Hogwarts, 1979

 

Er stand zwischen den Säulen vor dem Eingang, verborgen vor den Blicken der anderen, allerdings nicht vor dem dichten, englischen Regen, der seine Robe fast gänzlich durchnässt hatte, während er den Blick nicht abwenden konnte, und seine Strähnen fast herrisch hinter seine Ohren schob, um ja keine Sekunde zu verpassen.

 

Er wusste, wie die Gespräche ausgingen, wie jeder Streit zwischen beiden unweigerlich ausging, und es beruhigte ihn jedes Mal. Allerdings wusste er auch, dass, wäre er wirklich beruhigt, würde er nicht jedes Mal, wie ein verdammter Stalker hinter irgendwelchen Säulen stehen und warten, bangen und hoffen, dass er sich wirklich nicht irrte.

Er wusste es selber, und es war fast schon erbärmlich. Aber nur fast. Denn er liebte Lily.

 

Er achtete darauf, unbemerkt zu bleiben. Es war etwas, was er besonders gut konnte, ohne es jemals darauf angelegt zu haben. Und er war nicht dumm. Er war vielleicht unbeliebt, er war vielleicht anders als die anderen, aber er war nicht dumm. Nun, vielleicht war er etwas dumm, denn manchmal ertappte er sich dabei, wie er Lilys Schal umlegte und so tat, als wäre er ebenfalls ein Gryffindor. Manchmal nahm er seine Haare zurück, überlegte, sie schneiden zu lassen, aber dann… würde jeder sein Gesicht sehen können. Jeder würde sehen können, dass seine Nase länger war. Dass seine Haut weißer war. Dass sein Gesicht nicht die Ebenmäßigkeit aufwies wie bei –

 

„-James Potter! Du bist ein Idiot!“

 

Er horchte auf. Sie stritten sich. Gut. Wirklich gut. James versuchte, näher zu kommen, aber Lily schob ihn einfach beiseite, wandte sich um und stürmte in Richtung Schloss davon, zu wütend, um ihn zu bemerken. Er verweilte noch einen momentlang im Schatten der Säulen, während James Potter der Regen nichts auszumachen schien. Er kämmte sich die strubbeligen Haare über den Kopf zurück, grinste unverhohlen, ehe er einen anderen Weg einschlug.

 

Er wusste, wohin er ging. Er traf sich mit seinen blöden Freunden bei der blöden Weide. Wahrscheinlich erzählte er wieder einmal, dass es sich nur noch um Tage handeln könnte, bis Lily Evans seinem Verlangen nachgab, und endlich mit ihm ausging.

Und dass sie sich im Regen lieber mit James Potter anlegte, als im Schloss zu sein, sagte ihm deutlich, dass die guten Zeiten bald vorbei sein könnten, wenn er sich nicht mehr Mühe gab. Wenn er es nicht endlich schaffen würde, aus seiner Lethargie zu finden, seine Angst zu bekämpfen und endlich einmal in seinem Leben ein Mann wäre.

 

Er wusste, er liebte sie. Mehr als es irgendwer würde tun können. Er hoffte nur, dass es reichen würde.

 

~*~

 

Hogwarts, 2004

 

„Severus?“

 

Er schreckte aus seinen Gedanken. „Ja?“, erwiderte er, ohne den Schulleiter anzusehen, den Blick immer noch geradeaus geheftet.

 

„Rede mit ihm“, sagte Dumbledore ruhig, fast nachsichtig mit ihm.

 

„Bitte?“ Dieses Mal wandte er dem Schulleiter seinen Blick gänzlich zu.

 

„Ich sagte, rede mit ihm. Er ist ein Kind“, ergänzte er mit eindeutigem Blick.

 

„Nein, ist er nicht. Er ist…“ Ihm fielen viele Worte für ihn ein. Das Wort Kind wäre keines gewesen, und alle anderen Worte wären für einen Lehrer äußerst unpassend zu denken.

 

„Er hat keine Eltern mehr, und ich finde, er tut immer nur sein Bestes“, klärte ihn Dumbledore streng auf. Severus‘ Augenbraue wanderte langsam aber sicher in die Höhe.

 

„Immer nur sein Bestes? In Zaubertränke ganz bestimmt nicht“, entschied er, und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Dumbledore seufzte schließlich.

 

„Gut. Wie du willst. Dann ist er der Erwachsene und du bist das Kind“, schloss der Schulleiter fast vergnügt. Severus verzog den Mund.

 

„Es wird Zeit, dass wir Ihre Hand verarzten, Albus“, wechselte er barsch das Thema.

 

„Später, später. Ich werde einen Spaziergang machen, ehe wir das tun, mein Freund.“ Damit ließ ihn Dumbledore stehen. Severus seufzte gereizt auf. Gut, vielleicht war es lächerlich, wie er ihn beobachtete. Aber er wusste ziemlich genau, dass es dem Jungen peinlich wäre, würde er tatsächlich auf ihn zugehen.

Wahrscheinlich war das einer der Gründe, weshalb er es doch tat.

Und natürlich, weil er kein Kind mehr war. Er war weit entfernt davon.

 

Er verließ den Schutz des Korridors im Erdgeschoss, trat in die Wärme des Frühlings hinaus und schlenderte fast gleichmütig auf den Jungen zu, der sich mehr schlecht als recht in den Schatten der Säulen des Eingangsbereichs verborgen hielt, den Blick eisern ins Grün geheftet. Severus folgte seinem Blick ein letztes Mal. Dort saßen die kleine Weasley und der Muggeljunge aus Gryffindor, der immer besonders schlecht in seinem Kurs abschnitt. Nicht, dass Harry irgendeinen nennenswerten Erfolg in Zaubertränke zu verbuchen hätte.

 

„Genießt du die Aussicht?“, fragte er mit gewöhnlicher Stimme, und Harry schrak zusammen, verschluckte sich fast. Severus‘ Mundwinkel kräuselten sich amüsiert.

 

„Was?“, entfuhr es dem Jungen erschrocken, natürlich ohne jeden Sinn für Höflichkeit gegenüber seinem Lehrer. Er war ein verzogener, unhöflicher, gemeingefährlicher –

Severus hielt seine Gedanken auf. Er erkannte die schlichte Abneigung auf Harrys Gesicht. Wahrscheinlich spiegelte sie sich in seinem eigenen Gesicht wider. Aber wenn er ehrlich war, wie so selten in seinem Leben, musste er sich leider eingestehen, dass er nicht die Art von Abneigung gegenüber Harry verspürte, die er täglich zur Schau trug. 

Harry war eine kleine Kopie seines Vaters, allerdings… erinnerte er ihn sehr an Lily. Und trotz seines unverdienten Ruhms war Harry tatsächlich nicht einmal überheblich.

 

Severus nickte betont beiläufig in den weiten Schlossgarten hinaus. „Die Aussicht“, wiederholte er. Harry schien zu glauben, er plane einen Angriff gegen sein Leben. Wie er es schon so häufig geglaubt hatte. Er und seine kleinen Freunde aus Gryffindor. Ganz der Vater. Snape lehnte sich gegen die Säule, an der er vor so vielen Jahren gelehnt hatte, während er in den Garten hinausgestarrt hatte, während Lily und James Potter fast täglich ihr kleines Ritual abgehalten hatten, bei dem es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis James Potter gewonnen hatte.

 

Severus‘ Mund verzog sich bitter, bei diesen uralten Gedanken.

 

„Ja. Sir“, ergänzte Harry wohl widerwillig. Die kleine Weasley hatte leuchtend rote Haare, auf denen das Licht der Sonne zu spielen schien. Nach allen Maßstäben war sie ein hübsches Mädchen. Severus musste lächeln.

„Wollten Sie irgendetwas Bestimmtes? Ist es verboten, hier zu stehen?“ Sanfte Angriffslust lag in Harrys Worten, wie immer. Severus ließ den Blick sinken. Nicht besonders weit, denn Harry war letztes Jahr beachtlich in die Höhe geschossen. Die grünen Augen voller Ablehnung.

 

Es war keines dieser Gespräche, von denen Severus einst dachte, er würde sie führen können. Mit seinem Sohn. Mit seinem und Lilys Sohn.

 

Severus war kein Vater, und Harry war kein Sohn. 

 

Ihm kam die flüchtige Erinnerung in den Sinn, als er in das zerstörte Haus gekommen war, zu spät, um noch irgendwen zu retten. Ihm war bewusst, es war seine Schuld. Es war ihm vollkommen bewusst. Aber er wusste, hätte er Voldemort nicht von der Prophezeiung erzählt, dann hätte es jemand anderes getan. Hätte er nicht die Potters vorgeschlagen, die ein Kind besaßen und als Auroren arbeiteten, dann hätte es ein anderer angesprochen.

So oder so. Er war nur… schneller gewesen als die anderen.

 

An diesem Abend war er über den leblosen Körper seines Vaters gestiegen. Harrys Vater.

Und Lily hatte im Kinderzimmer auf dem Boden gelegen, vor dem kleinen Kinderbett, die Augen weit aufgerissen, leer und starr. Und er wusste es nicht. Er wusste nicht, ob er damit gerechnet hatte. Ob sein kranker Verstand begriffen hatte, in der Sekunde, als er es Voldemort gesagt hatte, dass er ihr Leben ebenfalls verwirkt hatte, obwohl er nur zu gerne James Potter tot gesehen hätte.

 

Und manchmal, da nahm er an, dass er es gewusst hatte. Der eine Tod bedingte den anderen. So war es bei Liebenden.

 

Und er hatte geweint. Aber Harry hatte lauter geweint, und so hatte er ihn aus dem Bettchen genommen, hatte ihn auf seinen Armen gehalten. So lange, bis Sirius gekommen war. Und Sirius hatte keinen Fragen gestellt. Er hatte geweint, aber er hatte ihn nicht umgebracht, nicht niedergeschlagen. Er hatte nichts davon getan. Die Muggel draußen waren längst alarmiert gewesen. Voldemorts damaliges Dahinscheiden musste eine regelrechte Explosion ausgelöst haben.

Und Severus hatte den Jungen auf seinen Armen, während Sirius die Zauber um das Haus gelegt hatte, die Muggel mit Vergessenszaubern in ihre Häuser brachte, und Severus erinnerte sich noch genau an das Gespräch, das diesem Abend folgte.

 

„Sie werden glauben, dass ich es war“, hatte Sirius ihm gesagt, als hätten sie immer miteinander gesprochen, als wären sie alte Bekannte. Nicht mal den Jungen hatte er auf den Arm genommen. Und Severus wollte an diesem Abend fragen, wieso es die Leute glauben sollten, aber er wusste bereits, wieso. Weil Sirius Geheimniswahrer war. Aber es stimmte nicht. Severus wusste es besser. Er kannte Peter Pettigrew. Miese Ratte, verlogener Mistkerl.

 

Aber er war nicht besser. Er selber war schlimmer als sie alle zusammen.

 

Sirius Black würde nach Askaban kommen. Und die Genugtuung, die Severus für gewöhnlich bei solchen Gedanken empfunden hatte, war in dieser Nacht ausgeblieben. Erst in dieser Nacht hatte er seinen Fehler begriffen. Alle seine endlosen Fehler.

 

„Ich habe Hagrid Bescheid gegeben. Der Junge kommt zu seinen Verwandten“, hatte Sirius ihm gesagt. „Dumbledore wartet dort auf ihn. Hagrid soll mein Motorrad nehmen“, war er hastig fortgefahren.

 

„Er kann bei mir bleiben“, hatte Severus taube, schwere Worte gesprochen, gezeichnet von Trauer und Verzweiflung.

 

„Nein“, war alles, was Sirius gesagt hatte. „Nein, kann er nicht.“

 

Weil er irgendwann wissen würde, dass es seine, Severus‘, Schuld war, dass seine Eltern in dieser Nacht ermordet worden waren.

 

 

„Sir?“ Harry sah ihn mit gewisser Verstörung an. Severus seufzte langsam auf, während sich seine Nasenflügel sanft blähten. In dieser Nacht hatte er Harry das letzte Mal auf seinen Armen gehalten. Er hatte ihn Hagrid übergeben, mit der Botschaft, das Motorrad zu behalten.

 

„Wenn du sie magst, solltest du nicht wie ein Idiot hinter Säulen stehen“, rang er sich endlich die nächsten Worte ab, von denen er sich fast wünschte, dass sie jemand zu ihm gesagt hatte. Obwohl er auch damals schon gewusst hatte, dass er sie nicht würde bekommen können. Es wäre nett gewesen, hätte es ihm jemand einfach gesagt.

 

Harrys grüne Augen weiteten sich unwillkürlich. Aber Severus nahm an, wenn Harry nur über eine Unze des Selbstbewusstseins verfügte, was sein Vater regelmäßig zur Schau getragen hatte, dann sollte er keine Schwierigkeiten bei der jungen Miss Weasley haben. Egal, welchen Kandidaten er wohl würde ausstechen müssen.

 

„Was?“, entfuhr es dem Jungen, aber Severus sah die Scham in Harrys Wangen deutlich, gemischt mit Wut. „Lassen Sie mich in Ruhe! Ich brauche keine Ratschläge!“, fuhr er ihn an. Und mit diesen Worten war Harry den Gang entlang verschwunden. Severus musste lächeln.

Er hätte ebenso reagiert.

 

Und es war, wie es eben war. Lily war fort. Und James war fort. Und Sirius war fort.

Und irgendwann würde er Harry seine Erinnerungen geben. Aber noch nicht jetzt. Er hoffte, es würden noch endlose Jahre vergehen.

Und solange würde er aufpassen. Und wenn auch nur im Schatten der Säulen, wenn auch nur in der Stille seines Herzens. Wenn auch nur für sein Seelenheil.

 

Er spielte das Spiel gut genug, trug die Maske, die er einst schuf mit erneuter Hingabe. Für sie. Heute Nacht musste er zurück ins Hauptquartier. Denn Voldemort schlief nicht. Voldemort plante den Angriff. Und Severus würde alles tun, damit der Junge, der überlebte – der Junge, den er selbst zum Auserwählten gemacht hatte – wieder überleben würde.

 

Er gab ihr sein Ehrenwort. Egal, wie viel es noch wert sein mochte. Wahrscheinlich war es nichts mehr wert. Aber Harry war alles, was seine Erinnerung an Lily am Leben erhielt.

 

Und auch wenn sein Name in Vergessenheit geraten würde, er würde dafür sorgen, dass der Name Harry Potter in jedes Geschichtsbuch eingehen würde.

Und das Schicksal wiederholte sich, nahm Severus bitter an. Denn Voldemort kalkulierte nicht ein, dass wieder einmal jemand aus Liebe zu dem Jungen sein Leben opfern würde.

 

Voldemort wurde alt. Und manchmal ließ ein Schauer Severus‘ Herz erfrieren. Denn er wusste, er würde sein Leben für den Jungen geben. Ohne zu zögern. Egal, für welchen Preis. Und war es nicht seltsam? Er wollte nicht, dass er es wusste. Harry musste es nicht wissen.

 

Harry brauchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte. An allem Schlechtem. Und gerne tat Severus Buße. Gerne hielt er dafür seinen Kopf hin. Er würde seine Schuld bezahlen, bis er erlöst war.

 

Sanft lächelte er. „Mach dir keine Gedanken“, sagte er ruhig, Lilys strahlendes Lächeln vor seinen Augen, „ich bin da.“

 

– The End –