausblick auf die Parkanlage und den stillgelegten großen Springbrunnen, den sie in der Ferne erkennen konnte. Zwei Türen mit Sprossenfenstern führten in den Garten hinab, und sie sah, die Straße war von hier aus nicht mehr zu erkennen, verborgen hinter der mit Efeu bewachsenen riesigen Mauer, die sie am Horizont nur als graue Linie auszumachen wagte.

 

„Und jetzt?“, fragte sie leise, und sie wusste nicht, ob sie den heutigen Tag überleben würde. Ihre Angst musste ihr wieder ins Gesicht geschrieben stehen.

 

„Setzen Sie sich“, bot er ihr höflich an, schenkte ihr ein atemberaubendes Lächeln, und ihre Panik brodelte lediglich. Sie war noch nicht ausgebrochen. Wie konnte jemand, der so schön war, gefährlich sein? War er es überhaupt? Sie setzte sich auf den geschwungenen, mit Leder bespannten, Stuhl. Er nahm ihr gegenüber Platz und lehnte schließlich die langen Finger aneinander, während er die Ellbogen auf dem Tisch aufstützte.

 

„Ich weiß nicht, was…“

 

„Sind Sie hungrig?“, unterbrach er sie schlicht, aber sie ruckte nur mit dem Kopf. Sie konnte nicht essen. Sie wusste nicht einmal, was sie hier tat!

 

„Nein. Bitte sagen Sie mir, was Sie von mir wollen“, brachte sie nun doch hervor.

Sein Blick wurde wieder ernst, und er atmete langsam aus. Fast kam das hysterische Gefühl von Mitleid für ihn an die Oberfläche, denn er wirkte fast gequält.


„Ich bin ein Vampir, Miss Clark“, sagte er ruhig, und sie sah ihn an. Was?! Was? Sie hatte die übrigen Gedanken vergessen. Er nicht auch noch!

 

„Was meinen Sie?“, fragte sie also, denn sie hatte wohl den Spaß nicht verstanden. Er lehnte sich zurück.

 

„Ich bin ein Vampir der ältesten Blutlinie dieser Hemisphäre, Miss Clark. Und Sie sind eine Auserwählte“, fügte er langsam hinzu.

 

„Was?“, wiederholte sie, und dass er so ernst bei so einem albernen Thema bleib, jagte ihr mehr Angst ein, als das Monster von gestern Nacht. Und sie erhob sich zitternd. „Sind… Sie auch verrückt?“, flüsterte sie und griff sich ihre Tasche. Rückwärts wich sie nach hinten, und er erhob sich seufzend.

 

„Es ist wirklich charmant, wie Sie versuchen, zu fliehen, aber es bringt Ihnen gar nichts. Es wäre auch nicht ratsam“, fügte er knapp hinzu, während er gemächlich näher kam.

 

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, presste sie hervor.

 

„Haben Sie bitte keine Angst. Ich möchte Ihnen ein Angebot vorschlagen“, begann er erneut, als würde er ihr lediglich wieder eine Stelle in seiner Fakultät anbieten.


„Nein!“, sagte sie nur präventiv. „Was wollen Sie von mir?“ Dass er immer noch so ruhig und normal blieb war ihr schleierhaft. Ein verrückter sollte doch kurz bevor er sein Opfer umbrachte Anzeichen seiner Krankheit zeigen, oder nicht? So war es doch auch immer in den Krimis!

 

„Laufen Sie nicht weg, es bringt Ihnen gar nichts. Ich bin schneller als Sie glauben.“ Mit festem Griff hatte er ihre Schultern umfasst, und seine Augen schlossen sich automatisch als er tief einatmete. „Ihr Duft… hat sich nicht verändert. Er ist nur stärker geworden“, bemerkte er still. Sie schüttelte den Kopf.

 

„Lassen Sie-“

 

„Joanna, ich hypnotisiere Sie nicht, weil ich glaube, dass wir beide von dieser Verbindung profitieren können.“ Sie schüttelte nur wieder und wieder den Kopf.

 

„Was wollen Sie von mir? Ich habe kein Geld, ich habe nichts!“, wimmerte sie, und er hielt sie fester, zwang sie, den Kopf zu heben.

 

„Ich will Ihr Blut. Mehr nicht“, informierte er sie ruhig. Sie zuckte zusammen.


„Was?“, zischte sie und wand sich in seinem festen Griff. „Sie können nicht-“

 

„Ihr Blut ist mächtig. So mächtig, dass es einen Vampir zum gefährlichsten und mächtigstem Wesen aufsteigen lassen kann. Das natürlich nur, solange Sie kein Wolf, kein Vampir und eine Jungfrau sind“, fügte er hinzu. Sie starrte ihn an, und schrie nun aus Leibeskräften um Hilfe. Seine Hand lag über ihrem Mund, übte aber keinen Druck aus, und seine Augen wurden dunkler.

 

„Bitte kooperieren Sie mit mir, Miss Clark. Ich will das ohne Hypnose von Statten gehen lassen. Willigen Sie ein, und Sie bekommen, was immer Sie wollen.“ Sie wehrte sich noch eine kurze Zeit lang, bis sie einsah, dass er stärker war. Wesentlich stärker. Sie machte ihren Kopf los und fixierte ihn voller Panik.

 

„Ich will gehen, Dr. Cunning“, wisperte sie, aber er schüttelte streng den Kopf.

 

„Alles, aber gehen können Sie nicht“, erklärte er mit echtem Bedauern. „Ich werde Sie nicht mehr gehen lassen, Miss Clark. Ich möchte, dass Sie mein sind. Ich werde dafür natürlich auch meinen Teil beitragen“, erklärte er sofort und ließ von ihr ab. Ihre Schultern waren fast taub vor Schmerz. Seine Worte klingelten in ihren Ohren. Was erzählte er da? Er war völlig übergeschnappt!

 

„Ich-“

 

„Ich werde Sie nicht zu sexuellen Diensten zwingen“, erklärte er schließlich neutral, während er wieder zurück zum Schreibtisch schritt. „Daran habe ich kein Interesse. Der Form halber existiert der Vertrag bereits. Dazu gehört außerdem, dass ich Sie beschütze. Vor den Wölfen und den Jägern. Ihr Blut wird mir heilig sein, so wie Ihre Sicherheit, Miss Clark. Bis zu Ihrem Tod werde ich dafür sorgen, dass es Ihnen an nichts fehlen wird.“ Sie starrte ihn wieder an.

 

„Das ist nicht Ihr ernst!“, sagte sie schließlich. „Das… ist ein Witz, richtig?“ Aber er sah sie weiterhin an und schien abzuwarten.

 

„Gemeinsames Einverständnis ist wichtig, Miss Clark“, erklärte er, als wäre sie ein Kind. „Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass, sollte ich eine der Klauseln brechen, Sie natürlich frei sind, zu gehen. Ich möchte, dass Sie sich ein paar Tage Zeit nehmen, den Vertrag zu studieren, ehe Sie einwilligen. Denn er wird Sie binden. Magisch“, fügte er lächelnd hinzu, und wieder öffnete sich ihr Mund vor Schock.

 

Alle waren verrückt geworden!

 

„Der Jäger will Sie ausbilden, nehme ich an?“, fuhr er schließlich fort. Sie antwortete natürlich nicht auf seine Frage. Waren sie eine Sekte? War das ein Streich, den Blake ihr spielte oder träumte sie immer noch? „Die Wölfin will Sie wahrscheinlich für sich, und die Hexen wollen Sie verwandeln. Alles recht gut organisiert“, merkte er schließlich nickend an.

 

„Es gibt keine Vampire“, sagte sie schließlich mit mehr Nachdruck als nötig, als sie erneut den Kopf schüttelte. Und wieder erhellte ein Lächeln sein Gesicht.

 

„Miss Clark, wir werden viel Spaß zusammen haben“, erwiderte er, während er sich setzte. „Und jetzt möchte ich nicht mehr davon reden. Ich möchte, dass Sie etwas essen. Für Ihre Sicherheit zu sorgen, bedeutet nämlich ebenfalls, dass ich dafür sorge, dass Sie die richtige Ernährung bekommen.“ Sie schüttelte wieder den Kopf.

 

„Ich… ich bin nicht auserwählt! Ich bin ganz normal, verstehen Sie das nicht? Versteht das keiner?“, beschwerte sie sich und sah sich wieder panisch um. Er schien von ihrem Ausbruch nicht besonders gestört zu sein.

 

„Ihre Kraft wird kommen“, sagte er jetzt und wirkte tatsächlich besorgt. „Vielleicht glauben Sie es dann. Es ist wichtig, zu glauben, Miss Clark. Es gibt Ihnen einen Sinn“, fügte er knapp hinzu. Wieder konnte sie nicht fassen, was er sagte. „Sie werden es spüren“, erklärte er lediglich. „Und dann werden Sie mich töten wollen.“

 

„Sie töten?“, wiederholte sie fassungslos, und er lehnte sich wieder entspannt zurück.

 

„Ihr kleiner Jäger-Freund wird Ihnen doch bestimmt schon verraten haben, wie wir zu töten sind, nicht wahr, Miss Clark?“, wollte er fast amüsiert wissen.

 

„In den Bauch“, wiederholte sie auch diese Worte und konnte kaum fassen, dass sie es wirklich tat. Und er lächelte.

 

„Üblicherweise ist das auch so. Bei einigen wenigen Exemplaren jedoch… ist auch das wirkungslos“, erklärte er ruhig. Und fast lachte sie hysterisch.

 

„Ok“, sagte sie nickend, und wusste, ihr Grinsen war lächerlich. Wachsam sah er sie an. „Beweisen Sie es“, verlangte sie jetzt.

 

„Beweisen?“, wiederholte nun Cunning, und sie nickte wild, dass ihre braunen, ungewaschenen Locken wippten.

 

„Ja! Sie sagen, Sie sind ein Vampir, ich bin eine Auserwählte, dann beweisen Sie es!“, forderte sie erneut. Er lächelte wieder. „So wie Dumbledore den Schrank hat brennen lassen!“, fügte sie wie wahnsinnig hinzu.

 

„Dumbledore?“, wiederholte er jetzt und runzelte die Stirn.

 

„Miss Clark, ich glaube nicht, dass ich mich-“

 

„Sie wollen so was lächerlich Perverses wie mein Blut von mir? Das ist einfach nur krank und widerwärtig! Sie wollen ein Vampir sein? In den Büchern, die Sie uns noch zum Lesen gegeben haben, können Vampire nicht tagsüber in der Sonne spazieren!“

 

„Eine Metapher“, unterbrach er sie. „Jesus konnte schließlich auch nicht wirklich übers Wasser laufen. Eine Metapher“, wiederholte er.

 

„Oh ja? Was ist mit Knoblauch, Kreuzen, Weihwasser, spitzen Eckzähnen?“, holte sie jetzt hysterisch aus, und er rieb sich kurz das Kinn.

 

„Knoblauch ist verträglich in Maßen, Kreuze sind einfach nur Kreuze, Weihwasser ist bloß Wasser, und was die Eckzähne angeht, so sind es eher Fänge“, korrigierte sie und schien Spaß zu empfinden.


„Dann verwandeln Sie sich! In eine Fledermaus oder eben… so ein Biest mit…“ Sie musste mit Schaudern an das Wesen von letzter Nacht denken. „Mit gelben Augen und widerlichem Gebiss!“

 

„Sind Sie sicher, dass Sie nicht von einem Wolf sprechen?“, machte er einen Scherz, den sie nicht verstand, aber er wurde schnell wieder ernst.

„Miss Clark, sowie Wölfe an den Vollmond gebunden sind, sind Vampire Geschöpfe der Nacht. Es ist ein hartnäckiger Mythos, dass wir tagsüber zu Staub zerfallen, keine Spiegelbilder haben und mit einem Pflock im Herzen sterben. Wir verwandeln uns nachts. Der Tag verbietet es. Es ist ganz natürlich. Ich werde keinen Schrank zum Brennen bringen. Ich werde es nicht beweisen, denn ich will nicht, dass Sie sich fürchten. Wenn es Sie beruhigt, es ist nicht schlimm, Vampir zu sein“, erklärte er, und wie konnte er nur so normal darüber sprechen? Er war doch nicht verrückt oder ungebildet! Er war… er wirkte doch so… erfahren!

 

Sie schloss die Augen.

 

„Ich bin eintausendsiebenhundertfünfundfünfzig Jahre alt, Miss Clark. Ich bin länger hier als die meisten. Für gewöhnlich hege ich keinerlei persönliche Kontakte, denn sie hindern einen nur. Für mich ist es neu, einem Menschen zu erklären, was ich tue. Ich mache für Sie eine Ausnahme. Und es ist eine Ehre, wenn ein Vampir etwas Derartiges tut.“ Und er war aufgestanden, war wieder auf sie zugekommen, und vielleicht erkannte sie das Wissen uralter Zeiten in seinen Augen. Vielleicht beruhte seine Erfahrenheit auf jahrelanger Erfahrung. Aber sie erkannte eine unausgesprochene Drohung hinter seinen Worten.

Er schien mächtig geduldig zu sein. Vielleicht aber auch nur zu einem gewissen Grad.

 

Aber es war unmöglich.

Es war nicht wahr. Es konnte nicht wahr sein.

 

„Sie sind Professor“, flüsterte sie kopfschüttelnd.

 

„Ich bin auch Arzt, Architekt, Alchemist – das ganze Alphabet durch, wenn Sie es genau wissen wollen.“

 

„Und als Vampir…“ Sie betonte das Wort immer noch ohne jede Spur von Ernst, „wollen Sie mich verwandeln, oder was wollen Sie genau?“ Vielleicht musste sie mitspielen. Vielleicht beruhigte man so einen verrückten.

 

Er lächelte erneut. „Sie glauben mir noch immer nicht, Miss Clark. Und nein. Ich will Sie nicht verwandeln. Das ist eher die Neigung meines Bruders“, erklärte er offen. Ihr Mund öffnete sich.

 

„Sie… haben einen Bruder?“ Und sie überlegte, dass sie zwei von der Sorte niemals überwältigen konnte.

 

„Ja. Aber unter den Vampiren ist es nicht unüblich Geschwister zu haben. Aber das sind alles Dinge, die wir nicht heute besprechen müssen.“ Er fixierte sie wieder ruhiger.

„Heute sollen Sie sich ausruhen.“

 

Sie sagte nichts mehr. Sie musste die Polizei rufen. Der schöne Mann glaubte, er sei ein Vampir. Und dazu war er auch noch verrückt!

 

„Und lesen Sie in Ruhe den Vertrag.“ Er schnippte knapp mit den Fingern, und schon öffneten sich die Türen und ein großer Buffetwagen wurde ins Arbeitszimmer geschoben mit allen erdenklichen Köstlichkeiten, die sie nennen konnte.

Und laut knurrte ihr Magen.

 

Bevor sie die Polizei rufen würde, würde sie essen. Er sah nicht so aus, als würde er sie jede Sekunde umbringen wollen. Ob Blake und Lucy und Libby sie schon als vermisst gemeldet hatten?

 

Und fast war sie von dem schönen Anblick wieder gefangen gewesen. Hastig senkte sie den Blick und verbot sich selber, ihn noch einmal anzusehen. Sonst wurde sie ach noch verrückt!

 

 

Kapitel 9

~ Trapped ~

 

Noch völlig regungslos lag sie in dem weiten Himmelbett in seinem Gästezimmer.

Er hatte sie entführt, und noch hatte sie keinen Weg gefunden, zu telefonieren. Anscheinend hatte er geschickt ihr Telefon entwendet, denn in ihrer Tasche war es nicht mehr.

Die Panik kroch ihr in die Glieder.

 

Vermisste sie denn keiner? War es für die Polizei etwa unmöglich sie aufzufinden? Wie sollte sie es schaffen einen weiteren Tag ruhig in einem monströsen Haus zu sitzen, mit einem Exzentriker, der sich für eine Sagengestalt hielt?

 

Und mit einem Ruck saß sie kerzengerade im Bett, denn die Haustür knallte anscheinend ins Schloss. Und das mit so viel Kraft, dass die Wände zitterten. Und wenn sie die Luft anhielt hörte sie aufgeregte Stimmen.

War das die Polizei? Hatte sie gerade das Haus gestürmt? Hatte man sie gefunden? Und jetzt gerade in dieser Sekunde wäre sie auch für den verrückten Hawker dankbar.

 

Sie krabbelte aus dem Bett, ignorierte die frischen, neuen Sachen – die nicht ihre waren, und die von Zauberhand in dieses Zimmer gekommen zu sein schienen – und ließ ihre nackten Füße einfach so in ihre Chucks schlüpfen. Wenn sie schnell wegmusste, dann brauchte sie auch keine Socken! Sie öffnete vorsichtig die Tür und spähte in den Flur. Niemand hielt Wache, so wie noch gestern Abend.

 

Sie schlich auf den Flur, und die Stimmen wurden lauter.

 

„Sie können nicht zu ihm“, hörte sie eine der Dienstmädchen rufen. „Hören Sie nicht? Ich weiß nicht, wie Sie ins Haus gekommen sind, aber sie dürfen nicht – Halt, warten Sie!“ Und Jo eilte den langen Flur entlang. War es ein Beamter? Sie hörte wie noch etwas zu Bruch ging. Anscheinend etwas aus Glas. Dann war es wohl teuer gewesen. Sie bog in einen weiteren Flur ab, schien sich wieder verlaufen zu haben, und fand dann endlich eine Treppe, die nach unten führte.

 

Überrascht fand sie sich in der Küche wieder. Sie war riesig groß, modern kühl, und alles blitzte nur so vor Chrome und sündhaft teurem Design.

Wenn der Beamte doch nur noch mal sprechen würde! Sie konnte ihn so nicht ausmachen.

 

Eine weitere Tür schlug laut zu, und sie zuckte zusammen. Wahrscheinlich sah sie absolut furchtbar aus, aber es war egal. Das wäre Grund genug, sie noch schneller hier raus zu holen!

 

„Dann warte ich!“, hörte sie einen Mann jetzt rufen, und die Stimme näherte sich der Küche. Sie hielt die Luft an.

 

„Sie dürfen nicht-! Der Herr hat es verboten, Sie…!“

 

Aber schon schwang die Küchentür lautlos auf und ein wütender Greyson Adler war hineingetreten. Und er verharrte in der Bewegung.

 

Ihr Mund klappte auf.

 

„Greyson?“, flüsterte sie jetzt, und selbst Greyson Adler war jetzt im Moment wohl nicht der schlechteste aller Retter. Und er starrte sie an.

 

„Joanna, ist alles in Ordnung?“ Sofort schloss er den Abstand zu ihr, schien sie zu inspizieren, und sie ließ sogar abwesend über sich ergehen, dass er prüfend ihre Ärmel nach oben schob.

 

„Was… was tust du hier? Wie hast du mich gefunden?“, flüsterte sie, und Greyson stieg tatsächlich in ihrer Sympathieskala auf die erste Sprosse der Leiter.

 

„Sie dürfen das Haus nicht betreten, Sir!“, rief das Dienstmädchen wieder, aber Greyson wandte sich herrisch um.

 

„Raus“, herrschte er die Frau mit einem tonlosen Knurren an, und wie hypnotisiert nickte sie nur einmal und schritt gleichmütig aus dem Zimmer.

 

„Hast du die Polizei gerufen? Er hält sich für einen Vampir!“, flüsterte sie hysterisch und klammerte sich förmlich an seine Jacke. Sein Mund hatte sich geöffnet, betrachtete ihr Gesicht eingehend, und er schüttelte sie sanft.


„Ist alles ok mit dir? Hat er dich angefasst oder sonst was getan?“, wollte er eindringlich wissen, und sie schüttelte nur den Kopf.

 

„Nein, ich… er wollte, dass ich etwas unterschreibe, oh, Greyson, ich hatte wirklich Panik, dass keiner kommen würde! Wo sind die anderen?“, erwiderte sie sehr schnell, und er verengte die Augen.

 

„Du hast nichts unterschrieben, richtig?“ Als ob das irgendwie wichtig wäre! Was verschwendete er denn noch seine Zeit mit nutzlosen Fragen?!

 

„Nein! Natürlich nicht! Lass uns gehen!“

 

Und je länger sie voreinander standen, je länger er sie ansah, umso klarer wurde ihr eine entscheidende Sache: Sie würden nicht gehen….

Sie würden nicht gehen!

Greyson machte keine Anstalten zu gehen. Sie wich erschrocken vor ihm zurück und ließ ihn nicht aus den Augen.

 

„Was tust du hier?“, flüsterte sie nun, und befand sich in einem Haus voller Feinde.

 

„Joanna, warte!“ Er hatte die Hände gehoben, um sie davon abzuhalten, weiter zurück zu weichen. „Ich kann es dir erklären. Es ist wirklich-“ Aber die Küchentür schwang auf und unterbrach Greysons Worte.

 

Und ihr Atem gefror. Angst befiel sie, denn die Art und Weise, wie Cunning Greyson ansah, machte ihr deutlich, dass Greyson kein willkommener, geschweige denn, ein erwarteter, Gast war.

 

„Guten Morgen, Miss Clark“, begrüßte er sie dennoch mit einem Nicken. Ihre Fingerspitzen kribbelten unangenehm.

 

„Wie hast du es nur geschafft an den Hunden vorbeizukommen?“, schien er sich mit gespielter Sorge zu fragen, aber ein kühles Lächeln zierte seine Lippen. Und sie fühlte sich plötzlich seltsam. Sie durchlebte ein seltsames Déjà Vue, was sie nicht recht zuordnen konnte, aber es machte ihr unheimliche Angst. „Aber… ehrlich gesagt wunderte es mich, dass du tatsächlich solange gebraucht hast“, fuhr Cunning gefährlich ruhig fort. „Habt ihr… euch schon bekannt gemacht?“, wollte er wissen, seine Freundlichkeit und Ausgeglichenheit von gestern wie weggeblasen.

 

„Liam“, begann Greyson warnend, aber Liam hob abwehrend die Hände.

 

„Was denn, was denn? Wenn du dir schon die Mühe machst, finde ich, kannst du meinem Gast auch gleich sagen, weshalb du gekommen bist.“ Cunning wandte sich ihr zu. „Miss Clark, ich erwähnte ihn ja schon bereits. Und vielleicht kommt es als winziger Schock, aber… hat mein Bruder sich schon vorgestellt?“

 

Und ihr Mund öffnete sich erneut, aber kein Ton verließ ihre Lippen. Und auf der Sohle machte sie kehrt, stürzte hinter dem Küchentresen vorbei auf die zweite Tür zu, aber mit unmenschlicher Schnelligkeit hatte Cunning ihr den Weg versperrt und stand nun gelassen vor der verschlossenen Tür.


„Wer wird denn weglaufen? Cilian, warum erzählst du ihr nicht, weshalb du hier bist?“ Und Greyson sah sie beschwichtigend an, während er den Kopf schüttelte.

 

„Joanna-“

 

„Nein!“, schrie sie außer sich. „Ich will es nicht hören! Wenn Sie alle kranke, gestörte Psychopathen sind, wieso bringen Sie mich nicht endlich um? Ich bin hier, ich kann anscheinend nicht weg und niemand normales findet den Weg, um mich zu retten! Also los!“, schrie sie, so dass es in der Küche gruselig widerhallte.

„Ihr wollt mich gefangen halten, mein Blut abzapfen für okkulte, perverse Machtspiele? Ihr wollt exzentrische Vampire spielen? Schön!“, fügte sie hinzu, und blind griff sie nach dem längsten Messer aus dem teuren Messerblock.

„Da Sie es in Ihrem Spiel nicht so genau nehmen, Dr. Cunning, und tagsüber rumlaufen können, wird es ein Messer wohl genauso tun wie ein Pflock es tut, richtig?“, wollte sie heiser von ihm wissen, und es war ihr egal, dass sie gerade ebenfalls den Verstand verlor, als sie in die Knie ging, als Greyson auf sie zukam.


„Einen Schritt, Adler, und ich werde mich wehren, hast du verstanden?“, schrie sie außer sich, und tatsächlich hielt er widerwillig inne.

 

„Leg das Messer weg, Joanna. Ich kann es dir erklären“, begann er langsam, aber sie schüttelte nur den Kopf, unwillig, ihm zuzuhören.

 

Kampflos würde sie sich nicht ergeben.

 

„Es reicht jetzt“, erklärte Cunning fast entnervt, und ihr sonstiges Denken setzte schlagartig aus, als er auf sie zukam. Plötzlich bewegte er sich nicht mehr unmenschlich schnell, denn sie sah seine Bewegungen wie in Zeitlupe, spürte plötzlich eine unbekannte Kraft in den Beinen – und sprang. Und tatsächlich sprang sie so hoch, dass sie vor Überraschung keuchen musste, als ihre Füße unter ihr auf dem Tresen landeten.

 

Es passierte in einem Bruchteil, denn schon war sie weiter, war wieder abgesprungen, und so schnell zur anderen Tür gekommen, dass sie durch die Geschwindigkeit fast ungebremst in sie hineingelaufen wäre.

Und sie hörte einen von ihnen hinter sich, er kam rasend schnell näher, aber sie drehte sich mühelos um die eigene Achse und jagte ihm in unglaublicher Geschwindigkeit das Messer mit voller Wucht in den Bauch, so dass es die Bauchdecke durchbohrte, den Magen, und die Rippen. Sie spürte, wie es das Fleisch, die Haut, durchbohrte und mit einem widerlichen Geräusch hinten wieder aus seinem Körper austrat.

 

Hastig ließ sie los – und sie war wieder sie selbst. Alle hypersensiblen Fähigkeiten waren wieder verschwunden.

 

Ihr Atem ging schnell und ihr Puls jagte, als ein verstörter Greyson vor Schmerzen den Mund verzog.

 

„Verdammt noch mal“, brachte er gepresst hervor. „Sie ist verflucht schnell“, fügte er stöhnend hinzu und zog dann das Messer langsam aus seinem Körper. Sie sah, wie Cunning fluchend ein Handtuch aus einer Schublade zog und auf den Boden warf, wo das Blut aus Greysons Körper austrat.

 

„Hoffentlich zieht es nicht in den Boden ein“, murmelte er abwesend.


„Das ist deine einzige Sorge?“, blaffte ihn Greyson an, und Jos Mund öffnete sich wieder.

 

Oh Gott! Was war passiert? Was hatte sie getan? Sie hatte Greyson Adler tödlich verletzt!

Aber… ihr ging auf, noch stand er auf beiden Beinen, nur sah er jetzt reichlich wütend aus, als er ihr den Blick zuwandte.

 

„Bist du jetzt fertig?“, knurrte er ungehalten und warf das blutige Messer in die Spüle. Er wusch sich eilig die Hände, nur um dann wieder herumzufahren. „Ich hatte schon genug Ärger mit dem verdammten Jäger. Er wartet übrigens draußen. Deine Hunde sind einen Scheißdreck wert, Liam“, informierte Greyson ihn geflissentlich, und wieder kam irgendetwas an dieser Situation Jo bekannt vor. „Wieso hast du sie nicht hypnotisiert?“, wollte er lauter wissen.

 

„Ich hatte deinen Besuch nicht erwartet, verzeih mir“, erwiderte Cunning, und seine Stimme troff vor Sarkasmus. „Ich wusste nicht, dass hier kleine Messerduelle ausgeführt werden würden.“ Er klang fast bitter.


„Aber dass sie ihre Kräfte erlangen könnte, damit hast du schon gerechnet, in deinem verrückten Kopf, richtig?“, schnauzte Greyson zurück, und sie verfolgte perplex das Gespräch. Er war nicht tot. Er stand noch!

 

„Es ist ein holpriger Start“, erwiderte Cunning lapidar.

 

„Oh, tu nicht so, als ob sie sich dankbar fügen würde!“

 

„Sie wird es schon noch tun, keine Sorge. Am besten verlässt du jetzt mein Haus“, schloss Cunning ruhiger und deutete umstandslos auf die Küchentür.

 

„Ich gehe nicht ohne sie“, erklärte Greyson schlicht.

 

„Oh, ist das so? Und wo möchte mein Bruder hin? In den Wald? Zu den Wölfen? Es sind jetzt alle unterwegs.“ Und beide starrten sich zornig an. „Die Jäger werden sich freuen, wenn du sie in ihre Arme treibst.“

 

Cilian Cunning… - irgendwas regte sich in ihrem Gedächtnis. Jaah… der Bericht. Das Bootunglück, in dem nur zwei Brüder aus dem blutigen Massaker überlebt hatten.

Wieso lebte er überhaupt noch nach diesem Einstich?! Wieso? Wieso?!

 

„Du bist nicht tot!“, brachte sie also tonlos hervor und lenkte die Aufmerksamkeit erstmals wieder auf sich. Beide sahen sie an.

 

„Ich sagte Ihnen doch, nicht bei allen Exemplaren wirkt der Stich in den Bauch“, erklärte Cunning ihr jetzt wieder ruhiger. „Aber… versuchen Sie es bei Nacht noch mal. Es würde mir eine Menge Arbeit ersparen“, fügte er knurrend hinzu. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Noch fand sie sich nicht mit der Tatsache ab, dass sie den Quarterback erstochen hatte, und dieser scheinbar nicht mehr als einen Kratzer zurückbehalten hatte.

 

„Oh Gott…“, murmelte sie verzweifelt, und versuchte einen Schritt zu machen. Aber keuchend sank sie auf die Knie. „Was… was zur…?“ Sie konnte sich nicht mehr bewegen.


„Muskelkater“, informierte sie Greyson beleidigt. „Geschieht dir recht“, fügte er hinzu, während er den Schnitt in seiner Jacke missbilligend betrachtete.

 

„Muskelkater?“, wiederholte sie zusammenhanglos, aber Greyson lächelte tatsächlich recht böse.

 

„Wer seine Kräfte so schnell und so unüberlegt einsetzt, der muss eben mit den Konsequenzen von einem Muskelkater leben. Muskeln, die doch in deinem Leben noch nie benutzt hast, bilden sich gerade, Joanna“, erklärte er übertrieben arrogant, aber das kannte sie ja bereits.

 

Sie schüttelte verwirrt den Kopf, als sie zu beiden aufsah.

 

„Sie hat dir ein Messer in den Bauch gerammt. Ich denke, damit sehen deine Chance für sie als deine Frau mäßig schlecht aus, findest du nicht?“, bemerkte Cunning jetzt, als er sich gelassen gegen den Tresen lehnte und die Arme verschränkte.

 

„Halt deinen Mund“, knurrte Greyson gereizt, und einmal mehr fühlte sie sich wie in einem Irrenhaus, aber dieses Mal… war etwas anders.

Sie hatte etwas gespürt. Etwas Unglaubliches. Und es schien in ihrem Innern zu sein.

Sie besaß anscheinend doch Kräfte. Und keiner schien zu wagen, näher zu kommen.

Zwar zwang sie der seltsame Muskelkater in die Knie, aber immer noch wurde sie skeptisch beäugt.

 

Ihr fiel wieder ein…, sie hatte gestern auch einen Sprung von über zwei Metern in die Tiefe ohne Blessuren überstanden. Sie hatte gerade einen Mann umgebracht, und dieser hatte keinen Kratzer abbekommen. Sie war im Stand auf einen Tresen gesprungen, mit Leichtigkeit, im Bruchteil einer Sekunde.

 

Und jetzt, wo sie sich für einen kurzen Moment die Zeit nahm, nachzudenken, entdeckte sie eine hervorstechende Ähnlichkeit. Beide Männer hatten dieselben Lippen. Sie sah von einem zum anderen. Nein, sie hatten auch dasselbe Kinn. Nicht dieselbe Augenfarbe, nein.

Aber sie waren fast gleich groß, ähnlich gebaut, und sie hatten doch tatsächlich den exakt selben Mund!

 

Ihr Mund hatte sich wieder geöffnet, und sie konnte wieder nur starren.

 

„Aber… wie kann das sein?“, flüsterte sie tonlos. Und die einfach Antwort darauf war: Es konnte nicht sein. Nichts hiervon konnte wirklich passieren!

 

~*~

 

Sie tigerte durch den Salon. Der Muskelkater klang bereits ab, sie fuhr sich durch die Haare, die dringend eine Dusche vertragen konnte, denn sie hingen schlapp ihre Schultern hinab. Wieder und wieder machte sie große Schritte. Cunning saß auf der Couch, beobachtete sie ab und an, während er in einem Buch blätterte, und Greyson – nein, Cilian – stand am Fenster.

 

„Er schlägt sich tapfer“, bemerkte er.

 

„Ach ja?“ Cunning klang nicht interessiert.

 

„Was will Hawker?“, fragte sie erneut.

 

Cilian atmete gereizt aus. „Dich verwandeln. Dich zum Jäger machen, damit du uns töten kannst.“

 

„Ich habe Kräfte. Kann ich das jetzt nicht auch?“, fragte sie sogar relativ nüchtern, und Greyson wandte sich fast überrascht um. Ihr Verstand weigerte sich, seinen anderen Namen auszusprechen oder gar zu denken.

 

„Deine Kräfte sind unkontrolliert und kommen in Schüben. Du hast keine Ahnung davon, einen Vampir zu töten. Und dein einziges Glück ist, dass keiner von uns beiden vorhat, dich umzubringen“, erklärte er gereizt.

 

„Nein, ihr wollt mich aussaugen!“, erwiderte sie, und musste den Kopf über diese Absurdheit schütteln. Er schloss zornig den Abstand.


„Du wärst im Bruchteil einer Sekunde tot, Joanna! Das ist dir hoffentlich klar!“, schnappte er wütend.

 

„Anscheinend ja nicht!“, gab sie zurück. „Ihr könnt mich hier nicht gefangen halten!“, warnte sie, obwohl sie schlecht fliehen konnte. Cunning räusperte sich.


„Das hier ist kein Gemeinschaftsprojekt. Mein… Bruder… verhält sich gerade besonders mutig, was ziemlich dämlich von ihm ist. Aber, Miss Clark, ich bin überzeugt, dass Sie sich für mein Angebot entscheiden werden, denn Cilian hier will Sie schließlich verwandeln. Wohingegen ich dafür sorgen werde, dass Sie ein Mensch bleiben.“

 

„Unter welchem Preis, Liam?“, unterbrach ihn Greyson lauter. „Du willst sie als Blutsklavin halten. Als deine Untergebene!“

 

„Und sie zu verwandeln ist so viel besser? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie du es anstellen musst? Und wie gering die Chancen sind, dass sie es überhaupt überlebt?“ Sie schüttelte immer nur wieder den Kopf.

 

„Was?“ Sie konnte es nicht glauben. Sie glaubte es einfach nicht. Gut, Greyson hatte ihren Angriff überlebt. Sie hatte Kräfte entwickelt und brach sich keine Knochen – aber… es war zu unglaublich als das es wahr sein konnte.

Sie hatte das Gefühl immer noch im Dunkeln zu tappen. Keiner erzählte ihr irgendwas! Und sie glaubte es nicht. Es gab keine Vampire!

 

„Ich will hier raus“, sagte sie wieder, fast verzweifelt. Beide Männer sahen sie ernst an.

 

„Das ist keine Option, Miss Clark. Das tut mir leid“, erklärte Cunning lächelnd.


„Es tut Ihnen überhaupt nicht leid!“, schrie sie zurück. Er erhob sich elegant. Langsam kam er näher, und er unterschied sich zu seinem angeblichen Bruder schon allein durch seine Art. Sie war… ruhiger, erhabener – und es machte ihr Angst.

 

„Sie nehmen es sehr persönlich, Joanna“, erklärte er nun kopfschüttelnd. Seine Haare lagen perfekt. Er roch frisch und nicht nach Moder oder nach Gruft oder Friedhof oder Blut, oder wonach ein so genannter Vampir eben zu riechen hatte. „Es ist nichts Persönliches. Ich habe Sie gefunden, als sie geboren wurden. Ich habe gewartet, bis es an der Zeit war, und jetzt hole ich mir, was mir zusteht.“

 

„Wieso?“, wollte sie verzweifelt wissen.

 

„Weil ich es kann“, erwiderte er nur, mit einem feinen Lächeln. „Ich hege keinerlei persönliche Gefühle für Sie, und Sie sollten es als Geschäftsverbindung betrachten. Gut, Sie geben ein mittelmäßiges Leben als durchschnittliche Studentin auf. Das sollte ein sehr kleiner Preis dafür sein, was ich Ihnen bieten kann.“ Sie schüttelte wieder den Kopf. Sie hatte schon Kopfschmerzen vom vielen Schütteln.

 

„Du verschonst sie mit deinem Königs-Gequatsche. Das ist fast eine Wohltat“, entgegnete Greyson schneidend.

 

„Es geht sie nichts an. Je weniger sie weiß, umso einfacher ist es.“

 

„Je weniger ich weiß?“, wiederholte sie ungläubig und versuchte, in seinem Blick irgendeine Regung zu erkennen.


„Sie wollen mich zwingen, Ihnen mein Blut zu geben!“ Und sie wurde wieder lauter. „Und du!“ Sie sah Greyson jetzt direkt an. „Ich will gar nicht wissen, was du tun willst! Aber ich werde nichts dergleichen tun. Ich will gehen. Da ist mir der unterentwickelte Hawker lieber als ihr!“ Greyson atmete langsam aus.

 

„Es gibt keine Möglichkeit, dass du eine Jägerin wirst.“

 

„Da sind wir uns anscheinend einig“, merkte Cunning jetzt bestätigend an.

 

„Ich will gehen!“

 

„Dann versuch es doch!“, provozierte Greyson sie schließlich mit einem Achselzucken. Cunning verdrehte die Augen.

 

„Was lässt Sie annehmen, dass die anderen eine bessere Zukunft für Sie planen? Sie haben Glück, dass Sie mir zuerst in die Hände gefallen sind, ehe der Jäger seine Hexe anschleppt, die sie tagelang bluten lässt, um sie dann unter den größten Schmerzen immun gegen unseren Biss zu machen.“ Ihr Mund klappte langsam auf. „Das ist eine Prozedur, die Monate dauern kann“, fügte er nur hinzu. „Und die Wölfin? Denken Sie, es macht Spaß, von einem ausgewachsenen Werwolf verwandelt zu werden? Sie wiegen fast fünf Zentner, und dieses Gewicht müssten Sie auf sich ertragen, während eine Bluttransfusion stattfindet“, fuhr er gelassen fort.

 

„Und… mein Bruder will Sie als Geburtenmaschine missbrauchen. Er interessiert sich nicht für Ihr Wohlergehen. Er will Sie mit seinem Biss vergiften, bis all ihre Zellen schwarz werden dann sechs Liter menschliches Blut in ihren Körper bringen und hoffen, dass es funktioniert. Und das ist nicht alles. Schafft er es, gegen jedes Risiko, Sie zu verwandeln, werden Sie weitergereicht, denn jede Vampirin kann nur ein Kind von demselben Vampir bekommen. Und sie stirbt nach der vierten Geburt. Denn Geburten von Vampiren sind schmerzhaft, aber ich bin sicher, Cilian hätte Sie davon noch unterrichtet, nicht wahr?“, wandte er sich mit einem kalten Lächeln an Greyson.

 

Sie schnappte nur nach Luft. „Wenn Sie es also objektiv betrachten, haben Sie bei mir die beste Chance, relativ unversehrt zu bleiben. Und meine Macht wird Ihnen zu Gute kommen.“

 

„Du wirst unsere Welt in einen Krieg stürzen. Das ist alles, was du tun wirst.“

 

„Und du willst sie einfach opfern“, gab er zurück.

 

„Es ist eine Ehre. Und es ist wichtig, die Rasse zu erhalten, Liam. Das weißt du, genauso gut, wie ich!“

 

„Das sehe ich ein klein wenig anders“, korrigierte ihn Cunning gelassen.

 

„Ich will nichts davon“, flüsterte sie jetzt, ohne jemanden anzusehen.

 

„Das ist nicht möglich. Würden Sie draußen alleine rumlaufen, dann würde jemand kommen und Sie finden. Sei es ein Wolf, ein Druide, eine Hexe, Ein Jäger oder ein Vampir. Und bei allem Respekt, die Aussicht, einem Vampir zu dienen ist da noch die beste, die Sie haben.“

 

Hawker sah nicht unglücklich aus!“ Er sah auch nicht zu glücklich aus, aber sollte es stimmen, was Cunning sagte, so wirkte Hawker eben wie ein starker Mann, der Monster tötete. Cunning jedoch lächelte.

 

„Sicher. Nachdem Sie die schmerzhafte Transformation beendet haben, gegen unseren Biss immun sind, bleibt Ihnen die ehrenvolle Aufgabe uns umzubringen. Oder zumindest, beim Versuch dabei zu sterben. Miss Clark, es existieren weltweit nur noch drei Jäger. Einer befindet sich vor meinem Haus, und somit werden es in Kürze nur noch zwei sein. Und beides sind Männer. Sie wären die einzige Frau. Und sie wären dazu verdammt gegen Wesen zu kämpfen, die von Natur aus keine Feinde haben.“ Sie versuchte, zu begreifen, was er da sagte.

 

„Und nebenbei bemerkt, beide werden natürlich versuchen, mit Ihnen einen weiteren Jäger zu zeugen.“ Greyson stöhnte unterdrückt auf. „Und die Chancen dass das passiert sind unmöglich. Jäger werden geboren, sind Auserwählte, wie Sie, aber nur wenige überleben die Transformation. Und wenn Sie es tun… nun… dann sind wir zur Stelle. Zwar wirkt unser Biss nicht tödlich, aber bei Nacht hat ein Jäger keine Chance“, erklärte er gönnerhaft.

 

Sie schüttelte plötzlich den Kopf.

 

Hawker hat das Biest getötet, das uns vor zwei Tagen angegriffen hat!“

 

Cunning musste fast lachen und wandte sich an seinen Bruder.

 

„Ja, den talentierten Späher, den du geschickt hast? Eine brillante Idee, übrigens“, fügte er lachend hinzu, während Greyson seinen Blick gereizt zur Seite wandte.

 

„Du hast ihn geschickt?“, brachte sie schockiert hervor, als sie die Worte begriff.


„Garantiert nicht, um dich zu töten!“, knurrte er. „Er war zu schwach. Dein Geruch hat…“ Er unterbrach sich selbst. Stank sie? War es das? Sie wich unbewusst etwas zurück. Ja, sie sollte duschen. Aber war es so unerträglich? Greyson seufzte unterdrückt auf und schritt wieder zum Fenster.

 

„Sie finden sich am besten mit der Tatsache ab, mein Haus nicht zu verlassen. Sollten Sie sich für das Angebot meines Bruders entscheiden… werde ich Sie natürlich sofort umbringen. Und meinen Bruder auch.“ Und er sagte die Worte freundlich, als wäre es eben eine unvermeidliche Nebenwirkung. Aber sie sah, er machte keine Scherze. Er hatte noch nie einen Scherz gemacht, ging ihr auf.

Sie war also gefangen. Aber egal, welche Entscheidung sie treffen würde – es gab keinen Ausweg. Es gab keinen…. Plötzlich runzelte sie die Stirn. Sie hob den Blick.

 

„Und wenn ich keine Jungfrau mehr bin?“, fragte sie plötzlich, aber Cunning setzte sich wieder gelassen auf die Couch und griff nach seinem Buch.

 

„Niemanden würde es reizen mit Ihnen zu schlafen, Miss Clark, ohne dass dies beleidigend klingen soll“, erklärte er, und sie fühlte einen Stich in ihrem Innern. „Jeder bevorzugt die Macht, die Sie als Jungfrau bringen. Niemand liebt eine Auserwählte“, fügte er hinzu, ohne sie noch anzusehen. „Machen Sie sich also darüber keine Gedanken.“

 

Und zornig wandte sie sich ab. Sie verließ die Halle, ohne dass ihr jemand folgte. An jedem Ausgang, an jeder Tür standen mindestens drei Bedienstete, bewaffnet bis an die Zähne, grimmige Entschlossenheit auf den Zügen.

 

Das war also die Antwort! Ihre Macht, von der sie bis gestern nichts gewusst hatte, schwand, wenn sie keine Jungfrau mehr sein würde.

Die Antwort war also so simpel wie logisch.

Sie musste Sex haben! Dann wäre sie wertlos.

 

Aber wie sollte sie das tun können? Und was passierte an ihrem Geburtstag in vier Tagen? Sie lief ziellos durch das Haus. Sie musste weg von hier! Denn wenn es stimmte, würde sie sich nicht verwandeln lassen. Und Cunning machte ihr mehr Angst, als dass er sie beruhigte. Niemand würde sie lieben? Und er wollte sie ein Leben lang binden? So schön er auch war, aber glaubte er tatsächlich, dass sie sich auf so etwas einließ? Dann sollte er sie lieber gleich töten!

 

~*~

 

Cilian betrachtete lächelnd, wie der Jäger versuchte, die übrigen Höllenhunde zu töten, ohne selber im Feuer zu sterben und ohne die Bediensteten umzubringen, die auch Menschen waren.

 

„Wieso hast du es nicht schon längst getan?“

 

Sein Bruder hob den Blick nicht von seiner Lektüre.

 

„Ihr Geburtstag-“

 

„Ich spreche nicht von ihrem Geburtstag“, unterbrach er ihn knapp. Er wandte sich schließlich um. „Du hättest sie längst hypnotisieren können. Du hättest längst deinen Willen durchsetzen können. Du hättest mich längst töten können, wenn du es wollen würdest. Was spielst du für ein Spiel, Liam?“ Und Liam hob langsam den Blick.


„Ich spiele nie“, erwiderte er.

 

„Du willst, dass sie es will. Ich frage mich, warum“, merkte Cilian kalt an. „Es stört dich. Es stört dich, dass sie nicht Hals über Kopf zu deinen Füßen fällt. Es stört dich, dass sie keine Angst vor dir hat.“

 

„Sie hat Angst vor mir.“

 

„Nein. Sie versucht immer noch zu fliehen.“

 

„Das liegt daran, dass Sie nur meine nette Seite kennt.“

 

„Du besitzt keine netten Seiten“, erwiderte Cilian lächelnd. Und Liam lächelte ebenfalls. „Sie wird deine Lügen nicht glauben.“

 

„Meine Lügen? Ich habe sie nicht angelogen.“

 

„Nein? Keiner liebt die Auserwählte? Was denkst du, weshalb der Druide vor dem Tor steht und Bannflüche murmelt seitdem die Sonne aufgegangen ist? Was denkst du weshalb, der Jäger da draußen alles riskiert, um sie zu retten, obwohl er weiß, was ihn hier drin erwartet?“

 

„Keiner von Wert liebt die Auserwählte“, entgegnete Liam unbeeindruckt. Dieser nickte nur nachsichtig, und er sah wie sein Bruder langsam zornig wurde.


„Das werden wir sehen, William.“

 

„Verschwinde hier“, erklärte Liam, während er sich schließlich erhob.


„Deine Drohungen kannst du dir sparen. Mit mir hast du mehr Macht als ohne mich.“

 

„Das ist nur deine Ansicht“, erwiderte Liam kühl.

 

„Dann lassen wir es doch einfach drauf ankommen“, bot er ihm an, und Liam verzog spöttisch den Mund als Cilian ihm die Hand entgegenstreckte.

 

„Das ist albern.“

 

„Wenn es albern ist, hast du nichts zu verlieren.“

 

„Fein“, sagte er also achselzuckend und schlug ein. „Wenn du es schaffst, sie zu bekommen soll sie dir gehören“, erklärte er gleichmütig. „Aber mach dir keine großen Hoffnungen.“ Sofort löste Liam den Händedruck wieder und schritt zurück zur großen Couch. „Du erinnerst dich doch, wie bitter dich Enttäuschungen treffen“, merkte er mit erhobenen Brauen an, und Cilian ballte die Hände zu Fäusten.

Das hier war noch nicht vorbei, aber in dieser Sekunde hörte er ein lautes Grollen, und die Fenster klirrten in den Rahmen.

 

Sofort schritt er zum Fenster.

 

„Der Druide hat es geschafft“, sagte er nur, und Liam hob halb interessiert den Blick.

 

„Wie es scheint kommt das Essen heute freiwillig zu uns“, merkte sein Bruder amüsiert an, und Cilian bereute schon fast, hergekommen zu sein.

 

 

Kapitel 10

~ Choices ~

 

Sie hatte das Geräusch gehört. Und sofort war sie zu einem der Fenster gestürzt.

Sie erkannte die Gestalt zwar, aber… das war unmöglich!

War das Blake? Ihr Blake? Der missmutige Italiener, der keiner sein wollte? Der Nerd, der in Lucy verliebt war? Mit einer gruseligen Wolke aus anscheinend purer Elektrizität um sich herum, einem wahnsinnigen Blick und daneben sein unwahrscheinlicher Side-Kick, der ungehobelter Hawker? Ohne Nachnamen? Der angebliche Jäger?

 

Ihr schwirrte der Kopf.

 

Was tat Blake denn da? Was zum Teufel war er bitteschön? Ein Faradayscher Käfig?!

 

Sofort hatte sie sich aber in Bewegung gesetzt. Denn hier bleiben würde sie nicht! Nie und nimmer!

 

Und als sie wieder ins Wohnzimmer zurück wollte – was wohl eher eine riesige Halle mit riesigen und teuren Möbeln und unbezahlter Kunst darstellte – lief ihr Greyson in die Arme.


„Oh nein“, sagte er nur, umfasste ihren Arm und wirkte recht entschlossen – zu was auch immer! Sie wehrte sich praktisch sofort.

 

„Lass mich sofort los!“, schrie sie.

 

„Ruhig, Mädchen!“, gab er nur zurück, zog sie erbarmungslos mit sich, und sie sah gerade noch, wie die Tür aus den Angeln gerissen wurde. Blauer Strom leckte am Rahmen und es sah mehr als gruselig aus.

 

„Joanna!“, vernahm sie die Stimme des fremden Hawkers, und sie sah wie er ein leuchtendes Messer warf. Greyson stellte sich sofort vor sie, schirmte sie von der Gefahr der fliegenden Waffen ab, und zuckte kurz zusammen, als das Messer in durchbohrte.

„Geh weg von ihm!“, schrie Hawker heiser, aber sie sah nur fassungslos zu, wie Greyson schmerzhaft die Augen in gereizter Manie verdrehte und die Waffe ohne Mühe aus dem Körper zog. Das Leuchten hatte seinen Körper ergriffen, und seine Brust leuchtete durch den Stoff seiner Kleidung, die schon durch ihre Attacke arg gelitten hatte, in einem hellen Gelb.

 

Hawker verharrte in seinem Lauf und starrte Greyson an.

 

„Zurück“, befahl er, als Blake ihn erreicht hatte, mit erhobenem Arm.

Dann hob sich sein Blick langsam und er ging kampfbereit in die Knie.

 

„So, sind wir hier fertig?“, erkundigte sich Greyson ungeduldig, und die Wohnzimmertür öffnete sich langsam.

 

„Ein bezeichnend schlechter Tag für dich“, bemerkte Cunning lächelnd in Richtung Greyson und kam näher. Jetzt stand sie zwischen beiden Brüdern, und Hawker wirkte kurz aus der Bahn geworfen.

„Einen Jäger habe ich lange nicht mehr zu Gesicht bekommen.“ Sie hob vorsichtig den Blick. Cunning betrachtete ihn mit gewisser Faszination, als wäre Hawker ein exotisches Tier.

„Den letzten vor… vierunddreißig Jahren“, überlegte er kurz und nickte dann. Sie sah, wie Hawker ein längeres Messer zog.

 

„Dein Bemühen ist lobenswert. Und ich bin heute in relativ guter Stimmung. Ich gestatte dir und deinem Druiden, zu gehen. Und nicht wieder zu kommen“, fügte er kühl hinzu. Und fast in derselben Sekunde schüttelte Hawker bloß den Kopf.

 

„Nein. Ich gehe nicht ohne sie“, erklärte er, als wäre es selbstverständlich.

 

„Geh einfach!“, zischte sie, denn vielleicht wusste Hawker nicht, wen er da vor sich hatte! Greyson hatte schon die zweite tödliche Stichwunde heute überlebt und wirkte nicht so, als wäre er in der guten Stimmung wie sein Bruder. „Sie sagen, sie sind Vampire“, fügte sie leiser hinzu. Hawker schien es überhaupt nicht abwegig zu finden.

 

„Joanna, das sind Cunnings. Die Cunnings!“, gab er nur zurück und schien jede Sekunde abspringen zu wollen.

 

„Cunnings? Und? Die sind wahnsinnig! Am besten geht ihr, bevor…“

 

„Ja, am besten geht ihr, bevor ich mich vergesse!“, unterbrach Greyson sie knurrend.

 

„Ich gehe nicht ohne sie!“, wiederholte Hawker lauter, vielleicht um sich selber mehr Mut zu machen, überlegte sie dumpf.

 

„Sehr viel Aufmerksamkeit für ein Mädchen. Lassen Sie es sich bitte nicht zu Kopf steigen, Miss Clark“, erläuterte Cunning plötzlich, und sie fand, das kam einer Beleidigung gleich. Sie sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick. Und obwohl es gefährlich war, obwohl sich vier Männer gegenüber standen, die anscheinend die Wünsche hegten, sich gegenseitig umzubringen, jagte sein Blick Millionen Schauer über ihren Rücken. Sie fühlte eine Hitze in ihrem Bauch, die sie in dieser Form nicht kannte. Seine Züge wirkten ruhig, aber in seinen Augen tobte ein Sturm, das sah sie genau, denn sie waren dunkler geworden. Ihr Mund öffnete sich langsam, und es war absurd, das so ein schöner Mann Mordgedanken hegen konnte.

 

„Gentlemen, das lässt sich alles einfach klären“, holte Cunning wieder aus. „Ich war schneller. Ihr hattet, so wie ich es sehe, einen ganzen Tag Zeit, eine Hexe zu besorgen, sie zu verwandeln, aber ihr habt nichts dergleichen getan.“ Fast klang er entschuldigend.

 

„Das ist nicht dein Ernst?“, knurrte Hawker jetzt und kam furchtlos näher. „Ihr elenden Vampire denkt immer noch, euch steht das Monopol auf Macht zu?“ Aber Cunning blieb unbeeindruckt von Hawkers plötzlicher Nähe.

 

„Vielleicht irre ich mich, aber… ich bin älter, und… wie viele Jäger gibt es gleich noch? Ich denke, unsere Rasse ist in der Überzahl“, fügte er ohne Pause hinzu. Die meinten das ernst…, ging ihr dumpf durch den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein…!

 

„Es müssen Jäger verwandelt werden! Ihr sitzt doch schon am längeren Hebel.“

 

„Oh ja, richtig“, erwiderte Cunning mit gespieltem Verständnis. „Und uns wollt ihr auch nicht umbringen, richtig? Nur die… anderen….“ Und es herrschte eine gespannte Stimmung zwischen den Parteien. In Blakes Händen loderten immer noch zwei blaue Funken, die Cunning mit einigem Interesse betrachtete. „Dein Freund ist talentiert. Mr Da Corte, Sie müssen mir bei Gelegenheit zeigen, wie sie die entzückende Lichtkegel erscheinen lassen können“, fügte er höflich hinzu.

 

Wieso wussten alle außer ihr Bescheid? Und vor allem – über was?!

 

Sie fühlte sich dumm. Dumm genug, als dass ihr keiner sagte, um was es ging!

Und sie fühlte sich missbraucht, misshandelt, und sie wollte duschen. Sie wollte nichts dringender als nach Hause und duschen.

Und sie wollte weinen. Sie wollte einfach nicht mehr!

 

Sie hatte Hunger. Erst jetzt spürte sie es. Der Machtschub von vorher hatte sie an den Rand des Erträglichen katapultiert. Und ihre Muskeln schmerzten immer noch etwas.

 

„Sie sollte hier nicht sein“, entschied Greyson gepresst, aber sie spürte nur wieder die rote Wut aufsteigen.


„Es geht dich nichts an! Du kannst nicht über mich entscheiden! Keiner von euch hat irgendein Recht über mich zu entscheiden! Keiner!“, schrie sie plötzlich und wieder ergriff die andere Joanna von ihr Besitz. Die, die ihre Wut nicht kontrollieren konnte, die, für die alle Gefühle plötzlich brandneu und in tausendfacher Stärke ans Licht kamen.

 

Und sie spürte die Kraft erneut. Die Wut hatte sie ausgelöst, katalysiert quasi, und sie nutzte die Kraft, um einen entscheidenden Zug zu machen. Sie stieß beide Brüder zu den Seiten von sich, bückte sich in unmöglicher Geschwindigkeit nach dem leuchtenden Dolch, der einen großen Teil seiner Leuchtkraft eingebüßt hatte, und bewegte sich rasend schnell zum Ende des Flurs, so dass sie mindestens fünf Meter außer Reichweite stand.

 

Durch diesen Akt schmerzten ihre Beine fast so sehr, dass sie zusammen brechen konnte, und ihr Atem ging keuchend. Gott, das war anstrengend gewesen. Aber auch absolut unglaublich. Und sie setzte das Messer an die Kehle – und alle Männer hielten inne.

 

Sie verzog schmerzhaft das Gesicht. Das Messer brannte, schon alleine dort, wo es ihre Haut nur ansatzweise berührte, ohne Schaden zu verursachen.

 

„Joanna, nicht!“, schrie Hawker jetzt. „Das ist Gift, pures Gift! Wenn es nur in eine Pore dringt-“

 

„Dann schlage ich vor, irgendjemand erklärt mir, was vor sich geht! Und niemand zwingt mich zu irgendwas! Tot nütze ich anscheinend keinem etwas, und ich bin mehr als bereit, es darauf ankommen zu lassen, denn ich habe keine Lust mehr!“, unterbrach sie ihn laut und zornig. Sie sah, wie Greyson versuchte, auf sie zuzukommen, aber sie fixierte ihn sofort.

 

„Ah ah, du bist schnell, aber ich bin schneller!“, wagte sie eine Drohung, von der sie nicht wusste, ob sie stimmte. Aber er verharrte tatsächlich.

 

„Ich habe es Ihnen erklärt“, brachte Cunning mit gezwungener Ruhe hervor und schien ihr tatsächlich übel zu nehmen, dass sie es so schwer machte. Sie hätte fast hysterisch gelacht.

 

„Ja, aber das glaube ich nicht“, gab sie zurück, und er verdrehte fast die Augen. Greyson warf ihm ebenfalls einen kurzen Blick zu.

 

„Lasst sie gehen!“, mischte sich Hawker wieder ein. „Sie wird sich noch umbringen!“

 

„Das wird sie auch versuchen, wenn du sie zwingen willst, ein Jäger zu werden“, erklärte Cunning immer noch gelassen.

 

„Ich habe immerhin Respekt vor ihrem Leben!“, gab Hawker bitter zurück.

 

„Das ist der Unterschied, Jäger. Emotionen sind immer der Feind von sinnvollen Entscheidungen. Sie würde mein Angebot ohnehin vorziehen. Dein Mut ist tapfer, sowie er grenzenlos dämlich ist. Du hast Glück, dass ich meine Meinung geändert habe und euch noch nicht töten werde.“

 

„Du bist kein König!“, spuckte Hawker ihm fast entgegen, und sie fühlte sich wieder ausgeschlossen.

 

„Hey!“, rief sie und drückte die Klinge fester in die Haut. Sofort schwieg Hawker abrupt, die dunklen Augen auf das Messer geheftet, dass immer heißer wurde.

 

„Es sind Vampire, Joanna!“, erklärte Hawker ruhiger. „Von der ältesten Linie, die Vampirblut vorzuweisen hat.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Nein, nicht wieder diese Erklärung!

 

„Sie sind unbesiegbar“, flüsterte Blake leiser.

 

„Bei Tag“, warf Hawker knurrend ein, aber Blake reagierte nicht auf ihn, sondern drehte die blauen Funken weiter in seinen Händen, anscheinend bereit sie abzufeuern. „Und mit deinem Blut werden sie alles auslöschen, denn dann erreichen sie eine Macht, die es bisher nicht gegeben hat. Der Mythos besagt, der Vampir, der das Blut eines Auserwählten trinkt, regiert die Welt.“

 

Sie hatte den Blick auf Blake geheftet. Dieser sah sie schließlich wieder an.

 

„Die ganze Zeit…“, flüsterte sie, während sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken.

„Du hast alles die ganze Zeit gewusst! Du bist… ein Freak!“, flüsterte sie. Und er öffnete langsam den Mund.

 

„Jo, es tut mir leid“, erwiderte er flehend. „Ich wollte es schon längst… ich wusste nicht…“

 

„An deinem Geburtstag“, unterbrach Hawker Blake völlig ungerührt, „muss es passiert sein. Es muss irgendwas mit deiner Macht passiert sein, denn sonst wirst du einfach imlpodieren. Die Zeit läuft davon. Du bist ein Schlüssel. Du trägst die Macht in dir, und ich denke, es ist fair zu sagen, dass du nichts dafür kannst. Aber du musst die Konsequenz daraus ziehen. Du musst ein Jäger werden. Oder ein Wolf. Oder ein Vampir. Oder mit Glück entwickelst du magische Fähigkeiten, aber da es nur drei Jäger gibt, und es notwendig ist, Vampire auszulöschen, musst du dich verwandeln!“, beschwor er sie.

 

„Und wenn nicht? Dann sterbe ich?“

 

„Dann reißt du die Welt ins Chaos. Deine Geburt ist vor Jahrhunderten voraus gesagt worden, wie die jedes Auserwählten, Joanna! Mit deinem Tod kommt die Rache der Natur, dass so ein Geschenk verschwendet wurde! Stürme, Fluten, Eiszeiten brechen ein.“ Sie hörte ihm zu, aber das konnte nur blanker Unsinn sein!

 

„Und wenn du es nicht glaubst, dann musst du dich zwingen. Siehst du nicht, was sie sind? Was du bist? Du bist schneller als ein Mensch, stärker als ein Mensch, und jeden Tag wird es mehr. Du bist stark genug, zu entkommen, vor den Vampiren zu fliehen! Aber draußen warten die Wölfe, die anderen“, fuhr er fort.

„Deine Entscheidung ist wichtig. Werde ein Jäger. Deine Macht bleibt, ändert sich nicht, und du bist ein Mensch. Zwar lebst du lange, länger als jeder Mensch, als jeder Wolf, aber du bist kein untotes Monster, das sich von Blut ernähren muss!“

 

„Meine Geduld nähert sich dem Ende. Verlasst mein Haus, oder ich ändere meine Meinung.“

 

„Sie kann dieses Haus auch selbstständig verlassen!“, drohte Hawker plötzlich ohne Furcht.


„Ja? Was denkst du, welches Leben sie vorziehen wird, Jäger? Denkst du, sie wird nicht begreifen, wer die größte Macht verspricht?“ Doch Hawker kam näher. Er war einen halben Kopf kleiner als Cunning, aber dafür muskulöser, stellte sie fest, während die Tränen ungehindert über ihre Wange liefen, und sie das Messer nicht mehr ganz so stark gegen ihre Kehle drücken konnte.

 

„Ja, welches wohl? Als Untoter, Sklave der Sonne, wo sie nur nachts ihre Kräfte vollkommen entfalten kann und dazu auch noch verletzlich wird? Ganz zu schweigen von den Unmengen an Blut, die sie brauchen wird? Und die Geburten, die sie letzten Endes töten werden – sollte es überhaupt gelingen, sie zu verwandeln? Oder als dein Blutsklave? Bis zu ihrem Lebensende an dich gebunden, je nachdem, wie gut du dich beherrschen kannst? Immer darauf wartend, dass ein anderer sie stiehlt und sie zu eigen macht? Oder als Wolf? Als räudiger Hund, gebunden an den Mond und Leibspeise der Dämonen? Denkst du nicht, der Jäger bietet die beste Aussicht?“

 

„Wie viele Auserwählte sind Jäger geworden? Ist es nicht genauso schwer und schmerzhaft?“

 

„Wie viele Auserwähle wurden Vampirinnen?“, konterte Hawker sofort, und Cunning schien die Geduld zu reißen.

 

„Ich habe genug!“ Und er stieß Hawker lediglich die Hand vor die Brust und beförderte ihn somit zum anderen Ende des Flurs, wo er mit unglaublicher Kraft durch die Wand stürzte und die Wand zur Hälfte zum, Einsturz brachte. Sie war vor Schreck zurückgewichen. Das war nicht zu überleben! Unmöglich! Was war das überhaupt für ein Trick gewesen? Wer besaß so viel Kraft? Ihre Finger, die das Messer hielten, begannen unkontrolliert zu zittern.

 

Dann wandte sich Cunning an Blake, und Greyson atmete gereizt aus.

 

„Hör schon auf“, murmelte er. Doch Cunning beachtete ihn nicht. Er griff ohne Mühen nach vorne um Blakes Hals, hob ihn ohne Aufwand vom Boden hoch, und röchelnd griff Blake nach der Hand des Mannes. Und Cunning schien zuzudrücken.

 

Und es erwachte die Panik in ihr.

 

„Nein!“, schrie sie, das Messer entglitt ihren Fingern und sie stolperte nach vorne, zurück zu den Männern. „Lass ihn runter! Lass ihn runter, bitte! Tu ihm nichts! Ich bleibe!“, fügte sie atemlos hinzu, und sein Blick senkte sich auf ihr Gesicht. Sein Ausdruck war steinern gewesen, wie der einer gemeißelten Statue, aber er löste sich langsam und wirkte wieder menschlicher. Sie hatte Angst. Er war stärker als sie es wohl jemals sein könnte. Sie hörte, wie einige Wirbel in Blakes Hals gefährlich knackten, aber sie sah Cunning flehend an.

 

„Lass ihn runter! Tu ihm nichts. Und tu Hawker nichts! Lass sie gehen, und ich bleibe!“ Sie ignorierte, wie Greyson genervt etwas murmelte und sich gegen die Wand hinter sich lehnte. Dann lockerte Cunning schließlich den Griff, und keuchend stürzte Blake zu Boden. Er war knallrot im Gesicht, hustete schwer und sie bückte sich sofort nach ihm. Er erwiderte ihren Blick, und egal, ob all diesen wahnsinnigen Geschichten stimmten oder nicht – sie würde nicht zulassen, dass einer ihrer besten Freunde hier sterben würde! Egal, weswegen!

 

„Geh! Na los! Ich will, dass du gehst!“, brachte sie unter Tränen hervor. „Nimm Hawker mit!“, befahl sie tonlos, und nachdem Blake nicht mehr keuchte, erhob er sich und stand auf wackligen Beinen. Und er folgte ihr. Und als wäre es ein Spezial-Effekt beschwor er eine blaue, zuckende Flamme, die den bewusstlosen Hawker aus dem Schutt empor hob, und ohne sich umzusehen verließ er das Haus.

 

Sie atmete aus. Sie war wieder allein. Die Hilfe, auf die gehofft hatte, hatte sie soeben fortgeschickt.

 

„So. Das hätten wir geklärt“, bemerkte Cunning entspannt, als wäre gerade nichts vorgefallen.

 

„Die werden wiederkommen“, erwiderte Greyson nachdenklich, dem sie einen zornigen Blick zuwarf. Er hatte ihr nicht geholfen. Überrascht erwiderte er ihren Blick.

 

„Mein Bruder ist kein Verräter, Miss Clark. Er ist auch kein Quarterback. Ich schlage vor, Sie unterschreiben den Vertrag.“ Lächelnd schritt er an ihr vorbei, und ihr war wieder zum Heulen zumute. Kaum war er vorbei änderte sich Greysons Blick. Er wurde ernster, eindringlicher, und er schien ihr etwas sagen zu wollen. Aber sie wusste nicht, was.

 

„Miss Clark?“, hörte sie die angenehm gefährliche Stimme von Liam Cunning hinter sich, und Angst erfasste sie. Sie wandte sich also ergeben um. Sie durfte nicht sterben. Auch wenn sie nichts glaubte, was Hawker gesagt hatte, schienen es andere mehr als nur zu glauben. Und sie hatte wohl kaum eine echte Wahl.

 

Kapitel 11

~ The Agreement ~

 

„Wo geht er hin?“, fragte sie leise, als ihr Blick Greysons Rücken folgte, der sich weiter und weiter vom Haus entfernte. Cunning hob nicht mal den Blick, während er geschäftig eine pechschwarze Feder aus der Schublade zog. Sie war lang, und sie hatte keine Ahnung, welchem Tier eine solche Feder wohl gehört haben mochte. Vielleicht war sie auch künstlich, aber… nachdem, was sie heute gesehen hatte glaubte sie nicht unbedingt, dass hier etwas künstlich war.

 

„Es wird Zeit, dass er geht“, erwiderte Cunning schlicht. „Er war kein Gast hier“, fügte er mit Bedacht hinzu.

 

„Es… ist Ihr Bruder“, flüsterte sie stiller. Hätte sie Geschwister, dann wäre sie bestimmt nicht so gemein und kalt. Doch schließlich hob der Mann vor ihr, der gelassen an seinem großen Schreibtisch saß, fast amüsiert den Blick.

 

„Mein Bruder? Miss Clark, Sie mögen hier traditioneller – menschlicher – denken. Hätten Sie einen Bruder für fast tausend Jahre, und hätte er mehr als zweihundert Mal versucht, Sie zu hintergehen, dann wären Ihre Gefühle auch bereits abgekühlt“, erklärte er leidglich. Ihr Mund öffnete sich. Tausend Jahre… - das war einfach unmöglich!

 

„Was wollen Sie von mir?“, brachte sie ängstlich hervor. All der Reichtum hier, lenkte sie zwar ab, aber anscheinend war sie nicht hier aus positiven Gründen. Und jetzt, wo der letzte Mann fort war, der eigentlich vorhatte, sie hier rauszuholen – aus welchen Gründen auch immer – schnürte die Panik ihre Kehle wieder zu.

 

Aber Cunning schwieg, setzte die lange, pechschwarze Feder aufs Pergament und unterzeichnete schwungvoll auf einer Linie.

Grauer Dampf stieg vom Blatt empor, und unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.


„Was war das?“, flüsterte sie erschrocken, aber er lächelte lediglich.

 

„Das hier ist eine Königsfeder vom Schweif eines Phönixes. Wissen Sie, was ein Phönix ist, Miss Clark?“ Sie hätte gerne geantwortet, dass Dumbledore einen Phönix gehabt hatte, aber sie verkniff sich diese Antwort. Sie sah ihn mit großen Augen an.

„Allerdings ist diese hier ein besonderes Geschenk gewesen. Und ich weise Sie erneut darauf hin, dass Sie mit Ihrer Unterschrift auf diesem Dokument, gebunden sind. Und ich meine es nicht im bürokratischen Sinne“, fügte er hinzu, ohne dass sie verstand, was er meinte.

 

Er schob ihr schließlich das Dokument zu. „Setzen Sie sich ruhig“, ergänzte er mit umstandsloser Höflichkeit, als hätte sie vorhin nicht gesehen, wie er einen Mann durch eine Wand geworfen hätte. Als wäre es ein normales Treffen unter Menschen!

 

Sie schluckte schwer, tat jedoch, wie ihr geheißen, denn, was sollte sie anderes tun?

„Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, haben Sie keine Scheu, sie zu stellen, Miss Clark“, fügte er aufmunternd hinzu, und ihre Fingerspitzen kribbelten.

 

Sie beugte sich vor. Das Dokument trug den schlichten Titel „Vertrag“.

Sofort erkannte sie ihren Namen.

 

Vertragsparteien: William C. Cunning und Joanna Clark

Vertragsgegenstand: Blutanspruch und Treueschwur

 

Mit diesem Vertrag verspricht die Blutsklavin, Joanna Clark, ihrem Herrn, William C. Cunning, hörig zu sein, seine Wünsche und Befehle zu befolgen und willentlich ihr Blut zur direkten Aufnahme(* siehe Anlage 1) zur Verfügung zu stellen, wann immer ihr Herr es wünscht.

Ferner schwört sie ihrem Herrn Treue und Verbundenheit(* siehe Anlage 2) und verspricht keinen anderen Herrn neben ihm ihr Blut zur Verfügung zu stellen

Es gilt wie folgt eine Interessengemeinschaft beider Parteien, der Herr versichert der Blutsklavin als Gegenleistung ein Heim, Verpflegung, angemessene Kleidung, gesundheitliche Garantien und Schutz jeglicher Art(* siehe Anlage 3) als Bestandteil des Vertrags.

 

Mit diesem Vertrag versichert die Blutsklavin, sich nicht von ihrem Herrn zu entfernen. Eine Distanz von mehr als fünfzig Metern wird nur durch den Herrn direkt erlaubt oder durch Vertragsbruch von Seiten des Herrn begründet(* siehe Anlage 4).

Die Blutsklavin erkennt ihren Status als untergeordnet zu ihrem Herrn an.

Die Blutsklavin weiß um ihre Macht und ist willig sie für die Gesellschaft der Vampire einzusetzen und sich keiner anderen Allianz anzuschließen(* siehe Anlage 5).

Der Herr sichert das Überleben der Blutsklavin bis zu ihrem natürlichen, menschlichem Tod.

 

Dieser Vertrag ist bindend für beide Parteien, und mit der Unterzeichnung unanfechtbar durch Magie oder Bruch. Mit Bruch des Vertrags durch die Blutsklavin tritt ihr Tod übergangslos ein.

 

Versichert ist dies durch den obersten Rat.

Vertreten durch L.L.

 

Anlagen:…

 

Sie hatte den Blick gehoben, und ihr Mund war trocken geworden. Das… war ein Scherz, richtig? Das war doch nicht wirklich ernst gemeint? Er hatte das als Gag aufgesetzt. Das konnte unmöglich ein Stück Papier mit rechtlichem Gehalt sein?!

Sein Blick war ruhig, aber er fixierte ihr Gesicht.

 

„Sind Sie fertig?“, erkundigte er sich höflich, aber ihr Mund öffnete sich sprachlos. „Ich möchte, dass Sie den Vertrag vollständig gelesen und verstanden haben. Falls Sie Fragen zu Ihrer Macht haben, äußern Sie diese. Es ist wichtig, dass Sie es begreifen. Was sie… wahrscheinlich noch nicht in ganzer Fülle tun, aber das wird schon noch kommen.“ Und sie hatte das eigenartige Gefühl, dass… er sie nicht leiden konnte.

 

Er sprach distanziert, höflich und kühl. Er machte ihr einen Vertrag, der sie zu etwas perversem wie eine Blutsklavin verpflichtet und war angeblich ein Vampir? Ein Vampir, der sie nicht mochte, aber sie bis zu ihrem Tod an sich binden wollte?

Sie schüttelte verständnislos den Kopf.

 

„Wieso tun Sie das?“, fragte sie wieder, denn sie musste es wieder und wieder fragen, aber er schien weiterhin geduldig zu sein, oder täuschte es zumindest sehr gut vor. Er atmete ruhig aus, lehnte seine langen Finger wieder aneinander und betrachtete sie über die Spitzen hinweg aufmerksam.

 

„Sie haben begriffen, dass Sie eine Auserwählte sind, Miss Clark?“

 

„Ich-“, widersprach sie sofort, aber sein Blick ließ sie verstummen.

 

„Ich nehme an, Sie glauben es noch nicht. Aber Ihre Kräfte lassen sich schwerlich medizinisch erkläre, denken Sie nicht? Oder meine, oder die Ihres Freundes Blake?“, fuhr er ruhiger fort, und sie schwieg, weil sie tatsächlich keine gute Erklärung parat hatte. „Gut. Nehmen Sie bis hierhin einfach zur Kenntnis, dass Sie eine Auserwählte sind. Es gibt nicht viele von Ihrer Sorte. Ihr Freund Hawker war ein Auserwählter. Vor sehr langer Zeit. Und die Jäger haben ihn eher erwischte als ich es konnte“, erklärte er offen. Ihr Mund öffnete sich wieder. „Sie mögen es vielleicht auch Bedauern, kein Wolf oder Jäger zu werden, aber was diese Möglichkeit betrifft, kann ich Ihnen bedauerlicherweise keine Wahl lassen“, fuhr er aufrichtig fort.

 

„Weil Sie alle Macht wollen? Weil Sie alle anderen umbringen wollen?“, entfuhr es ihr zornig, weil sie einfach nicht wusste, was hier Wahrheit oder Wahnsinn war. Kurz wirkte er überrascht.

 

„Vielen mächtigen Männern wurde vorgeworfen, ihre Macht missbraucht zu haben, aber wissen Sie, wenn man solange hier ist, wie ich es bin…, dann stellt sich eigentlich nur die Frage, wem die Macht rechtmäßig zusteht. Mein Bruder mag Ihnen vielleicht einen falschen Eindruck vermittelt haben.“ Und er lächelte daraufhin. „Ich bin sehr geduldig mit Ihnen, weil es wichtig ist, dass Sie sich mir versprechen, dass Sie willentlich mir gehören und niemandem sonst, Miss Clark“, ergänzte er mit einem Nachdruck, der ihr wieder Schauer über ihren Rücken schickte. Wie konnte er so etwas sagen? Etwas, dass so besitzergreifend war, aber das er in seiner Körpersprache mit keiner Bewegung andeutete?

 

„Sie… wollen mich besitzen?“, wiederholte sie heiser, aber er lächelte wieder.


„Sie haben die Anlagen noch nicht gelesen? Es mag ungerecht klingen, ein solcher Vertrag im Vergleich zu Ihrem bisherigen Leben“, fuhr er fort. Ach wirklich? Dachte er das auch?

Sie hatte schon Sorge gehabt, das wäre ihm komplett entgangen, dachte sie wütend.

„Aber die Klauseln sichern Ihnen auch Rechte zu.“ Fast automatisch senkte sich ihr Blick wieder auf den seltsamen Vertrag, obwohl sie noch einige offene Fragen hatte.

Was meinte er damit, dass Greyson ihr den falschen Eindruck vermittelt hatte und dass sich die Frage nach Macht nur noch im Bezug auf die Tatsache stellte, wer sie bekommen sollte? War es Gang und Gäbe, dass man hier unter ihren Leuten, Menschen folterte und so etwas perverses veranstaltete wie Blut zu beanspruchen?

 

Anlage 1: Direkte Blutaufnahme

Das Blut der Blutsklavin wird nur direkt von der Vene gestellt. Abgezapftes, gekühltes oder anderweitiges Blut gilt nicht als Blutanspruch des Herrn.

Der Herr hat das Recht zur täglichen Aufnahme zu jeder Tages- sowie Nachtzeit.

Der Herr verpflichtet sich zu einer täglichen maximalen Aufnahme von 500 mL, um die Gesundheit der Blutsklavin weiter gewährleisten zu können.

Ferner sind die Handgelenke, die Arme, die Bauchdecke, sowie die Beine der Blutsklavin zur direkten Aufnahme zur Verfügung zu stellen.

Die Aufnahme durch die Hauptschlagader über dem Herzen, sowie der Halsbasis sind durch Risiko nicht erlaubt. Sollte diese Stellen dennoch zur direkten Aufnahme verwendet werden, gilt die äußerste Vorsicht und die Untersagung des Vertrags, mehr als 500 mL aufzunehmen und danach zwei Tage keine direkte Aufnahme zu beanspruchen.

 

Anlage 2: Treue und Verbundenheit

Die Blutsklavin schwört ihrem Herrn die lebenslange Treue. Unter Treue ist die Gebundenheit und Reinheit gefasst. Ein Verrat ihres Herrn führt zum sofortigen Tod der Blutsklavin.

Der Verrat gilt als begangen, sobald der Herr sofortige Schäden kausal zum Verhalten der Blutsklavin erleidet.

Die Reinheit garantiert die Wirkung des Blutes.

Es ist dem Herrn nicht gestattet die Blutsklavin zum sexuellen Akt zu hypnotisieren. Dem steht die Verführung ohne Hypnose gleich. Die Treue basiert auf rein platonischer Gebundenheit. Die Hypnose oder Verführung zu oralen Akten ist insoweit untersagt, dass kein Samen in den Körper der Blutsklavin zu gelangen hat.

Dem Herrn steht es frei die Blutsklavin zu küssen oder sie oral zu befriedigen, sofern gewährleistet ist, dass keine direkte Blutentnahme aus primären Geschlechtsteilen erfolgt, sowie dass keine Entjungferung stattfindet, durch den Akt selbst.

 

Und sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick zu ihm hochschoss. Die Hitze war in ihre Wangen gestiegen, und ihre Augen mussten ihn vor Panik geweitet ansehen.

Kurz hob sich seine wohlgeformte Augenbraue in die Höhe, aber dann schien er begriffen zu haben.

 

„Ich sagte Ihnen, ich lege es nicht darauf an, mit Ihnen zu schlafen.“ Ihr Mund klappte auf. Sie schnappte nach Luft und schüttelte den Kopf.

 

„Das… kann nicht Ihr Ernst sein!“

 

„Ich kann Sie genauso gut hypnotisieren. Wissen Sie, wie viel Zeit ich mir ersparen würde, wenn ich darauf verzichten würde, Sie einzuweisen, Ihnen die Möglichkeiten zu erklären, aber… ich dachte, ich würde dieses Mal…“ Und er ließ das Ende dieses Satzes in der Luft hängen. Aber ihr Verstand schloss die offene Lücke.


„Das ist nicht Ihr erster Vertrag!“, hauchte sie plötzlich. Sein Blick war verschlossen.

 

„Glauben Sie mir einfach, dass ich alle Konsequenzen bedacht habe.“


„Was ist mit den Schmerzen?“, fragte sie plötzlich, obwohl ihr Verstand noch nicht so weit gegangen war, ernst zu nehmen, was in diesem Vertrag geschrieben stand.

 

„Schmerzen?“, fragte er überrascht und sie hob demonstrativ den Arm. „Wenn Sie mich beißen“, fügte sie tonlos hinzu. Sein Blick nahm einen sonderbaren Ausdruck an, während er ihren Unterarm fixierte.

 

„Ich nehme an, es tut weh“, erklärte er lediglich.


„Sie… nehmen es an?“, wiederholte sie tonlos.

 

„Ich muss Ihnen gestehen, ich wurde noch nie gebissen. Ich kann nur annehmen, es ist ähnlich wie bei einer menschlichen Blutabnahme, nur, dass ich… keine Spritze verwenden werde.“ Ihr wurde schlecht. Ihr war schon bei den Blutabnahmen schlecht geworden. Sie musste die Augen schließen. Und sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.

„Sie können kein Blut sehen, Miss Clark?“ Und sie musste ihre Lippen befeuchten, so schnell war alles Blut und alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen.

„Cilian wird das sehr ärgern. Das dürfte seine Pläne direkt zerschlagen.“


„Cilian?“, wiederholte sie zusammenhanglos, denn sie versuchte gerade krampfhaft Bilder von blutigen Spritzen, Arztpraxen und Bändern mit Klettverschlüssen, die einen Blutstau verursachen sollten, aus ihrem Kopf zu kriegen.

 

„Mein Bruder. Oder Greyson, wie Sie ihn wohl nennen.“ Ihre Augen öffneten sich.


„Wie heißt er?“ Das war Ablenkung. Genug Ablenkung, dass ihre Finger nicht mehr kalt und feucht waren. Cunning verzog den Mund.


„Cilian Greyson Cunning“, erklärte er lediglich. Sie versuchte ruhiger zu atmen. Schon alleine wie er den Namen seines Bruders aussprach machte ihr deutlich, wie sehr er ihn verabscheute. „Sie sollten weiterlesen, denn wir haben heute noch genug vor.“ Und es klang wie eine Drohung. Wieder schoss ihr das Bild von Blut in den Kopf, und sie schüttelte sich heftig.

 

„So abstoßend?“, fragte er interessiert, und sie sah ihn angewidert an. „Vielleicht beruhigt es Sie, dass sie keinen Tropfen Blut sehen werden, Miss Clark?“ Und dass er so verdammt amüsiert klang, regte sie noch mehr auf.

 

Sie erhob sich, ohne dass sie es merkte, in wahnsinniger Geschwindigkeit, so dass ihr Kopf Mühe hatte, ihrer Bewegung zu folgen. Ihr war immer noch schwindelig.

 

„Sie sind widerlich!“, spuckte sie ihm entgegen. Und er ließ es ruhig über sich ergehen.

 

„Ich denke, Sie haben begriffen, dass Sie hier nicht rauskommen. Es ist sinnlos, es hinauszuzögern, sich weiter aufzuregen oder mich zu beleidigen.“ Ihr kam ein Gedanke.


„Wenn ich unterschreibe und Sie beleidige, tritt dann mein sofortiger Tod ein?“, wollte sie lauernd wissen. Aber er lächelte immer noch.

 

„Das wäre ein wenig riskant und ziemlich dumm von mir, nicht wahr, Miss Clark?“, erwiderte er, anstelle einer Antwort.

 

„Aber ich soll doch hörig-“

 

„Hörig bedeutet, Sie tun, was ich Ihnen sage. Ob Sie es freiwillig oder unter Beleidigungen tun ist mir herzlich egal, Miss Clark“, unterbrach sie seine eisige Stimme, die wieder Schauer ihre Wirbelsäule hinab laufen ließ. „Sie vergessen die Hypnose. Aber das sei Ihnen gestattet, denn ich habe Sie noch nicht hypnotisiert. Jedenfalls nicht, dass Sie sich erinnern könnten“, fügte er hinzu, und ehe sie widersprechen konnte, unterbrach sie sich selbst. Aber er schüttelte den Kopf. „Das ist lange her. Setzen Sie sich bitte wieder, Miss Clark.“

 

Und Nachdruck lag in seiner Stimme.

 

Widerwillig sank sie zurück auf den Stuhl. „Lesen Sie den Vertrag zu Ende.“ Befehlsgewohnheit lag in seiner Stimme. Gott, er war so arrogant! Gereizt las sie weiter.

 

Anlage 3: Schutz jeglicher Art

Zum Schutz des Herrn gehört es selbstverständlich die Blutsklavin vor jeder anderen Allianz mit Ansprüchen zu schützen. Mit den ersten direkten Blutaufnahmen verwirkt sich der Jägeranspruch, der bestehen könnte. Eine Verwandlung durch eine Hexe wird somit scheitern und zum Tode der Blutsklavin führen.

Der Herr garantiert Schutz vor Wölfen, sowie anderen Gestaltenwandlern, sowie vor weiteren Vampiren.

Mit dem Verlust der Jungfräulichkeit der Blutsklavin endet der Schutz durch den Herrn.

 

Anlage 4: Klauseln

a) Klauseln durch Vertragsbruch durch die Blutsklavin:

Jeder Bruch durch die Blutsklavin im Sinne der Gebundenheits- und Treuepflicht führt zum Tod der Blutsklavin.

Verkehr mit einem anderen Vampir, Jäger oder Gestaltenwandler, Mensch oder Dämon führt also zum Tod.

Verrat an dem Herrn, sowie unerlaubte Entfernung vom Herrn weiter als 50 Meter führt zum Tod der Blutsklavin.

b) Klauseln durch Vertragsbruch durch den Herrn:

Verstößt der Herr gegen seine Pflicht wird die Blutsklavin mit sofortiger Wirkung vom Vertrag entbunden. Lässt er sie hungern, pathologische, gesundheitliche Schäden erleiden, die ihr Körper nicht selber heilen kann, hypnotisiert oder verführt er sie zum sexuellen Akt, so wird sie gleichwohl vom Vertrag entbunden und ist nicht mehr an den Herrn gebunden.

Führt der Biss in die Halsschlagader oberhalb des Herzens oder in Halsbasis aus Gier zum Tod der Blutsklavin oder gipfelt er im sexuellen Akt gilt der Vertrag als nichtig.

Beim Falle des sexuellen Akts steht es dem nicht mehr anspruchsfähigen Herrn oder einem anderen Vampir der hohen Linie frei, die ehemalige Blutsklavin zu verwandeln.

Eine Garantie gibt es nicht.

Bei einer tatsächlichen Verwandlung der ehemaligen Blutsklavin, stimmt sie zu, die Pflichten einer Vampirin zu erfüllen, vier Geburten zu vollziehen, die schließlich im Tod der Vampirin gipfeln.

Wie gewohnt steht der Vampirin der vierte Wunsch durch Verpflichtung zum obersten Rat frei.

Bei Abringen der Blutsklavin durch eine hohe Linie ist der Vertrag ebenfalls nichtig.

 

Und wieder konnte sie nicht anders, als ihn anzustarren. Langsam wirkte er tatsächlich etwas gereizt.

 

„Ja? Irgendwelche weiteren Fragen oder Beleidigungen, Miss Clark?“ Und das unwillige, beleidigte Mädchen in ihre verdrängte für eine kurze Sekunde, die Panik, die sie eigentlich regierte.

 

„Wenn es Ihnen so zuwider ist hier mit mir zu sitzen, wieso wollen Sie dann überhaupt, dass ich einen Vertrag unterschreibe?“ Und tatsächlich ließ er sich auf diese Frage ein, in dem er sich vorlehnte, und all seine Gelassenheit von ihm abgefallen war.

 

„Weil Ihr Blut mächtig ist, und ich alleine es besitzen möchte! Sie glauben nicht, durch was für andere Höllen ich gegangen bin. Hier mit einer unkooperativen Auserwählten zu sitzen ist nichts dagegen, Miss Clark.“ Sie schwieg. Andere Höllen. Sie war nur eine andere Hölle. Er wollte sie zu so etwas zwingen. Schön! Wenn sie keine Wahl hatte, dann würde auch das zu einer Hölle werden! Die Tränen, die sie weinen wollte wurden durch die Wut, die sie tief in sich spürte verdrängt.

 

„Lesen. Sie. Zu. Ende“, befahl er wieder, seine Stimme am Abgrund der Höflichkeit.

 

Ihr Blick senkte sich, nachdem sie ihn mit ihrem Blick erdolcht hatte. Zumindest hoffte sie, dass es so ausgesehen hatte.

 

Anlage 5: Allianzen

Der hohen Linie der Vampire ist das alleinige Recht zum Besitz der Blutsklavin gestattet.

Die hohe Linie, durch die vier Königshäuser bestimmt, wird sich der Macht fügen, die die größte ist.

Es ist selbstverständlich, dass die Macht durch Besitz der Blutsklavin durch jede der vier Linien abgerungen werden darf.

Alle Kompetenzen der hohen Linien fallen unter das Gesetz des obersten Rats.

 

Allianzen der Jäger und Gestaltenwandler sind nicht zu berücksichtigen.

 

Ende der Anlagen

 

Letztendlich sah sie ihn wieder an. Fragen hatten sich in ihrem Kopf gestapelt.

Hunderte bestimmt.

 

„Man kann Vampirin werden?“, fragte sie also sofort, und er machte ein spöttisches Geräusch.

 

„Man kann“, wiederholte er skeptisch. „Aber das ist selten. Eher stirbt das Mädchen bei dem Versuch. Richten Sie Ihr Augenmerk also besser nicht auf diese Perspektive. Vor allem setzt dies voraus, dass jemand dumm genug ist, mit Ihnen zu schlafen, ohne das persönlich zu meinen.“ Und sie verzog den Mund.

 

„Jemand sollte dumm genug sein?“, wiederholte sie giftig. „Es ist ja anscheinend auch ohne-“

 

„Miss Clark, niemand wird sich um die Gelegenheit bringen, Ihr Blut zu trinken. Niemand!“, erklärte er streng. Und wieder überkam sie Wut, aber sie unterdrückte es, so gut es ging.

„Waren das alle Fragen?“, fügte er ruhiger hinzu. Sie antwortete nicht. „Miss Clark?“

 

„Was, Mr Cunning?“, schnappte sie, nur um auch mal seinen Nachnamen zu benutzen, und fast lächelte er wieder. Er war so impertinent! Dachte er, er könnte sich sowas einfach erlauben? Wer sollte überhaupt kontrollieren, ob dieser Vertrag legal war? Das war er nämlich bestimmt nicht!

 

„Liam. Sie sollen mich Liam nennen“, wiederholte er wieder einmal. Sie blies zornig die Luft aus. „Freunden Sie sich also am besten schnell mit der Idee an, Ihre restliche Zeit mit mir zu verbringen“, erklärte jovial, aber sie sah ihn finster an. „Aber… das dürfte nicht zu schlimm sein“, fügte er knapp hinzu.

 

„Ach nein? Sind Sie so arrogant? Wirklich?“, wollte sie leise wissen, und er wurde wieder ernster.

 

„Ich habe unterschrieben. Wenn Sie es nun auch tun würden, Miss Clark?“, ignorierte er anscheinend ihren Seitenhieb, und wieder gingen ihre Gedanken zurück zu dem seltsamen Vertrag. Er meinte das wirklich ernst? Wenn es stimmte…

 

„Dann gebe ich alles auf?“, fragte sie plötzlich. Er runzelte die Stirn. „Meine Freiheit zu entscheiden, ich darf mich nicht entfernen? Ich bin eine Gefangene und ewig Jungfrau?“ So lächerlich es klang, so ernsthaft schien er ihre Worte abzuwägen. „Und alles tausche ich ein, damit ich für immer in Ihrer Nähe bin?“ Und so wie sie es sagte, klang es nicht verlockend. Ihr Herz schlug lauter.

 

„Sie haben Ihren eigenen Bereich im Haus. Sie werden alles bekommen, was Sie wünschen, ich werde Ihnen nichts verweigern“, erklärte er langsam.

 

„Außer meiner Freiheit. Und.. die Kräfte?“

 

„Ihre Kräfte werden nach und nach verschwinden. Aber Sie haben auch bisher nichts davon gemerkt, oder?“, wollte er fast gereizt wissen.


„Aber ich… ich kann kein Jäger werden. Ist das dann nicht die Bestimmung eines Auserwählten?“, übernahm sie die vielen Worte, denen sie vorher keinen Glauben geschenkt hatte. Er sah sie wieder unergründlich aus seinen grauen Augen an. Betörend fast…. Sie senkte den Blick.

 

„Das kann man sehen, wie man möchte. Ich hatte Sie nicht unbedingt der Art zugeordnet. Kämpfen Sie gerne? Töten Sie gerne Wölfe, Vampire?“, fragte er mit übertrieben gehobener Augenbraue, und sie sah ihn wieder finster an.

 

„Sie zwingen mir diese Entscheidung auf.“

 

„Natürlich. Es macht ja auch am meisten Sinn“, gab er fast bockig wie ein Junge zurück.


„Weil Sie die meiste Macht bekommen, Liam?“, verwendete sie widerwillig seinen Namen, und ließ ihn nicht aus den Augen.

 

„Weil Sie ein Mensch bleiben, Miss Clark“, entgegnete er kalt und mit Nachdruck.

 

„Aber unter welchen Voraussetzungen? Für immer an Sie gebunden! Und Sie mit dem Recht wann immer Sie wollen mein Blut zu trinken!“ Ihr wurde wieder schlecht, und er verdrehte die Augen.

 

„Die Hypnose wird es Ihnen leichter machen“, drohte er leise.

 

„Woher weiß ich, dass es stimmt?“, fragte sie sofort, fast panisch. „Ich will nicht gebunden sein!“, flüsterte sie. Er sah sie an, schien abzuwägen und zuckte dann mit den Achseln.

 

„Ich will Sie auch nicht binden, aber es gibt für uns beide keinen anderen Weg. Nun, für Sie gibt es keinen anderen Weg“, korrigierte er sich lächelnd.

 

„Bei einem Bruch bin ich frei?“, vergewisserte sie sich unbehaglich.

 

„Erwarten Sie keinen Bruch. Miss Clark.“

 

„Aber dann bin ich frei?“

 

„Ja“, erwiderte er schließlich. Es schien ihm kein angenehmes Thema zu sein.

 

„Und alles ist wahr?“ Fast war es keine Frage, und sie sah ihn nicht mal mehr an.

 

„Ja, alles ist wahr. Und Sie könnten nirgendwo sicherer aufgehoben sein als bei mir, wenn ich das hinzufügen darf. Niemand wird Sie so unberührt lassen wie ich. Sie werden die Bisse nicht spüren, und meine Macht wird Sie nur noch besser beschützen können. Solange Sie leben.“ Und ihr panischer Verstand wog die Chancen ab. Wenn es alles stimmte, dann war er ohnehin das mächtigste aller Wesen, die sie bis hier her kennen gelernt hatte.

Sie überlegte, während ihr Blick durch das königliche Arbeitszimmer wanderte.

 

„Ich habe Bedingungen“, sagte sie schließlich. Und tatsächlich, mit ehrlicher Überraschung, runzelte sich seine Stirn, und er wirkte zum ersten Mal unvorbereitet.

 

„Bedingungen? Sie sagen mir, dass Sie Bedingungen haben?“, fragte er noch einmal, um sich wohl zu vergewissern.

 

„Ja. Oder wollen Sie mich durch eine Wand werfen?“, entgegnete sie, nicht halb so ängstlich, wie sie sich eigentlich fühlte. Er schwieg daraufhin.


„Der Vertrag ist bedingungsfeindlich“, erklärte er nur.


„Ich bin es nicht. Wenn man bedenkt, zu was Sie mich zwingen wollen, sind Bedingungen meinerseits wohl völlig verständlich.“ Sie sah, wie sich sein Kiefermuskel anspannte. Und sie glaubte, er würde sie hypnotisieren, obwohl sie nicht wusste, wie das von statten ging.

 

„Welche Bedingungen schweben Ihnen vor?“, knurrte er schließlich, ließ seine Fingergelenke knacken, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.


„Ich will meine Freunde sehen können!“, entfuhr es ihr, und der Gedanke an Libby und Lucy und Blake trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Er sah sie an.

 

„Nein.“

 

„Es ist kaum eine Bedingung!“

 

„Es ist nicht möglich. Der Wolf würde sie verwandeln wollen, der Druide auch, die Hexe würde anfangen mit dem Jäger-Ritual-“

 

„Aber ich würde sofort sterben, würde ich Sie verraten. Und ich will nicht sterben. Ich will nur meine Freunde wiedersehen!“, widersprach sie sofort und heftig. „Bitte! Ich werde niemandem gestatten, etwas mit mir zu machen. Bitte, Liam“, wiederholte sie seinen Namen.

Er atmete gereizt aus.

 

„Fein, mal sehen. Vielleicht lässt es sich unter großen Umständen einrichten. Aber nicht ohne meine Anwesenheit, und nicht bevor die Bisse es nicht unmöglich gemacht haben, einen Jäger aus Ihnen zu machen.“ Er schien schnell nachzudenken, fuhr sich durch das dichte dunkelblonde Haar und wirkte nicht wie ein Monster. Er wirkte, wie ein junger Mann. Und sie sah ihn an.

 

„Wie alt sind Sie?“, fragte sie leise. „Als… sie…“ Er hob den Blick.


„Als ich gestorben bin?“, fasste er ihre Worte auf, und atmete aus. „Ich wurde geboren. Vampire werden geboren. Es gibt keine Verwandlungen. Wenn, dann selten. Sehr, sehr selten, deswegen rate ich Ihnen auch, keine Hoffnungen auf eine Verwandlung zu hegen.“ Sie runzelte jetzt die Stirn.

 

„Warum sollte ich so etwas verabscheuungswürdiges wollen?“, fragte sie sofort. Er sah sie überrascht an.

 

„Verabscheuungswürdig?“, wiederholte er ungläubig ihre Worte, und sie nickte schwach.

 

„Dann würde ich unschuldige zu Blutsklaven zwingen, weil ich mehr Macht brauche. Niemals würde ich ein Vampir sein wollen.“ Nicht, dass sie daran glaubte, aber auch allein die Vorstellung widerte sie an.


„Cilian wird sich freuen das zu hören“, murmelte er mit einem freudlosen Lächeln. „Was mein Alter angeht, kann ich Ihnen sagen, mein Körper hat aufgehört, sich zu verändern nach 29 menschlichen Jahre“, fügte er leiser hinzu.

 

„Das heißt, Sie sind 29?“, flüsterte sie, und ja, sein Alter war ihm anzusehen.

 

„Nein. Ich bin eintausend-“

 

„Siebenhundertfünfundfünfzig Jahre alt, ja, ich habe zugehört“, beendete sie den Satz. Und tatsächlich stand Überraschung auf seinen Zügen geschrieben.

 

„Gut. Ich denke, wir sind fertig mit den Floskeln, nicht wahr, Miss Clark?“ Sie schluckte schwer. Sie durfte ihre Freunde sehen. Das war ihre Bedingung, und er hatte zugestimmt.

Und ihre Angst wurde überlagert von einem Hauch Neugierde, den sie nicht abschütteln konnte. Er wollte sie besitzen. Aber nicht mit ihr schlafen.

Sein Blick fesselte sie, als er sie abwartend betrachtete. Hypnotisierte er sie? Sie sah ihn lange an. Und je länger sie in sein schönes Gesicht blickte, umso bekannter kam es ihr vor.

Und die nächste Frage löste sich von ihren Lippen, ehe sie darüber nachgedacht hatte.

 

„Mit wem werden Sie schlafen?“, fragte sie plötzlich, und sofort schoss Röte in ihre Wangen, als seine Augen sich kurz weiteten.

 

„Entschuldigung?“, fragte er mit amüsiertem Ausdruck, und sie senkte hastig den Blick. „Das soll nicht Ihre Sorge sein“, fügte er nur hinzu.

 

„Aber…“ Sie betrachtete noch einmal den Vertrag. „Es ist wie eine Beziehung, oder?“


„Man kann es so sehen“, gab er vage zurück.

 

„Dann…“

 

„Machen Sie sich keine Sorgen über mein Sexualleben“, unterbrach er sie lediglich, seine Stimme auf null Grad abgekühlt. Sofort spürte sie wieder die Röte.

Sie wollte ihre Freunde sehen. Und das so schnell wie möglich. Dann unterschrieb sie auch so schnell wie möglich. Sie würde alles andere ignorieren. Sie ignorierte alle Klauseln des Vertrags.

 

Sie nahm die Feder in die Hand. Sie war schwer und warm.

 

„Und ich darf meine Freunde sehen?“, fragte sie mit einem durchdringenden Blick auf ihn, ehe sie die Feder aufsetzte.

 

„Wenn Sie es wünschen“, rang er sich knurrend ab, und sah sie ungeduldig an.

 

„Was passiert, wenn ich unterschreibe?“, flüsterte sie, während sie die Feder aufsetzte. Sie kratzte rau über das Pergament auf der Linie, wo ihr Name bereits vorgeschrieben war.

 

„Sie werden gezeichnet, Miss Clark“, entgegnete er, kryptisch, wie immer, aber ehe sie fragen konnte, keuchte sie auf vor Schmerz. Die Feder entglitt ihren Fingern, als sie ihren Namen auf das Papier gesetzt hatte, und unter Schmerzen schob sie ihren rechten Ärmel hoch.

 

Wie Schwefel und Feuer stank es und feiner Dampf stieg von ihrem Handgelenk empor, als sich Schnitte in ihre Haut brannten. Sie unterdrückte den Schrei, und die Schmerzen trieben ihr den Schweiß auf die Stirn. Panisch sah sie ihn an, während er sie gespannt betrachtete.

 

„Machen Sie sich keine Sorgen, es ist gleich vorbei“, erklärte er leise, und kaum hatte er zu Ende gesprochen war der Schmerz schon abgeebbt. Im Zimmer stank es nach Schwefel, und ungläubig weiteten sich ihre Augen, als sie ihr Handgelenk betrachtete.

Dort stand sein Name auf der Innenseite ihres Handgelenks.

 

Genauso kalligraphisch kunstvoll wie in seiner Unterschrift.

Sein Nachname zierte in einem schwachen Dunkelrot ihr Handgelenk.

 

Und als sie den Blick hob, lächelte er.

Ihr Atem gefror. Sie spürte seine Macht. Sie spürte genau, welche Gedanken ihr Schmerzen bereiteten. Dachte sie daran, zu fliehen, hielt sie eine Macht in ihrem Innern auf. Sie wollte aufstehen, wollte rennen, vor Panik, aber ihre Beine waren wie gelähmt.

 

Das Gefühl war beängstigend, wie es unglaublich war. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Er sah sie weiterhin an.

 

„Ich möchte, dass Sie sich umziehen. Wir sind heute Abend eingeladen. Duschen Sie, machen Sie sich fertig. Ein Kleid liegt auf Ihrem Bett, und Darcy wird Ihnen helfen. Und tragen Sie die Haare offen“, fügte er glatt hinzu.

 

Nichts passierte. Er zwang sie nicht, sich auszuziehen, damit er in ihren Bauch beißen konnte! Er wollte, dass sie duschte. Gut, das wollte sie auch.

 

„Eingeladen?“, fragte sie also, und immer wieder fiel ihr Blick auf ihr Handgelenk. Es war wie ein Tattoo. Nur filigraner und… schöner.

 

„Die Universität veranstaltet ein Betriebsfest. Für die Lehrenden. Ich bin eingeladen, und Sie sind mein Gast.“ Richtig! Die Universität! Wie sollte sie überhaupt weiter studieren?

„Bereiten Sie sich vor und kommen Sie dann wieder zu mir“, befahl er ruhig, und sie erhob sich fast sofort. Er schien sehr zufrieden zu sein.

 

„Die Leute werden über Sie reden, wenn Sie mit einer Studentin kommen“, sagte sie jetzt, während sie ihn betrachtete. Er war schön. Wirklich schön. Und tatsächlich hoben sich seine Mundwinkel.

 

„Das ist Ihre Sorge?“ Er lachte. Es war ein wunderschönes Geräusch. Sie schüttelte verwirrt den Kopf. „Dass ich ein Vampir bin und Sie meine Blutsklavin, das ist Ihnen egal? Aber dass Dr. Cunning mit einer Studentin auf ein Betriebsfest geht, das stört Sie?“ Er sah sie fasziniert von unten an. „Und… nebenbei, es ist nicht diese Art von Betriebsfest, Miss Clark. Machen Sie sich fertig.“

 

Und mit diesen Worten entließ er sie aus seinem Blick, und sie verließ ein wenig neben sich das Zimmer. Was sollte das jetzt bedeuten? Ihr Blick fiel wieder auf ihr Handgelenk.

 

„Miss?“ Sie erschrak fast. „Mein Name ist Darcy, ich begleite Sie nach oben. Das Kleid ist schwer alleine zu schließen. Ich warte, während Sie sich fertig machen“, erklärte das Mädchen freundlich. Sie wirkte menschlich, man wusste es ja hier nicht so genau, nahm sie an, aber in ihren Augen lag ein goldener Schimmer, der nicht wirklich natürlich schien. Und sie nickte lediglich. Duschen. Erst mal duschen. Eins nach dem anderen….

 

Kapitel 12

~ One Bite ~

 

Sie hatte solange geduscht, dass ihre Finger ganz schrumpelig wurden, und wie sie mit Schrecken feststellte, hatte das Mädchen namens Darcy die ganze Zeit gewartet. Joanna trocknete sich etwas schüchtern die Haare mit dem Handtuch. Sie war es höchstens gewohnt, dass Lucy anwesend war, wenn sie geduscht hatte.

Lucy… sie vermisst sie unheimlich. Aber immerhin fühlte sie sich etwas besser. Sie hatte sich, bevor sie unter die riesige Dusche gestiegen war, eingehend im Spiegel angesehen. Ihre Haare waren zerzaust gewesen, und sie hatte Makeuptechnisch auch schon wesentlich bessere Tage erlebt.

 

„Hey… ähm… wie lange arbeitest du schon für… Liam?“ Und eine seltsame Macht zwang sie tatsächlich seinen Vornamen zu sagen. Ihr Handgelenk juckte etwas, als sie darüber nachdachte, seinen Nachnamen zu verwenden.

 

„Dr. Cunning hat mich vor zwei Jahren eingestellt“, erklärte Darcy höflich, während sie ihr das nasse Handtuch abnahm. Joanna betrachtete das Mädchen eingehend. Sie konnte unmöglich viel älter sein als sie.

 

„Und… wo kommst du her?“, fragte sie nun, da es ihr sowieso schon völlig unangenehm war, dass dieses Mädchen ihr beim Anziehen helfen musste.

 

„Ich? Ich komme aus Vancouver“, erklärte sie lächelnd. Die Augen schimmerten hellgolden im Licht, und ihr Blick wirkte leicht unfixiert.


„Aus Vancouver?“, wiederholte Joanna langsam. „Und was treibt dich hier nach Three Forks?“, fragte sie schließlich, mit einem Lächeln, dass lediglich Interesse vorspielen sollte.

 

„Ich habe an der Universität in Vancouver studiert, und Dr. Cunning hat mich als Assistentin eingestellt, und dann…“ Sie schien kurz zu überlegen. Ihr Blick klärte sich nach kaum einer Sekunde wieder, und sie lächelte strahlend. „Und seitdem arbeite ich für ihn.“ Er hatte sie also entführt. Sie war einer der Studentinnen, die nicht das Glück hatten, auserwählt zu sein, damit er bis zu ihrem Tod von ihr trinken konnte, überlegte sie bitter, und schon stach das Tattoo in ihrem Handgelenk erneut. Sie zuckte kurz zusammen.

 

„Alles in Ordnung, Miss Clark?“, erkundigte sich Darcy sofort, und Joanna nickte stumm. Es war wie eine Konditionierung, mutmaßte sie. Je stärker sie sich gegen weiß Gott was auflehnen würde, umso stärker würden wohl die Schmerzen werden.

Was für ein kranker Vertrag. Und – oh Gott – vielleicht war er nicht verrückt, sondern das alles war die Wahrheit! Sie spürte wieder die unangenehme Übelkeit in sich aufsteigen.

 

„Gut, dann wollen wir Sie mal in das Kleid zwängen!“, fuhr Darcy munter fort, und Joanna hob beide Augenbrauen. Das klang ja nicht besonders freundlich, aber als Darcy das Ungetüm aus dem Kleidersack holte, begann Joanna zu begreifen.

 

„Darcy…“, begann sie vorsichtig, als sie unter die hundert roten Schichten lugte.

 

„Ja, Miss?“

 

„Was genau ist das für ein Betriebsfest…?“

 

~*~

 

Sie spürte ein undeutliches Ziehen im Handgelenk, gerade als Darcy damit fertig war, ihr Haar mit Spray in den Wellen zu fixieren, in denen es gerade jetzt kunstvoll lag. Joanna wusste aber mit Sicherheit, dass sich ihre Haare von Haarspray nicht bändigen lassen würden, würde sie nur erst mal nach draußen treten. Sie besaß den Ansatz von Naturlocken, aber die lagen garantiert nicht so kunstvoll drapiert, auch wenn Darcy eine halbe Dose Spray benutzt hatte. Sie war sogar geschminkt, aber es war nebensächlich, denn sie konnte kaum atmen, in dem Albtraum, den er Kleid nannte!

 

Es war ein Traum in dunkelrot. Es hatte keine Träger, aber das bittere daran war wohl, dass  dafür eine geschnürte Korsage ihren gesamten Rücken hinab reichte, die Darcy bestimmt nicht zu freundlich gebunden hatte. Joanna atmete nicht zu tief, denn dann drückte ihr Busen unangenehm hart gegen den festen Stoff, mit dem ihre Brust umspannt war. Es fiel in bestimmt hundert Schichten ihren Körper hinab. Sie musste es beim Gehen raffen, und selbst die hohen Schuhe ließen das Kleid bis auf den Boden fallen.

 

„Und die Handschuhe“, sagte Darcy schließlich als sie Joanna zufrieden betrachtete.

 

Es klopfte an der Tür. „Dr. Cunning wartet“, informierte sie eine weitere Bedienstete mit glasigem Blick, die ebenfalls kaum älter war als sie. Und Joanna hätte das auch vorhersehen können, ohne die Nachricht des Mädchens, denn ihr Handgelenk schmerzte nun tatsächlich. Er war ungeduldig. Sie spürte es tatsächlich!

 

Mit rasendem Herzen ließ sie sich von Darcy noch eine rote Stola, passend zum Kleid, um die Schultern legen, und sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viel Geld das gekostet haben musste! Aber Geld schien wohl eher weniger eines seiner Probleme zu sein.

Spannender war die Frage, was er tragen würde.

Das, was Darcy ihr erzählt hatte, ließ sie nicht viel mehr wissen, als sie es bis jetzt schon tat. Es war wohl eine Feier, die öfters stattfand, so viel hatte sie erfahren können. Aber Darcy schien selber nicht Informationen zu erhalten, die sie anscheinend nichts angingen.

 

Sie verspürte den Hauch von Panik. Sie zog sich hastig die Handschuhe über, während sie, von Darcy begleitet durch die Flure lief. Es war gut, dass Darcy dabei war, denn sie kannte Abkürzungen und überhaupt sämtliche Wege durch das riesige Anwesen.


„Seit wann wohnt Mr. C- aua!“, rief sie überrascht aus, als sie ihr Handgelenk umklammern musste. „Verflucht!“, fügte sie leise hinzu. Sie verdrehte die Augen. „Wie lange wohnt Liam schon hier“, sprach sie den Namen seiner Wahl, und Darcy ruckte mit dem Kopf.

 

„Ich denke, das Anwesen ist schon länger im Besitz.“

 

Mit schwerem Herzen erreichten sie wieder die doppelte Flügeltür zu seinem Büro, und Joanna war das Herz wieder einmal in den Hals gesprungen.


„Einen schönen Abend, Miss“, wünschte Darcy schließlich und wandte sich ab. Keiner schien sich zu wundern. Keiner schien zu fragen, was sie hier tat.

 

„Kommen Sie rein“, hörte sie seine gleichmütige Stimme vom Innern, und erschrocken, dass er sie bereits bemerkt hatte, legte sie die Hand auf die Klinke.

Sie öffnete die schwere Tür, und er wandte sich um. Er stand vor seinem Schreibtisch, in einem eleganten schwarzen Anzug, der ihm wie auf den Leib geschneidert zu passen schien. Wahrscheinlich war er auch maßgeschneidert, nahm sie an. Seine Krawatte saß akkurat um den steifen Kragen des schneeweißen Hemds. Seine Haare lagen frisiert auf seinem Kopf. Seine grauen Augen fixierten ihre Erscheinung mit Wohlwollen. Er zog das Jackett wieder aus und hängte es legere über eine Stuhllehne.

 

„Das sieht schon um einiges besser aus, Miss Clark“, begrüßte er sie. „Wären Sie so freundlich?“ Er hielt ihr ein winziges schimmerndes Objekt entgegen. Sie kam langsam näher und erkannte, dass er Manschettenknöpfe in der Hand hielt.

 

„Ich… weiß nicht, wie man die festmacht“, gestand sie ihm zögerlich ein.

 

„Sehr einfach, Miss Clark“, erwiderte er sanft, und ihre Finger zitterten unglaublich, als sie die Knöpfe entgegennahm. „Sie öffnen den Verschluss“, erklärte er, als hielte er eine Vorlesung, „fassen das Hemd zwischen die Öffnung – genau so – und dann verschließen sie es“, fuhr er fort, während sie ihm gehorchte. Sie wiederholte den Vorgang auf der anderen Seite, und war froh, keine weiteren Anläufe gebraucht zu haben. „Sie sehen sehr attraktiv aus. Rot steht Ihnen ausgezeichnet.“ Seine höflichen Floskeln machte sie noch nervöser.

 

„Wo gehen wir hin?“, fragte sie also, ohne auf seine Worte einzugehen oder sich zu bedanken. Er zog die Krawatte noch einmal strenger zurecht und senkte dann den Blick auf ihr Gesicht. Sie spürte die Röte, aber das Makeup würde sie hoffentlich erfolgreich verbergen können.

 

„Auf ein Betriebsfest“, wiederholte er.

 

„Auf keinem Betriebsfest der Welt trägt man Ballkleider, Mr. – hmmm!“ Sie hatte die Augen kurz geschlossen, denn kurz hatte wieder der Schmerz ihr Handgelenk durchzuckt. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie sich seinem faszinierten Blick ausgesetzt. Fast hob sich sein Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln, aber er beherrschte sich schließlich.

 

„Nun, es ist nicht unbedingt ein traditionelles Betriebsfest.“

 

„Sagen Sie es mir?“ Sie sah ihn fast gereizt an, denn sie konnte Geheimnisse nicht leiden. Es gab sowieso anscheinend schon zu viele Geheimnisse. „Ich meine, ich bin Ihr Sklave, oder nicht? Es ist ja nicht so, dass ich weglaufen könnte, dass Sie mich loswerden wollen oder, dass es eine andere Möglichkeit gibt, wie ich nicht in Ihrer Nähe sein kann“, fasste sie bitter den Vertrag zusammen und ignorierte das leichte Ziehen in ihrem Handgelenk.

„Also denke ich, können Sie Ihre Geheimnisse ruhig aufgeben und mir wenigstens verraten, wo wir hingehen, wo ich möglicherweise angegriffen werden könnte!“, erklärte sie weniger freundlich, und er hatte die Stirn gerunzelt.

 

„Das Prinzip der Hörigkeit ist gänzlich an Ihnen vorbeigegangen, oder Miss Clark?“, fragte er amüsiert, und sie war erleichtert, dass er nicht wütend wurde. „Und das Wort Sklave ist ein ziemlich hässlicher Begriff, nicht wahr?“, fügte er hinzu, aber sie verschränkte die Arme vor der Brust.


„Ich denke, ich benutze die exakte Fachterminologie, oder nicht?“, gab sie entnervt zurück.

 

„Es ist eine Willkommensfeier“, sagte er knapp. Seine Stimme hatte sich merklich abgekühlt. Mist, jetzt war er sauer. Sie biss sich auf die Unterlippe, um sich abzulenken.


„Für wen?“, wagte sie leiser zu fragen. Er atmete langsam aus.


„Neugierde tötet die Katze, Miss Clark“, erläuterte er lediglich. Dann änderte sich sein Blick schlagartig, und etwas in ihr erwachte zum Leben. Wahrscheinlich war es instinktive Angst, die zum Leben erwachte, nahm sie an. Sein Blick war dunkler geworden, gefährlicher.

„Ich denke, es wird Zeit für einen Test“, erklärte er ruhig. Ihr Mund wurde trocken.


„Test?“, krächzte sie, und versuchte Haltung zu bewahren.

 

„Haben Sie keine Angst. Es wird Ihnen nichts passieren. Allerdings dient es auch Ihrem eigenen Schutz“, fügte er hinzu. „Zwar ist die Macht noch nicht auf dem Höhepunkt, aber es wird völlig dafür ausreichen, dass ich Ihre Sicherheit heute auch unter hundert Wölfen garantieren könnte“, erklärte er wie beiläufig, griff ihren Arm, und seine kühlen Finger schlossen sich um den Saum des linken Handschuhs. Langsam zog er diesen ihren Arm hinab. Sie schluckte schwer. Wollte er das wirklich tun?

 

Noch hatte sie den Gedanken – oder viel mehr Wunsch – von einem seltsamen Fetisch seinerseits nicht abgeschüttelt. Noch glaubte ein Teil in ihr daran, dass er sich vielleicht Plastikzähne aufsetzen würde und einfach gerne Vampir-Rollenspiele spielte. Noch hatte die Realität nicht gesiegt.

 

Noch waren Vampire ein Mythos. Sowie auch Werwölfe oder Hexen oder Jäger.

 

„Wenn es nicht funktioniert?“, flüsterte sie heiser, aber ein amüsiertes Funkeln erschien in seinen Augen, und ließ ihn jünger erscheinen.

 

„Miss Clark, seien Sie sicher, würden Sie riechen können, was ich rieche, dann hätten Sie keinerlei Zweifel.“ Riechen? Was konnte er riechen? Ihr Blut?! Ihr wurde wieder schlecht. Ihre Hand zitterte in seiner. Er fixierte sie näher. „Es ist nicht schlimm. Heute teste ich nur. Nur einen winzigen Schluck“, fuhr er fort.

 

Sie sah ihn nun mit echtem Horror an. Würde er auch zu diesem Wesen werden, was in Blakes Garten gewesen war? Ihr Herzschlag ging an die Grenze des erträglichen. Er hielt inne.


„Miss Clark, ich bringe Sie nicht um. Aber… Ihr Puls macht mich fast nervös“, bemerkte er jetzt mit einem Lächeln. Sie starrte ihn nur weiterhin an. „Ich kann sie hypnotisieren, dann merken sie nichts.“ Sie dachte an Darcy mit ihrem seligtreuen Blick. Nein! Das wollte sie nicht! Sie schüttelte also ungelenk den Kopf. Er nickte dann.

 

„Ich bitte Sie, nicht zu erschrecken.“ Das waren die letzten Worte. Die Stimmung wechselte, und sie spürte, wie ihr Mund sich öffnete. Seine Augen schienen die Farbe zu ändern, schienen rot zu werden. Ein dunkles, blutiges Rot. Seine Haut spannte, wurde fester, dehnte sich, denn er öffnete leicht den Mund, und sie erkannte wie seine Eckzähne spitzer wurden. Sie machte instinktiv einen Schritt zurück.

 

Und er sah sie an. Aus seinen roten Augen. Und dann lächelte er. Sie schlug sich die handschuhlose Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf, denn sein Lächeln entblößte die Fänge in seinem Mund. Sie wich soweit zurück, bis sie die Tür hart im Rücken hatte.

 

„Das ist alles, Miss Clark. Keine Fledermäuse, keine Krallen“, informierte er sie, immer noch mit seiner ruhigen Stimme. Sie spürte Tränen in ihren Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Sein Gesicht konnte sie immer noch ausmachen, auch unter der festeren Haut, den roten Augen und den spitzen Zähnen. Sie erkannte ihn noch, aber die Fratze entstellte seine Schönheit! Sie konnte nicht wegsehen, wagte nicht wegzusehen, denn nachher würde er sich noch auf sie stürzen und umbringen!

 

Wenn es ein Rollenspiel mit Plastikzähnen war, dann ein verdammt gutes, dachte sie dumpf, während er langsam näher kam.

 

„Sie werden Ihr gesamtes Leben mit mir verbringen, und ich möchte, dieses Mal, dass Sie keine Angst vor mir haben. Ich möchte, dass Sie sich vertraut machen. Mit mir“, fügte er hinzu und blieb direkt vor ihr stehen, keinen halben Meter entfernt. Sie sah zu ihm auf, wie versteinert. Das Rot in seinen Augen, war kein starres Rot. Es schien zu pulsieren, mit jedem Wimpernschlag, schien Wellen zu schlagen, als wäre es tatsächlich rotes Blut in seinen Augen. Sein Mund war immer noch schön, und die Zähne waren spitz wie Nadelköpfe. Sie waren groß und wirkten fehl am Platz in seinem Mund.

 

Und bevor sie es unterdrücken konnte, hob sich ihre Hand zu seinem Gesicht. Er blinzelte überrascht, als ihre warmen Finger seine kühle Haut berührten.


„Sie haben keine Angst?“, mutmaßte er mit ruhiger Stimme. Ihr Mund hatte sich geöffnet, als sie die Haut, fest wie Leder unter ihren Fingern spürte.

 

„Ich habe Todesangst“, flüsterte sie zurück, und er schwieg, ließ es über sich ergehen, dass ihre Finger sein Gesicht erkundete, dass sie sich näher vorlehnte, in seine Augen blickte, in denen das Rot zu sprudeln schien, ohne, dass er es kontrollierte. Dann blickte sie hinab auf seine Hände. Auf die goldenen Manschettenknöpfe, und seine Hände sahen unverändert menschlich aus. Sie atmete langsam aus.

 

„Es geht schnell“, sagte er, aber sie konnte etwas in seinem Blick erkennen. War es Sorge? Nein, das glaubte sie nicht.


„Was… passiert jetzt?“, flüsterte sie und spürte, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste und auf ihre Wange fiel. Ihr Makeup war ihr gerade egal. Sein Mund öffnete sich langsam.

 

„Ich werde Sie beißen, Miss Clark“, informierte er sie ruhiger. „Ich denke, das war Ihnen klar“, fügte er hinzu. „Geben Sie mir Ihre Hand“, forderte er sie abwartend auf, während er ihr seine flache Hand entgegenstreckte. Und sie zögerte solange, bis der Schmerz in ihrem Handgelenk fast unerträglich wurde. Und jetzt gerade wünschte sie sich, dass sie sterben würde. Sterben wäre besser, als sich mit dieser wahnsinnigen Welt abzufinden….

 

Vampire… - oh Gott!

 

Er neigte den Kopf hinab zu ihrem Handgelenk. Er hatte ihre Hand gedreht, so dass die Innenseite ihres Handgelenks frei lag. Sie spürte das Tattoo auf ihrem anderen Handgelenk pulsieren. Es war angenehm. Aber sie konnte den Blick nicht abwenden.

Sie musste den Mund öffnen, denn ihr Atem ging abgehackt und lauter. Er hielt inne, hob den roten Blick, und panisch kniff sie die Augen fest zusammen.

 

„Boys are rotten, made out of cotton…”, kamen die konditionierten Worte nahezu stumm über ihre Lippen, die sie seit Ewigkeiten aus ihrem Bewusstsein verdrängt hatte. Bilder schoben sich vor ihr inneres Auge.

Zwei Männer. Sie umarmten Mrs Fabian, und Mrs Fabian schlief ein.

Sonntags im Waisenhaus. Der Sonntag an dem die Frau kam, das Stiefmonster, das sie mitgenommen hatte. Weg aus Chicago, weiter nach Three Forks.

Die Polizei kam in das Kinderzimmer des Waisenhauses, und ein Mann sprang gerade noch aus dem Fenster… -

 

„Das dürfte die 180 überschreiten“, hörte sie seine fast säuerliche Stimme in ihr Bewusstsein dringen. Sie spürte, dass er ihre Hand losgelassen hatte, und sie öffnete die Augen einen Spalt. Es war als tauchte sie aus einem zähen Traum wieder auf. Er war wieder er selbst. Ihre Augen weiteten sich. Seine Augen waren wieder grau, seine Zähne normal groß. Sie starrte ihn schwer atmend an. „Ich denke, ich hypnotisiere Sie jetzt-“


„Nein!“, unterbrach sie ihn hastig. „Nicht… nicht hypnotisieren, Mr. C- aua!“, heulte sie auf, als der Schmerz sie überrascht traf. „Liam“, setzte sie unter Schmerzen hinterher. Er atmete langsam aus.

 

Sorge war in sein Gesicht getreten.

 

„Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen keine Angst vor mir haben, Miss Clark“, fuhr er sie fast zornig an, ehe er die Hand durch die dichten dunkelblonden Strähnen rann.

 

„Vampir“, flüsterte sie kopfschüttelnd. „Oh Gott! Oh Gott, oh Gott!“ Weitere Tränen fielen auf ihre Wange. Er verdrehte die Augen, umfasste grob ihre Schultern, und sie hob den Blick zu seinen Augen, die nun heller wurden.

 

„Ruhig“, befahl er in einem hypnotischen Singsang, der sofort ihre Atmung beruhigte. „Ganz ruhig, Miss Clark“, ergänzte er melodisch und ließ sie schließlich wieder los. Die Panik war abgeebbt. „Wir werden erwartet“, sagte er schließlich, die Augen wieder grau. „Wir verschieben… den Biss“, sagte er lediglich, und sie schüttelte benommen den Kopf, denn die plötzliche Ruhe irritierte sie.

 

„Das war die Hypnose?“, fragte sie leise, und er hatte sich abgewandt, um sein Jackett zu holen. Er zog es über, verschloss die Knöpfe und sah anbetungswürdig aus.

 

„Ja, und ich werde sie nächstes Mal einsetzen, wenn Sie Ihren rasenden Herzschlag nicht unter Kontrolle kriegen“, knurrte er fast, und sie sah zu ihm auf. Und er schien zornig auf sich selbst zu sein. Sie wagte nicht zu widersprechen. Sie war froh, dass ihre Beine funktionierten, als er mit einer herrischen Bewegung in Richtung Tür deutete.

Er war wütend. Der Vampir war wütend. Wahrscheinlich würde sie ohnmächtig werden.

 

~*~

 

Er war stumm gefahren. Er fuhr sehr schnell. Dieses Mal in einem schwarzen Sportwagen mit verspiegelten Scheiben. Er lag tief auf der Straße und schoss durch die kalte Nacht.

Sie zog die Stola enger um ihren Körper. Sein Blick traf sie knapp.


„Kalt?“, fragte seine Stimme abweisend, denn er schien immer noch wütend zu sein. Sie log und schüttelte den Kopf. Er blickte wieder nach vorne, ohne ein Wort zu sagen. Sie blickte aus dem Fenster, hinaus in die Nacht, und wartete praktisch darauf, dass das Auto angegriffen werden würde. Mit jeder Kurve, die vor ihnen lag, mit jeder dunklen Lichtung.

Vielleicht fuhr er deshalb so schnell, weil er es auch vermutete.

 

Ein Schauer erfasste sie, und sie hörte, wie er mit einem gereizten Geräusch die Heizung andrehte.

 

„Lügen Sie mich nicht an“, informierte er sie knapp, und ihr Handgelenk summte vor Schmerz. Sie umfasste es instinktiv und spürte, sie hatte soeben einen Befehl erhalten.

 

Und sie kamen schließlich an, wo auch immer er hinwollte. Es war nicht die Universität, so viel stand fest. Es war ein Haus. Ein großes Haus auf einem Hügel, der ein Dorf überblicken konnte. Und sie stutzte als er ausstieg, um das Auto herum ging und ihre Tür öffnete.

 

Rosemond Parks?“, fragte sie ungläubig und blieb sitzen. „Was tun wir hier?“, verlangte sie zu wissen.

 

„Die Familie trifft sich“, erklärte er schlicht und wartete ungeduldig, dass sie ausstieg. „Sie machen es mir nicht leicht, Miss Clark“, knurrte er, aber sie blieb, wo sie war, den Schmerz in ihrem Handgelenk ignorierend.

 

„Das ist das Haus vom Stiefmonster“, flüsterte sie, und wollte überall hin, aber nicht hier hin! Und ein feines Lächeln kräuselte seine Mundwinkel.

 

„Gabrielle ist meine Schwester, Miss Clark.“ Und Joanna starrte ihn wieder einmal an. „Steigen Sie aus“, sagte er jetzt ernster, und ihre Beine setzten sich unter seinen Worten in Bewegung. Sie hasste dieses Haus. Sie hasste alles hier! Und – was?!

 

Sie konnte unmöglich seine Schwester sein! Sie lief hinter ihm her.

 

„Sie altern nicht! Wie kann diese Frau dann-“ Er wandte sich um.

 

„Es ist anders bei Vampirinnen“, gab er knapp zurück. „Es sind einige Leute hier, Miss Clark, und ich hoffe, es reicht Ihnen aus, dass ich verspreche, Sie zu beschützen.“

 

„Wieso sind wir hier?“, flüsterte sie wieder, und wollte nicht in dieses Haus.

 

„Zur Sicherheit“, erklärte er. „Nachts sind wir sterblich, oder zumindest verwundbar“, erklärte er, aber führte es nicht weiter aus. Sie schritt widerwillig neben ihm.

Das konnte nicht wahr sein! Es war seine Schwester? Ihre Stiefmutter war ein Vampir? Ein Vampir?!

 

Er klingelte, und sofort öffnete sich die Tür. Ein Butler hatte geöffnet. Sie kannte ihn nicht, er musste neu sein. Wenn sie in dem Haus gewesen war, war dort niemand gewesen.

 

„Coleman“, begrüßte er den Mann vor sich nickend und sie traten ein. Der Mann nahm ihm wortlos seinen Mantel und ihr die Stola ab. Es war sogar warm genug im Haus. Sie sah sich unbehaglich um. Ihr Zimmer lag oben, aber sie hatte selten Zeit darin verbracht, war sie doch immer auf Internaten verschifft und versteckt gewesen. Sie gingen direkt auf den Saal zu. Es war alles festlich erleuchtet und Menschengelächter erfüllte die Flure.

Es waren nie Menschen hier gewesen, soweit sie sich erinnern konnte.

 

Als sie den Saal betraten, verstummte die Menge. Sie kannte keinen hier. Alle richteten den Blick auf sie oder auf sie beide. Und fast erschrak sie, als die versammelte Menge in eine tiefe Verbeugung fiel. Und Liam neben ihr nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis und durchschritt den Saal, so dass sie Mühe hatte ihm zu folgen.

 

Die Leute musterten sie unverhohlen. Alle wirkten schön, eingefroren in der Zeit, so schön waren die meisten. Alles Vampire, vermutete sie fast panisch, und wahrscheinlich wussten alle, dass sie eine Blutsklavin war! Oh Gott… wo war die Ohnmacht, wenn sie sie brauchte?!

 

Und jetzt erkannte sie ihre Stiefmutter. Sie wartete mit überlegenem Blick am Ende des Saals. Ihr Alter lag in den Vierzigern, wie Joanna immer geschätzt hatte. Sie erinnerte sich, als diese Frau sie aus dem Waisenhaus geholt hatte, in Begleitung einer Kinderfrau. Sofort hatte die Frau alle Formulare unterschrieben, und ohne Fragen war sie, Joanna, an diese wildfremde Person übergeben worden.

Ihre Stiefmutter war über all die Jahre nicht gealtert, fiel ihr auf. Das hatte sie immer seltsam gefunden, es aber auf das Botox geschoben. Jetzt hatte Wut von ihr Besitz ergriffen, als sie ihr immer näher kamen.

 

Alles Lügen. Alles!

 

„Joanna“, begrüßte diese sie ohne den leisesten Hauch von Freundlichkeit. Sie sah tatsächlich aus wie immer. Joanna schauderte es. Sie sagte gar nichts. „Liam, du kommst zu spät“, mahnte sie. Sie sah ihm nicht ähnlich, stellte sie fest. „Cilian ist bis jetzt auch nicht aufgetaucht.“

 

„Wird er schon noch“, erwiderte Liam knapp. Joanna konnte sich nur umsehen. Alle – ausnahmslos alle – starrten sie an. Dann wandte er sich um, direkt an die Menge.

 

„Guten Abend, Familie. Ich möchte euch Joanna Clark vorstellen.“ Ohnehin alle Blicke waren auf sie gerichtet. Was sollte sie tun, knicksen? Allerdings wandten sich einige der Anwesenden desinteressiert von ihr ab, führten ihre Gespräche weiter, und Liam schien entspannt auszuatmen. Die meisten jedoch hielten den Blick auf sie gerichtet. „Ich hoffe, die Anreise war entspannt“, fuhr er lauter fort, „und wir können den Abend genießen“, endete er, und wieder verneigten sich einige. Sie kam näher zu ihm.

 

„Wieso verneigen sich die Leute?“, flüsterte sie verwirrt und hörte Gabrielle lachen.

 

„Immer noch ungezogen“, sagte sie. „Liam wird dir wohl erzählt haben, dass er der König der Linie ist?“

 

„Er ist der Anführer“, hörte sie eine bekannte Stimme. „Wohl kaum ein König.“ Sie wandte den Blick zum Eingang des Saals zurück und erkannte Greyson im schwarzen Anzug, allerdings mit offener Krawatte. Wieder sanken die Anwesenden in eine Verbeugung, aber er winkte gereizt mit der Hand ab und schloss den Abstand.

 

„Unterschrieben?“, wandte er sich direkt an sie, und sie konnte ihn nur ansehen. Vampire. Alles Vampire! Selbst ihre Stiefmutter, bei der sie mehr oder weniger zehn Jahre gewohnt hatte! Und er hatte es so eingerichtet, nahm sie an! Er hatte ihr ganzes Leben so geplant!

Greysons Augen verengten sich. Sie raffte ihr Kleid und schritt von den Geschwistern fort zum Fenster. Sie spürte, wie Liams Blick ihr folgte. Mit jedem Schritt, den sie sich entfernte, schmerzte das Tattoo etwas mehr. Sie biss die Zähne fest zusammen und durchschritt die Zimmer des Hauses, in denen sie nie Zuhause gewesen war. Immer nur ein unwillkommener Gast!

 

Keine Fotos waren von ihr aufgestellt, und sie nahm an, würde sie nach oben gehen, in ihr altes Zimmer, würde sie feststellen, dass es Gabrielle längst ausgeräumt und in eine Bibliothek verwandelt hatte, oder sonst etwas! Die einzige Person, mit der sie sozialen Kontakt gepflegt hatte, war ihre Kinderfrau gewesen. Sie hatte sie gebadet, angezogen, mit ihr Brettspiele gespielt, und ansonsten konnte sich Joanna nur an unzählige Internate, Privatschulen und flüchtige Bekanntschaften erinnern, weil sie auf keiner Schule länger als ein Semester geblieben war.

 

Es war ihr zu viel. Ihr Weg führte sie in die Küche. Der Rest des Hauses war ihr immer verboten worden. Nur in der Küche durfte sie sein, sich Essen kochen, als sie vierzehn war, denn eine Köchin hatte hier nie gearbeitet. Zumindest nicht, solange sie hier gewesen war!

 

„Joanna“, wurde sie von einer weiteren Person begrüßt. Und sie verharrte in der Bewegung. Richtig. Ihr fiel etwas ein. Wenn Georgiana ihre Stiefcousine war, dann… war sie also auch ein Vampir! Sie spürte die Hysterie in sich aufsteigen.

 

„Bist du auch eine Schwester?“, wollte sie fast aggressiv von ihr wissen, aber Georgiana sah sie wissend an, während sie sich gelangweilt helle Flüssigkeit in ein Kristallglas goss.

 

„Nein“, sagte diese nur. Joanna wollte hier nicht mehr sein. „Ich bin sicher, du hast die Wölfe angelockt. Das wird noch lustig heute Abend“, fügte sie hinzu, während sie einen tiefen Schluck nahm. Plötzlich knisterte der alte Kamin in der Küche bedrohlich. Joanna wich langsam zurück, als ein Stück Glut plötzlich aufglomm. Der Kamin war aus! Zumindest sah es so aus, aber plötzlich leuchtete die gesamte kalte Glut, und schwarze Ruß wirbelte nach oben.

 

Sie wäre fast gestolpert, als eine massige Gestalt vom Rost des Kamins nach vorne schritt und das Husten die Küche erschütterte.

 

Ihr Mund öffnete sich. Das konnte nicht sein!

 

„Ah, da ist sie ja. Vertrag unterschrieben und frisch gekennzeichnet“, rief er erfreut aus, den Blick auf ihren rechten Handschuh geheftet. Er fuhr sich durch die schwarzen Haare, strich sich über den ebenso schwarzen Kinnbart und wandte sich dann an Georgiana. „Guten Abend, meine Liebe“, sagte er, reichte ihr die Hand, und mit einem Knicks küsste sie seinen bernsteinfarbenen Ring.

 

Mr Leman“, murmelte sie abwesend. Das… war der Verwaltungsdirektor. Ihr Direktor!

 

Der Direktor war soeben aus der kalten Glut eines Kamins gestiegen. Sie fasste sich an die Stirn, aber sie war kühl. Sie hatte kein Fieber. Sie musste halluzinieren.

„Habe gehört, ein Rudel Hunde macht uns heute die Aufwartung?“ Er rieb sich vergnügt die Hände. Sein rotes Jackett passte farblich fast zu ihrem Kleid. Die schwarzen Haare lagen glatt an seinem Kopf, und der strich sich auch noch den schmalen Oberlippenbart glatt.

 

„Schrecklich, diese Kaminreisen“, erklärte er, während er sich kalte Glut von seiner dunkelroten Hose klopfte. Sie starrte ihn an. „Wir kennen uns noch nicht offiziell. Lester Leman“, stellte er sich vor, reichte ihr die Hand, und als sie diese perplex schüttelte, zuckte sie zusammen. Sie war glühend heiß. Er lächelte ein weißes Lächeln, und sah aus, wie ihr exzentrischer Verwaltungsdirektor. Aber… seine dunklen Augen… schienen Geschichten von vergangenen Zeiten zu erzählen, so tief waren sie.

 

„Gut, dass Sie auf unserer Seite stehen. Schrecklich, wenn die Wölfe Sie bekommen hätten. Und auch noch eine solche Verschwendung!“, rief er aus. „Cilian, ich muss mich wundern. Ich habe nicht vergessen, dass du einen meiner Späher ausgeliehen und nicht zurückgebracht hast!“, brach er den Blickkontakt zu ihr, und sprach anscheinend zu dem gerade eingetreten Greyson.

 

„Es gab ein Jägerproblem“, erklärte er lediglich, während auch er sich eine helle Flüssigkeit in ein Kristallglas goss.

 

„Das wird auch nicht wieder passieren.“ Liam hatte die Küche ebenfalls betreten und schien den Raum allein mit seiner Präsenz komplett auszufüllen. Seine Stimme legte sich wie ein angenehmer Film auf ihre Haut, und er stellte sich fraglos neben sie.

 

„Hast du schon…?“, erkundigte sich Georgiana mit neugierigem Blick, aber Liam ignorierte sie einfach.

 

„Lester, wie geht es den anderen?“, fragte Liam schließlich, vielleicht einen Hauch von Sorge in der Stimme, und Lester Leman fuhr sich erneut prüfend über seinen Kinnbart.

 

„Noch sind sie friedlich“, gab dieser zurück, und Joanna hatte keine Ahnung, worum es ging. Sie hatte seit einer Weile keine Ahnung, worum es ging.

 

„Wie viele Wölfe erwarten wir?“ schnappte Georgiana wütend, wahrscheinlich, weil sie ignoriert wurde. Dumpf fiel Joanna wieder ein, dass sie Georgiana gesehen hatte, als sie das erste Mal in Liams Büro gegangen war. Und sie hatte Bisswunden gehabt. Sie runzelte verwirrt die Stirn und hob den Blick zu seinem Gesicht. Er erwiderte ihren Blick kurz, um dann aber seine Aufmerksamkeit Greyson zu schenken, der sprach.

 

„Auf meinem Weg habe ich zwölf gezählt.“

 

„Vollmond!“, sagte sie überrascht, weil sie verstanden hatte, weshalb Wölfe draußen waren. „Es ist Vollmond“, wiederholte sie. Und wenn es stimmte, dann wäre Lucy auch dabei. Ganz bestimmt, da war sie sicher!

 

„Ja, Goldstück, das ist richtig“, bestätigte Leman sie nickend. Er hatte eine seltsame Wirkung auf sie. Etwas Böses umgab ihn, aber der Moment, in dem sie das fühlte, war schon wieder abgeklungen. Georgiana sah sie an. Mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte. Aber es lag keine Freundlichkeit darin.

 

„Ihr tut den Wölfen nichts, oder?“, wandte sie sich an Liam und sah ihn auffordernd an. „Lucy könnte dabei sein“, sprach sie ihre Gedanken laut aus, denn ihre Angst um Lucy war größer als ihre Angst vor Vampiren. Liam sah sie mit einem Blick an, den sie nicht zu deuten wusste.

 

„Sie werden versuchen, dich zu holen. Also natürlich werden wir sie töten“, erklärte Greyson mit kalter Selbstverständlichkeit.

 

„Wofür komme ich den weiten Weg?“, beschwerte sich jetzt auch Leman und streckte sich erneut. „Wenn man nicht mal ein paar Wölfe töten kann!“ Joanna starrte ihn schockiert an. Er produzierte einen schwarzen schmalen Gehstock aus dem Innern seines Anzugs, auf dessen Spitze ein goldener Stein funkelte. Ihr Blick verfing sich in diesem Lichtspiel, aber Liam räusperte sich laut, und sie schüttelte benommen den Kopf. Dann sah sie Liam wieder an.

 

„Aber ihr könnt nicht…!“, begann sie, aber er umfing plötzlich ihren Arm, und ihr Handgelenk schmerzte. Sie schwieg abrupt, schoss ihm aber einen zornigen Blick zu.

 

„Wenn sie kommen, werden wir kämpfen“, erklärte er ihr schlicht.

 

„Das könnt ihr nicht!“, flüsterte sie verzweifelt. Sein Blick wurde strenger. Und sie sah, dass er wütend mit ihr wurde. Wahrscheinlich weil sie nicht gehorchte, oder sonst etwas. Sie wurde nervöser. Sie hatte den Jäger gesehen, hatte ein widerliches Wesen gesehen, das ausgesehen hatte wie ein Vampir, aber kein echter war, oder was auch immer. Sie wollte eigentlich nicht auch noch Wölfe sehen! Sie wollte nicht! Tränen stiegen wieder an die Oberfläche.

Das hier sollte also ihr sicherer Weg sein? Der Weg ohne Schaden für sie? Das war es doch, was er ihr vorgelogen hatte!


„Wir gehen ein Stück“, sagte er und äußerte damit in ihre Richtung einen Befehl. Er zog sie mit sich aus der Küche, während Leman Pläne schmiedete die Wölfe in einen Hinterhalt zu locken. Sie traten auf den Flur hinaus, und so absurd es war, dass sie das Haus kannte, so viel absurder war es, dass er es auch tat.

 

„Wie weit hast du das alles zurückgeplant?“, schnappte sie plötzlich und ignorierte den Schmerz in ihrem Handgelenk.

 

„Hörig, Miss Clark“, brachte er gepresst hervor.

 

„Du hast deine Schwester ins Waisenhaus geschickt, damit sie mir die schlimmsten zehn Jahre meines Lebens aufbürgen konnte!“, erwiderte sie, seine Worte ignorierend. Er sah sie mit gerunzelter Stirn an. Sie hatte ihn geduzt, und sie hatte keine übermäßigen Schmerzen dabei empfunden. Lediglich für die Worte, die sie benutzte. Sie war so wütend!

 

„Ich habe meine Schwester geschickt, damit Sie in Sicherheit vor möglichen Angriffen sind!“ Sie sah ihn zornig an.

 

„Und Mr Leman ist hier? Was tut er hier? Sind alle Leute der Universität Vampire?“, wollte sie hysterisch wissen, und er zog sie weiter ins Haus hinein, ins Esszimmer im hinteren Flügel.

 

„Nein, Lester Leman ist kein Vampir“, erklärte er, ohne es auszuführen. „Mäßigen Sie Ihren Ton, Miss Clark“, ergänzte er gefährlich ruhig.


„Am besten hypnotisieren Sie mich doch! Am besten die komplette Zeit über, denn wenn Sie und Ihre Leute heute Lucy umbringen werden, dann werden Sie es wohl als Garantie brauchen, dass ich mich nicht aus dem dritten Stock Ihres Gefängnisses stürzen werde!“, knurrte sie förmlich, und ihr Handgelenk brachte sie um. Sie presste es gegen ihren Bauch.

Sie wandte den Blick von ihm ab, denn wieder standen Tränen in ihren Augen.

 

Sie hörte ihn langsam ausatmen.

 

„Miss Clark…“, begann er ruhiger, jedoch hörte sie die stumme Warnung in seiner Stimme mitschwingen, aber sie sah stur in die Nacht hinaus. Sie konnte keine Wölfe erkennen. Noch nicht zumindest. „Es fällt mir schwer, Sie nicht zu hypnotisieren, denn Sie gehen mir auf die Nerven.“ Sie stieß empört die Luft aus, als sie sich wieder zu ihm umwandte. „Aber…“, fuhr er fort, studierte ihr Gesicht und wirkte nicht mehr allzu wütend, „… ich hatte auch noch keine weibliche Auserwählte an meiner Seite. Das ist ein Problem für mich“, erklärte er offen. „Ich habe bei meinem letzten Blutsklaven Hypnose konsequent angewandt, und es hat mir nichts gebracht. Offen gestanden ist diese Erfahrung eine sehr schlechte gewesen.“ Sie sah ihn an.

 

„Sie hatten jemanden wie mich?“, flüsterte sie. Er sah sie abwartend an.

 

„Ja. Vor etwa siebenhundert Jahren.“ Sie sah ihn weiterhin unverwandt an. „Ich bin bereit, dieses Mal mehr Zeit zu investieren, mich auf den Sklaven einzulassen, und zu versuchen, Sie solange wie möglich am Leben zu halten.“ Jetzt hörte sie seine Ungeduld. „Und wenn Sie wünschen, dass ihrer Wölfin kein Leid wiederfährt, dann werde ich Kraft brauchen, um sie nicht zu töten, sondern lediglich zu vertreiben.“

 

„Können Sie sterben?“, fragte sie offen, und hing an seinen Lippen. Er schien abzuwägen, ob er antworten sollte. „Sie haben mich praktisch zu Ihrem Geheimniswahrer gemacht, Liam“, ergänzte sie leiser. „Mein Handgelenk schmerzt schon, wenn ich nur daran denke, Ihren Nachnamen zu benutzen“, fügte sie hinzu. Und sie glaubte, seine Mundwinkel zucken zu sehen.

 

„Sie denken darüber nach, sich aufzulehnen?“, wollte er wissen und war plötzlich neunzwanzig Jahre alt. Ehe sie über diese Frage nachdenken konnte, war er wieder ernst geworden.

 

„Als König der Linie, nein. Es ist nahezu unmöglich für mich zu sterben. Jedenfalls werden es Wölfe höchstens schaffen, mich zu verwunden.“

 

„Aber ein Jäger kann Sie töten?“ Sein Blick wirkte verschlossen und sehr streng. „Ich meine, dafür sind sie da, richtig?“ Ihr Blick löste sich von seinem Gesicht und wanderte in die Ferne.


„Sie bereuen den Vertrag“, stellte er schließlich fest, die Stimme kalt und scharf wie geschliffenes Eis. Sie hob wieder den Blick.

 

„Ich will nicht, dass meinen Freunden etwas zustößt, Mr. Cu- hmmm….“ Sie schloss die Augen vor Schmerz. „Ich bin den Vertrag eingegangen, damit Sie Blake nicht töten, nur um jetzt zu erfahren, dass Sie Lucy töten wollen.“ Er sah sie an, verdrehte schließlich gereizt die Augen und zog sie mit sich zur Wand.

 

„Ich bin bereit, neue Dinge zu probieren, Miss Clark“, sagte er schließlich. „Wenn ich Sie beiße, wird meine Kraft größer. Dann wird niemand die Wölfe angreifen, und ich werde sie lediglich unverletzt in die Flucht schlagen. Klingt das nach einer Bedingung, die Sie akzeptieren können?“ Sie sah ihn eine Weile an.

 

„Wie wollen Sie die anderen hindern, die Wölfe anzugreifen?“ Und er hob eindeutig eine Augenbraue.

 

„Dass ich Sie nicht zwinge, vor mir auf die Knie zu fallen, bedeutet nicht, dass es alle anderen nicht tun würden, Miss Clark“, informierte er sie glatt, und ihr Mund öffnete sich. Kurz erfasste sie wieder ein Schauer, den sie nicht deuten mochte. Schon allein ein Hauch der tatsächlichen Macht, die er eigentlich hatte, durchflutete ihren Körper auf angenehme Weise. Nein, damit würde sie sich nicht befassen! Sie spürte die Wand hinter sich.

 

Und fast geduldig sah er sie an. Und sie wusste, wahrscheinlich konnte sie ihm wohl vertrauen. Er hatte es versprochen. Ihr Herz schlug wieder schneller.

 

„Ihr Puls, Miss Clark“, sagte er tonlos, während er kurz die Augen schloss. Ihr Herz machte einen Satz.

 

„Verzeihung“, murmelte sie, versuchte, an etwas Unverfängliches zu denken und zog den Handschuh selber ihren linken Arm hinab. Seine Brust hob sich kaum merklich, während er ihr zusah. Sie vermutete jedoch, dass ihr Puls nur schneller wurde.

 

„Könnten Sie… sich beeilen?“, fragte sie fast vorsichtig, und er sah sie noch einmal tiefgründig an, ehe sich seine Augen verfärbten. Und dieses Mal war sie fast darauf vorbereitet. Er griff nach ihrem Handgelenk, ohne sie aus den Augen zu lassen, und öffnete langsam den Mund. Sie sah seine spitzen Eckzähne im Halbdunkeln des Zimmers blitzen.

 

Sie konnte ihr rasendes Herz nicht verhindern. Aber sie sah eilig weg. Doch als sie spürte, wie die Spitze seiner Zähne über ihre Haut kratzte, konnte sie es nicht unterdrücken, ihn anzusehen. Sie sah nur noch das blond seiner Haare vor sich, und dann zuckte sie zusammen, als sie spürte, wie beide Zähne nahezu gleichzeitig in ihre Haut sanken. Mühelos durchstießen sie die Haut ihres Handgelenks, und der Schmerz kam, als er anfing zu saugen.

 

Ein kehliger Laut verließ ihren Mund, und bevor ihr schlecht wurde, lehnte sie sich an die Wand zurück. Sie schloss die Augen, denn der innere Druck, den er in ihr auslöste, als er fast gierig zu saugen begann, war hart an ihrer Grenze. Seine andere Hand umfasste gnadenlos ihren Arm, und sie hörte ihn fast stöhnen, während er härter saugte, bis sie wimmerte.

 

Unter einem anscheinend immensen Kraftaufwand ließ er von ihr ab. Sie konnte noch ein letztes glutrotes Leuchten seiner Augen erkennen, ehe sich sein Gesicht wieder verwandelte, und diesmal war es sein schwerer Atem, der die Stille füllte. Seine Augen waren weit geöffnet, fixierten sie, und er musste sich mit einer Hand neben ihrem Kopf an der Wand abstützen.

 

„Verflucht…“, murmelte er heiser, ohne sie aus dem Blick zu lassen. Wieder raste ihr Herz. Sein Blick war elektrisierend, und seine Wut stand so offen in seinem Gesicht, dass ihr Herz noch einen Satz machte. Er stöhnte unterdrückt. „Puls, Miss Clark“, knurrte er, und ihr Mund öffnete sich, denn sie war beim besten Willen nicht in der Lage, irgendwas zu kontrollieren!

Ihr Busen presste sich eng gegen die Korsage, die sie trug und die ihr die nötige Luft ohnehin abschnürte. Sein Blick verdunkelte sich, als er plötzlich – ohne jede Warnung – den Abstand schloss. Sie roch seinen Duft. Betörend und herb traf er ihre Nase, und seine Hand schlang sich um ihren Nacken, bevor sie sich bewegen konnte.

 

Sein Mund traf ihre Lippen in derselben Sekunde, so dass keine Luft mehr zwischen sie passen konnte. Der Schock nahm sofort von ihr Besitz, und mit unglaublicher Kraft schien er sie noch tiefer in die Wand zu drücken, sich noch enger gegen sie zu pressen, und ihr Puls brach anscheinend gerade den Rekord. Er stöhnte grollend in ihren Mund und mühelos glitt seine Zunge zwischen ihre Lippen. Sie schmeckte den verblassten Geschmack von Metall. Von Blut! Ihrem Blut! Aber es war so irreal, dass es sie nicht mal störte.

 

Es fühlte sich an, als würde sie fliegen, als würde sie ihren Körper verlassen, als wäre sie gefangen in diesem Kuss. Ihr Magen kribbelte, und ihre Hände hoben sich fast automatisch zu seinen Haaren, zogen daran, brachten seinen Kopf näher an sich, und dass er ein Monster war, das sie gerade erst gebissen hatte, rutschte erschreckend weit nach hinten in ihr Bewusstsein.

 

Knurrend löste er den Kopf von ihren Lippen, und ihre Hände fielen bewegungslos auf seine breiten Schultern, spürten den weichen Stoff, während sein Kopf tiefer wanderte.

Seine Zunge leckte verlangend über ihren Hals, und plötzlich spürte sie etwas anderes an ihrem Oberschenkel. Sie nahm an, es war seine Erektion, und noch mehr Hitze stieg in ihre Wangen.

 

„Nein!“, brachte er gepresst hervor, schlug die Faust neben ihrem Kopf gegen die Wand, und plötzlich lehnte seine Stirn an ihrer. Sie sah hinauf in seine grauen Augen, die noch dunkel vor Hunger und Lust ihr Gesicht fixierten. „Puls, Miss Clark!“, knurrte er heiser, und ihr Mund schloss sich sofort. Er war so nahe. So verdammt nahe, dass sie ihn am liebsten erneut berührt hätte.

 

Nach einer endlosen Sekunde stieß er sich mit beiden Händen von der Wand ab und lehnte keinen Moment später am anderen Ende des Raumes an der Wand, den Kopf in den Nacken gelegt, die Hände auf die Augen gepresst, und sie zog sich hastig den Handschuh über ihren bloßen Arm. Sie ignorierte das wenige getrocknete Blut auf den zwei Einstichwunden.

 

Oh Gott… oh Gott, oh Gott! Er hatte sie geküsst!

 

Er hatte Glück, dass das in den Klauseln vorgesehen war, nahm sie dumpf an.

Von wegen, er wollte nicht mit ihr schlafen! So unpassend es war, aber Triumpf erfasste sie.

 

„Liam? Die Wölfe kommen.“ Greyson kam zur Tür hinein, und Liam nahm die Hände von seinen Augen. Der Ausdruck auf Greysons Gesicht wurde finster. Sie konnte nicht sagen, was er dachte. Sie konnte nicht sagen, ob er die Situation begriff, oder ob er einfach generell immer sauer auf seinen Bruder war, aber jedenfalls wirkte er nicht freundlich.

Aber freundlich war hier sowieso niemand.

 

Sie spürte Liams Blick auf sich.

 

„Ich gehe alleine. Sie bleibt im Haus“, befahl er rau und ließ sie und Greyson zurück.

 

Kapitel 13

~ The Flaw ~

 

Unwillkürlich wurde ihr kälter. Sie rieb sich ihre Oberarme, um irgendwas zu tun, während Greyson sie musterte.

 

„Er hat dich gebissen?“ Es war kaum wirklich eine Frage, und die Antwort ging ihn wohl ebenso wenig etwas an. Er sah sie an wie einen Verräter.

 

„Was genau willst du von mir?“ Und es war schwer, ebenso ein Wesen in ihm zu sehen, wie in Liam. Und es war außerdem völlig anders. Jetzt gerade stand Greyson Adler, der Quarterback, vor ihr. Nicht Cilian Cunning. Sie musste den Blick abwenden. Sie würde wohl verrückt werden, würde sie an alten Erinnerungen festhalten.

 

„Gar nichts, Joanna“, sagte er nur. Richtig, sie hatte einen Vornamen. Ihr ging erst jetzt auf, dass er die letzten Tage selten verwendet worden war. Müdigkeit schlich sich in ihre Glieder. Sie kam schleichend. „Die Schwäche, die du fühlst ist normal“, fügte er eine Spur verächtlich hinzu.


„Danke“, gab sie bitter zurück, und wollte nicht zurück in den Teil des Hauses, wo die anderen waren. Es waren nicht mal Menschen. Ihr fiel wieder etwas ein.

 

„Wer ist Lester Leman?“, fragte sie sofort. Greysons Blick war für sie so undeutbar wie der seines Bruders. Zuerst dachte sie, er würde nicht antworten. Dann wurde sein Blick finster.

 

„Er ist Mitglied im obersten Rat. Ich bin sicher, du hast in dem Vertrag über ihn gelesen“, schloss er, und sie erinnerte sich dunkel an eine Bezeichnung im… Vertrag. Sie hatte einen Vertrag unterschrieben. Gott!!! Er hatte sie geküsst! Es kam ihr schon fast ewig lange her vor, dabei war es keine zwei Minuten her!

Ihr Herz beschleunigte sich. Greyson sah sie spöttisch an.

 

„Was?“, wollte sie sofort wissen, und herausfordernd reckte sie ihm ihr Kinn entgegen.

 

„Nichts“, entgegnete er wissend, mit nicht minder viel Arroganz wie sein Bruder sie an den Tag legte.

 

„Mein Puls?“, schnappte sie zornig und spürte, wie ihre Wut ihn noch etwas höher trieb. Greyson atmete langsam aus. „Wieso bist du wütend auf mich?“, entfuhr es ihr plötzlich. „Du hast nichts unternommen, mich zu retten!“ Eigentlich hatte sie ihm keine Vorwürfe machen wollen. Sein Ausdruck wirkte nun überrascht betroffen.

 

„Darum geht es nicht“, erwiderte er unwirsch, und sie atmete gereizt aus.


„Nein, natürlich, gerettet werden soll ich nicht. Und was soll das heißen, eine Vampirin stirbt nach der vierten Geburt? Was für ein perverser Scheiß soll das sein? Frauen zählen in euren Kreisen wohl einen Scheißdreck, nehme ich an?“, rief sie wieder, und bei ihm hatte sie nicht einmal Angst zornig zu werden.

 

„Du kannst es nicht vergleichen“, erklärte er abweisend.

 

„Das ist alles, was du dazu sagst?“ Jetzt wurde er wütend.


„Du wirst den Vertrag gelesen haben. Du wirst alle deine Chancen abgewogen haben, Joanna. Wieso fragst du mich?“

 

„Was?“, knurrte sie zornig, und ihr wurde wieder wärmer. „Chancen? Meine Chancen wären in etwa was gewesen? Zu fliehen und wieder eingefangen zu werden? Zu fliehen und ein Jäger zu sein, ein Vampir oder ein Wolf oder weiß Gott, was es noch für perverse Absonderheiten hier gibt!“, schnappte sie. „Wo siehst du hier meine Chancen, Cilian?“, benutzte sie zum ersten Mal seinen Namen, und seine Züge schienen weicher zu werden.

 

„Es ist nicht mehr wichtig“, erklärte er und wandte den Blick von ihr ab. „Aber, dass er dich küsst, ist ein günstiger Faktor“, erklärte er schließlich, während freudlose Bitterkeit um seine Mundwinkel spielte. Ihr Mund klappte auf, als er sie wieder direkt ansah. Und sie konnte nicht mal leugnen, was er sagte, denn ihr rasendes Herz verriet sie schamlos. Er nickte bestätigend, während Hitze in ihre Wangen stieg.


„Ich…“, begann sie, ohne zu wissen, was sie sagen wollte. „Was soll das heißen?“, änderte sie die Richtung des Themas, und der breitschultrige Greyson zuckte gelassen die Achseln.

 

„Er wird mit dir schlafen. Deine Macht wird schwinden, und der Vertrag ist nichtig. Oder du verliebst dich. Dann ist der Vertrag ebenfalls nichtig“, erklärte er gleichmütig.

 

„Verlieben?“, entfuhr es ihr, ehe sie über die Sex-Komponente nachdenken konnte. „Das bricht den Vertrag nicht. Keine Klausel erwähnt-“

 

„Sicher. Jede Allianz kann dich abringen.“

 

„Durch Verliebt-sein?“, wiederholte sie skeptisch. „Und in wen sollte ich mich verlieben?“, ergänzte sie spöttisch. Er sah sie jetzt offen an.

 

„In jeden, der das Recht hat, Anführer zu sein. Jede Linie hat vier Erben, davon die meisten Männer. Es gibt genügend zur Auswahl.“ Ihr wurde klar, was er sagte.

 

„Du sagst, wenn ich mich in dich verliebe ist der Vertrag gebrochen?“ Sie sah ihn abwartend an.

 

„Beispielsweise“, wich er ihr lächelnd aus. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Als wäre sie ein Stück Vieh, das sich alle eventuell teilen dürften! Sie konnte es nicht fassen. Und sie konnte nicht glauben, dass ein simples Stück Pergament so viel bestimmen konnte!

 

„Woher soll der Vertrag so etwas wissen?“, wollte sie entnervt wissen, aber er lächelte breiter.

 

„Der Vertrag des Teufels macht keine Ausnahmen“, sagte er nur. Und sie sah ihn an.

 

„Was?“, sagte sie nur, denn sie glaubte, sich verhört zu haben.

 

„Der oberste Rat?“, erwiderte er mit erhobener Braue, aber sie begriff nicht. Er verdrehte die Augen. „Er erzählt dir überhaupt nichts, habe ich Recht?“ Ihr Mund öffnete sich stumm. „Der oberste Rat besteht aus den Teufeln, Joanna. Die Teufel, die überhaupt Vampire erschaffen haben?“ Dann klappte ihr Mund zu.

 

„Lester Leman ist der Teufel?“, entfuhr es ihr heiser, und ungläubig schüttelte sie den Kopf, wie um eine Albernheit abzutun. Greyson jedoch zuckte nur mit den Schultern.

 

„Einer der Teufel, ja. Ich würde sagen, der umgänglichste“, fügte er bedächtig hinzu.

Das konnte nicht wahr sein! Es gab keinen Teufel. Oh Gott… sie wusste schon nicht mehr, was Mythos und was Wirklichkeit war.

„Ich werde gehen“, fügte er plötzlich hinzu. Ihr Blick hob sich wieder. Der Quarterback wollte gehen. Er sah aus wie immer. „Wollte nur sehen, ob du in Ordnung bist. Das scheint der Fall zu sein.“ Sie sah ihn immer noch an.

 

Sie wusste nicht, was er tat, was er wollte – er war ihr ein Rätsel.

 

„Hat er dir erzählt, dass er einen Blutsklaven hatte?“, erkundigte er sich plötzlich, als er sich schon abgewandt hatte. Und sie nickte langsam.

 

„Hat er dir erzählt, weshalb es nicht funktioniert hat?“ Sie überlegte, aber… nein, das hatte er nicht. Begierig sah sie Greyson jetzt an. Er hatte Informationen. Wahrscheinlich wusste er mehr über Liam als jeder andere sonst. Sie schüttelte langsam den Kopf.

„Sein Sklave wurde ihm eine Last, eine Qual. Jemanden für immer an sich zu binden ist vielleicht nichts für chronische Alleingänger“, mutmaßte er lächelnd. „Und nach nur zu kurzer Zeit hat er ihn hypnotisiert, wegzulaufen“, endete er ruhig. „Soweit, bis der Vertrag den Bruch erfasste, bis der Sklave die zulässige Entfernung überschritten hatte und im selben Augenblick starb.“ Sie spürte, wie die Kälte zurück in ihren Körper kam. „Er hatte damals noch keine so ausgeprägte Machtbesessenheit. Er hat den Vertrag verbessert. Und es hat ihn viel Zeit gekostet.“ Wieder lächelte Greyson. Sehr traurig, und er sah sie an.

 

„Und noch etwas…. Mein Bruder ist kein freundliches Wesen, Joanna“, sagte er leise. „Versprechen sind ihm fremd. Alles, was es dir verspricht, ist im Vertrag festgehalten. Und nicht, dass du es ändern kannst, aber… er wird die Wölfe töten. Sollte er dir irgendetwas anderes versprochen haben, sage ich dir, du solltest dich an Enttäuschungen gewöhnen.“ Ihre Augen weiteten sich.

 

„Nein! Er hat es mir versprochen. Es ist eine Bedingung. Er bringt die Wölfe nicht um!“, widersprach sie fast zu heftig. Und Greysons Blick sagte ihr genau das Gegenteil. Und Angst erfasste sie sofort. Das konnte nicht stimmen! Er log! Er musste lügen! Ihre Beine bewegten sich sofort.

 

„Joanna, du darfst das Haus nicht verlassen!“, erklärte er warnend, aber sie hörte ihm nicht zu, während sie zurück in die beleuchteten Räume eilte, während sie Mengen an staunenden, schönen, zeitlosen Wesen hinter sich ließ und ohne Umstände zur Verandatür geschritten war. Die Menschen standen am Fenster. Einige belustigt, einige interessiert, aber ihr war klar, dass sich dort etwas zutragen musste, was ihr Interesse erweckte.

 

„Joanna!“, wiederholte Greyson lauter, aber sie öffnete die hintere Tür.

 

Und sie sah noch gerade eben, wie er – verwandelt und grollend – einem riesigen grauen Hund den Kopf abriss. Ihr Atem stockte als sie die restlichen Überbleibsel eines Rudels im Garten ausmachen konnte.

 

„Nein!“, entfuhr es ihr panisch. Blut spritze quer über den Rasen und Ekel erfasste sie, ehe sie irgendetwas anderes spüren konnte. Sie drehte sich nach hinten, warf sich praktisch in Greysons Arme, und Tränen strömten aus ihren Augen. Sie hörte die Vampire neben sich verhalten lachen, und Greysons Arme schlossen sich fest um ihren Körper.

 

„Schon gut“, murmelte er leise. „Ist schon gut. Sieh nicht hin“, fügte er noch ruhiger hinzu. Das konnte nicht sein! Er hatte es versprochen! Versprochen! Noch gerade eben! Ehe er sie gezwungen hatte, dass er sie beißen durfte, ehe er sie geküsst hatte, als hätte er irgendwelche Gefühle! Als wäre da irgendwas anderes als das Monster, dass sie gesehen hatte!

 

Wut erfasste sie und löste die Tränen so schnell ab, dass sie es kaum fassen konnte.

Es war als ginge die Zeit langsamer, als hörte sie ihren Puls deutlicher in ihren Ohren. Sie spürte ihre Macht wieder. Sie spürte, wie das, was vom Vertrag bisher unterdrückt worden war, an die Oberfläche zurückkam. Ohne, dass sie es kontrollieren konnte, stieß sie Greyson mit voller Kraft von sich, so dass er einige Meter nach hinten flog. Ein kompletter Energieschub ging von ihr aus, erschütterte das gesamte Haus im Boden, und sie sah aus den Augenwinkeln, wie die Vampire ängstlich vor ihr zurückwichen.

Sie drehte sich um und trat zur Tür.

 

Und jemand schrie. Jemand schrie und es war unerträglich laut in ihren Ohren.

 

Und es war sie selbst.

 

Sie schrie.

 

Neben der Macht, die durch ihren Körper strömte, spürte sie den unendlichen Schmerz, als sie den Fuß in blinder Wut nach draußen gesetzt hatte. Sie spürte eine eisige Kälte, die ihr Herz ergriff, es verlangsamte. Ihr Arm war taub vor Schmerz, aber die Macht in ihr ließ es zu, dass sie kämpfte. Weiter nach vorne, raus in die Nacht, zu den felligen Kreaturen, die regungslos am Boden lagen. Lucy…. Tränen verschleierten ihre Sicht, und mit einem Schrei hob sie den zweiten Fuß über die Schwelle der Veranda, und in derselben Sekunde, als der Schmerz im Begriff war zu siegen, wie ihre Lunge einen letzten quälend langsamen Atemzug tun wollte, ehe ihre Luftröhre zugeschnürt war, spürte sie, wie sie mit vollem Gewicht nach hinten geworfen wurde, wie sie auf den Boden schlug, und etwas sie nach unten drückte.

 

„Was… zur Hölle tust du?“, drang seine zornige, abgehackte Stimme an ihre Ohren. Langsam pumpte ihr Herz wieder Blut durch ihren Körper. Die Schläge wurden kräftiger, schneller, und sie konnte die Augen mit Mühe offen halten.

Er hatte sie geduzt….

 

Sie blinzelte träge, während sie wieder zu Luft kam.

„Leman, was zum Teufel geht hier vor?“, löste er plötzlich den Blick von ihrem Gesicht und sah nach oben.

 

„Keine Beleidigungen!“, befahl der Teufel streng, und sie nahm alles nur verschwommen war, während sich hier Herz beruhigte und ihre Kraft versuchte, unter ihm freizukommen. Doch seine Hände hatten ihre Handgelenke umfasst, und sein Gewicht nagelte sie am Boden fest. Er war schwer, aber nicht unerträglich. Er war wieder verwandelt, war wieder er selbst, jedoch stieg ihr der beißende Geruch des Blutes in die Nase, das seinen Anzug getränkt hatte.

 

„Lucy!“, brachte sie heiser hervor und bäumte sich auf. Ihr Handgelenk schoss zuckende Schmerze durch ihren Körper.

 

„Leman!“, schrie er außer sich, und schließlich kam der Teufel in ihr Blickfeld, die Stirn in tiefen Falten und den Ausdruck in seinen dunklen Augen wagte sie als interessiert zu deuten. Er legte plötzlich seine heiße Hand auf ihre Stirn, und sie spürte, wie er fest mit ihr verbunden war. Die Schranken zu ihrem Geist schienen sich zu öffnen. Brennendes Feuer ließ sie keuchend nach Luft schnappen. Seine Berührung verbrannte sie, wärmte sie komplett von innen auf, so dass es fast unangenehm war. Feuer vermischte sich mit anderen Bildern, die sie von ihm empfing, aber nicht deuten konnte.

 

Ein Mann hatte den Blick gehoben. Alles ging zu schnell. Es war ein schöner Mann. Er sah sie direkt an. Seine grünen Augen leuchteten gefährlich und verengten sich als er sie näher fixierte. Er war umgeben von einem Hitzeflimmern, so dass sie neben seinen dunklen, welligen Haaren sein weiteres Gesicht nicht ausmachen konnte.

 

Dann war es vorbei. Leman hatte die Hand zurückgezogen.

 

„Bemerkenswert“, hörte sie ihn sagen.

 

„Was ist bemerkenswert?“, schnappte Liam zornig, und sie musste husten, denn sie hatte immer noch das Gefühl in Flammen zu stehen, in rußigem Feuer.

 

„Du kannst sie loslassen“, entgegnete der Teufel sanft. Widerwillig ließ Liam ihre Handgelenke los und trat von ihr zurück. Sie setzte sich schließlich auf, rieb sich die Stirn, und spürte den bekannten Muskelkater durch die immense Anstrengung, aber… es war besser geworden, stellte sie fest. Ihre Muskeln gaben nicht sofort unter ihrem Gewicht nach!

 

„Da war nichts! Keine Kraft, keine Macht. Da draußen. Ich konnte sie nicht in die Flucht schlagen.“ Er wandte sich direkt an sie. „Ich konnte es nicht! Sie hätten mich gerissen, und das wäre schlecht gewesen, ich musste sie töten.“

 

„Lucy!“, keuchte sie zusammenhanglos, war von Boden aus auf beide Füße gesprungen, denn wieder spürte sie Kraft durch ihren Körper pulsieren, zornige Kraft. Liam sah sie an, als wäre sie giftig, gefährlich – als wäre sie ein Feind.

 

„Da waren keine Frauen. Nur männliche Wölfe“, gab er zornig zurück. Sie begriff nicht.

Dann klärte sich ihr Bick.

 

„Keine Frau?“, vergewisserte sie sich jetzt, aber er antwortete nicht und wandte sich wieder an den Teufel, der sie fast entschuldigend betrachtete.

 

„Der Vertrag-“, begann Liam, aber der Teufel schüttelte den Kopf.

 

„Ich habe dir gesagt, es ist nicht sicher. Lucius wird sie sehen wollen“, fügte er leiser hinzu, aber sie verstand ihn dennoch. „Ihre Kraft ist immer noch die ihre. Komplett. Dein Biss kann sie ihr nicht nehmen.“

 

„Aber sie ist gebunden“, gab er gepresst zurück, während er sie wütend anstarrte.


„Ja, sie ist an dich gebunden, so wie es jede sterbliche auch wäre“, erklärte der Teufel nachdenklich, während er näher kam. „Sehr bemerkenswert, Miss Clark“, gab er zu bedenken.

 

„Was heißt das?“, unterbrach ihn Greyson ungeduldig.

 

„Das bedeutet, dass Liam ihr ihre Kraft nicht mit einem Blutvertrag nehmen kann“, erklärte der Teufel schlicht in seine Richtung.

 

„Das heißt, sie… durch einen Biss verliert sie nichts? Es hat keine Auswirkungen? Das heißt, der Jäger könnte sie auch nach hundert Bissen noch verwandeln?“, erwiderte Greyson gereizt, und die gesamte Menge an Vampiren wich eine Schritt nach hinten zurück. Sie betrachtete Liam, der sich abwesend durch die blutverschmierten Haare fuhr, während der Teufel den Blick nicht von ihr nahm.

 

„Theoretisch“, gab er bedenklich zurück.

 

„Theoretisch?“, wiederholte Liam aggressiv, und sie schluckte schwer. Das Kleid war so unbequem, wie es unpraktisch war, und sie würde gerne die Korsage lockern, um zu atmen. Aber stattdessen stand sie einfach nur zwischen einem Haufen Vampire und einem Teufel und ließ sich anstarren. Es war kein gutes Gefühl.

 

„Lucius hatte eine Theorie“, begann der Teufel nachdenklich. Liam stieß verärgert die Luft aus.

 

„Ich will es nicht hören“, gab er knurrend zurück. „Und am besten findet das dieser kleine Widerling von Jäger auch nicht heraus. Ich werde sie mitnehmen.“

 

„Sie kann dich bekämpfen“, bemerkte Greyson lächelnd, aber Liam fixierte ihn voller Wut.

 

„Nein. Sie ist gebunden. Sie kann absolut gar nichts!“, knurrte er zornig. „Miss Clark?“, wandte er sich an sie, und sie spürte den Befehl in ihrem Körper lodern.

 

Er konnte ihre Macht nicht nehmen…. Diese Worte wiederholten sich in ihrem Kopf. Durch einen Biss konnte er sie nicht bekommen! Was bedeutete das? Dass sie gehen durfte? Dass sie jetzt erst recht umgebracht wurde? War er sich sicher?

 

„Kein Wort dringt an irgendeine Öffentlichkeit, habt ihr mich verstanden? Kein Wort an den obersten Rat!“, schnappte er, während er ihr Handgelenk umfing und sie mit sich zog.

„Sonst bekommt ihr es mit mir zu tun!“ Hastig fielen die Vampire in eine Verbeugung, alle außer Greyson, welcher einen relativ zufrieden Blick in ihre Richtung warf.

Sie ließ sich von ihm mitziehen, denn mit dem ganzen Kraftaufwand kehrte Schwäche in ihren Körper zurück. Schlafen, Essen… sie wusste gar nicht, was sie dringender wollte.

 

Die Nacht war still, und die Kälte schlug ihr angenehm ins Gesicht. Er bugsierte sie zum Wagen, öffnete ihre Tür und wartete, bis sie eingestiegen war. In unmöglicher Schnelligkeit umrundete er den Wagen, stieg selber ein und startete den Motor unter lautem Geheul.

 

„Überall Blut“, murmelte sie angewidert. Er sah nach vorne, als er den Wagen aus der Auffahrt fuhr. Er atmete zornig aus, sah sie dann an, und sein Blick wurde eine Spur weicher.

 

„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte er sich ungehalten, und sie sah ihn mit trüben Augen an.

„Nein, natürlich nicht. Sie müssen halb verhungert sein“, entfuhr es ihm verärgert. „Wieso sagen Sie es nicht?“, schnappte er, wenn möglich noch wütender. Ihr Mund öffnete sich perplex, aber er sah wieder stur nach vorne.

 

„Lucy war nicht dabei?“, wiederholte sie müde, und er stöhnte auf.

 

„Nein, Lucy war nicht dabei. Hören Sie jetzt auf damit? Fast wären Sie gestorben, weil sie unglaublich stur und uneinsichtig sind!“, schnappte er, und dass dieser Mann sie vorhin noch geküsst haben sollte, kam ihr unwirklich vor.

 

„Sie hatten versprochen-“, begann sie, aber sein wütender Blick ließ sie schweigen.

 

„Es ging nicht anders“, knurrte er jetzt. „Zwölf mörderischen Wölfen lediglich das Fell zu streicheln, ist im Alleingang nicht möglich, Miss Clark“, entfuhr es ihm gepresst. Sie schwieg. Die Wölfe waren wegen ihr gekommen. Und nicht nur, dass er fast gestorben war, weil ihre Macht doch nicht in seinem Körper war, nein, sie hätte sich auch noch fast selber umgebracht, weil sie einen Wolf hatte retten wollen. Sie schloss die Augen.

Es war alles verrückt.

 

„Es tut mir leid“, murmelte sie schließlich, und sein Blick traf sie überrascht.

 

„Was?“, fragte er, als hätte er sich verhört.

 

„Es… tut mir leid, dass es nicht funktioniert hat. Mit dem Biss“, fügte sie unwillig hinzu, während sie ihn nicht ansah.


„Das… tut Ihnen leid?“, vergewisserte er sich erneut, und sie sah, wie sich sein Körper entspannte. „Miss Clark, Sie sind anders, als ich es gedacht habe.“ Sie wusste nicht, was er damit sagen wollte, aber anscheinend war er nicht mehr zornig mit ihr. „Sie sollten eigentlich froh sein, dass es anscheinend nicht funktioniert.“

 

„Wieso?“, entgegnete sie müde genug, dass sie ein Gähnen hinter ihrer Hand verbergen musste.

 

„Wieso? Weil ich somit nicht der mächtigste Vampir werden kann“, gab er bitter zurück. „Und ich weiß nicht, warum es nicht funktioniert. Anscheinend sind Sie noch besonderer als ich angenommen hatte“, fügte er leise hinzu, während er sie betrachtete.

Sie dämmerte langsam in dem beheizten Sitz ein.

Sie sah aus den Augenwinkeln, wie er schließlich den Blick wieder nach vorne wandte.

 

Hatte sie ihm noch geantwortet? Sie wusste es nicht mehr. Ihre Augenlider wurden so schwer. Selbst mit aller Macht der Welt, würde sie diese nicht aufhalten können….

 

 

Kapitel 14

~ A little less Conversation ~

 

Als sie aufwachte, sah sie den Diener bereits in neben dem Bett stehen. Mit ausdruckslosem Gesicht stellte er das hochgestellte Tablett  über ihren Körper, und sie rieb sich die Augen.

 

„Guten Morgen, Miss. Sie müssen essen“, erklärte er schlicht. Sandford? War sein Name so? Sie glaubte es zumindest.

 

„Welcher Tag ist heute?“, fragte sie sofort. Sie fühlte sich zumindest wieder ausgeschlafen, aber beim Anblick des Kaffees, der Croissants und der Rühreier knurrte ihr Magen nur zu laut.

 

„Es ist Freitag. Essen Sie jetzt“, wiederholte er freundlich, aber streng. Sie nickte abwesend, und klärte ihn nicht darüber auf, dass Sie am liebsten erst Zähneputzen wollte. Er sah sie abwartend an. „Mr Cunning hat befohlen, dass das erste, was Sie heute tun werden, essen ist“, fügte er schließlich entschuldigend hinzu, als hätte er ihre Gedanken erraten. Sie zuckte die Achseln.

 

„Gut, dann wollen wir ihn nicht enttäuschen.“ Etwas Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. Wie sie ins Bett gekommen war, wusste sie nicht, aber sie trank gierig den Kaffee und verschlang in fünf Minuten das erste Croissant.

 

Der Diener stand schweigsam in einer Ecke des Zimmers. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, ob sie etwas sagen sollte, und was er ihr antworten würde.

Aber keine zehn Minuten später in grübelnder Stille öffnete sich ihre Tür sowieso.


„Guten Morgen, Miss Clark. Wenn Sie jetzt aufstehen und sich fertig machen würden? Frische Handtücher befinden sich in Ihrem Badezimmer. Dr. Cunning erwartet Sie dann unten“, erklärte Darcy freundlich und war schon verschwunden. Sie schien einen strengen Zeitplan befolgen zu haben, kaute zu Ende und erhob sich schließlich. Ein Blick auf die Standuhr im Zimmer verriet ihr, dass es schon nach elf war! Himmel, wie lange hatte sie denn geschlafen?!

 

Hastig lief sie durch das Zimmer. In ihrem neuen Pyjama. Es war ihr peinlich, dass sein Diener sie so sehen konnte, aber er hatte bereits höflich den Blick abgewandt.

 

„Sie essen um ein Uhr zu Mittag, Miss“, klärte er sie, fast wieder entschuldigend, auf. Sie sah ihn kurz an, überlegte, dass sie unmöglich in zwei Stunden wieder hungrig sein konnte, nickte aber, da sie annahm, er handelte auf einen strengen Befehl hin.

 

Sie duschte rasend schnell, rasierte sich halbherzig die Beine und sparte sich das Haare waschen, denn sie lagen immer noch gut von gestern – obwohl das nach all den Erlebnissen schwer vorstellbar war. Für sie und ihre Haare zumindest. Darcy hatte gute Arbeit geleistet.

 

Sie wählte ihre Kleidung, ohne groß darauf zu achten, dass es ein Outfit war, was sie noch nie gesehen hatte. Er musste es ihr besorgt haben. Eine schwarze Stoffhose, ein blauer, dünner Pullover und wie es schien – zur Abwechslung – bequeme Schuhe. Der Unterwäsche schenkte sie noch weniger Beachtung, denn sie spürte die Hitze in ihren Wangen. Sie war schwarz, und mehr beachtete sie nicht daran.

 

Ihr Leben als Sklave.

 

Sie hatte viele Fragen. Das war einer der Gründe, weshalb sie sich beeilte. Und sie wusste nicht, ob er noch wütend war oder nicht. Sie trat zurück in ihr Schlafzimmer, aber der Diener war bereits verschwunden. Sie musste selber den Weg in sein Büro finden, ging ihr dumpf durch den Kopf.

Na, vielleicht konnte sie unterwegs fragen, sollte sie sich verlaufen, überlegte sie verzweifelt.

 

Aber sie hielt sich an die geraden Gänge, bis sie ein Treppenhaus erreichte und einen Gang fand, der ihr ansatzweise bekannt vorkam. Es vergingen ganze fünf Minuten, ehe sie schließlich vor den bekannten Flügeltüren angekommen war. Sie registrierte, dass sich die Dekoration geändert hatte, die Tischdecken, die Vorhänge, das Bouquet an Sträußen in der Halle.

 

Während sie geschlafen hatte, hatte hier wohl reges Treiben geherrscht. Sie klopfte, doch noch vor dem ersten Klopfen hörte sie seine Stimme.

 

„Kommen Sie rein, Miss Clark.“ Sie erinnerte sich, dass er sie gestern geduzt hatte. Er klang neutral, aber als sie eintrat hob er nicht den Blick. Er war allein. Die große Standuhr tickte leise, und ein kleines Feuer knisterte im Kamin. „Setzen Sie sich, bitte.“ Er war über ein Dokument gebeugt. Sie konnte nicht ausmachen, was es war. Sie kam näher und tat, wie ihr befohlen. Schließlich hob er den Blick. De grauen Augen musterten sie kurz.

 

„Ich nehme an, wir haben einiges zu besprechen“, begann er ernsthaft, legte den Füller beiseite und faltete die Finger ineinander.

 

Hatten sie? Sie sah ihn weiterhin an. Er hatte sie geküsst. Hatte er doch? Oder hatte sie das nur geträumt? Konnte sie ihn fragen? Wahrscheinlich nicht. Sollte sie ihn fragen, was das alles jetzt zu bedeuten hatte? Warum der Teufel in ihre Gedanken blicken konnte oder sie in seine, oder was auch immer? Was es jetzt hieß, dass der Biss nicht wirkte? Ob sie morgen an ihrem Geburtstag dann implodieren würde? Sie schwieg, weil sie nicht wusste, ob er weiter sprechen würde.

 

„Ich möchte mich entschuldigen für gestern“, erklärte er nun ein wenig unangenehm berührt. Er konnte sich also tatsächlich unwohl fühlen. Interessant. Er trug einen dunklen Pullover und sah nicht so förmlich aus, wie sonst, stellte sie fest. Seine Haare lagen locker, nicht streng frisiert, und der Ansatz eines Dreitagebarts erschien auf der unteren Partie seiner Wangen. Er sah großartig aus. Ihre Finger kribbelten. Die grauen Augen hielten den Blickkontakt aufrecht.

„Ich hätte Sie nicht küssen dürfen“, fügte er schlicht hinzu, und sie spürte einen Stich in der Magengrube. Oh. Ach nein? Sie senkte sofort den Blick. „Das war dumm von mir gewesen.“

 

„Es ist nichts passiert“, gab sie hastig zurück, ohne ihn anzusehen.


„Es hätte vieles passieren können.“

 

„Das macht doch ohnehin nichts mehr, oder?“ Sie hob den Blick ein winziges Stück, um zu sehen, wie er reagierte, aber seine Mundwinkel zuckten nicht. Sein Ausdruck war nicht freundlich.


„Es macht nichts mehr?“, wiederholte er langsam ihre Worte, als müsste er überlegen, was sie damit meinte.


„Na ja, ich…“

 

„Sie denken, weil der Biss wirkungslos geblieben ist, könnte ich Sie einfach über meinen Schreibtisch werfen, und mit Ihnen machen, was mir beliebt, wann immer mich ihr Puls dazu reizt?“, warf er kritisch ein, und ihr Herz machte einen heftigen Satz bei seinen Worten. Seinen ehrlichen Worten, die er, ohne rot zu werden, und ohne Scheu zu ihr sagen konnte. Ihr Blick senkte sich wieder.

„Wie dem auch sei“, wechselte er gereizt das Thema. „Ich bin mir nicht sicher, was jetzt passiert. Allerdings…“ Er schwieg unwillig.

 

„Was?“, fragte sie. Gott, sie hatte die schlimmsten Befürchtungen! Kam sie jetzt zu seinem Bruder? Wurde sie jetzt verwandelt? Hatte jetzt jeder ein Anrecht auf sie? Wurde sie umgebracht? „Allerdings was?“ Sie sah ihn ängstlich an. Er fuhr sich schließlich durch die Haare.

 

„Keine Angst, Miss Clark. Sie haben einen Vertrag unterschrieben und gehören noch immer rechtmäßig mir“, erklärte er so simpel, als wäre es überhaupt nicht verwerflich, und als hätte er ihre Gedanken erraten.

 

Mr Cunn-… au!“ Sie erschrak so heftig über den plötzlichen Schmerz, den sie den Morgen über völlig vergessen hatte. Wieder wurde sie wütend. „Wieso funktioniert Ihre Folter, wenn Ihr Biss nichts bewirken kann?“, fuhr sie ihn plötzlich an, sich dem Schmerz jetzt vollkommen bewusst. Er hob eine Augenbraue.

 

„Folter? Es ist keine Folter. Wenn Sie hörig sind, haben Sie keine Schmerzen“, erklärte er gleichmütig.

 

„Das ist Gehirnwäsche“, unterstellte sie und war froh, jetzt gerade keine Angst mehr zu haben.

 

„Miss Clark“, begann er gedehnt, aber sie war wütend.


„Was?“, schnappte sie beleidigt. Jetzt hoben sich seine Mundwinkel, und er stand auf. Sofort setzte sie sich aufrechter hin, abwartend, bereit. War sie zu weit gegangen? Er trug Jeans, registrierte sie am Rande ihres Bewusstseins. Das war neu. Und es sah verdammt sexy aus. Sie schüttelte den Gedanken ab. Er hatte sich ja schon entschuldigt, ihr zu nahe gekommen zu sein. Passierte das also jedes Mal, wenn ihr Puls sich erhöhte? Schon allein durch seinen Anblick spürte sie, wie ihr Atem sich beschleunigte.

 

„Heute wird… Besuch eintreffen.“ Er betonte das Wort allerdings, als wäre es das komplette Gegenteil.

 

„Besuch?“, wiederholte sie, mit der Vorahnung, dass dies etwas Schlechtes bedeuten musste. Er ruckte unwirsch mit dem Kopf. Er war soweit über ihr, dass sie sich automatisch erhob. Er betrachtete jetzt ihre Erscheinung.

 

„Blau steht Ihnen auch hervorragend.“ Fast klang er überrascht.

 

„Danke… für die Kleidung, Mr. – hmmmLiam“, sagte sie heftig, ehe der Schmerz sie wieder überrollte.

 

„Gewöhnen Sie sich einfach an meinen Vornamen“, schlug er sanfter vor als er plötzlich vor ihr stand. Seine Augen waren unglaublich eindrucksvoll, stellte sie am Rande ihres flatternden Bewusstseins fest.


„Sie… sagen meinen Vornamen auch nicht.“

 

„Ich bin auch Ihr Herr“, erklärte er lediglich, schob die Hände in die Taschen seiner Hose, und sah sie wieder direkt an. „Puls, Miss Clark“, mahnte er still, und sie schluckte schwer, als sie den Blick abwandte. „Ich frage mich, ob es Furcht ist, die Ihren Puls in die Höhe schnellen lässt, wenn ich mich Ihnen näher“, fügte er bedächtig hinzu und ließ sie nicht aus den Augen. Die Röte musste ihr Gesicht mittlerweile sprengen, und sie sah überall hin, nur nicht in seine Richtung.

 

„Sie irritieren mich. Das ist alles“, gab sie gepresst zurück. „Was für Besuch?“, ergänzte sie heiser, um das Thema zu wechseln. Er lehnte sich an die Schreibtischkante, was nicht viel besser war, denn er war immer noch keinen Meter von ihr entfernt. Sie stand wie versteinert vor ihm.

 

„Er ist… Lesters Bruder“, erklärte er bitter. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn doch wieder ansehen musste.


„Ein Teufel?“, fragte sie sofort. Er hob den Blick. Dann trat Erkenntnis in seine Augen.


„Richtig. Sie hatten Gelegenheit mit Cilian zu sprechen“, fiel ihm konsterniert wieder ein, und sie fühlte sich ertappt, so dass ihre Wangen erneut aufflammten.

 

„Also stimmt es?“, flüsterte sie.

 

„Ich glaube nicht, dass er sich selbst so nennt“, erwiderte er schließlich. „Lucius ist…“ Und sein Ausdruck wurde, wenn möglich, noch grimmiger. „Sie werden ihn kennen lernen, Miss Clark. Sie dürfen sich ein eigenes Bild machen, aber vergessen Sie nicht, dass Sie mir zugeschrieben sind.“

 

„Wieso sagen Sie das?“, fragte sie sofort.

 

„Lucius hat die Fähigkeit… Frauen vergessen zu lassen, was sie wissen sollten“, erwiderte er, wie immer kryptisch, und sie sah ihn mit großen Augen an.

 

„Ehe er kommt…“ Jetzt wurde er wieder sehr ernst. „Ich werde es noch einmal ausprobieren“, erklärte er, und ihr Atem gefror.

 

„Jetzt?“, flüsterte sie, und er nickte offen.

 

„Oder haben Sie etwas anderes vor?“ Und sie wusste nicht, ob er einen schlechten Scherz machte. Wahrscheinlich schon. Sie sah ihn also nachdenklich an.


„Sie denken… es könnte funktionieren?“

 

„Ich denke, ich muss ohnehin etwas zu mir nehmen, und wieso nicht noch einmal testen, ob es funktioniert“, gab er schlicht zurück. Etwas zu sich nehmen, dachte sie ängstlich. Richtig. Er ernährte sich wohl von Blut…. „Sie haben gegessen, geschlafen, Sie sind geduscht. Ich denke, einem Biss steht nichts im Wege.“ Und wie selbstverständlich er so etwas sagte!

 

Ergeben schob sie ihren Ärmel hoch, aber er griff sofort nach ihrem Handgelenk.

 

„Ich denke, ich werde eine andere Stelle wählen.“

 

Sie würde ohnmächtig werden! Dieses Mal definitiv! Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie konnte den Blick nicht von seinem schönen Gesicht abwenden.


„Es sei denn natürlich, Sie und Ihr Puls machen es mir unmöglich“, bemerkte er säuerlich, und sie sah, wie seine Augen dunkler wurden. Sie schloss verzweifelt die Augen.

Vielleicht sollte er sie hypnotisieren. Vielleicht wäre es besser. Vielleicht!

 

„Hypnose?“, schlug sie also heiser vor, und seine Mundwinkel hoben sich.

 

„Nein. Ich glaube, ich mag es, wenn Sie merken, was Ihnen passiert“, erwiderte er rau, und sie war sich nicht sicher, was er damit meinte, aber es erregte sie ungemein.

 

„Puls, Miss Clark“, ergänzte er mit einem amüsierten Zucken seiner Mundwinkel, und sie atmete tief ein und wieder aus.

 

„Wo?“, fragte sie also mit geschlossenen Augen. Und sie erinnerte sich an die erlaubten Stellen, und keine davon  kam ihr geeignet dafür vor, ihren Puls zur Ruhe zu bringen.

Als er nichts sagte, öffnete sie die Augen einen Spalt. Er betrachtete ihren Körper mit der Neugierde eines Jungen.

 

„Ziehen Sie Ihre Hose aus, Miss Clark“, sagte er schließlich, und ihr Mund öffnete sich.

 

Oh Gott! Nein!

 

„Miss Clark?“ Sie musste ihn angestarrt haben, als wäre sie verrückt geworden.

 

„M…meine Hose? Sind Sie sicher? Wäre es nicht vielleicht…“ Doch sein eisiger Blick ließ sie verstummen. Er näherte sich ihr, hob den Saum ihres Pullovers an, und seine Finger öffneten bereits kundig ihren Reißverschluss. Sie hörte ein Knurren seinem Mund entweichen.

„Puls, Miss Clark, oder ich vergesse mich“, presste er hervor, und sie schloss erneut die Augen. Er ließ von ihr ab.

„Ziehen Sie Ihre Hose aus, und kommen Sie her“, befahl er schließlich, sie öffnete die Augen, und sah ihn relativ ungeduldig hinter seinem Schreibtisch Platz nehmen. „Ich denke mir, wenn Sie sitzen, ist der Schwindel erträglicher.“

 

Und zitternd, fahrig und völlig überfordert zog sie die Schuhe aus, stolperte aus den Hosenbeinen und machte, nur noch mit ihrem Pullover, Slip und Socken bekleidet, den Weg zu seinem Schreibtisch.

 

„Wenn Sie die Socken auch noch ausziehen würden?“ Und wieder blitzten seine Augen amüsiert.

 

„J…ja, sicher“, murmelte sie, die Wangen so heiß, dass man bestimmt ohne Probleme Spiegeleier darauf braten konnte. Nun schlich sie, unten herum nur noch mit ihrem Slip bekleidet zu seinem Schreibtisch. Gott, es war ihr so unglaublich peinlich, und sie fühlte sich neben ihm unglaublich unscheinbar und hässlich. Das waren blöde Gedanken ihres Unterbewusstseins, aber… sie konnte es nicht verhindern. Schließlich blieb sie neben ihm stehen. Er ergriff ihre Hand, zog sie weiter nach vorne, dass sie zwischen ihm und dem Schreibtisch gefangen war.


„Setzen Sie sich, Miss Clark“, befahl er ruhig, und seine Augen funkelten ungeduldig. Sie roch jetzt sein Parfum. Das machte es nicht besser, sich zu konzentrieren.

Sie setzte sich auf die kühle Schreibtischkante, und ließ zu, dass seine schönen Hände sie weiter nach hinten schoben. Er rückte näher an den Schreibtisch, und wenn sie nicht sprechen würde, dann wusste sie, dass sie wahrscheinlich explodieren würde.


„Haben… haben Sie mich gestern ins Bett gebracht?“, piepste sie mit einer Stimme, die unmöglich ihre sein konnte.

 

„Ja, ich habe Sie nach oben getragen“, antwortete er, ohne sie anzusehen, während er ihren Fuß auf seinen Oberschenkel stellte. Oh Gott, oh Gott! Nein, nein! Das passierte nicht! Gut, dass sie geduscht war! Gut, dass sie die Einsicht hatte, ihre Beine zu rasieren! Gut, dass sie keine hässlichen, blauen Flecken hatte oder Sommerknie! Oh Gott, oh Gott!!!!

 

„Miss Clark?“ Er hatte den Blick gehoben. Von unten sah er sie an, die Augen dunkel und tief. Sie schluckte schwer.

 

„J…ja?“, flüsterte sie, unfähig, sich zu bewegen.

 

„Puls“, bemerkte er leise. Sie schluckte erneut. Was erwartete er denn bitte? Dass es sie unbeeindruckt ließ, dass ein göttlicher schöner Mann, vor ihr saß, ihren Oberschenkel in der Hand, nur Zentimeter mit seinen Lippen davon entfernt?!

 

„Ok…“, erwiderte sie lediglich und schloss die Augen. Das konnte doch nicht passieren! Wieso ließ sie es zu? Sie presste ihre Lippen zusammen, hielt die Luft an, solange sie konnte, und nichts passierte.

 

„So schlimm?“, hörte sie schließlich seine gereizte Stimme. Sie öffnete die Augen und entließ die Luft in einem lauten Atemzug.

 

„Was denken Sie?“, schnappte sie aufgeregt. „Ich soll nicht atmen? Ich soll keinen Puls haben? Es soll mir einfach nichts ausmachen, dass sie vor mir sitzen, wo ich halbnackt bin, und Sie gleich Ihre Zähne in meinen Oberschenkel schlagen?“, krächzte sie, und wusste, ihr Puls schnellte geradezu nach oben.

 

Schlagen?“, wiederholte er fast amüsiert, und senkte plötzlich seine Lippen auf ihre Haut. Es war wie ein elektrischer Schlag. Er küsste die Innenseite ihres Oberschenkels mit geschlossenen Augen.


„Was… was tun Sie?“, fragte sie, unfähig sich zu bewegen, oder wegzusehen. Sie konnte nur auf den perfekten Mann zwischen ihren Schenkeln hinab starren, und seine Augen öffneten sich, sein Mund immer noch auf ihrer Haut.

 

„Ich möchte, dass sie sich entspannen, Miss Clark“, murmelte er weich gegen die Haut ihres inneren Oberschenkels. Entspannen? Machte er Witze? Wieder küsste er ihre Haut mit seinen unglaublichen Lippen. Oh Gott! Oh Gott!

 

Mr Cun..- hmm-au!“ entfuhr es ihr, und sein Blick hob sich zu ihrem Gesicht. Und das unfaire war, es schien ihm überhaupt nichts auszumachen! Sie starb tausend Tode, und für ihn war es wahrscheinlich ohne eine Bedeutung. Sie spürte Tränen der Verzweiflung in sich aufkommen. Er sah sie weiterhin an.

 

„Wollen Sie wirklich von mir hypnotisiert werden?“, fragte er schließlich, und sie schnappte nach Luft.

 

„Nein“, entfuhr es ihr leise. „Aber ich kann nicht… mein Puls…“


„Vergessen Sie Ihren Puls“, unterbrach er sie streng.

 

„Aber ich…“

 

„Sie vergessen die Klauseln. Ich darf Sie küssen. Ich darf Sie auch oral befriedigen, wenn ich es will. Natürlich würde ich es lieber nicht tun müssen, aber…“

 

Oh Gott! Er fand es abstoßend. Er fand sie abstoßend! Ihre Beine schlossen sich automatisch, und sie ignorierte den plötzlichen Schmerz des Ungehorsams. Ihre Augen hatten sich wieder geschlossen, damit sie nicht weinen würde! Dachte er, ihr machte es Spaß ein Sklave zu sein? Das konnte er nicht wirklich denken!


„Wie wäre es, wenn Sie dann einfach nicht meinen Puls zum Kochen bringen, und sich auf mein Handgelenk beschränken? Dann ersparen Sie sich das große Bedauern, mich… zu… küssen, oder sonst etwas zu tun!“, brachte sie hastig hervor, rutschte von der Kante, stellte sich vor ihm und reichte ihm ihr linkes Handgelenk. Er sah sie überrascht an. Überraschung stand ihm genauso gut wie jeder andere Ausdruck.

 

„Miss Clark, was tun Sie da?“, fragte er also. „Ich scheine mich nicht richtig auszudrücken, denn Sie missachten alle meine Befehle.“ Er war wütend. Er schob sie mit herrischer Bewegung zurück auf die Tischplatte. Er spreizte ihre Beine ohne sie aus dem Blick zu lassen. Ihr Herz raste wieder.

Und er sagte nichts weiter, stellte ihren Fuß zurück auf seinen Oberschenkel, und dieses Mal leckte seine Zunge über ihre Haut. Sie hörte wie er hart die Luft einatmete. Ihre Finger krallten sich panisch um die Tischkante. Puls hin oder her… sie konnte einfach nicht mehr!

 

Sein Gesicht verwandelte sich. Sie erkannte das helle Rot seiner Augen im Tageslicht.

Es würde weh tun! Sie wusste es. Seine Atmung änderte sich. Sie wurde flacher, gepresster, als müsse er sich beherrschen. Ihr Körper kribbelte, ihr Handgelenk mit seinem Namen summte angenehm, und seine Augen hatten sich geschlossen.

 

„Es ist schwer“, flüsterte er gegen ihre Haut. „Ihr Duft ist… kaum zu ertragen“, fügte er gepresst hinzu. War das gut? War das schlecht? Stank sie? Oder meinte er… sie roch gut?

Sie war verwirrt, und sie wusste, ihr Puls musste ihn irritieren. Zumindest ihr Puls.

Sie spürte seinen Atem an der Innenseite ihres Oberschenkels. Er hatte seinen Mund geschlossen, noch schien er sie nicht beißen zu wollen.

Oder… nicht zu können. Er schüttelte sanft den Kopf, und die dämonischen Züge schmolzen zurück und zeigten wieder sein wunderschönes Gesicht.

Übergangslos presste er seinen Lippen gegen ihre Haut, schien den Duft einzuatmen, und seine Hand strich langsam über ihren Schenkel nach oben.

 

Er wirkte komplett überfordert und unbeherrscht, als sich sein dunkler Blick zu ihrem Gesicht hob. Sie spürte, wie es in ihrer Bauchmitte angenehm zog, wie sich ihre Brust schneller hob und senkte.


„Miss Clark, was machen Sie mit mir?“, fragte seine raue Stimme tatsächlich, ohne seine Aufgewühltheit zu verbergen, und mit der Neugierde eines Jungen wanderte seine Hand, mit schönen langen Fingern und akribisch gepflegten Nägeln, höher. Er schob den Saum ihres Pullovers achtlos nach oben, und der breite silberne Ring auf seinem Zeigefinger lag kühl auf ihrer warmen Haut. Sie hielt die Luft an, als seine Fingerspitzen über ihren flachen Bauch strichen.

 

Sie konnte nicht mehr! Zumindest ihr Unterbewusstsein fiel soeben in Ohnmacht! Alles in ihrem Körper kribbelte! Absolut alles! Sogar ihre Zehen!

Und er erhob sich fast ungeduldig, schob den Pullover noch höher über den schwarzen BH, der auch von ihm geschenkt war, und er sog ihren Anblick in sich auf.

Sie fragte sich, ob er überhaupt atmen musste, aber seine Brust senkte sich genauso schnell wie ihre.

 

Er stand zwischen ihren Beinen, und mit einer schnellen, harten Bewegung, hatte er beide Hände unter ihre Schenkel gelegt und zog sie näher zu sich.

Sein Blick war so anders, jagte ihr Millionen Schauer den Rücken hinab, und er wirkte unbeherrscht, unkontrolliert und sah vor allem nicht so aus, als bedaure er nur eine Sekunde von dem, was er tat! Wie konnte er es dann später so gut? Wie konnte er all das bereuen, wo sie jetzt nicht mal die Kraft hatte, ihn aufzuhalten, fragte sie sich verzweifelt, während sie nichts weiter tun konnte, als ihn mit klopfendem Herzen anzusehen, ihm zuzusehen, wie er sie komplett verzauberte.

 

Beide Hände legten sich verlangend um ihre Taille, während er sie langsam mit seinem Gewicht auf den Schreibtisch drückte. Ihr Rücken lag nun auf Papier, Stiften und sonstigen Büroartikeln, und es könnte ihr kaum egaler sein. Sein Kopf war über ihrem, seine Hände lagen um ihre Taille, und sie glaubte, es wieder zu spüren. Seine harte Erektion an ihrer Mitte. Sie schluckte schwer, denn ihr Mund war komplett trocken geworden, während nur das Geräusch seines unregelmäßigen Atems im Zimmer hing.

 

Er senkte schließlich den Kopf. Oh Gott! Seine Lippen fuhren verlangend über ihren Hals, während seine Finger von ihrer Taille aus höher wanderten, über ihre Bauchdecke, ihren Brustkorb, und unter dem BH Halt machten. Seine Zunge fuhr zwischen ihre beiden Schlüsselbeine, und sie spürte erneute Schauer. Seine Lippen sanken tiefer, über den hochgeschobenen Pullover und hinab zu ihren Brüsten. Er küsste sie auf den Punkt zwischen ihren Brüsten, und sie glaubte, zu sterben. Seine kühlen Berührungen verbannten sie völlig! Ihre Hände lagen angespannt neben ihren Seiten auf dem Schreibtisch, denn sie wagte nicht, sich zu bewegen.

 

„Verdammt“, murmelte er rau, und sie hörte seinen Akzent das erste Mal wieder so stark, wie bei den ersten Malen als sie ihn hatte sprechen hören. Es war unglaublich erregend.

 

Mr… Cunning“, sagte sie fest, während der süße Schmerz ihren Körper erfasste. Sie hatte es sagen müssen! Sie hatte sich auflehnen müssen! Sie wollte den Namen sagen, den ihr Handgelenk trug. Ihr Herz raste schneller, während es die Schmerzen kompensierte, die von ihrem Handgelenk ausgingen.

Schon hob sich sein Kopf, bis er über ihrem Gesicht verharrte.

 

„Joanna, Sie sollen mir gehorchen“, entfuhr es ihm ungehalten, und dass er das sagte, wo er zwischen ihr lag, sie nur mit ihrem Slip bekleidet und dem schwarzen BH, erregte sie nur noch mehr. „Zur Strafe sollte ich jeden Tropfen Blut aus Ihrem Körper saugen!“, fuhr er bedrohlich fort, aber seine Augen sagten ihr, dass er das wohl nicht vorhatte. Sie verfingen sich an ihren Lippen, ehe sie tiefer wanderten. Er presste sich gegen sie als er erneut ihren Hals küsste. Er küsste die Stelle, wo ihr Puls hämmerte. Sie hörte ihn unterdrückt stöhnen, spürte sogar wie er härter wurde, und als sie spürte, wie ihr Slip tatsächlich feucht wurde, verwandelte er sich. Im Bruchteil einer Sekunde.

 

Seine Zähne sanken mühelos in ihren Hals, während sie erschrocken aufkeuchte.

 

Es war unglaublich! Sie spürte, wie ihr Blut ihren Körper verließ, wie er es aus ihrem Körper saugte, mit großem Verlangen, anscheinend ohne aufhören zu können. Wie sich eine Hand um ihren Hals schlang, ihn fixierte, und wie die andere sehr plötzlich tiefer wanderte, wie seine Finger mühelos in ihren Slip rutschten und auf die verräterische Nässe trafen. Ein Grollen verließ seinen Mund, so tief, dass ihr Körper vibrierte, und sie konnte gar nichts mehr.

 

Sie lag unter ihm, ließ ihn gewähren, während Sensationen ihren Geist befielen. Sie presste sich gegen seine Hand, gab sich völlig hin, gab alle Deckung auf und kehlige, unmenschliche Laute rangen sich aus ihrem eigenen Mund, während er ungeduldig einen Finger in sie stieß und sein Daumen sanfte Kreise über ihrer empfindlichsten Stelle zeichnete.

Ihr Atem ging abgehackt, während sie kaum verhindern konnte, was passieren musste!

Aber so etwas hatte sie noch nie gespürt! Noch niemals in ihrem gesamten Leben!

Sie fühlte keine Scham, als ihr Stöhnen lauter wurde, denn Wellen erfassten ihren Körper, sammelten sich in ihrer Mitte. Ihre Kraft baute sich ohne Vorwarnung in ihr auf, und als die Lichter in ihrem Kopf angingen öffneten sich alle Schranken zu ihrer Macht.

 

Die Welt schien zu beben. Komplett.

Der Orgasmus war so unglaublich. Sie spürte ein Knacken unter sich, als der Schreibtisch brach, spürte, wie ihre gesamte Kraft Liam nach hinten warf, und sie sich schließlich zitternd wieder beruhigte.

 

Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, dass sie sich auf ihre Ellbogen stützen konnte.

Sie blinzelte träge.

 

Oh du lieber Gott! Ihre Kraft hatte ihn zurück in seinen Stuhl geworfen. Sein Gesicht war wieder normal, aber seine Augen waren geweitet, die Iris dunkelgrau. Sofort fuhren ihre Hände zu ihrem Hals, dort, wo er sie gebissen hatte. Sie spürte die beiden kleinen Wunden.

 

Und ihre natürliche Scham kehrte zurück. Oh mein Gott! Was hatte er gerade getan? Sie zog sehr hastig ihren Pullover gerade. Was hatte sie gerade getan?

 

„Ich…“, begann er, ehe er abrupt innehielt, den Kopf alarmiert nach oben reckte und Bitterkeit auf seine Züge trat. Er erhob sich aus dem Stuhl und sah sie an. „Der Besuch hat schlechtes Timing“, erklärte er sehr plötzlich, und sie starrte ihn an.

 

„Er… ist hier?“, flüsterte sie panisch, und er ruckte mit dem Kopf.

 

„Am besten ziehen Sie sich an“, erklärte er ungerührt, als wäre nichts passiert! Wie schaffte er das? Wie schaffte dieser Mistkerl so etwas? Sie spürte den Schmerz des Ungehorsams und kniff die Augen zusammen. Was dachte er?! Dass sie hier so sitzen bleiben würde?

Sie rutschte vom Schreibtisch, und ihr Mund öffnete sich schockiert, als sie den langen Riss durch das dunkle Holz bemerkte. Oh großer Gott! War sie das gewesen? Sie hatte seinen Schreibtisch kaputt gemacht. Mit ihrem Orgasmus.

Sie glaubte nicht, dass sie noch röter werden konnte. Sie glaubte nicht, dass sie sich mehr schämen konnte, als sie es jetzt schon tat.

 

Er sah aus wie immer. Es war ihm nicht anzusehen, dass er sie gerade… dass sie gerade… oh du lieber Gott!!! Sie schüttelte den Kopf, um es zu verdrängen und zog sich hastig die Socken und die Hose wieder an. Sie kam sich schmutzig vor. Sie kam sich ausgenutzt und dumm vor. Da war es vielleicht nur gerecht, dass sie seinen Schreibtisch kaputt gemacht hatte, überlegte sie wütend. Und sie ignorierte, dass so etwas noch kein Mann bei ihr jemals gemacht hatte! Sie hatte Lucy von Sex und Vorspiel und all diesen Dingen erzählen hören, aber… dass ihr das selber passieren würde… das hatte sie sobald nicht kommen sehen!

Und es war absolut unglaublich gewesen! So unglaublich, dass sie es kaum schaffte ihn wieder anzusehen, ohne dass ihm ihr Blick verriet, wie unglaublich es gewesen war!

 

Wenn das schon so unglaublich war, überlegte sie dumpf, wie wäre dann Sex mit ihm? Gott, sie wollte es sich gar nicht vorstellen, denn ihr Herz jagte jetzt ja immer noch!

 

Sie stieg in ihre Schuhe, fuhr sich fahrig durch das Haar und sah ihn wieder an. Er betrachtete sie mit einem Ausdruck, der ihr Sorge bereitete. Oh, er war selber schuld! Sie öffnete den Mund, um genau das zu sagen, aber es klopfte in der Sekunde.

Sein Blick verließ unwillig ihr Gesicht, denn er schien wohl selber noch etwas zu sagen zu haben, aber seine Stimme klang gewöhnlich als er sprach.

 

Oh Gott! Hastig fuhr sie sich noch einmal über die Haare, strich sie nach vorne über die Schulter, um die Wunde zu verbergen. Gott, wie rot waren ihre Wangen wohl, überlegte sie? Jeder müsste erraten können, was gerade passiert war, oder nicht? Sogar ein Blinder ohne Krückstock, nahm sie an.

 

„Herein.“

 

Die Tür öffnete sich lautlos, und ihre Augen weiteten sich. Das war der Mann. Der Mann aus den Gedanken von Lester Leman!

Und er lächelte jetzt.

 

„Miss Clark, nehme ich an. Schon eingelebt?“, fragte er mit einem feinen Lächeln, angenehm tiefer, rauchiger Stimme, und sie konnte nicht verarbeiten, was er gerade gesagt hatte. Sie war zu beschäftigt ihn anzusehen. Über den schweren Lederstiefeln trug er eine schwarze Lederhose, viel zu eng, als dass sie die offensichtliche Beule in seiner Hose hätte übersehen können, ein rotes Hemd, und eine kurze Lederjacke darüber. Seine braunen Haare fielen ihm wellig auf die Schulter und ein kurzer Bart zeichnete sich auf dem Gesicht ab. Seine Augen waren leuchtend Grün, und seine ebenmäßig weißen Zähne wurden durch sein unglaubliches Lächeln entblößt.

 

Ein sanfter Geruch umwehte ihn. Was war es… sie kannte es doch…?

Schwefel? War es das?

 

Sie wusste nicht, wie viele unglaublich gutaussehende Männer sie noch würde ertragen können!

 

„William“, begrüßte er immer noch lächelnd den Mann hinter ihr, der sie gerade zum Kommen gebracht hatte, während seine Zähne in ihren Hals geschlagen waren.


„Lucius“, erwiderte Liam die Begrüßung unnahbar.

 

„So sieht man sich wieder. Ich kann es nicht erwarten, ein paar Worte mit deiner… Sklavin zu reden.“ Und er betonte das Wort wie etwas sehr lächerliches. „Wie fühlt es sich an, zu voreilig gehandelt zu haben?“, wollte er plötzlich mit einem sehr künstlichen Grinsen wissen, das alle seine perfekten Zähne entblößte. Sie wandte sich an Liam. Aber sein Ausdruck gab nichts preis. „Aber was rede ich…? Voreilig ist doch genau deine Schiene, richtig?“ Es fand anscheinend eine Konversation statt, der sie nur als ausgeschlossene Dritte beiwohnen konnte. Denn sie begriff die Worte des Mannes nicht.

 

„Ich dachte, du möchtest mit ihr sprechen. Für Beleidigungen bist du doch viel zu beschäftigt“, gab Liam zurück, und sie wusste nicht, wer ihr mehr Angst einjagte. Aber Liam würde ihr doch bestimmt nicht gestatten allein mit diesem… Mann zu reden?!

 

„Wenn du erlaubst?“ Und es klang kaum wie eine Frage aus dem schönen Mund des bösen Mannes.

 

Denn wenn sie ein Bild vom Teufel hatte, dann sah er wahrscheinlich so aus wie dieser Mann. Zu gefährlich als dass man wirklich auch nur eine Sekunde alleine mit ihm sprechen sollte. Aber Liam erwiderte ihren Blick nicht, fixierte den Mann im dunklen Leder noch eine Sekunde länger voller Abscheu und Unwilligkeit, und ruckte dann mit dem Kopf.

 

„Sicher“, gab er kalt zurück. Nein! Er ließ sie gehen! Sie schluckte schwer. Oh Gott! Fast panisch wandte sie sich zu dem Mann um, der ein weiterer Teufel war. Verglichen mit ihm war Lester die Sparversion! Ungefährlich und ungelenk, dachte sie panisch. Sie wusste nicht, was diesen Mann hier umgab, aber sie fürchtete sich schon jetzt davor, es herauszufinden.


„Begleiten Sie mich dann ein Stück, Miss Clark?“ Ihr Name ging ihm leicht von den Lippen. Seine Augen warteten geduldig, bis sie einmal nickte, denn was sollte sie sonst tun?! Dann wartete er, bis sie auf ihn zugekommen war. Er warf noch einen letzten Blick auf Liam, ehe sich seine leuchtend grünen Augen auf den Schreibtisch senkten.

Wieder spürte sie eine unglaubliche Hitze in sich aufsteigen. Seine Mundwinkel zuckten sehr kurz, und Grübchen gruben sich in seine schönen Wangen. Sie war ihm zu nahe! Sie spürte es sofort! Und sie roch den Geruch jetzt stärker. Ja, Schwefel. Definitiv!

 

Und schon bugsierte er sie raus aus Liams Büro. Gott, sie wollte nicht mehr! Und… was wollte der Teufel höchstpersönlich von ihr? Oh Gott!

Sie wollte nichts mehr erleben. Sie hatte genug gesehen, aber schweigend lief sie neben ihm her. Anscheinend hatte er ein bestimmtes Ziel vor Augen.

Sie glaubte allerdings, Liam würde es nicht zulassen, dass sie sich in Gefahr begab. Sie war sich zumindest fast sicher, dass er das nicht tun würde. Sehr sicher. Oder… fast sehr sicher.

 

Kapitel 15

~ The Devil’s Tale ~

 

Er sagte eine Weile gar nichts. Er hatte sie nach draußen in den Garten geführt, wo vereinzelt hypnotisierte Gärtner neue Pflanzen in die Beete pflanzten. Sie erkannte das unnatürliche goldene Schimmern in ihren Augen auch auf diese Entfernung.

Es war ein perverses Anwesen voller menschlicher Zombies, überlegte sie verzweifelt.

Und sie war mitten drin.

 

„So…“, begann er schließlich als sie ein verblühtes Rosenbeet erreichten. Er blieb seufzend stehen. Seine Haare schimmerten in der Sonne. Seine Haut wirkte gebräunt, und ihr fiel auf, wie groß er war. Der neue Mantel, den sie übergezogen hatte, wärmte sie sehr gut.

 

„Ja?“, wagte sie zu fragen, denn er jagte ihr Angst ein.

 

„Mein Name ist Lucius“, stellte er sich vor und reichte ihr lächelnd seine Hand.

 

„Lesen Sie meine Gedanken?“, wollte sie prompt wissen, auch wenn es wohl eine eher ungehörige Antwort war. Er hob eine dunkle Augenbraue. Dann begriff er.

 

„Lester hat dies mit Ihnen getan? Nein, ich wollte Ihre Hand nur schütteln“, widersprach er ernst. „Gedanken lesen, wie Sie es nennen, entsteht nur durch die Berührung in… ihrem Gesicht.“ Sie wusste nicht, ob sie ihm glaubte, aber sie reichte ihm skeptisch ihre Hand.

Lächelnd schüttelte er sie. Nichts passierte. Sie war jedoch glühend heiß. Sie konnte seinen Akzent nicht zuordnen. Europäisch, würde sie es vage eingrenzen. Ob gälisch, schottisch, englisch, russisch… - sie konnte es nicht deuten. So bewandert war sie nicht, aber es klang angenehm verwegen.

 

„Joanna“, stellte sie sich vor. Sie konnte es nicht ertragen, ständig mit ihrem Nachnamen angesprochen zu werden.

 

„Es muss ziemlich anstrengend sein“, bemerkte er jetzt. „Zuerst ein normales Leben, dann entführt und versklavt“, fasste er ihre letzten Tage lapidar zusammen, während er gelassen die Hände hinter seinem Rücken verschränkte. Sie antwortete nicht.

„Was studieren Sie? Oder was haben Sie studiert?“ Sie hob überrascht den Blick. Er fragte sie tatsächlich, was sie studierte?

 

„Englische und amerikanische Literaturwissenschaften“, gab sie perplex zurück, und er nickte langsam.


„Ja. Da war es ein Leichtes für William“, bestätigte er fast nachsichtig.

 

„Wer sind Sie?“, fragte sie leise, ohne ihn aus dem Blick zu lassen. Es war auch fast schwer, denn er war wunderschön. Aber sie sah ja nur noch wunderschöne Wesen. Es war schon fast lästig. Man fühlte sich selber so unvollkommen, dachte sie bitter. Er betrachtete sie und seufzte schließlich. „Auch ein Teufel?“, fügte sie hinzu, als er nichts sagte.

 

„Wissen Sie, die Menschen nennen uns so. Also, warum nicht“, schloss er achselzuckend. „Ich bin der Teufel, ja.“ Sie sah ihn an.

 

„Dann holen Sie also Seelen?“, erwiderte sie, weil es sie störte, dass er so lapidar mit Fragen umging.

 

„Das hingegen ist in etwa korrekt, Joanna“, bestätigte er lächelnd. „Aber wir holen sie nicht. Sie kommen ohnehin zu uns. Der Grund, weshalb wir uns nicht weiter um die Auserwählten, wie sie genannt werden, kümmern, ist schlicht und ergreifend die Tatsache, dass sie sowieso am Ende in unsere Hände fallen.“

 

Sie sah ihn an. Das klang… schrecklich.

 

„Was ist mit dem Himmel? Wenn es eine Hölle gibt-“

 

Wenn es eine Hölle gibt…“, wiederholte er fast theatralisch. „Joanna, so einfach ist es nicht. Es gibt keine Hölle. Es gibt keinen Himmel“, erwiderte er schlicht, und damit war wieder einmal wohl eine Jahrhunderte alte Diskussion entfacht. Nur er schien ihr keine Bedeutung beizumessen. Er… als Teufel.

 

„Teufel sind in der Hölle“, sagte sie langsam. „Sie riechen nach Schwefel“, fügte sie hinzu. Er roch sofort an seiner Jacke. Dann nickte er überrascht.

 

„Liegt wohl an meinem Motorrad“, erklärte er und deutete zum Eingang des Anwesens. Eine riesige, schmutzige Maschine lehnte dort. Daneben ein monströser Hund. Ein Wolf? Nein, bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass es weder ein Wolf, noch ein Hund war. Sein Fell war rostbraun, fast rot. Er schlief und Dampf schien aus seinen Nüstern zu steigen. Seine Schnauze war länger als die eines Hundes, die Ohren kurz und spitz und sein Körper unglaublich massig. Sie war froh, dass er schlief. „Hector“, stellte Lucius erklärend vor.

 

„Ihr Schoßhund?“, wagte sie zu fragen, und er lachte auf. Rau, tief, angenehm.

 

„So in etwa“, gab er zurück. „Er ist ein Höllenhund“, sagte er und hob abwehrend die Arme. „Er kommt nicht aus der Hölle. Er wird nur so genannt. Wissen Sie, es gibt Momente, da ist es schwer mit der Dummheit der Menschen zurecht zu kommen, Joanna“, erklärte er ruhig, während er die verwelkten Rosen betrachtete. „Und wenn man sich zu sehr aufregt kann es passieren, dass man etwas Dummes tut“, fuhr er fort. Sie verstand wohl in etwa, was er meinte. „Und jedes Mal, wenn es zu schlimm wird, zuzusehen, verschwinden wir dahin, wo unser Zorn keinem schadet“, endete er schulterzuckend. „Wie Sie festgestellt haben, sind wir unnatürlich heißblütig. Und da, wo unser Zorn, wenn er ausbricht, keinen Schaden anrichtet, ist im Mittelpunkt der Erde. Die Gradtemperatur dort unten beträgt über 5000 Grad Celsius. Da fällt ein Wutausbruch nicht auf.“ Sie starrte ihn an. Machte er Scherze? Er war zum Mittelpunkt der Erde gereist, um… einen Wutausbruch zu bekommen?

 

„Das ist wohl der Grund, weshalb man es Hölle nennt“, ergänzte er gleichmütig. Jetzt schwiegen sie, und er betrachtete sie eingehend. Es wurde ihr unangenehm.

 

„Was wollen Sie von mir?“, fragte sie jetzt. „Das was alle wollen?“, fügte sie ängstlich hinzu, aber er lachte wieder.

 

„Was? Ihr Blut? Ich bin der oberste Rat. Ich brauche überhaupt nichts, Joanna. Und wie ich William schon vor Jahrzehnten sagte, nicht jeder Auserwählter ist ein Auserwählter. Aber er war so besessen von der Idee der Macht, dass er nicht zugehört hat“, erläuterte er kopfschüttelnd.

 

„Was soll das bedeuten?“ Denn plötzlich begriff sie. Sie war… also nicht auserwählt? „Der Vertrag-“


„Ist von Lester gemacht“, unterbrach er sie und verdrehte die Augen. „Aber ich will nicht über den Vertrag reden. Er ist lächerlich unter dem Gesichtspunkt, dass William sie nun lediglich als lebendige Blutbank missbrauchen kann.“

 

„Er… kann also durch mein Blut niemals mächtig werden?“, vergewisserte sie sich jetzt ernst, und Lucius sah sie nachdenklich an.

 

„Es gibt nicht nur schwarz und nur weiß, Joanna. Es gibt immer Mittel und Wege. Aber solche zu bestreiten… wäre manchmal nicht klug“, erklärte er kryptisch, wie alle um sie herum. „Sie sind immun gegen Bisse von Wölfen, Vampiren… allen anderen Dämonen“, schloss er achselzuckend. „Und deshalb bin ich hier“, ergänzte er mit einem teuflischen Lächeln. „Ich habe die Vergewisserung, und Sie werden das Interesse von einer weitaus größeren Legion erwecken“, fuhr er fort.

 

„Was? Die Allianzen-“

 

„Die Allianzen sind reine Vampirstämme. Ich spreche nicht von Vampiren. William mag jetzt noch die Herrschaft über sie besitzen, aber wie ich die Situation einschätze, haben Sie ähnlich viel Macht, nicht wahr?“ Sie dachte mit Schrecken an den Schreibtisch, und vermied es, ihn anzusehen. Aber sie verstand seine Worte.


„Neben Vampiren gibt es Wölfe“, sagte sie langsam. „Und Jäger.“

 

„Ja. Hier“, erklärte er. „Es gibt mehr als diese eine Welt“, fügte er nachsichtig hinzu. „Ich bin hier, um Ihnen lediglich anzubieten… etwas anderes zu tun. Außerdem… bald werden nicht nur Vampire Schlange stehen. Die Wölfe werden schließlich begreifen, dass Sie nicht verwandelbar sind. Die Jäger werden es auch feststellen, und das verringert die Beliebtheit unter den Dunkelwesen.“ Dunkelwesen? Sie verstand nicht.

„Ein Vampir mag vielleicht, unter großen, unwahrscheinlichen Umständen und mit Glück in der Lage sein, Sie zu verwandeln. Mit viel Glück. Aber es ist nicht Ihre Bestimmung.“ Ihre Bestimmung? Was war ihre Bestimmung bitteschön?

 

„Ich implodiere morgen nicht?“, wollte sie vorsichtig wissen, und er lächelte.


„Nein. Ihr Geburtstag wird die Welt nicht in den Untergang stürzen“, erwiderte er freundlich.

 

„Aber wieso…?“ Sie begriff es nicht.


„Wieso William Cunning einen Fehler gemacht hat? Weil er vor tausendfünfhundert Jahren nicht auf mich hören wollte, und das hat sich bis jetzt nicht geändert!“, entfuhr es ihm fast zornig. Ihr wurde klar, wie lange sich die beiden kennen mussten. „Er denkt, er hat immer recht. Aber… ganz klar hat er das nicht!“ Fast entschuldigend sah er sie an.

 

„Sie… sind keine Freunde“, stellte sie schließlich fest. Aber davon war sie ausgegangen.

 

„Freunde? Nein“, gab er knapp zurück. „Er ist ein verdammter Vampir. Natürlich sind wir keine Freunde.“

 

„Weil Sie…?“

 

„Weil ich der Teufel bin? Alle Vampire stammen von uns ab, Joanna. Darum geht es nicht. Aber ich kann nicht einmal meinen Bruder besonders gut leiden. Es gibt immer schwarze Schafe.“ Er bezog sich wohl auf Lester.

 

Was? Alle Vampire stammten von den Teufeln ab? Ihr schwirrte der Kopf.

 

„Und ich?“, wagte sie zu fragen. Er seufzte.

 

„Es gibt immer Ausnahmen unter den Menschen. Und es gibt auch Auserwählte.“ Er lächelte plötzlich. „Und es gibt auch jetzt eine Auserwählte“, fügte er hinzu. Warum lächelte er auf diese Art und Weise? „Aber Ihre Ausprägungen waren stärker, offensichtlicher“, fügte er hinzu. „Und William hat sich davon täuschen lassen“, ergänzte er. „Aber… ich habe dafür gesorgt, dass die Auserwählte in die richtigen Hände fällt.“ Ihr schwante Übles. Sehr Übles.

So musste sie ihn wohl ansehen, denn er seufzte auf.

„Auserwählte werden Jäger. So ist es vorbestimmt. Wenn ein Vampir plötzlich den Funken Verstand besitzt, Macht für sich zu beanspruchen… das ist gegen die Natur“, erklärte er nur.

 

„Und dieser… Vampir hat schon immer einen Funken Verstand besessen und deswegen können Sie ihn nicht leiden?“, schloss sie diplomatisch, und er lächelte breiter.


„So in etwa. Sehen Sie, ich bin lediglich… dafür zuständig, zu sehen, dass alle in ihren Kompetenzen bleiben. Auserwählte werden Jäger und töten die Vampire. Auserwählte werden nicht vorher entführt, versklavt, und ihre Kraft wird auch nicht schamlos ausgenutzt, um ein größeres Machtimperium aufzubauen. Es gibt Gut, und es gibt Schlecht, Joanna. Das wissen Sie bestimmt. Mit Ihnen… nun… da ist eine Ausnahme zur Regelbestätigung geworden.“ Sie lauschte ihm jetzt gebannt.

 

„Ich bin keine Auserwählte?“, flüsterte sie jetzt, und sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder… noch panischer werden sollte.

 

„Nein“, gab er lächelnd zurück. „Sie sind so besonders, dass selbst der Teufel Interesse bekommt“, fügte er weich hinzu. Und sie schämte sich wieder einmal.

 

„Das… kann nicht sein“, hauchte sie und schüttelte fest den Kopf. Er lächelte wieder.

 

„Wissen Sie, Sie sind es doch gewöhnt, nach Fakten zu suchen. Nach Beweisen, Belegen für Ihre studentischen Arbeiten?“, wandte er jetzt ein, und sie runzelte die Stirn. „Man sollte den logischen Ursprung eines Buches kennen. Man sollte… über den Autor Bescheid wissen, wenn man etwas beurteilt, nicht wahr?“

 

„Theoretisch“, erwiderte sie unsicher, und er verschränkte die Arme vor der Brust.

 

„Wenn Sie ein Buch wären…?“, begann er also langsam.

 

„Dann muss ich meinen logischen Ursprung finden?“, beendete sie unsicher den Satz, und er lächelte. „Meinen Autor… - meine Eltern“, schloss sie knapp. Sie sah ihn an. Er wirkte ernster. „Ich habe keine Eltern“, sagte sie, und wusste, das war dumm. Natürlich hatte sie Eltern, aber….

 

„Viele Kinder wurden damals gestohlen.“

 

„Damals? Wo?“, fragte sie sofort.

 

„In Geschichten…“, holte er gedehnt aus.


„Was? Vielleicht in Göttergeschichten, ja. Oder Sagen… oder…“ Sie sah ihn skeptisch an.


„Ich gebe Ihnen lediglich Denkanstöße. Halten Sie es nicht für möglich, dass Sie nicht die sind, die Sie zu glauben scheinen? Denken Sie nicht, es ist möglich, dass jemand anders Sie von Ihren Eltern trennen wollte, dass er verhindern wollte, dass Ihre Geschichte so wahr wird, wie es hätte sein sollen?“ Sie sah ihn ungläubig an.

 

„Wovon sprechen Sie?“, flüsterte sie jetzt. „Liam-“


„William ist nicht die Person, auf die ich mich beziehe. William hatte seine Ohren wieder einmal in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen. Das ist alles, was ich zu ihm sagen kann“, gab er bitter zurück.

 

„Aber ich… bin ein Mensch“, schloss sie schließlich und kam sich lächerlich vor.

 

„Sie sind weit mehr als das, Joanna. Wären Sie ein gewöhnlicher Mensch, glauben Sie, der Teufel persönlich würde sich die Mühe machen, einen solchen Weg zu gehen?“ Und sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Sie wusste nicht, was stimmte und was nicht.

„Es gibt Dinge, die gehen über das Auge hinaus.“

 

Sie sah ihm zu, während er die Hand abwesend hob. Und die verwelkten Rosen hoben ihre Köpfe und standen plötzlich in voller Blüte. Erschrocken war sie einen Schritt zurückgewichen. „Wir nehmen nicht nur Seelen, wir können sie auch zurückbringen“, fügte er langsam hinzu. „Jeder hat seinen Platz. Und Sie werden Ihren nur zu bald finden. Und ich will, dass Sie daran denken, dass ich Ihnen meine Hilfe angeboten habe. Und mein Angebot steht, wenn Sie sich entscheiden möchten.“

 

„Was ist… mit…“ Sie löste den Blick von den blühenden Rosen. „Dem Vertrag?“, schloss sie schließlich.

 

„Alles zu seiner Zeit. Er hat nicht auf mich gehört, jetzt trägt er die Konsequenz. Dass Lester einen weichen Kern hat, ist nicht meine Schuld.“ Er vergrub die Hände wieder in seinen Taschen. „Begleiten Sie mich zu meinem Motorrad, Joanna“, sagte er schließlich.

 

„Lester hat den Vertrag aufgesetzt?“

 

„Sicher. Er ist vernarrt in Vampire. Was denken Sie, weshalb er Georgiana ihren größten Wunsch erfüllt hat?“ Jetzt hob sich ihr Blick interessiert.


„Welchen Wunsch?“ Kurz dachte sie, er würde nicht weiter sprechen, aber er atmete knapp aus.

 

„Ich bin sicher der vierte Wunsch ist in Ihrem Vertrag erwähnt?“ Sie nickte nur, wusste aber nicht, was es bedeutete. „Eine Vampirin gebärt viermal. Und dann stirbt sie. Sie altert nach jeder Geburt, und die letzte endet mit dem Tod. Sie gebärt kein Kind desselben Vampirs… alles gut und schön. Aber wir schätzen die Stellung der Vampirin, Joanna. Der vierte Wunsch bedeutet, sie verschreibt uns ihr ewiges Leben, und wir verhindern eine vierte Geburt. Auf ewig“, erklärte er. „Und Georgiana wollte weder gebären, noch sterben. Sie scheute das Alter, und kam zu Lester. Und sie flehte ihn an, sie auf ewig von jeder Geburt zu entbinden. Und weil mein Bruder ein emotionaler Trottel ist, gewährte er ihr den Wunsch.“

 

Sie sah ihn an. „Sie wurde aus ihrer Familie verstoßen, aber William war gnädig genug, sie in seinem Stamm aufzunehmen, wenn Lester ihr denn erlaubt das Haus zu verlassen. Sie kennen bestimmt die dramatische Geschichte der Cunnings?“, wollte er lächelnd wissen, aber sie schüttelte den Kopf. „Nein? Cilians Tragik und sein Wunsch nach vielen Söhnen?“ Er lachte jetzt kühl.

„Die Mutter von William und Cilian liebte den Vater beider so inniglich, dass es für sie nicht in Frage gekommen wäre, einem anderen Vampir ein Kind zu gebären“, erklärte er lächelnd.

 

„Aber… eine zweite Geburt vom selben Vampir führt direkt zum Tode.“ Er seufzte schwer. „Nur Probleme mit den Cunnings. Jedenfalls führte ihr Vater nach Cilians Geburt und dem Tod seiner Gefährtin ein jämmerliches Dasein, verabscheute jede weitere Vampirin, die sich als geeignet anbot, und alle weiteren Kinder brachte er um. Bis sein tapferer Sohn dem ganzen Einhalt gebot.“ Sie schluckte plötzlich.

 

„Was soll das heißen?“

 

„Das soll heißen, dass William es nicht länger geduldet hat, dass sein eigener Vater ihm den Rangplatz der mächtigsten Blutlinie versagt, weil er Kinder von anderen Vampirinnen nicht akzeptierte“, schloss Lucius kopfschüttelnd. „Und so begann er den Krieg gegen seinen eigenen Vater und… siegte.“ Ihr Mund öffnete sich stumm.

 

„Er…?“ Sie konnte es gar nicht sagen. Aber Lucius ruckte nur mit Kopf.

 

„Er hat seinen Vater getötet. Und seitdem raubt er mir den letzten Nerv“, fügte er gereizt hinzu. Sie starrte ihn nur an. Er lächelte breiter. „Ich sehe, man hat Ihnen noch keine netten Familiengeschichten aufgetischt. Cilian rettete Gabrielle und verabscheute seinen Bruder für weitere fünfhundert Jahre für den Mord an ihrem Vater. Ach Sie kennen doch solche Geschichten…“, winkte er lapidar ab. „Cilian zeugte mit Gabrielle ein Kind, was William bedauerlicher weise im ersten Krieg gegen den Rat getötet hat… alles sehr dramatisch.“

 

„Cilian und Gabrielle…?“ Sie konnte ihn nur anstarren.

 

„Ja, ich sage Ihnen. Wie eine griechische Tragödie für einen Großteil meiner Amtszeit. Und es gibt noch hundert weitere Geschichten zwischen den Brüdern, mit denen ich Sie jetzt aber bestimmt nicht langweilen möchte“, lachte er jetzt. „Und… es gibt keine Inzest unter Vampiren, Joanna“, ergänzte er schließlich augenzwinkernd, als er ihren Blick deutete. „Ist ähnlich wie bei Ratten.“ Sie starrte ihn an. Er atmete erschöpft aus. „Wenn Sie mich fragen, was meine Einstellung gegenüber Vampiren ist… dann sage ich Ihnen offen, sie ist nicht die beste. Unsere Späher… sind völlig in Ordnung. Weniger Gehirnmasse. Aber die hohen Linien… jedes Jahrhundert ein Problem. Und William wird sich jetzt selber in den nächsten Krieg reiten, und wer muss es gerade biegen?“ Er betrachtete sie eindeutig.

 

„Krieg? Wegen mir?“, stutzte sie verwirrt, und Lucius zuckte die Achseln.

 

„Wer weiß“, erwiderte er kryptisch. „Ich wollte Sie kennenlernen, und ich wiederhole mein Angebot.“ Er ergriff schließlich zum Abschied ihre Hand. Glühend heiß unterschied sie sich enorm von Liams. „Wenn der Zeitpunkt kommt, an dem Sie sich entscheiden müssen, bin ich gerne bereit, Sie zu mir zu holen.“ Sofort schoss ihr das Bild der lodernden Flammen der Hölle ins Gedächtnis, aber wahrscheinlich… stimmte es nicht. Sie schluckte deshalb nur, nickte unwirsch, und er lächelte ein charmantes Lächeln.

 

„Es tut mir leid, dass Sie in diese Welt hineingeraten sind“, entschuldigte er sich offen. „Ich hoffe nur, dass Sie sich nicht entschließen, hier zu bleiben“, fügte er hinzu, und sein Ausdruck wurde ernster. „Es wäre zu schade.“ Es lag echtes Bedauern in seinem Blick. Und etwas anderes. Etwas nicht so Nettes.

Ihr Herz schlug laut. War das gerade alles passiert? Hatte er gerade wirklich all das erzählt? Er ließ ihre Hand los, schwang das Bein über die schwere Maschine, und der Hund wachte auf.

 

Er gähnte und entblößte zwei Reihen messerscharfer Zähne. Ihr Kopf schwirrte von den vielen Informationen. Und er hatte ihr auch nicht gesagt, was sie wissen wollte.

 

„Bis zum nächsten Mal, Joanna!“, rief er mit wissendem Lächeln, und der Hund jaulte laut, als Lucius die Leine härter zog. Kaum drehte er das Gas auf, löste sich die stinkende Schwefelmaschine in Luft auf. Mitsamt dem Hund und dem Fahrer.

Nur gelber Schwefeldampf blieb zurück und hustend wich sie nach hinten.

 

Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Sie war keine Auserwählte? Es war… alles ein Missverständnis, was einen Krieg auslösen konnte? Wer waren ihre Eltern? Wieso war das wichtig? War sie gestohlen worden? Weswegen? Und von wem?

 

Die Verandatür öffnete sich lautlos, aber sie nahm die Bewegung wahr.

 

„Ich nehme an, die Märchenstunde ist vorbei?“ Seine Stimme klang alles andere als freundlich. Und so sah er auch aus. Alles andere als freundlich. Und die Angst befiel sie wieder. Die ewige Angst vor Liam Cunning.

 

Kapitel 16

~ Surprise ~

 

Sie aß. Stumm. Sie musste ja schließlich essen, es war ja ein Uhr…. Sie hatte keinen Hunger. Keinen großen zumindest. Das Gespräch mit Lucius Leman war aufschlussreich gewesen, aber eigentlich war sie verwirrter als vorher.

Ab und an hob sie ihren Blick und sah zu ihm hinüber. Sie saß am großen Esstisch, während er auf der Couch in ein Buch vertieft war.

 

Er hatte seinen Vater getötet…. Stur nahm sie einen weiteren Bissen. Er hatte Cilians Sohn getötet. Den er mit seiner Schwester gehabt hatte. Noch einen Bissen.

Er… war ein schlechter Mann. Zumindest nahm sie es an. Musste er doch sein! Er war ein Monster. Ein seelenloses Biest! Ein Biest, das seit ihrer Geburt geplant hatte, sie zu entführen und sich anzueignen, damit sie ihm mehr Macht verschaffen konnte! Und es war ihm völlig egal gewesen, dass er damit ihr Leben zerstörte!

Und dann hatte er sich auch noch vertan, und sie verschaffte ihm gar keine Macht!

 

Zornig aß sie weiter.

 

Wahrscheinlich wäre keiner ihrer Freunde überhaupt jemals mit ihr befreundet gewesen, hätten sie alle gewusst, dass sie doch nicht die war, für die sie alle gehalten hatten! Und jetzt? Würde er sie jetzt rauswerfen, und sie konnte sich nur auf das fragwürdige Angebot des Teufels berufen, weil sie sonst keiner haben wollte?

 

Grimmig aß sie einen weiteren Bissen, obwohl der Hunger verebbt war.

 

„Wütend?“, unterbrach er schließlich mit erhobener Braue ihre Gedanken, und sie erwiderte den Blick, ohne zu antworten. Ihre ehrliche Antwort würde wieder einmal den Schmerz ihres Ungehorsams auslösen, und plötzlich war sie auf alles wütend! Wenn sie Eltern hatte, wieso hatten die zugelassen, dass sie entführt wurde? Wenn es sie jetzt noch gab, dann – wieso zum Teufel – ließen sie sie in einem Waisenhaus schmoren, bis verrückte Vampire sie holten, damit ein seltsamer Machtplan zustande kommen konnte?

„Anscheinend“, schloss er knapp und erhob sich. Er schritt langsam zum Esstisch und setzte sich an das andere Ende.

 

„Lucius ist…“, begann er langsam, aber sie schüttelte den Kopf.

 

„Ich will es nicht hören“, unterbrach sie ihn leise. Er seufzte auf.

 

„Es ist alles nicht so dramatisch. Es wird keinen Krieg geben, Joanna“, erwiderte er gereizt und benutzte tatsächlich ihren Vornamen. Sie legte die Gabel zur Seite.

 

„Und jetzt was? Jetzt brechen Sie den Vertrag, weil ich Ihnen nichts bringe? Oder… wollen Sie abwarten, ob irgendwer anderes kommt, der mich holen möchte, und Sie schlagen ein riesiges Lösegeld raus? Oder was wollen Sie?“ Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und ihr Handgelenk ziepte unangenehm. „Oder hypnotisieren Sie mich und schicken mich so weit weg, bis ich tot umfalle?“ Seine Augen verengten sich. Sie sah, wie er Zorn an seinen Mundwinkeln zerrte. „Cilian hat…“

 

„Ich weiß, dass er bestimmt nicht gezögert hat, Ihnen meine Vergangenheit zu erzählen. Aber es ging Sie nichts an. Sie müssen mich nicht ansehen, als hätte ich Sie belogen. Ich habe Ihnen klar gesagt, was ich von Ihnen wollte“, entgegnete er.

 

„Und jetzt? Jetzt, wo Sie es nicht bekommen können?“

 

„Ich sehe, Lucius hat Sie nervös gemacht.“ Er verdrehte die Augen.

 

„Nein, sagen Sie es mir!“

 

„Sie wollen, dass ich den Vertrag löse? Damit Sie zu Lucius gehen können? Glauben Sie tatsächlich, der Teufel bietet Ihnen bessere Perspektiven? Denken Sie, er bringt Sie dort hin, wo sie hingehören? Glauben Sie nicht, dass jeder im obersten Rat nicht auf seinen Vorteil bedacht ist? Sie scheinen eine falsche Urteilslage zu besitzen“, fasste er wütend zusammen, und sie erhob sich ebenso wütend.

 

Er fuhr sich gereizt durch die dunkelblonden Haare.

 

„Was passiert jetzt?“, verlangte sie gepresst zu wissen. Er atmete langsam aus, und sie dachte schon, er würde ihr nicht mehr antworten, denn seine Hand legte sich nachdenklich über seinen Mund.

 

„Jetzt… werden hundert neue Dämonen aus weiß Gott welchen Welten vor meiner Tür stehen und versuchen, mein Haus zu demolieren“, knurrte er schließlich und erhob sich ebenfalls.

 

„Das heißt…, Sie lassen mich gehen?“, flüsterte sie. Er kam näher. „Sie versuchen, die richtige Auserwählte zu finden, und den Vertrag mit ihr zu machen?“, fügte sie tonlos hinzu, als er vor ihr stehen geblieben war, und seine Mundwinkel zuckten.

 

„Nein“, erwiderte er ruhig und betrachtete sie. „Wenn Lucius die Auserwählte gefunden hat, ist es jetzt unmöglich, sie zu holen.“ Wieder spürte sie im Innern einen Stich. „Ich wollte Sie. Ich wollte Ihre Macht. Ich werde Sie nicht gehen lassen“, schloss er ernst. „Auch… wenn ich diese Macht nicht bekomme“, ergänzte er bitter. Sie sah ihn an.

 

„Was für ein Nutzen soll das bringen?“, wagte sie zu fragen, denn sie sah nicht ein, was er davon haben könnte.

 

„Die Frage ist, bleibt Ihre Macht erhalten, wenn ich Sie verwandeln würde“, korrigierte er sie schließlich, und sie wich vor ihm zurück.

 

„Sie haben… versprochen, dass ich ein Mensch bleibe! Der Vertrag wäre gebrochen, und Sie…“ Er hob abwehrend die Hände.


„Natürlich wäre der Vertrag gebrochen. Ihre Macht wäre frei, Sie könnten mich wahrscheinlich zerreißen, aber… ich würde es Ihnen anbieten“, erklärte er deutlicher. „Sie hätten dann die freie Wahl, Joanna. Wer weiß, ob das, wofür Sie bestimmt sind, das ist, was Sie möchten.“ Wieso sagten das alle? Und sie fixierte ihn.


„Was wissen Sie?“, entfuhr es ihr, denn wieder einmal hatte sie das Gefühl, er verheimlichte ihr etwas Wichtiges. Aber er sagte daraufhin nichts.

 

„Heute ist nicht die Zeit“, erwiderte er schließlich. Sie spürte, wie sie wieder wütend wurde, wie ihre Macht unterschwellig zu kochen begann. Er registrierte dies mit erhobener Augenbraue. „Richtig. Kommen wir auf meinen Schreibtisch zu sprechen, Miss Clark.“ Und er schaffte es tatsächlich, sie abzulenken.

 

~*~

 

„Es ist unglaublich! Ich habe es dir die ganze Zeit über gesagt! Die ganze Zeit über!“, schrie Cilian seit geschlagenen fünfzehn Minuten. Sie saß neben Liam, der das Geschrei seines Bruders gelassen zur Kenntnis nahm.

„Jetzt haben wir einen Krieg vor der Tür!“, fügte er ungläubig hinzu. „Lucius kommt persönlich, bietet ihr einen Ausweg an, und du…? Du hast keine Lösung dafür?“ Er wurde wieder lauter.


„Ich bin mir nicht sicher, dass ich dich überhaupt eingeladen habe“, bemerkte Liam nachdenklich.

 

„Oh, halt deinen Mund!“, schrie Cilian zurück. „Der gesamte Stamm redet darüber! Sie befürchten, ausgelöscht zu werden.“

 

„Von Joannas… Eltern, nehme ich an?“, mutmaßte Liam amüsiert.

 

„Du weißt es nicht! Du weißt anscheinend gar nichts! Du und deine scheiß Macht! Siehst du, wohin es uns bringt? Immer wieder?“

 

„Oh bitte. Cilian, verschon mich heute.“ Er starrte ihn an.


„Was denkst du? Dass das vorübergehen wird? Wenn sie aus der anderen Welt ist, dann bist du machtlos!“

 

„Wirklich? Was soll kommen? Eine Horde Windlinge? Brownees? Ganz Walhalla vor meinem Haus?“, schnappte er ungehalten, und Cilian atmete zornig aus. Er fuhr sich durch die hellen Haare, und sein wütender Blick traf jetzt sie. War sie jetzt an der Reihe? Sofort setzte sie sich gerade hin. Hatte er Windlinge gesagt?!

 

„Wieso bringst du ihn nicht um?“, verlangte er gepresst zu wissen, und ihre Augen weiteten sich. „Willst du abwarten, bis sie kommen?“

 

„Wer?“, fragte sie vorsichtig.


„Wer?“, wiederholte er, nahe an der Grenze zur Hysterie. „Ist das dein Training, Liam? Absolute Gleichgültigkeit für deine Sklavin? Joanna, was auch immer kommen wird, es wird mächtig sein! Begreifst du nicht?“, schrie er wieder, aber sie sah ihn unsicher an. Dann stutzte er. „Er hat dich in den Hals gebissen!“, stellte er, nahe einem Tobsuchtsanfall fest. Wieder schoss sein Blick zu seinem Bruder.

 

„Bist du wahnsinnig? Willst du sie umbringen, noch bevor der Krieg beginnt?“

 

Sie warf Liam einen Blick zu. Dieser erhob sich seufzend.

 

„Noch ein Wort, und ich beiße deine Kehle durch, hast du mich verstanden?“, erkundigte er sich leise, und Cilian fixierte ihn voller Hass. „Lucius stellt uns ohnehin als hitzköpfige, emotionale Blutsauger dar. Es reicht mir heute. Dass du dich von der Panik anstecken lässt, ist mir nur zu bewusst.“

 

„Liam, du-“

 

„Ruhe!“, befahl er streng. „Nichts wird passieren.“ Sein Blick war stechend, und etwas änderte sich. Die Macht wechselte im Raum. Und widerwillig neigte sich Cilians Kopf. „Schon besser“, bestätigte Liam nickend, und Cilian schien um Fassung zu kämpfen.

„Miss Clark, verzeihen Sie den Ausbruch meines Bruders“, entschuldigte er sich spöttisch, aber sie fühlte sich nur noch unwohl. „Er wird jetzt gehen“, fügte er mit einem Blick auf ihn hinzu. „Es ist ohnehin schon spät“, ergänzte er mit einem Blick auf die Standuhr.

 

„Vampire schlafen nicht“, gab sie langsam zurück.

 

„Nein. Aber Auserwählte, die keine sind, schlafen, Miss Clark“, entgegnete er. In einer halben Stunde hatte sie Geburtstag. Sie wurde neunzehn. Und sie war gefangen in einem fremden Haus. Als Sklavin.

Sie sah Cilian an, dass er nicht zufrieden war, mit dem Ausgang des Gesprächs, aber er widersprach nicht. Sie erntete noch einen zornigen Blick von ihm, und kaum, als er aus dem Haus geschickt worden war, sah Liam sie an.

 

„Ich möchte, dass Sie jetzt in Ihre Gemächer gehen“, erklärte er streng.

 

„Hat er Recht?“, fragte sie leise, und er fuhr sich fast müde über die Stirn.

 

„Wer? Heute waren genügend Idioten hier, dass die Antwort auf diese Frage sehr leicht, bezogen auf alle, verneint werden kann“, gab er zurück.

 

„Cilian“, erwiderte sie. „Dass Sie sich keine Gedanken gemacht haben, dass Sie nur an die Macht-“ Sie unterbrach sich, als er näher gekommen war.

 

„Genug“, befahl er tonlos. Er betrachtete sie wieder. Seine angespannten Züge schmolzen langsam. „Ich habe versprochen, es wird Ihnen nichts geschehen“, wiederholte er schließlich. Und sie wusste ihn nicht zu deuten. Er war so schwierig zu bestimmen. Mal war er furchtbar kalt, und jetzt… jetzt schützte er sie? Immer noch? Obwohl sie für ihn nicht wichtig war? Erhoffte er sich jetzt etwa noch größere Macht? Sie schluckte schwer.

Am liebsten würde sie weinen. Nein, er schützte sie nicht. Von Anfang an hatte er… seinen Vorteil im Blick gehabt. Daran änderte sich nichts. Sein Vertrag hielt sie gefangen, und er würde sich schon ein passendes Ende für sie überlegen, wenn er sie nicht mehr gebrauchen würde.

 

Kurz glaubte sie, er würde etwas sagen. Irgendetwas.

 

„Gehen Sie. Jetzt“, knurrte er, und sie spürte den direkten Befehl. Und ehe er ihre Tränen fallen sehen konnte, schritt sie aus dem Zimmer.

Und sie hasste ihn! Sie hasste ihn, weil es sie verletzte, was er tat! Sie hasste ihn.

Und der Befehl schickte sie nach oben. Sein Befehl jagte sie praktisch die Treppen hinauf.

Sie wischte sich zornig über die Wange. Wie konnte sie fliehen ohne zu sterben, überlegte sie panisch und öffnete verzweifelt ihre Tür.

 

„-nein, ich denke, es ist zu weit herge-“ Und sie blieb abrupt in der Tür stehen. Libby hatte sich sofort unterbrochen, als sie sie erkannte. Joannas Mund klappte auf.

 

„Überraschung“, sagte Lucy jetzt und erhob sich langsam. Joanna schüttelte ungläubig den Kopf.

 

„Dass… ihr…“, stammelte sie zusammenhanglos, und Blake erhob sich ebenfalls.

 

„Oh, ich habe mir solche Sorgen gemacht, Jo!“, rief Libby, die sich von ihrem Bett nach oben quälte, zu ihr lief und sie in ihre Arme schloss. Nach einer quälende Sekunde erwiderte sie die Umarmung und spürte, wie erlösende Tränen aus ihren Augen rollten.

 

„Libby!“, flüsterte sie. „Lucy!“, rief sie ebenfalls, und mit einem Grinsen umarmte Lucy sie ebenfalls. Sie legte ihre Arme einfach um Libbys herum. „Blake“, sagte sie, als sich die Mädchen von ihr lösten. „Geht es dir…?“ Sie konnte nicht mal die Frage zu Ende stellen.

 

Er verdrehte die Augen. „Komm schon her!“, sagte er nur. „Unkraut vergeht nicht“, sagte er nur. Sie umarmte ihren besten Freund.

 

„Verdammt großes Badezimmer für eine Person“, erklärte Hawker beeindruckt, als er aus ihrem Badezimmer schritt. Überrascht hielt er inne. „Ah, das Geburtstagskind.“ Und sogar er trieb ihr die Tränen in die Augen. „Tränen? Für mich?“, fragte er lachend, und sie fiel praktisch auch in seine Arme. Überrascht verstummte er, während er sie kurz an sich drückte.

 

„Ist die Auserwählte angekommen?“, schniefte sie in seinen Arm, und er räusperte sich, unangenehm berührt.

 

„Ja, angekommen, versteckt und in Sicherheit“, erwiderte er unsicher. Sie ließ ihn los. Er betrachtete sie. „Es tut mir leid“, fügte er leiser hinzu. Wahrscheinlich sprach er von dem Tag, als er versucht hatte, sie zu retten. Sie schüttelte nur den Kopf.


„Nein. Es hätte ja ohnehin nicht funktioniert“, erklärte sie, und endlich versiegten ihre Tränen und sie wischte sich erneut über die Wange.

 

„Völlig egal“, gestand er jetzt ein. „Ich hätte… ich hätte einfach…“ Er schloss kurz die Augen. „Was macht er hier mit dir?“, fragte er jetzt, und sie sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.

 

„Nichts“, log sie hastig und senkte den Blick. „Hat… hat er euch geholt?“, wechselte sie eilig das Thema und fixierte Blake. Sie glaubte nicht, dass sie Hawker belügen konnte. Er würde es nicht glauben. Sie wollte mit keinem über den Vertrag sprechen.

 

„Ja. Er… war im College, heute Morgen“, erklärte Libby kleinlaut. College. Richtig, alle anderen gingen zum College. Kurz traf sie der Stich, dass sie hier gefangen war und nichts machen konnte. „Und… er hat erklärt, dass…“

 

„Dass er sich geirrt hat. Elender Scheißkerl“, schnappte Hawker wütend. „Was ist das für ein Vertrag, Joanna?“, wollte er jetzt wissen, und sie spürte die unangenehme Röte in ihre Wangen steigen.

 

„Ich will nicht darüber reden. Ich habe gleich Geburtstag und werde nicht implodieren“, schloss sie fröhlich.

 

„Ich habe eine Liste gemacht, was du sonst für ein Wesen sein könntest!“, rief Libby begeistert und wedelte mit ihrem Collegeblock. Sie schüttelte lächelnd den Kopf.


„Keine bösen Mächte! Keine Vampire, Wölfe, Hexen, Jäger – gar nichts!“, befahl sie jetzt. „Und ihr dürft hier sein? Einfach so?“, wollte sie lächelnd wissen, und Hawker wirkte nicht zufrieden. Er öffnete seine Lederjacke.

 

„Keine Waffen. Kein gar nichts“, erläuterte er beleidigt.

 

„Er hat uns gesagt, wenn wir versuchen, dich mitzunehmen, stirbst du, wegen… des Vertrags?“, sagte Blake jetzt, und sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

 

„Ja, ist schon ok. Das regel ich noch irgendwie“, behauptete sie fest. Und fast traten wieder Tränen in ihre Augen. Er hatte ihre Freunde geholt.

Das Monster hatte ihre Freunde eingeladen. Kurz herrschte ein unangenehmer Moment, wo sie wohl alle darüber nachdachten, dass sie gerade im Vampirhaus saßen, und dass sie nicht fortkonnte.

 

Aber die Tür öffnete sich.

 

„So, hier sind einige Kleinigkeiten!“, rief Darcy, während sie und ein paar anderen hypnotisierte Dienstmädchen eine Torte und einen ganzen Wangen Chips und Cracker hinein brachten.

 

„Von Liam?“, wollte sie zitternd wissen, und Darcy lächelte verträumt.

 

„Nein. Wir sollen sagen, dass es von Sandford ist“, erklärte sie. Und sie musste lächeln.

 

„Ach, sollt ihr das?“, wollte sie amüsiert wissen, und Darcy nickte sehr ernsthaft. Joanna nickte zurück, und die Dienstmädchen verschwanden.

 

„Sekt klingt gut“, beschloss Hawker, während er den Korken aus der Flasche zog und fünf Gläser füllte. Er reichte sie reihum weiter. „Auf dich“, sagte er schließlich. „Neunzehn und Vampirsklavin“, flüsterte er bitter. „Auf, dass wir dich hier rausholen. Wenn auch… nicht heute“, räumte er ein, und sein Kiefer spannte sich eine Spur wütend an.

 

„Ok“, sagte sie fröhlich. Ihre Freunde waren hier! Und alles sah zum ersten Mal nicht so bitter aus.

 

„Du lebst also mit einem Vampir zusammen? Wie ist das so?“, wollte Lucy wissen, den Abscheu fast aus ihrer Stimme verbannt.

 

„Keine Ahnung. Bisher habe ich mein Zimmer nur mit einer Wölfin geteilt…“, erwiderte sie mit erhobener Braue.

 

~*~

 

Natürlich war es unmöglich gewesen, das Hauptthema zu umgehen. Sie war hier gefangen. Sie war keine Auserwählte, und sie hatte den Fehler gemacht, Lucius zu erwähnen. Libby saß seit einer halben Stunde bei Google und betrachtete verträumt Bilder von Dr. Lucius Leman. Ehrenbürgermeister der Stadt Three Forks, Chefarzt von zwei Krankenhäusern in Three Forks und Mann des Jahres.

 

Das war ihr nicht bewusst gewesen. Und Blake stand neben Libby, die Arme missmutig vor der Brust verschränkt, während er ihr zusah.

Hawker jedoch schüttelte nur den Kopf.

 

„Das ist doch unglaublich! Dieser Mistkerl kommt tatsächlich hier hin und bietet dir Hilfe an? Weißt du, wie die Hilfe vom Teufel aussieht?“, fragte er gereizt, und sie ruckte halb mit dem Kopf. Nein, wusste sie nicht.

„Nein? Du wirst seine verdammte SM-Sexsklavin!“, fuhr er sie an, als hätte sie sich soeben dafür ausgesprochen.

 

„Echt?“, hörte sie Libby vom Bett aus rufen, wo sie mit dem Laptop saß. Hawker schenkte ihr einen säuerlichen Blick.

 

„Tja, Joanna. Kaum bist du was Besonderes klinken sich die Teufel mit ein“, bemerkte Lucy, die genüsslich den Sekt trank. Joanna sah sie dankbar an.

 

„Ich bin so froh, dass du bei der Attacke nicht dabei warst.“ Aber ihr ging plötzlich auf, dass… andere dabei gestorben sind. Lucy setzte das Glas auf den Tisch zurück. „Und… es tut mir so unglaublich leid. Ich habe… versucht rauszukommen, aber…“

 

„Der Vertrag“, schloss sie schlicht. „Das ist in Ordnung. Ich habe sie gewarnt“, erklärte Lucy bitter. „Ich… habe gesagt, sie werden gegen die Cunnings nichts ausrichten können, zu so wenigen“, schloss sie leise. Ihr Gesicht wirkte versteinert. Joanna biss sich auf die Lippe. Ach, hätte sie doch nichts gesagt!

 

„Hat… hat er sich bei dir entschuldigt?“, fragte sie vorsichtig, und Hawker sowohl als auch Lucy lächelten freudlos.

 

„Wieso sollte er? Es war ein Kampf, er hat gewonnen. Es gibt nichts zu entschuldigen. So läuft es“, erklärte sie bitter. „Er hat mir angeboten, herzukommen, und ich habe mir überlegt, dass ich für dich heute Nacht eine Ausnahme machen kann. Wie wir alle“, schloss sie. „Außerdem… bin ich machtlos. Vollmond ist vorüber“, fügte sie achselzuckend hinzu. Hawker ließ seine Knöchel knacken.

 

„Das ist nicht richtig. Er darf dich hier nicht halten“, brachte er zornig über die Lippen, und sie stand auf und stellte sich neben ihn.

 

„Es ist ok“, sagte sie leise.

 

„Was will er noch mit dir?“ Und er stellte die gleichen Fragen, die sie sich nur noch in ihrem Kopf stellte. „Will er dich verwandeln?“ Nur wenn sie die gleichen Kräfte beibehalten würde, dachte sie dumpf. Aber sie sagte es Hawker nicht. Wahrscheinlich würde er dann ausrasten.

Er sah sie wieder an. Die dunklen Augen voller Sorge, der Mund schmal und wütend zu einer Linie gepresst. Die starken Arme vor der Brust verschränkt, und er wirkte tatsächlich machtlos.

 

Und sie sah, er wollte sie wirklich beschützen. Er wollte sie ehrlich retten, wollte sie hier weg holen, und etwas in ihrem Innern erwärmte sich für ihn.

Sie mochte den ungehobelten Jäger. Sie lächelte jetzt entschuldigend und hob ihre Hand langsam zu seiner Schulter, um sie zu berühren. Er folgte dieser Bewegung mit den Augen.

 

„Es wird schon alles gut“, beschwichtigte sie ihn leise, aber er reagierte nicht.

 

„Will er mit dir schlafen?“, fragte er plötzlich, ohne sie anzusehen, den Blick aus dem Fenster gerichtet.

 

„Was?“, brachte sie überrumpelt hervor, und versuchte, die Röte in ihren Wangen zu verhindern. „Was ist das für eine Frage?“, flüsterte sie beschämt. Jetzt senkte er den Blick.


„Eine sehr simple“, gab er zurück.


„Der Vertrag schließt es aus“, sagte sie also fest.

 

„Das beantwortet die Frage nicht“, erwiderte er tonlos.


„Nein!“, behauptete sie fest, und ihr Herz flatterte. Natürlich wollte er das wohl eher nicht…, oder? Wollte er? Ihr Herz schlug lächerlich laut. Und sie war ernsthaft froh, dass er sie nicht gefragt hatte, ob sie mit ihm schlafen wollte, denn dann wäre ihr Kopf wohl explodiert. „Nein!“, wiederholte sie ernsthaft, denn sie wusste… er würde es nicht tun, denn… sein Vertrag wäre ihm immer wichtiger. Und sie wusste, sie hatte recht.

Hawker nickte schließlich.

 

„Gut.“ Und damit atmete er gepresst aus. „Und sein Bruder?“, fragte er plötzlich, und sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

 

„Cilian will, dass ich verwandelt werde, damit ich Kinder gebären kann“, erklärte sie lapidar.

 

„Deshalb lungert er zwischen den Bäumen rum?“, erkundigte er sich glatt, während sein Blick immer noch nach draußen gerichtet war. Sie stellte sich neben ihn und spähte nach unten. Tatsächlich stand jemand zwischen den Bäumen, sah nach oben, und wandte sich ab, kaum, dass sie an die Scheibe getreten war.

 

„Das… war er?“, fragte sie leise, und Hawker nickte grimmig.

 

„Ja.“

 

Sie dachte an Cilians Worte. Würde sie sich verlieben, wäre der Vertrag gebrochen. War sie verliebt? In irgendwen? Sie war noch nicht verliebt gewesen, also wusste sie darauf nichts zu sagen. In Liam? Sie versuchte die Absurdheit daran zu ignorieren. Nein, wahrscheinlich war sie nicht in ihn verliebt, denn… er war ein Monster. Und sie war seine Sklavin.

 

Fast wurde sie traurig. Sie sah hinunter auf die Stelle, wo Cilian wohl gerade noch gestanden hatte. Greyson…. Gott, hatte er sie wahnsinnig gemacht! Greyson Adler, Quarterback. Fast lächelte sie. Sie vermisste das College.

Und sie wandte sich um, zu ihren Freunden, die nun alle auf ihrem Bett hockten und schräge Fabelwesen googelten. Und keiner hatte sie im Stich gelassen, weil sie doch keine Auserwählte war. Sie spürte, wie sich Hawker ebenfalls umwandte.

 

„Er muss dich mögen. Also sei am besten vorsichtig“, erklärte er bitter. Sie nahm an, er sprach von Liam. Wieso dachte er so etwas?

 

„Er zwingt mich, seine Sklavin zu sein, Hawker“, erwiderte sie ungläubig. „Er mag mich definitiv nicht.“ Er hob seine Augenbraue.

 

„Ich würde es mir dreimal überlegen, wäre ich ein Vampir, ob ich tatsächlich einen Jäger in mein Haus einladen würde“, entgegnete er mit eindeutigem Tonfall.


„Du… könntest ihn töten, richtig?“, entfuhr es ihr, denn diese Frage hatte ihr Liam nicht beantwortet.

 

„Dafür bin ich da“, gab Hawker zurück, und sie begriff, dass es ihn wohl umbringen musste, seinen Job nicht zu erfüllen. „Und ich hätte auch allen Grund“, fügte er bedächtig hinzu. Sie dachte daran, wie Hawker durch die Wand gestürzt war – die mittlerweise magischerweise wieder stand, ging ihr auf.

 

„Das kostet dich bestimmt Überwindung“, murmelte sie nickend.

 

„Nein“, gab er schließlich zurück, und sein Blick senkte sich. Seine Augen waren so intensiv, dass sich etwas in ihrem Innern zusammen zog. Ihr Mund öffnete sich sehr langsam. Und sein Ausdruck wurde weicher. Und wenn er nicht grimmig oder wütend guckte, dann… war auch er verdammt attraktiv. Sie musste schlucken, denn sein Blick war fast unangenehm. „Nein, es kostet mich keine Überwindung, Joanna“, fügte er rau hinzu, und ihr Handgelenk zog vor Schmerz. Aua, dachte sie und biss die Zähne zusammen, damit sie keinen Laut von sich geben würde.

 

Hastig wandte sie den Blick von ihm ab, mied seinen intensiven Blick und wusste, er war jemand, der sie abwerben wollte. Und… anscheinend… hatte er… Gefühle? Für sie? War das möglich? Nein. Nein? Sie kaute vergessen auf ihrer Unterlippe.


„Hey, kommt jetzt hier hin!“, beschwerte sich Lucy. „Was soll das für eine Party sein?“ Sie schwenkte die zweite Sektflasche, und Joanna beschloss, alle Probleme erst mal zu ignorieren. Hawker zog sich schließlich die Jacke aus, setzte sich ebenfalls auf das Bett, und Joanna rückte soweit wie möglich ab von ihm. „Also…, ihr glaubt nicht, was für Frauen in meinem Pilateskurs gekommen sind!“, begann Lucy verschwörerisch, und Joanna musste grinsen. Sie nippte an ihrem frisch gefüllten Glas und lauschte Lucy.

 

Zum ersten Mal fühlte sie sich wohl.

 

Kapitel 17

~ The Gift ~

 

Als sie aufwachte, fühlte sie sich nicht mehr völlig verloren. Gestern waren ihre Freunde noch bis weit nach zwei geblieben, ehe Darcy nach oben kam, um ihnen mitzuteilen, dass es jetzt Zeit wurde zu gehen. Joanna hatte noch kurz überlegt, zu Liam zu gehen, sich zu bedanken, aber… sie hatte sich dagegen entschieden.

Wahrscheinlich wäre es ihm unangenehm gewesen, oder er hätte es nicht hören wollen, oder… eben irgendwas. Sie betrachtete die Geschenke, die noch verpackt auf dem Nachttisch lagen. Sie hatte nichts erwartet, aber Libby hatte ihr gesagt, sie hätte das Geschenk ohnehin schon vor Wochen bestellt gehabt, und dass Geschenke ja wohl zu einem Geburtstag gehören würde.

Sie würde die Geschenke später auspacken.

 

Jetzt stand sie auf, ohne dass jemand in ihrem Zimmer sie geweckt hätte.

Sie fühlte sich gut. Tatsächlich fühlte sie sich ausgeschlafen, munter und stark. Und sie hatte kurz davon geträumt, aufzuwachen und zu implodieren, aber auch das war nicht passiert.

 

Jetzt… wusste sie nur nicht, wie es weiter gehen sollte. Sie schritt zu ihrem begehbaren Schrank. Er war komplett eingerichtet, und sie fragte sich, ob Darcy die Sachen gekauft hatte. Sie traute es Liam eigentlich nicht zu. Ihr Blick fiel auf einen schwarzen Minirock. Für gewöhnlich trug sie keine Röcke, aber… etwas in ihr wurde fast sehnsüchtig davon angezogen. Dazu passend wählte sie ein schwarzes Top. Es war ausgeschnitten, und sie wusste nicht, weshalb es ihr so gut gefiel. Weil es schwarz war? Für gewöhnlich trug sie selten schwarz, aber heute…? Oder glaubte sie, dass es ihm gefallen könnte?

 

Sie ignorierte die Röte in ihren Wangen.

Sie ignorierte auch das Bedauern, das sie empfunden hatte, als er sie nicht geküsst hatte, gestern. Sie ignorierte es.

Sie beschloss zu duschen, ihre Haare zu waschen und sich viel Zeit zu lassen.

Sie prüfte, ob ihr Handgelenk bei diesem Gedanken ansprang, aber die Schmerzen blieben aus. Aha. Anscheinend durfte sie sich viel Zeit lassen.

Sie entdeckte noch ein paar passende schwarze Stiefel, die sie dazu tragen würde. Sie sahen aus, als würden sie eng an ihren Beinen liegen. Und sie bemerkte, sie besaß anscheinend vier Paar in vier verschiedenen Farben. Ihr Blick glitt über das Schuhregal, was von oben bis unten voll mit Schuhen stand.

Es war wie ihr eigenes Bekleidungsgeschäft.

 

Mit der Kleidung auf dem Arm spazierte sie in das ausladende Badezimmer.

 

Sie trug den sehr engen Rock, das schwarze Oberteil, die schwarzen Stiefel, und sie fühlte sich sogar sehr wohl. Die Haare hatte sie glatt nach hinten geföhnt, und sie fielen ihr lang über den Rücken.

In der Halle angekommen, griff sie sich ein paar Erdbeeren aus einer Schale. Sie war überrascht, dass sie schmeckten, denn es war absolut keine Zeit mehr für Erdbeeren.

 

Niemand war zu sehen, und als sie überlegte, einen Weg in die Küche zu wagen, um nach etwas zu essen zu suchen, schloss sich die Haustür. Sie hörte, wie ein Mantel ausgezogen und aufgehangen wurde, und sie hörte die Schritte, die sich der Halle näherten. Er hatte sie nicht bemerkt, stellte in der Halle seine Aktentasche auf einen Stuhl vor einem Sekretär, während er die Post durchging. Und es hatte etwas… Menschliches. Er wirkte, wie ein Mensch, fiel ihr lächelnd auf. Seine Stirn runzelte sich, als er irgendeinen Brief las, er fuhr sich durch die Haare, als er prüfte, ob er die Zeitung noch mitnehmen sollte, und schließlich hob sich sein Blick zu ihr, als hätte er sie erst jetzt gespürt.

 

„Guten Morgen“, sagte sie leise. Er sah unglaublich aus. Gott, sie würde diese Gedanken niemals abschütteln können! Er schien sie zu betrachten, sagte aber dazu nichts. Er legte die Post nieder.


„Es ist eins“, erwiderte er, und sie merkte, er war nicht wütend. „Herzlichen Glückwunsch, Miss Clark“, ergänzte er freundlich. Sie lächelte jetzt.

 

„Danke, für… meine Freunde“, entgegnete sie tonlos. „Das war… wirklich… das beste Geschenk.“ Er hob kurz eine Augenbraue.

 

„Wenn es weiter nichts ist. Sie haben Hunger?“, wechselte er das Thema, und sie nickte langsam. Er sah auf die Uhr. „Das trifft sich gut. Der Tisch ist auf halb zwei reserviert. Sie sind fertig?“

 

Der Tisch war was…? Sie sah ihn perplex an. „Miss Clark, es ist Ihr Geburtstag, und wir gehen aus“, klärte er sie auf. Sie starrte ihn an. Sie gingen aus? Zu zweit? Ihr Puls erhöhte sich, aber nur minimal.

 

„Ok“, gab sie zurück, und hatte nicht gedacht, auszugehen. Vielleicht war ihr Outfit zu gewagt? Eigentlich hatte sie gedacht, dass nur er sie heute zu Gesicht bekam…! Sie strich sich abwesend über den engen Rock. Ob sie sich umziehen sollte? Er kam näher.

 

„Und schwarz ist wohl definitiv meine Lieblingsfarbe an Ihnen“, fügte er ruhiger hinzu, und sie wich gegen den Tisch zurück. Nein! Er würde sie nicht dazu bringen, rot zu werden, nur, damit er sich beschweren konnte, dass ihr Puls zu hoch sei. „Meine Tische scheinen es Ihnen angetan zu haben“, murmelte er amüsiert, und sie senkte hastig den Blick.


„Wir können gehen“, sagte sie gepresst und wich zur Seite aus. Heute würde er es nicht schaffen, sie zu manipulieren mit… seinem Gesicht, seinem Körper… seinen… Händen! Er hatte sie in den Hals gebissen, das bedeutete, er durfte heute nicht! Jetzt wo sie sich diese Klausel ins Gedächtnis rief, spürte sie fast so etwas wie… Bedauern? Sie wurde langsam verrückt. Sie schluckte schwer und schritt zur Garderobe.

Nicht an ihn denken, befahl sie sich. Nicht auf diese Art!

 

„Gut“, erwiderte er amüsiert, und sie würde vieles dafür geben, nur einen Blick in seinen Kopf werfen zu können! Nur einmal….

 

~*~

 

Sie fuhren seit einer Weile. Und anscheinend nicht direkt in die Stadt. Sie war sich nicht sicher, ob er gesagt hatte, wo der Tisch reserviert war, aber anscheinend kostete es sie Zeit dorthin zu gelangen. Sie biss sich auf die Lippe, denn es drängte sich ihr eine entscheidende Frage auf. Immer wieder dieselbe, natürlich.

 

„Was passiert jetzt?“, flüsterte sie fast, aber er atmete entspannt aus.

 

„Nun, wir fahren jetzt noch etwa zwanzig Minuten, parken den Wagen und genießen das Essen, Miss Clark.“ Sie sah ihn an. Schließlich wandte er den Kopf in ihre Richtung. „Aber… das meinten Sie wohl nicht?“ Er versuchte sich an einem Lächeln, aber sie sah, dass es seine grauen Augen nicht erreichen konnte.

 

„Ich… will nur wissen, ob…“ Aber sie sah, wie sich sein Körper anspannte, wie er sich bereits jetzt schon physisch weigerte, auf ihre Fragen einzugehen. „Ich glaube, ich habe keinen Hunger“, schloss sie, während ihr Blick streng nach vorne aus dem Fenster gerichtet war. Sie spürte sie Augen auf ihrem Gesicht, und sie wusste, sie wurde rot.

 

„Keinen Hunger?“, wiederholte er jetzt, aber sie konnte den Ton nicht einordnen.

 

„Nein“, log sie, allerdings schlug ihr Herz so laut, dass sie wohl ohnehin nichts essen konnte. Zumindest nicht jetzt gerade. Er atmete gereizt aus.

 

„Wir sind unterwegs, der Tisch ist reserviert, und deshalb werden wir essen“, erklärte er gereizt.

 

„Sie essen doch ohnehin nichts!“, fuhr sie ihn zornig an, und ihr Handgelenk zog heftig unter ihren Worten. Ihre Hand schloss sich unbewusst um das Tattoo, während sie unterdrückte ihren Mund zu verziehen. Und tatsächlich trat er auf die Bremse, lenkte den Wagen nach rechts an den Seitenstreifen, und mitten im Wald auf der unmarkierten Landstraße hielten sie an.

 

Er stellte den Motor ab und wandte sich in seinem Sitz ihr gänzlich zu. Oh nein! Er sah zu gut aus, als dass sie sich streiten könnte! Außerdem hatte sie das kleine Problem mit den unkontrollierbaren Schmerzen, jedes Mal, wenn sie es denn wagen sollte ihre Meinung zu sagen. Widerwillig sah sie ihn an. In sein wütendes Gesicht. Oh nein, er war wirklich wütend.

 

„Ich denke, ich war ziemlich entgegenkommend, oder irre ich mich, Miss Clark? Ich denke, ich habe Ihre Freunde in mein Haus geholt, keinen von ihnen umgebracht, ich habe Sie nicht dem Teufel verkauft und noch immer sind Sie am Leben, obwohl Sie mir keinerlei Nutzen bringen!“, fuhr er sie an, und jedes Wort brannte messerscharf.

Sie unterdrückte die Tränen nicht mal, schüttelte lediglich den Kopf und schnallte sich hastig ab. „Was wird das?“, erkundigte er sich kalt, aber sie zog es vor, nichts zu sagen, und somit keine Schmerzen zu riskieren.

 

Aber sobald sie die Autotür geöffnet hatte und ausgestiegen war, kehrte der Schmerz in ihrem Handgelenk mit aller Macht zurück.

 

„Miss Clark!“, hörte sie seine zornige Stimme nahezu augenblicklich, nachdem sie die Tür zugeschlagen hatte. Er war hinter ihr, schneller als es menschlich möglich sein könnte, und umfing hart ihr Handgelenk. Sie versuchte ihre Hand aus seinem Griff zu ziehen, aber er war zu stark. Wo war ihre verdammte Kraft jetzt? Gerade in diesem Augenblick?

„Was denken Sie tun Sie da? Wollen Sie weglaufen und sterben? Ist es das?“, knurrte er, und die Herbstsonne tanzte auf den dunkelblonden Strähnen und ließ sie golden schimmern.

 

Seine Augen waren wachsam, wütend und entließen sie keine Sekunde lang aus seinem Blick. „Mich anzuschweigen wird Ihnen auch nichts bringen!“, fügte er bitter hinzu. Sie wandte sich schließlich aus seinem Griff und schaffte es sogar, zornig auszusehen.

 

„Ich habe es satt, dass mir keiner erzählt, was anscheinend alle zu wissen scheinen!“, fuhr sie ihn an, ignorierte den Schmerz in ihrem Handgelenk, und er runzelte tatsächlich die Stirn.

 

„Warum so wütend, Miss Clark?“

 

„Warum? Weil Sie mich seit Tagen gefangen halten und mir nicht sagen, was-“


„Weil ich es nicht weiß!“, unterbrach er sie lauter. „Und es steht Ihnen auch nicht wirklich zu, so etwas von mir zu verlangen. Der Schmerz in Ihrem Handgelenk müsste mittlerweile unerträglich sein, so oft wie Sie mir widersprechen!“, ergänzte er, während er näher kam. Die Nähe seines Körpers löste das bekannte Kribbeln in ihr aus. Und immer noch betrachtete er sie, als wäre sie plötzlich jemand anderes.

 

„Sie werden jetzt in das Auto steigen. Wir werden essen gehen. Und sie lassen es verdammt noch mal meine Sorge sein, was in Zukunft passieren wird. Wir haben einen Vertrag.“

Und sie hätte gerne widersprochen, hätte gerne geschrien, ihre Kraft aktiviert und dafür genutzt, ihn von sich zu stoßen, aber… sie war viel zu schockiert.

Sie war wütend. Sie war wirklich wütend. Und es war nichts, was sie tatsächlich erklären konnte. Es brodelte in ihrem Innern. Sie fühlte sich… anders, neu… und mächtig wütend.

 

„Sie werden mich umbringen, sobald Sie wissen, dass meine Kraft nicht mehr vorhanden ist, wenn Sie mich verwandelt haben, richtig?“, entfuhr es ihr heiser und sie ließ ihn nicht aus den Augen. Er atmete angestrengt aus.

 

„Miss Clark-“

 

„Wieso sagen Sie es nicht?“, unterbrach sie ihn zornig und wieder sah er sie ungläubig an.

 

„Steigen Sie ein“, entgegnete er kalt, ohne auf ihre Frage zu antworten. Ihr Herz klopfte so laut, dass es ihn wahnsinnig machen musste, überlegte sie zufrieden. Gut so.

Und dann hörte sie es. Es war wie ein… Klingeln. Ein Klirren. Ein Geräusch, das aus den Wäldern kam. Liam war genauso schnell alarmiert wie sie und horchte auf.

Als sie sich umwandte erhaschte sie nur noch einen letzten Blick auf eine Gestalt, die unmenschlich schnell zwischen den Bäumen verschwand.

 

Sie spürte, dass er näher gekommen war. Er griff nach ihrem Arm. „Einsteigen. Jetzt“, informiert sie seine ruhige Stimme einsilbig.

 

„Was war das?“ Aber sie spürte die bekannte Angst wieder. Sie würde nicht länger diskutieren. Wahrscheinlich war es sicherer in der Gefahr von Liam Cunning zu bleiben, wenn sie die anderen Gefahren alle noch nicht kannte.

Sie war sich nicht sicher, woher die neue Unruhe und der Unmut kam, die sie spüren konnte, aber es machte sie nervös. Sie stieg wieder ein.

 

Und schnell saß er wieder neben ihr, startete den Wagen und sie sausten die Straße entlang. Wortlos. Richtig, sie waren immer noch im Streit, fiel ihr wieder missmutig ein. Wusste er, wer im Wald gewesen war? Wer lief so schnell? Waren es Vampire? Oder etwas anderes? Und war es alleine unterwegs? War es überhaupt auf der Suche nach ihr? Sie kaute wieder auf ihrer Unterlippe und wusste nicht, ob sie ihn fragen sollte.

 

„Wer war das?“, fragte sie schließlich nach einer Weile, als ihr die Stille zu drückend wurde. Zuerst antwortete er nicht. Schließlich seufzte er.

 

„Ich weiß es nicht.“ Und er log! Sie wusste es so sicher, wie jedes Mal, wenn er sie nicht ansah. Aber sie beschloss nicht weiter nach zu fragen. Nachher hypnotisierte er sie noch, das Auto zu verlassen und sich dem Tod auszuliefern. Sie wusste nicht, wie es gerade um seine Laune stand.

Aber viel wichtiger war, er wusste wieder einmal viel mehr!

 

Sie knetete ihre Hände, verschränkte die Finger im Schoß, nur um sie wieder zu lösen. Ab und an traf sie sein entnervter Blick. Sie konnte es aber nicht verhindern. Eine Ruhelosigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen.

Endlich erreichten sie ihr Ziel. Es war eine Ortschaft, die sie nicht kannte. Eine Geschäftsstraße erstreckte sich meilenweit, so kam es ihr vor. Er parkte den Wagen auf einem eingezäunten Platz, der direkt zu einem riesigen Haus führte.

 

Sie stieg aus, ohne auf ihn zu warten, ohne sich die Tür öffnen zu lassen und sah sich um.

Alles war gepflegt. Die Grünflächen, die Auffahrt, sogar die Angestellten hier wirkten extrem trainiert darauf, gut auszusehen.

Er stand neben ihr und deutete mit einem Nicken zum Eingang des großen Gebäudes. Zwei Männer standen vor den Türen. Sonnenbrillen schirmten ihre Blicke ab, aber als sie näher kamen, nickten beide nur und wichen zurück. Die Türen schwangen nach innen auf, und geschäftig zog er bereits den Mantel aus.

Er wurde ihm abgenommen, und eilig zog sie auch ihren Mantel aus.

 

Die Scheiben liefen durchgehend von Wand zu Wand, waren vor der Sonne verspiegelt, und es war angenehm hier drin. Eine weite Treppe mit wenigen Stufen führte hinunter in einen Saal, wo mehrere Tische verteilt standen, und Menschen plaudernd verteilt saßen, Kaffee tranken oder lasen. Es war ein hübscher Ort.

Und es wirkte teuer. Erst als sie von einem Kellner die Treppe hinab geführt wurden, bemerkte sie etwas Auffälliges. Alle Menschen hier wirkten… viel zu schön. Viel zu… zeitlos. Sie hatte inne gehalten. Er hatte ebenfalls neben ihr gehalten.

 

„Was ist?“, fragte er ruhig, aber sie ruckte nur mit dem Kopf. „Kommen Sie“, fügte er hinzu und legte seinen Arm auf ihre untere Rückenpartie. Sofort machte ihr Herz einen Satz bei seiner Berührung, und sie glaubte ihn lächeln zu sehen. Aber es war schnell verschwunden.

Sie wurden zu einem großen Tisch geführt, der umrandet mit großen Terrakottatöpfen voller blühender Rosen stand. Der Blick bot Aussicht in ein riesiges Gelände. Alles erinnerte sie an einen Golfclub. Aber der Ausblick nach hinten zeigte ihr zwar eine riesige Grünfläche, aber keine Golfanlage.

 

„Miss Clark, was wünschen Sie zu speisen?“, erkundigte sich der Kellner, und er wirkte fast aufgeregt. Sie schenkte Liam einen kurzen Blick. Die Leute hier kannten anscheinend ihren Namen.

 

Ahem…?“ Sie sah ihn hilfesuchend an, aber er lächelte tatsächlich.

 

„Sehen Sie mich nicht an. Ich esse nicht. Suchen Sie sich aus, was immer Sie möchten. Egal, was“, erklärte er.


„Gibt es… ein Menü?“, fragte sie vorsichtig und kam sich albern vor. Der Kellner betrachtete sie fasziniert.

 

„Nein. Kein Menü, Miss. Nennen Sie, was Sie möchten.“ Sie verdrehte die Augen. Was war das hier für ein seltsames Restaurant? Sie zuckte schließlich die Achseln. Wenn Liam sie ärgern wollte, gut. Dann sollte er nur.

 

„Ok, ich nehme eine englische Frühstückspfanne, mit Bacon, Bohnen und Bratkartoffeln, dazu Pancakes und Gingerale“, erwiderte sie lächelnd. Der Kellner verließ sie mit einem amüsierten Nicken.

 

„Sie bestellen gar nichts?“, fragte sie gereizt, denn das ganze Konzept von Essengehen war wohl vollständig aufgehoben, wenn er nicht mal aß!

 

„Man kennt mich hier“, erwiderte er nur. Sie atmete laut aus, verschränkte wieder die Finger ineinander und sah sich nervös um.

 

„Sie sind sehr aufgeregt“, stellte er schließlich fest. Sie atmete wieder aus, versuchte ernsthaft, sich zu beruhigen, aber er schüttelte den Kopf. „Es liegt an der Kraft. Sie sind nicht ausgelastet. Aber dafür sind wir hier“, schloss er lächelnd. Sie sah ihn sofort an.


„Was?“, erwiderte sie, aber sobald er ihre Kraft erwähnt hatte, spürte sie es in sich brodeln und kochen, als könne ihre Kraft nicht erwarten, getestet zu werden. Und sie fühlte sich unwohl hier. Die Menschen schienen sie zu betrachten.

Und sie bemerkte, keiner aß etwas. Sofort schoss ihr Blick hoch in sein Gesicht.

„Das sind Vampire!“, flüsterte sie tonlos. Er nickte lächelnd. „Sie bringen mich in ein Haus voller Vampire?“, fügte sie entrüstet hinzu, aber er zuckte die Schultern.

 

„Haben Sie Angst?“ Sie schüttelte unbewegt den Kopf, und sein Lächeln irritierte sie. Anscheinend war seine Wut verraucht. „War Ihr Abend gestern unterhaltsam?“, erkundigte er sich höflich, und der Kellner brachte bereits die Getränke.

 

Sie war fast überrascht, dass er nicht Blut in irgendeiner Form brachte. Nein, er stellte ihm einen Espresso auf den Tisch. Dazu ein Glas Wasser. Sie bekam eine ganze Flasche Gingerale. Sie bedankte sich zögerlich, während Liam es ignorierte.

 

„Mein Abend war sehr nett, danke“, erwiderte sie also, bemüht um Höflichkeit. Es war schwierig. Sie war aufgeregt. Gereizt. Rastlos. Und er sah es ihr anscheinend an.

„Ich dachte, Sie würden Blut bestellen“, bemerkte sie jetzt, als sie sich sicher genug fühlte, dass er wohl nicht schreien würde. Er lächelte sogar breiter.


„Das wäre auch überhaupt kein Klischee, nicht wahr?“

 

Und bevor sie antworten konnte, zog er eine Schachtel aus der Innentasche seines dunklen Jacketts. Er schob es über den Tisch, und sie starrte auf die Schachtel.

Es war… ein Geschenk? Sie sah ihn an. Mit großen Augen.


„Herzlichen Glückwunsch, Miss Clark“, erklärte er freundlich, und sie konnte seinen Blick nicht deuten. Seine Augen hatten sie fixiert, wirkten dunkler als vorher, und sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Wieder einmal sah er unglaublich gut aus. Wieder einmal machte er ihr das Atmen schwer, in seinem dunklen Anzug, dem dunkelgrünen Hemd, was perfekt zu seinen Haaren passte, und seiner ganzen Erscheinung.

Er war ein verflucht schöner Mann. Sie senkte hastig den Blick.

 

„Ein Geschenk? Für mich?“, vergewisserte sie sich leise, und er nickte nachsichtig.

 

„Natürlich. Das ist doch so üblich an einem Geburtstag.“

 

„Was sollen die Leute hier denken?“, wagte sie zu fragen. „Wenn alle wissen, dass Sie hier mit einem Menschen…“

 

„Das ist mir verdammt egal, Miss Clark. Und außerdem… die mächtigsten Personen in diesem Raum sitzen hier. An diesem Tisch“, erwiderte er leise. Und sie schluckte schwer.

Und sie konnte nicht verheimlichen, wie angenehm überrascht sie war. Vor allem, da dies dann das erste Geschenk sein würde, das sie auspackte.

Und das Geschenk auszupacken lenkte ihre ruhelose Macht ein wenig ab. Vorsichtig zupfte sie an dem silbernen Geschenkband. Es war um eine Samtschachtel gewickelt, also konnte sie ziemlich sicher, dass es sich hier um Schmuck handelte.

Sie hatte noch nie Schmuck geschenkt bekommen! Schon gar nicht von einem Mann. Einem Mann, der ein Vampir war. Und dessen Blutsklave sie war.

 

Sie atmete angespannt aus, als sie die Schachtel öffnete. Er betrachtete sie, ohne sie aus den Augen zu lassen. Die Kette war silbern und schlicht. Es war kein Schmuckstück aus einem Juweliergeschäft, fiel ihr sofort auf. Der Anhänger war ein grobgeschliffener Stein. Er wirkte milchig, undurchsichtig und hatte die Größe ihres Daumennagels. Sie hob den Blick.

 

„Keine Diamanten, falls Sie so etwas erwartet hatten“, erklärte er lächelnd, aber sie hatte überhaupt nichts erwartet. Also war das – was auch immer es für eine Kette war – ein ziemlich schönes Geschenk.

 

„Danke“, sagte sie also. Er lehnte sich näher vor. Seine grauen Augen betrachteten sie warm.

 

„Das ist ein Orthoklas. Der Stein kommt aus Brasilien. In dieser Form ist er selten zu finden. Er ist ein… eine Art Kompass.“ Sie sah ihn an. Er entließ sie noch nicht aus seinem fesselnden Blick.


„Ein Kompass? Für was?“, flüsterte sie leise, und er lächelte.

 

„Für gewöhnlich trägt jeder Jäger einen solchen Stein“, erwiderte er ruhig. Und sie erinnerte sich. Hatte Hawker nicht auch so einen ähnlichen Stein getragen? Ja, er trug ihn um den Hals. Ihre Stirn runzelte sich.

 

„Woher haben Sie das?“ Und sein Lächeln wurde schmaler.


„Ist das wichtig?“ Aber sie konnte es sich denken. Wenn jemand Jäger als Hobby tötete, dann sollte es wohl ein leichtes sein an einen solchen Stein zu kommen. Sie schob ihn wieder über den Tisch zurück.

 

„Ich könnte nicht-“

 

„Miss Clark, dieser Stein ist tausend Jahre alt. Niemand wird ihn mehr beschlagnahmen wollen. Tragen Sie die Kette, dann werden Sie immer aufzufinden sein. Zumindest für einen Jäger.“ Und ihr Blick hob sich verblüfft zu seinen Augen.

 

„Wieso geben Sie mir das?“, hauchte sie, aber er antwortete nicht sofort. Sein Blick hielt sie gefangen. Er war wunderschön.

 

„Würden Sie es tragen?“ Und sie zwang sich, ihren Herzschlag zu beruhigen.


„Ich bin ihre Sklavin, wieso zwingen Sie mich nicht?“, wollte sie verblüfft wissen, aber er quittierte ihre Worte mit einem anerkennenden Nicken.

 

„Weil ich nicht will, dass Sie diese Kette wieder ablegen, sollten Sie es nicht mehr sein.“

 

Und ihr Mund öffnete sich verblüfft. Was?! Sollte sie was nicht sein? Seine Sklavin? Es bestand eine solche Aussicht?! Hieß das, es gäbe ein Szenario, in dem sie nicht mehr verpflichtet war, ihm hörig zu sein und sie würde noch leben, um diese Kette zu tragen?

 

„Bitte“, fügte er ruhiger hinzu, bevor sie etwas erwidern konnte, und sie spürte die Hitze in ihren Wangen. Ehe sie etwas Entsprechendes sagen konnte wurde ihr tatsächlich ihr Essen gebracht. Ihr Mund öffnete sich erstaunt. Sie bekam tatsächlich ein englisches Frühstück serviert. Und riesige Pancakes.

 

Und ausnahmslos alle Vampire im Raum wandten sich um, sahen ihr praktisch zu, wie sie die Gabel prüfend in eine Bratkartoffel steckte, um zu testen, ob sie durch war. Aber es sah köstlich aus.

 

„Alle Augen sind auf Sie gerichtet“, informierte er sie amüsiert. Ja, es war ihr wirklich unangenehm, aber sie hatte wirklich Hunger. Sie ignorierte also die verstummten, versammelten Vampire und aß voller Genuss.

 

Er hatte ihre eine Kette geschenkt, damit ein Jäger sie würde finden können, falls sie irgendwann nicht mehr bei ihm war.

Sie wollte es gar nicht deuten. Sie konnte es nicht einmal wirklich deuten. Sie wusste nur,

er hatte ihr ein Geschenk gemacht. Und es freute sie. Das würde sie aber nicht zugeben. Nicht laut zumindest.

 

Kapitel 18

~ Daughter of the King ~

 

Etwas skeptisch betrachtete sie den angrenzenden weiten Platz. Sie hatte den Mantel ausgezogen, denn ihr war unnatürlich heiß. Schon seit einer Weile betrachtete er sie unverhohlen.


„Dann zeigen Sie, was Sie können, Miss Clark“, erklärte er offen und deutete auf die weite Fläche. „Sie können rennen, Dinge heben, werfen, zerschlagen – egal.“ Und unsicher trat sie vor zu einem großen Felsquader. Sie würde die Arme allerhöchsten um die Längsseite bekommen. Er sah aus, als wöge er hundert Tonnen. Nein, vielleicht eine Tonne. Aber trotzdem sah er schwer aus.

 

„Ich soll ihn hochheben?“, vergewisserte sie sich unsicher, aber sie würde es probieren.

 

Sie ging in die Knie, und sie spürte, wie ihre Kraft vor Spannung kribbelte. Sie schloss die Arme um den Quader. Und… er wog gar nichts. Sie hob ihn aus dem grünen Gras, spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten, wie sie sich überhaupt erst zu entwickeln schienen, und ein überraschter Laut verließ ihren Mund, als sie den Quader hoch in die Luft warf, nur um ihn nach zwei Sekunden wieder aufzufangen.

 

Sie spürte eine seltsame, sehr alte Macht. Sie setzte den Stein zurück auf den Boden.

 

Und mit einem untypischen Schrei schlug sie ihren ausgestreckten Arm auf den Stein nieder.

Und als wäre es das natürlichste auf der Welt, zerbröselte er unter der Intensität ihres Schlags.

 

Sie atmete schnell. Ihre Arme fühlten sich etwas taub an, aber schon ließ dieses Gefühl nach. Sie stand breitbeinig in ihren Stiefeln vor den Gesteinsbrocken, und eine eigenartige Ruhe befiel sie.


„Wie schnell sind Sie?“, wollte er unbeeindruckt wissen, und sie sah ihn nicht mal an, bevor sie ihren Oberkörper senkte. „Sie dürfen bis zum Rand des Grundstücks rennen“, fügte er hinzu. Sie spürte seine Erlaubnis in ihrem Körper, spürte, einen Hauch an Freiheit, und schon sprintete sie los.

 

Und das Grün sauste an ihr vorbei, ihre Beine bewegten sich so schnell, als wären sie weicher Pudding, und außer Atem krachte sie mit ausgestreckten Armen gegen die Grundstücksmauaer, die nun ebenfalls bröselte.

 

Er war keine Sekunde später neben ihr.

 

Sie stützte die Hände auf die Knie.


„Das war bemerkenswert. Wie fühlen Sie sich?“ Aber er klang nicht freundlich. Er klang nicht… wirklich begeistert. Er wirkte… bestätigt. Er sah aus, als wolle er resignieren. Als hätte ihn etwas besiegt, und sie verstand nicht.

 

„Ich fühle mich großartig.“ Und sie konnte ihn nicht fragen, denn sie setzte bereits zum nächsten Sprint an. Sie wollte rennen, wollte schneller sein, wollte den Wind im Gesicht spüren. Sie wollte ihre Kraft einsetzen, und wieder wartete er auf sie am anderen Ende der Grünfläche.

 

„Wir sollten uns auf den Rückweg machen“, eröffnete er plötzlich. „Wir sind nicht mehr allein“, fügte er hinzu. Und weit über der abgegrenzten Parkanlage hinaus ragten Berge in den Himmel, Wälder so dunkel, dass sie glaubte, die Sonne würde den Boden dort nie erreichen.

 

Aber in einer Luftlinie von keinen hundert Metern erkannte sie eine Reihe an Gestalten im Wald. Und fast sah es so aus, als betrachteten sie diese Gestalten.

„Vampire?“, vermutete sie außer Atem, aber er ruckte mit dem Kopf.

 

„Nein. Keine Vampire. Kommen Sie. Es gibt Dinge zu erledigen“, erwiderte er, kryptisch wie eh und je.

 

„Dinge?“, wiederholte sie jetzt, und er sah sie an. Und in seinem Blick lag plötzlich ein seltsames Interesse.

 

„Bitte, ziehen Sie den Mantel über, Miss Clark“, bat er sie, ohne jeden Zusammenhang.


„Oh, mir ist nicht kalt, ich-“


„Er soll Sie auch nicht vor der Kälte schützen“, erklärte er, und all seine Freundlichkeit war verschwunden.


„Ich verstehe nicht…?“, begann sie, aber er führte es nicht aus, hielt ihr lediglich ihren Mantel entgegen, und sie sah ihn ratlos an.

 

„Ziehen Sie ihn bitte über. Ich will nicht, dass…“ Doch er sprach nicht weiter. Sie spürte, dass er einen Befehl geäußert hatte, denn ihr Handgelenk ziepte unangenehm stark. Sie ergriff den Mantel zog ihn über, und er deutete nach vorne.

 

Sie waren keine halbe Stunde hier draußen gewesen.

 

Und die Gestalten beobachteten sie immer noch. Wer waren diese Leute? Und waren sie hinter ihr her? Sie hatte Angst ihn zu fragen. Und ihr Herz pochte laut. Sie war nicht ausgelastet, bemerkte sie. Sie hatte sich verändert. Sie hatte sich doch an ihrem Geburtstag verändert.

 

„Können wir zum Haus sprinten?“, fragte sie ihn, aber er verneinte, ohne sie anzusehen.

„Das wäre nicht sicher.“

 

„Nicht sicher?“

 

„Außerdem wären diese Personen eher da“, fügte er knapp hinzu. Und sie sah, wie er sein iPhone aus seiner Tasche holte. Er telefonierte. Sie hatte ihn noch nie ein technisches Gerät benutzen sehen, wusste allerdings, dass er so etwas besitzen musste, hatte sie doch E-Mail-Kontakt mit ihm gehabt. Er hielt sich das Telefon an Ohr, während sie das Grundstück durch ein Tor in der Mauer verließen und sich auf dem Parkplatz wiederfanden.

 

„Komm zum Haus. Jetzt gleich. Wir haben da ein Problem“, hörte sie ihn sagen, und sie wusste nicht, mit wem er telefonierte. Aber sie hatte eine Ahnung….

 

~*~

 

Die Rückfahrt verlief… still. Und etwas lag in der Luft. Er sah sie nicht an, sah starr nach vorne, und immer noch kribbelte etwas Neues in ihr. Sie wollte ihn fragen, wer die Personen waren, die mitten in den Wäldern standen, und anscheinend ihn beobachteten. Oder sie?

 

„Muss ich Angst vor den Personen haben?“, fragte sie plötzlich, und kurz streifte sie sein ungläubiger Blick.

 

„Angst? Sie haben einen Felsquader mit Leichtigkeit zerschlagen und fragen mich, ob sie vor diesen Personen Angst haben müssen?“ Sie wusste, wahrscheinlich war sie stärker, als sie dachte, aber dennoch! Sie konnte unmöglich stärker sein als Liam, und… sie wusste nicht, was sonst noch auf sie wartete!

 

„Muss ich?“, wiederholte sie also eindringlicher, und er seufzte.

 

„Nein. Sie nicht, Miss Clark.“

 

Aber… Sie?“, entfuhr es ihr entgeistert, ehe sie nachgedacht hatte. Er ruckte lediglich mit dem Kopf, was ein Ja oder Nein signalisieren konnte. Sie wurde unruhiger.

Plötzlich wandte sie den Kopf zum Fenster. Sie hatte etwas gesehen! Da draußen war etwas!

 

„Ich glaube-“, begann sie, aber er beschleunigte plötzlich, und mit bestimmt 180 Stundenkilometern sausten sie nun durch über den schwarzen Asphalt.

 

„Ja, sie verfolgen uns“, bestätigte er grimmig.

 

Und sie verfolgte die Gestalten, anstatt noch mehr Fragen zu stellen. Sie schienen neben dem Auto herzurennen. Ab und an blitzte eine Gestalt im Wald hervor, wenn sich die Bäume lichteten.

 

Und als sie endlich nach einer Ewigkeit das Anwesen erreichten war nichts mehr von den Gestalten zu sehen. Aber es lag ja auch angeblich ein Schutz auf dem Zombiegarten! Es schauderte sie. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Liam fuhr so eilig die Auffahrt hoch, dass der Kies den Staub nur so aufwirbelte.

 

Als er innehielt konnte Joanna nicht mehr sagen, wo oben oder unten war. Der Staub war überall. Kurz warteten beide, dass sich der Kiesstaub lichtete, und Joanna erkannte, dass Greyson bereits auf sie wartete. Nein, nicht Greyson, erinnerte sie sich.

Sie stieg aus, ohne auf Liams Erlaubnis zu warten. Es ziepte kurz in ihrem Handgelenk, aber er schien es ihr nicht übel zu nehmen, denn er folgte ihr sofort.

 

„Ich habe es dir gesagt!“, knurrte Cilian, ohne ihn zu begrüßen. „Ich wusste es!“

 

„Was?“, entfuhr es ihr. „Was ist los?“ Aber Cilian sah sie mit einem verstohlenen Blick an. Sie wusste, dass er vor ihrem Fenster gestanden hatte. Sie wusste, dass er sie mochte. Sie wusste es! Aber es war alles gerade unwichtig.

 

„Deine Grenze wird sie nicht aufhalten!“, bemerkte Cilian gereizt.

 

„Das weiß ich.“

 

„Ich hasse dich so sehr dafür“, murmelte Cilian stiller.

 

„Und dennoch bist du hier“, schloss Liam, ohne darauf einzugehen. Jo merkte, wie angespannt er war. „Ich möchte jetzt, dass sie bei mir bleiben. Sie werden meine Seite auf gar keinen Fall verlassen.“ Sie nickte perplex. Er zog seinen Mantel aus. Und Cilian stellte sich fluchend neben sie. Sie stand in der Mitte der beiden Brüder, und sie sahen alle in Richtung Tor.

 

Allerdings wusste sie nicht, was es dort zu sehen gab, außer der weiten Grünfläche davor.

 

„Worauf warten-“ Aber ein klirrendes Geräusch unterbrach ihre Worte. Sie zuckte reflexartig zusammen, duckte sich knapp, aber weder Liam noch Cilian hatten reagiert. Und ihr Mund öffnete sich ungläubig, als sie erkannte, dass das Tor einfach aus den Angeln geschlagen worden war. Innerhalb von wenigen Sekunden sah sie die Schatten auf dem Grundstück deutlicher werden. Und in einer immensen Geschwindigkeit standen sie jetzt direkt vor ihnen.

 

Sie war vor Schreck zurückgewichen, aber Liams Macht hielt sie an seiner Seite. Sie starrte die Personen an.

 

Es waren Frauen! Es waren bloß eine Handvoll Frauen, aber sie sahen bitterböse aus!

Sie spürte, wie Cilian neben ihr nervös wurde.

Ihr Herz schlug schnell, während ihr Blick über die gefährlich aussehenden Frauen wanderte. Sie trugen schwarze Lederröcke, behangen mit kleinen Beuteln, Nieten, Bändern und Schlaufen für Waffen. Einige hatten lange, breite Schwerter direkt auf sie gerichtet, andere hielten knarzend die Pfeile hart gespannt in den langen Bögen.

 

Sie hatten alle dunkle Haare. Lange dunkle Haare, hoch und streng gebunden, und die Zöpfe fielen ihnen voll und lang über die Schulter, und Jo glaubte, seltsame Knochen in den schwarzen Strähnen erkennen zu können. Was sollte das sein? Trophäen? Es war eklig. Sie trugen schwarze Korsagen, ebenfalls aus Leder, und Messer steckten in den Seiten, leicht zu ziehen.

 

Schmuck zierte ihre Hälse, Ohren und Handgelenke. Sie trugen schwere Ringe und schwarze Schminke auf ihren Augen. Auf ihren Oberarmen hatte sie verschiedene Tattoos, in ihr unbekannten Formen oder Schriften. Eine goldene Münze blitzte um den Hals der Frau, die am weitesten vorne stand.

 

Sie erkannte jetzt zwei Männer hinter den fünf Frauen. Sie trugen schwere Leinenbündel über ihren Rücken und hatten zwei auffällig breite Silberbänder um ihre Handgelenke. Auch in die Silberbänder waren die seltsamen Zeichen eingraviert.

 

„William Cunning“, sagte plötzlich die grimmigste Frau, und sie klang nicht wirklich so, als ob sie einen alten Freund begrüßen würde. Nein. Ganz und gar nicht. Jo schätzte sie auf höchsten Anfang zwanzig. Auf gar keinen Fall älter! Auch wenn ihre Haut gebräunt und ihr Gesicht durch die viele Schminke älter wirkte.

 

Sie hatte eine unglaubliche Figur. Aber alle Frauen vor ihr hatten eine ähnlich beeindruckende Figur.

 

Ravêna“, entgegnete Liam nickend. Sein Ton gab kein Gefühl preis. Sie fühlte einen kurzen Stich, denn anscheinend kannte Liam die Frau mit der mörderisch guten Figur. „Ich sehe, man hat dich zum Schergen verdammt?“, entfuhr es ihm tatsächlich abschätzend.

 

„Mein Name ist in deinem Mund verboten, Geschöpf der Dunkelheit. König Tyr hat dich also nicht umgebracht“, entgegnete sie kalt, und die restlichen Frauen schienen sich kaum noch zurückhalten zu können, so laut knarrten jetzt die Sehnen ihrer Bögen. „Cilian“, fügte die Frau jetzt mit einem abschätzenden Blick auf ihn hinzu. „Wie ich sehe, versuchst du dich an der nächsten Königin?“

 

Und Jo verstand nicht richtig. Eigentlich verstand sie gar nichts! Wer waren diese Frauen? Und neben ihr wurde Liam merklich ruhiger.

 

„Was soll das bedeuten?“, entfuhr es Cilian tonlos.


„Das bedeutet, ihr gebt uns die Auserwählte und könnt froh sein, wenn wir euch besonders schnell in Stücke zerfetzen!“, erwiderte die Anführerin, wie es schien. Und… was?

 

„Ich bin nicht die Auserwählte!“, entfuhr es ihr so hastig, dass sich alle Blicke auf sie richteten. Und plötzlich verneigten sich die Frauen und die zwei Männer vor ihr. Alle, außer der Frau namens Ravêna. Jo sah verdattert zu.

 

„Was?“, entgegnete diese schlicht und sprach zum ersten Mal direkt mit ihr.

 

„Ich… ich…“, stotterte Joanna hilflos, aber sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie einen Quader zerschlagen hatte! „Ich… es war ein Missverständnis. Ich habe nie… ich war nie die Auserwählte“, stammelte sie. Sie konnte förmlich sehen, wie die Frau vor ihr zorniger wurde.

 

„Cunning, was-“, fuhr sie Liam jetzt an, aber dieser atmete aus.

 

„Sie ist nicht unsere Auserwählte. Aber anscheinend…“, erwiderte er langsam, aber führte den Gedanken nicht aus.

 

„Eure…? Eine Vampirmörderin?“, sagte Ravêna jetzt unbeeindruckt. „Nein, so etwas Niederes bist du nicht“, knurrte sie. Und sie sah Jo allerdings an, als wäre sie noch etwas wesentlich Niederes als das. Jo fühlte sich unter ihrem Blick nicht wohl.

Überhaupt nicht wohl.

 

„Du bist die erstgeborene Tochter von König Tyr, Tochter der Amazonen-Königin Kâya.“

 

„Fuck…“, entfuhr es Cilian neben ihr, und er machte tatsächlich einen Schritt nach vorne.

 

Ravêna, wir-“

 

„Müssen wir das wieder tun, widerliches Geschöpf der Dunkelheit? Dass wir überhaupt mit euch reden ist keine Freude!“ Und die Spitze eines Pfeils drückte sich gegen seine Brust.

 

„Wir haben nicht-“

 

„Was?“, unterbrach Ravêna ihn überlegen. „Dass dein verdammter Bruder einen Fehler begangen hat?“ Jetzt bewegte sich Liam neben ihr.

 

„Es tut mir leid, deine Pläne zu durchkreuzen, allerdings… wird es nicht möglich sein, sie dir zu übergeben“, erklärte er leichthin und schien sich mit diesen neuen Informationen nur zu schnell abgefunden zu haben. Was zur Hölle…?

 

„Was? Was soll das bedeuten?“ Sie kam näher, und Jo zuckte vor Schreck zusammen, als die fremde Frau ihren Arm umfasste. Liam ließ es geschehen, aber nur zu schnell hatte die Frau ihren Arm fahren gelassen und war zurückgewichen. „Du hast sie unterworfen!“, entfuhr es ihr tonlos vor Schreck. Das Murmeln unter den übrigen Frauen schwoll an.

 

„Wenn ich sterbe, stirbt sie auch“, informierte Liam sie kalt. Joannas Herz schlug ihr bis zum Hals.

 

„Gut“, erwiderte Ravêna grimmig. Und mit ihrem Zeichen ließen die Frauen die Sehnen fahren. Drei Pfeile durchbohrten Liam in unfassbarer Geschwindigkeit. Jo schrie auf, aber die Frauen blieben unbeeindruckt. Und Cilian neben ihr machte keine Anstalten, etwas zu unternehmen.

 

„Dann werden wir dich lediglich foltern, William“, knurrte sie. „Nehmt sie mit“, fügte sie mit einer Geste auf sie und Cilian hinzu.

 

„Was… was passiert jetzt? Was ist mit Liam?“, entfuhr es ihr zitternd. Und sie erntete einen ungläubigen Blick.


„Das Schicksal der Vampire ist nicht unsere Sorge, Annâ“, erwiderte sie, und Joanna runzelte die Stirn. Ihr Name war ein anderer. Wie selbstverständlich diese Frau sie ansprach!

 

„Liams Schicksal ist meine Sorge!“, widersprach sie jetzt. Und Ravêna sah sie prüfend an.

 

„Solltest du Gefühle für diesen Abschaum entwickelt haben, schlage ich dir schnellsten vor, sie zu vergessen, Mädchen!“ Und ihr Ärger wurde deutlicher. Einer der Männer hatte sie nun ergriffen und zog sie fort, aber sie spürte den Zauber wirken, spürte, wie ihr Herz lauter schlug.

 

„Nein!“, rief Cilian jetzt. „Sie ist an Liam gebunden. Sie stirbt, wenn sie… wenn sie sich entfernt!“

 

Und Ravêna verdrehte tatsächlich zornig die Augen.

 

„Was für eine Verschwendung die Linie der Vampire doch ist! Dafür wird er bezahlen! Aber…“, sie machte eine knappe Pause, „ich habe sowieso den Auftrag beide Cunnings mit nach Walhalla zu nehmen. Es wäre noch eine Rechnung offen.“

 

Jo sah, wie Cilian Ravênas Blick nicht brach.

 

„Schließt sie ein! Alle drei!“, befahl Ravêna kalt, und die Männer packten schwere mit Eisen beschlagene Holzstangen aus den Bündeln. „Wir brechen zur Dämmerung auf.“

 

„Was? Wohin brechen wir auf?“ Jo wusste nur, sie würde nirgendwo hingehen! Ihre Freunde waren hier! Und sie würde nicht mit wahnsinnigen Kampf-Weibern loswandern!

 

Und die Frau namens Ravêna schenkte ihr einen letzten abschätzenden Blick.

 

„Nach Hause. Nach Walhalla.“

 

Und Jo wich näher an Cilians Seite. Dieser stand bewegungslos neben ihr, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Blick war auf seinen bewusstlosen Bruder gerichtet, der neben ihnen am Boden lag. Sie widerstand dem Drang, sich neben ihn zu knien, denn sie wusste, er war nicht tot. Und Cilians Blick wirkte so tödlich, dass sie fast froh war, dass Liam nicht bei Bewusstsein war.

 

Wahrscheinlich hätten sie sich beide sonst noch umgebracht. Sie würde Cilian fragen! Sie würde ihn fragen, denn… anscheinend wussten alle etwas, was sie nicht wusste. Und… was war Walhalla? Doch nicht wirklich ein Ort, der existierte?

Sie erinnerte sich an die Worte von Lucius. Es gab mehr als diese Welt.

Aber… das war doch absurd! Und sie war die Tochter von wem? Sie hatte die Namen wieder vergessen, aber ihr war so elend zumute, dass sie es nicht einmal mehr wissen wollte!

 

Sie wollte weg von diesen… Frauen! Weg von hier!

 

Und ganz bestimmt nicht nach… Walhalla, dachte sie mit einem Schaudern.

 

- The End –

 

FeedBack