Es wehte ein beißend eisiger Wind.
Die Kälte war trocken und scharf, und das warme Gefühl meiner gefütterten
Handschuhe, war das einzig gute Gefühl an diesem kalten Tag. Viele Menschen
waren aufgetaucht, allerdings weniger Verwandte, als angenommen. Der Friedhof
wirkte im Winter noch stiller als ohnehin schon, und mein Blick glitt abwesend
über die vielen Grabsteine, die vielen bekannten Namen. Die Krähen schrien
gedankenlos über uns, hockten kaltschnäuzig auf den kahlen Ästen und kümmerten
sich nicht um banale Kleinigkeiten wie Trauer und Schmerz.
Sie
hielten Ausschau nach den letzten Früchten, den letzten langsamen Käfern, die
die Kälte noch nicht dahingerafft hatte. Wir standen vor dem offenen Grab, denn
die Träger waren sehr langsam heute. Sie waren ein Mann zu wenig, und mein Dad
hatte sich schon angeboten, mitzuhelfen, aber Mum
hatte es strikt verboten.
Sie
unterhielten sich leise mit meinem Onkel, der immer wieder den Kopf reckte. Die
Träger ließen sich viel Zeit.
Nicht,
dass die Trauer an mir vorbeiging. Nein, ich war traurig. Sie war meine liebste
Großmutter gewesen. Und sie hatte alle überlebt. Granpa
Ron, Großonkel Harry, Großtante Ginny, auch die Eltern meiner Mutter hatte Grannie Mine lange überlebt. Sie war immer besonders nett
zu mir gewesen, hatte mir die besten Bücher dieser Welt geschenkt.
Tante
Rose schniefte verhalten in ihr Taschentuch. Ich würde gerne etwas zu ihr
sagen, aber ich wüsste nicht, was. Heute wurde ihre Mutter beerdigt, und ich
nahm an, es gab ohnehin nichts Tröstendes, was ich ihr sagen könnte.
Endlich
bogen die Träger um die Ecke, der Sarg schwebte steif zwischen ihnen, und ich
konnte mir nicht vorstellen, dass Grannie Mine
wirklich darin lag. Meine Eltern stellten sich hinter mich, und ich wollte mich
nicht umdrehen, um zu sehen, ob Dad weinte. Ich könnte es nicht ertragen,
meinen Dad weinen zu sehen.
Heute
blieben meine Augen trocken. Ich hatte vor einigen Tagen geweint, als wir die
Eule vom Mungo bekommen hatte, und ich hatte geweint, als ich die Traueranzeige
im Propheten entdeckt hatte. Aber
heute… hier, auf dem Friedhof, blieben die Tränen aus.
Die
Prozedur zog sich in endlose Längen. Der Sarg verschwand im tiefen Erdloch,
einige der Anwesenden sprachen traurige Worte, verabschiedeten meine
Großmutter, und wie auch Granpa Ron und Großonkel
Harry wurde sie mit der Magischen Verdienstmedaille ausgezeichnet, die sichtbar
auf dem Grabstein sein würde. Sie war eine Kriegsheldin gewesen, damals. Mehr
als einmal hatte ich die Geschichte der großen Schlacht gelesen. Und gerne
stellte ich mir vor, genauso klug zu sein, wie es meine Großmutter gewesen war.
Mein Blick wanderte, während meine Mutter verhalten hinter mir schluchzte.
Und
mir fiel weit abseits eine Gestalt auf, die nicht näher kam, aber die wohl aus
demselben Grunde hier war, wie wir auch. Ich verengte die Augen, aber mehr als
den Umriss und die hellweißen Haare der Person konnte ich kaum ausmachen.
Es
war ein Mann, in einem schwarzen Gehrock. Schwer auf seinen Stock gestützt,
stand er bestimmt dreißig Meter weit entfernt unter einer kahlen Linde, und er
beobachtete die Beisetzung reglos.
Ich
wandte den Blick, und zumindest mein jüngerer Cousin Harry hatte den Mann
ebenfalls bemerkt. Wir tauschten einen knappen Blick, aber er schien ihn auch
nicht zu kennen. Noch bevor die Trauerreden beendet waren, löste sich der
weißhaarige Mann aus seiner Starre und verließ den Friedhof wieder unbemerkt.
Er war sehr alt, und als ich mich fragte, ob er wohl noch in der Lage wäre, zu apparieren, tauchte aus den Schatten der fernen Bäume eine
weitere Gestalt auf. Fast unpassend auffällig reckte ich den Kopf höher, um sie
zu erkennen. Noch ein Mann, aber mit längeren Haaren, die im dämmrigen
Tageslicht leuchtend hell hervorstachen. Er trug sie im Zopf, ergriff den Arm
des älteren Mannes und beide apparierten schließlich.
Wieder
sah ich Harry an, und auch er hatte es gesehen. Seine Lippen formten stumm den
Namen, der mir auch im Kopf spukte, denn… ihn würde ich überall erkennen!
Professor Malfoy hatte gerade den älteren Mann abgeholt. Und ich konnte nur
annehmen, dass es sein Vater gewesen war. Professor Malfoy – Scorpius, wie ihn
meine Freundinnen heimlich nannten – war wohl der einzige Professor mit unzähligen,
verbotenen Liebesbriefen in seiner Schreibtischschublade. Obwohl ich nicht
glaubte, dass er sie alle behielt – oder es überhaupt durfte. Er war der
Professor für Verwandlung und Hauslehrer von Slytherin. Seine Tochter Lana war
zwei Jahre älter als ich und hatte Hogwarts bereits
verlassen. Wir hatten nie großartigen Kontakt gehabt. Umso spannender war es,
dass er heute hier aufgetaucht war.
Unsere
Familie verband nichts mit den Malfoys. Wenn
überhaupt, dann eine Jahrhunderte alte Fehde. Mittlerweile natürlich nicht
mehr, aber Grandpa Ron hatte nie gut über die Malfoys gesprochen, weswegen ich auch nie erwähnt hatte,
dass Professor Malfoy mein Lieblingsprofessor war. Auch in meinem letzten Jahr
war er das noch, denn er war ein ausgezeichneter Lehrer.
Und
dass ausgerechnet sein Vater zu Grannie Mines Beisetzung auftauchte…, war eigenartig.
Es
flossen noch viele Tränen, und wir brachten den unangenehmen Leichenschmaus
hinter uns, welcher im Goldenen Drachen
stattfand, Grannie Mines
Lieblingsrestaurant, und dann erwartete uns die undankbare Aufgabe, den
Haushalt von Granpa Ron und Grannie
Mine aufzulösen. Tante Rose und mein Dad hatten damit noch gewartet. Grannie Mine war zwar schon vor einigen Monaten ins Mungo gekommen, und das Haus war seitdem unbewohnt
gewesen, aber Dad hatte sich noch nicht überwinden können, Dinge wegzuwerfen.
Das
Haus würden meine Eltern wohl oder übel verkaufen, denn wir brauchten kein
zweites Haus. Onkel James und Tante Adaline waren vor
einem Jahr in das Haus von Großonkel Harry und Großtante Ginny eingezogen, aber
Mum hatte schon klar gemacht, dass das für sie und
Dad keine Option wäre. Grannie Mines
Haus lag zu weit außerhalb und es war viel zu groß.
Wir apparierten geschlossen zum Haus, und endlich durfte ich
alleine apparieren. Die Prüfung hatte ich bereits im
Frühling abgelegt, aber noch hatten sich nicht viele Gelegenheiten geboten, da
ich erst im Oktober volljährig geworden war. Aber natürlich war ich gut. Ich
hatte nichts anderes erwartet.
Onkel
James und Onkel Albus halfen mit, während Tante Ginny und Tante Lily mit meiner
Mum in der Küche Tee kochten.
„Ihr
könnt auf dem Dachboden weitermachen“, unterrichtete uns mein Vater, und die
Trauer war ihm nicht anzusehen. Er war wie immer. Harry nickte folgsam, nur Silas
war missmutig. Er war Tante Lilys und Onkel Hectors Sohn und hatte eigentlich
nie Lust auf irgendetwas. Er war in meinem Jahr, trug aber kein
Vertrauensschülerabzeichen, denn seine schulischen Leistungen waren nicht der
Rede wert.
Der
Dachboden meiner Großeltern war riesig, unsortiert, und die Verlockung war
groß, einfach alles auszusortieren und wegzuwerfen. Harry stritt sich mit
Silas, aber ich ignorierte beide, denn ich wollte fertig werden. Weihnachten
stand vor der Tür, und ich hatte noch einiges zu lernen, bevor ich mir eine
Pause während der Feiertage gönnen konnte. Dads
Anweisungen waren deutlich gewesen: Klamotten, Zeitschriften und Krimskrams
wurden weggeworfen – Bücher wurden aufgehoben. Typisch Dad. Und natürlich
wurden sie aufgehoben! Vielleicht offenbarten sich unter ihnen noch weitere
Schätze, die ich lesen konnte! Der alte Schrankkoffer bot sehr viel Platz für
unnötiges Zeug, wovon ich das meiste achtlos kleinhexte, und in die Müllbox aussortierte. Allerdings passten die Dimensionen
nicht wirklich, stellte ich verwundert fest.
Von
außen wirkte der Schrankkoffer etwas höher, als es von innen den Anschein
machte. Ich klopfte auf den Boden, und tatsächlich klang er hohl. Stirnrunzelnd
zückte ich den Zauberstab, tippte auf den Boden und nach einem kurzen Klicken,
erschien ein winziges Schlüsselloch in der Mitte des Bodens. Ein Geheimfach!
Mehr oder weniger geheim. Ich biss mir auf die Lippe. Irgendwo musste der
Schlüssel dafür sein. Ich prägte mir die Größe des Schlüssellochs ein. „Accio
Schlüssel!“, flüsterte ich, versuchte, ihn präzise im Gedächtnis zu haben, und
wartete. Nichts passierte. Ich erhob mich, durchwanderte unauffällig den
Dachboden, bevor ich die streitenden Cousins verließ und langsam nach unten
schlich. Bestimmt war er irgendwo! Ich hielt den Zauber aufrecht, richtete den
Zauberstab mal nach links, mal nach rechts, und aus dem Schafzimmer meiner
Großeltern vernahm ich schließlich ein Geräusch. Ich stahl mich ins Innere, und
scheinbar waren Mum und Dad hier drin bereits fertig,
denn das kahle Bett stand neben der kahlen Kommode, und der Raum bot einen
trostlosen Anblick. Aber im Inneren der Kommode klang es so, als ob etwas darin
versuchte, zu entkommen. Der Schlüssel! Ich trat an die Kommode, zog die
oberste Schublade auf und hörte das pochende Geräusch deutlicher. Auch diese
Kommode besaß anscheinend ein verbogenes Fach. Ich griff
in die Schublade und drückte gegen die schmale hintere Wand. Das Fach klickte
auf, und der kleine Schlüssel schoss mit schmerzhafter Wucht in meine Hand.
Mein
Herz schlug schnell, denn es war wie ein wohlgehütetes Geheimnis, was ich
aufdeckte. Eilig verließ ich das Schlafzimmer, und lief die Stufen zum
Dachboden empor. Die beiden stritten noch immer, aber es störte mich absolut
nicht. Besser sie waren abgelenkt. Vielleicht fand ich einen Schatz? Oder alte
Kriegspropaganda, an die schwer zu kommen war?
Lautlos
und unauffällig hockte ich mich vor den Schrankkoffer, schob den kleinen
Schlüssel ins Loch – und er passte! Etwas rostig, aber er ließ sich bewegen.
Das Fach sprang auf, und ich klappte es hoch. Aber meine Enttäuschung war groß,
denn alles, was auf dem staubigen Boden lag, war ein Stapel Briefe, fest
verschnürt mit brauner Schnur. Nicht sonderlich spannend.
„Kinder!
Wir machen Pause!“, hörte ich Mums Stimme, und die
Jungen stolperten fast übereinander, so eilig wollten sie der Aufgabe
entkommen. Ich verstaute die Briefe sorgsam in der Innentasche meiner Gryffindorkapuzenjacke, die ich der Wärme halber trug, aber
auch, weil die Farben ein wenig vom tristen Schwarz ablenkten, was ich heute
wohl oder übel hatte tragen müssen.
Unten
hatte Mum den Tisch gedeckt, wo Tante Rose, Tante
Lily, Tante Adaline, Onkel James, Onkel Albus und Dad
bereits saßen und sich die Hände an ihren Teetassen wärmten. Onkel Hector war
nicht mal zur Beerdigung aufgetaucht. Er arbeitete viel, wie Tante Lily immer
sagte. Aber Dad sagte ganz andere Dinge über Onkel Hector. Onkel James auch.
Onkel Albus hatte weder Frau, noch Kinder. Er lächelte immer nur verschwörerisch,
wenn Tante Lily über Onkel Hector sprach, als wäre er ganz froh, alleinstehend
zu sein.
„Wie
weit seid ihr oben?“, wollte Dad von uns wissen, und ich ruckte mit dem Kopf.
„So
gut wie fertig“, erwiderte ich still. Mum verteilte
ein paar belegte Brötchen unter uns, die noch vom Leichenschmaus übrig waren,
und stumm aßen wir am Tisch, wo wir sonst Familienfeste gefeiert hatten. Das
Haus war still und der Gedanke, dass es meine Eltern verkaufen würde, schmerzte
tatsächlich.
„Ich
glaube, er ist so verwirrt, dass er gar nicht mehr wusste, wo er eigentlich
war“, schien Tante Rose ein vorangegangenes Gespräch fortzuführen. Sie schien
sehr schlecht gelaunt zu sein.
„Ich
denke, er hatte Gründe“, mischte sich Dad kopfschüttelnd ein.
„Ach
ja? Welche da wären?“ Tante Rose klang um einiges aufgebrachter, als Dad. Er
hob abwehrend die Hände.
„Schon
gut! Vergiss es. Dann irre ich mich eben.“
„Um
was geht es?“, wollte ich sofort wissen, denn ich hatte so ein Gefühl, sie
sprachen über die Beerdigung.
„Um
nichts weiter, Liebling“, wiegelte Dad kopfschüttelnd ab, aber ich sah ihn
unzufrieden an. Und tatsächlich griff Harry das Thema auf.
„Wieso
war Professor Malfoy da?“, fragte er seinen Vater, und wieder antwortete Tante
Rose.
„Ich
nehme an, weil sie alle keinen Anstand haben“, entkam es ihr gepresst. Sie sah Grannie Mine auf gruselige Weise ähnlich, wenn sie so
verbissen schaute, die Lippen aufeinander gepresst, die Augen zornig verengt.
Nur wesentlich jünger. Harry wirkte milde schockiert.
„Professor
Malfoy ist ein toller Professor“, entrüstete sich Harry beleidigt.
„Professor
Dumbledore war ein toller Professor“, widersprach Tante Rose bissig.
„Als
ob du ihn gekannt hast!“, entfuhr es Harry trotzig.
„Harry“,
sagte Onkel James warnend.
„Professor
Malfoy hat mir ein Erwartungen übertroffen gegeben!
Das war meine beste Note!“, wandte sich Harry wieder wütend an Tante Rose, und
diese zog hörbar die Luft durch die Nase.
„Na
dann“, entkam es ihr eine Spur herablassend, aber Tante Rose war auch
Schulsprecherin gewesen. Und das erzählte sie so ziemlich jedem, der es hören
wollte. Oder auch nicht.
„Rose“,
sagte Dad kopfschüttelnd, und fast war es witzig, dass Tante Rose sich mit
ihrem Neffen anlegen konnte, als wären sie gleichalt. Auch Tante Rose war
alleinstehend, wie Onkel Albus. Und schließlich gab sie nach.
„Lass
uns nicht streiten, Harry“, räumte sie versöhnlicher ein.
„Professor
Malfoy ist super!“, schloss Harry mit ernster Miene, und Tante Rose schenkte
ihm ein sparsames Lächeln.
„Bestimmt“,
erwiderte sie äußerst reserviert.
„War
das sein Vater auf dem Friedhof heute?“, mischte ich mich endlich wieder ein,
und Dad sah mich von der Seite an.
„Kennst
du ihn?“, fragte er mich, anstatt zu antworten, und ich zuckte die Achseln.
„Nein.
Sie sahen sich von weitem ähnlich“, erwiderte ich lediglich. Und wieso sollte
Professor Malfoy sonst dort gewesen sein?
„Mhm, das war Malfoy Senior“, bestätigte mein Dad
nachdenklich.
„Lana
Malfoy war Schulsprecherin gewesen!“, rief Harry schließlich aus, als müsse er
sein Wissen preisgeben.
„Reicht
es jetzt?“, fuhr Tante Rose dazwischen. „Ist das hier ein
Malfoy-Fanclub-Treffen, oder die Beerdigung unserer Mutter?“, wandte sie sich
tatsächlich an Dad und klang wirklich böse. Sie erhob sich ruckartig vom Tisch,
so dass der Stuhl hart über die Dielen kratzte und verließ wütend die Küche.
Dad seufzte lange auf.
„Tja“,
entkam es Onkel Albus gedehnt.
„Ich
glaube, ich sehe nach ihr“, mischte sich Tante Lily ein, und Mum nickte lediglich verständnisvoll.
„Lass
es lieber“, schlug Dad ihr vor.
„Hugo,
du verstehst das nicht“, entfuhr es Tante Lily bloß. Dad lachte freudlos auf.
„Wirklich?
Weil meine Schwester so wahnsinnig kompliziert ist?“, rief er Tante Lily nach,
die ebenfalls die Küche verließ, bevor er den Kopf schüttelte.
„Warum
ist sie so wütend?“, wollte ich verständnislos wissen, und während Dad die
Achseln zuckte, lehnte sich Onkel Albus lächelnd auf dem Stuhl zurück.
„Sie
war verknallt in euren Professor“, bemerkte er spöttisch.
„Al“,
entfuhr es Dad knapp, aber Harry lehnte sich auf dem Tisch nach vorne.
„Echt?
Ist Tante Rose nicht viel älter?“, entfuhr es ihm, und Onkel Albus musste
glucksen.
„Nein.
Alte Jungfern sehen nur älter aus“, bemerkte er.
„Witzig,
wirklich“, kommentierte mein Dad gereizt.
„Und
weiter?“, wollte ich interessiert wissen.
„Na
ja, sie waren beide Schulsprecher. Eigentlich sind Romanzen da
vorprogrammiert“, fuhr Onkel Albus achselzuckend fort. „Aber eure Tante Rosie
hat sich dumm angestellt – und… tja. Jetzt ist sie immer noch beleidigt, dass
euer Professor ihre beste Freundin geheiratet hat.“ Meine Augen weiteten sich.
„Ernsthaft?“,
entgegnete ich, aber Dad schnaubte auf.
„In
Onkel Albus‘ Welt mag das so sein, aber meine Schwester hat nicht zwanzig Jahre
lang Scorpius Malfoy hinterher getrauert“, sagte er schlicht. „Wenn sie es
überhaupt getan hat.“
„Ach
nein? Was hat sie dann gemacht? Geheiratet hat sie nicht“, entfuhr es Onkel
Albus überlegen.
„Du auch
nicht. Wem hast du also nachgetrauert?“, wollte Dad scharf von ihm wissen, aber
Onkel Albus zuckte die Achseln.
„Ich
habe Spaß. Eine Ehe wäre da sehr hinderlich“, schloss er vielsagend.
„Was heißt-?“, begann Harry interessiert, aber Onkel James unterbrach ihn.
„-das
heißt gar nichts, Harry“, beendete Onkel James den Satz und warf seinem Bruder
einen entsetzten Blick zu. „Dein Onkel Albus ist ein trauriger Mann, und findet
seine Freude nur in geschmacklosen Witzen.“
„Richtig“,
bestätigte Onkel Albus spöttisch. Ich musste unwillkürlich grinsen und sah auf
die Tischplatte zurück. Deshalb war Tante Rose also so sensibel.
„Ihre
Mutter wurde heute beerdigt. Ich denke nicht, dass es irgendwas mit dem
Professor zu tun hat“, vermutete Tante Adaline
kopfschüttelnd.
„Wer
weiß, was in ihrem Kopf vorgeht“, erwiderte Dad seufzend. „Wahrscheinlich
sollten wir uns auf den Weg machen. Es reicht für heute“, schloss er
gedankenverloren.
„Es
stehen noch vier Zimmer aus“, erinnerte ihn Onkel James müde.
„Egal“,
sagte Dad erschöpft. „Die laufen nicht weg.“ Mum
hatte bisher gar nichts gesagt. Sie hörte den Gesprächen meistens eher zu, gab
ihre Meinung selten preis und stritt sich dafür aber auch mit niemanden. Sie
packte bereits das Essen zusammen und räumte die Küche auf. Tante Adaline half ihr, und die Männer erhoben sich ebenfalls.
„Lass
noch ein paar Räume übrig für Louis und Fred“, bemerkte Onkel James knapp.
„Fred
muss gar nichts tun“, widersprach ihr Dad seufzend. Ihr Onkel Fred war nicht da
gewesen, aber Onkel Freds Frau war vor einem Monat gestorben. Sie hatte eine
schlimme magische Krankheit gehabt, und ich wusste, Onkel Fred wollte keine
weitere Beerdigung mehr erleben. Er lebte sehr zurückgezogen seitdem, und Dad
sagte, wir mussten ihm Zeit lassen. Onkel Louis, Tante Dom und Tante Vic lebten
alle nicht in England, und Dad hatte ihnen gesagt, dass sie nicht extra für die
Beerdigung kommen brauchten. Onkel Louis war mit seiner Familie im Ägypten-Urlaub,
und Tante Vic und Onkel Teddy besuchten ihre Tochter gerade in Amerika für ihr
Austausch-Jahr, und nur Tante Dom hätte Zeit gehabt, aber ihre Scheidung
kostete sie sehr viel Kraft, wie Dad gesagt hatte. Ich konnte es nicht wirklich
nachvollziehen, aber das mochte daran liegen, dass ich Tante Dom ohnehin nicht
so gut nachvollziehen konnte. Sie war sehr anstrengend.
„Braucht
ihr Hilfe?“, fragte ich Mum und Tante Adaline, aber Mum strich mir bloß
über die kurzen Locken und schüttelte den Kopf.
„Nein,
Liebes. Zieht euch schon mal an“, sagte sie uns, und Harry und Silas schlurften
aus der Küche in den Flur, um sich wieder in ihre Garderobe zu schälen.
Seufzend folgte ich, und ich war umso gespannter auf die verborgenen Briefe in
meiner Innentasche. Zu gerne hätte ich Tante Rose nach ihrer Hogwarts-Zeit gefragt, und tatsächlich hatte ich auch
geglaubt, Tante Rose wäre älter als Professor Malfoy, aber wahrscheinlich
wirkte es nur so. Und nebenbei – sie passte überhaupt nicht zu Professor
Malfoy. Ich konnte es mir nicht vorstellen.
Endlich
verließ die Familie gesammelt das riesige Haus, indem so viele meiner
Kindheitserinnerungen steckten, und erst jetzt begriff ich, dass alle meine
Großeltern verstorben waren. Allesamt. Ich versuchte, mich an das letzte
Gespräch mit meiner Großmutter zu erinnern, was nicht im Krankenhaus
stattgefunden hatte, aber ich konnte nicht. Es fiel mir nicht mehr ein. Fast
schockierte mich diese Erkenntnis, aber ich hoffte, es war ein gutes Gespräch
gewesen. Die meisten Gespräche mit meiner Großmutter waren gut gewesen. Meist
waren sie über Bücher gegangen. Gute Bücher.
Ich apparierte alleine, nachdem ich mich von meinen Tanten und
Onkeln verabschiedete hatte. Wir sahen uns alle ohnehin nächste Woche zu
Weihnachten wieder. Harry sprach von nichts anderem, da er von seinem Dad
bereits erfahren hatte, dass er das neue Nimbus Modell geschenkt bekam. Harry
war leider so kurzsichtig, dass er trotz starker Brillengläser kaum den Quaffel vernünftig ausmachen konnte. Den Pokal hatte Gryffindor seit Jahren nicht mehr gewonnen, aber Harry
liebte Quidditch dennoch und wollte, wie sein Dad und
wie sein Großvater unbedingt Kapitän werden. Ich glaubte nicht, dass das noch
passieren würde, aber Harry hatte ja noch vier Jahre Zeit.
Unser
Haus kam mir regelrecht klein vor, als wir ankamen, und sehr zügig zog ich mich
nach oben zurück. Ich war Einzelkind, und für mich war es schwer vorstellbar,
so eine große Familie wie mein Dad zu haben. Zwar war es auch meine Familie,
aber wenn er Geschichten erzählte, dann klang es immer so, als wären die Weasleys auf Hogwarts in
absoluter Überzahl gewesen.
Ich
warf mich aufs Bett, rollte mich in der Decke gemütlich zusammen und zog das
alte Bündel Briefe aus meiner Innentasche. Die Schnur war schon so alt, dass
der Knoten kaum zu lösen war. Es kostete mich Geduld und eigene Überredung,
nicht einfach den Zauberstab zu benutzen. Endlich bekam ich die Schnur gelöst,
und die Briefe waren schon fast vergilbt. Die meisten steckten in keinem
Umschlag, waren lediglich gefaltete Pergamentblätter, und ich entfaltete ein
besonders fleckiges, altes Pergament. In unordentlicher Schrift – die nicht
meiner Großmutter gehörte – machte ich die ersten Zeilen aus.
‚Granger,
nicht, dass es sonderlich viel
bringen würde,
aber vielleicht überwindest du
deinen Stolz
für dreihundert Seiten.
Es lohnt sich. Versprochen.
D.‘
Ich
runzelte die Stirn. Granger war der Mädchenname meiner Großmutter gewesen. Ich
drehte die Notiz um. Dort stand nichts weiter. Ich entfaltete das nächste
Pergament. Dieselbe Schrift, aber die Nachricht war länger.
‚Granger,
ich denke, die Idee von Freiheit
in diesem Werk,
ist an der Fantasie des Autors
verreckt.
Nicht, dass ich sonderlich viel
von diesem
Muggel-Autor
erwartete habe, aber es war doch
ziemlich offensichtlich.
Hattest du Zeit für Willibalds
fantastische Reise,
oder hat Weasley dich das gesamte
Wochenende
in Beschlag genommen? Nicht, dass
es mich interessiert.
Aber als Schulsprecherin hast du
noch weitere Aufgaben,
als das Weasley-Hilfsprogramm.
Nur nebenbei.
D.‘
Und
so langsam nahm ich an, meine Großmutter und ‚D.‘
hatten sich Nachrichten geschrieben. Anscheinend im letzten Jahr, und es ging
wohl… um Bücher, die sie sich gegenseitig empfohlen hatten? Ich kannte
Willibalds fantastische Reise in und auswendig. Es war eines der erste Bücher,
das Grannie Mine mir empfohlen hatte. Kannte sie es
von diesem ‚D.‘? Ich entfaltete die nächste Notiz, und
überflog diesmal die Buchtitel, die sich auch alle in meinem Regal
wiederfanden! ‚Das Steinerner Herz‘, ‚Die Hippogreif-Saga‘,
‚Alte Kessel, neue Flicken‘ – sie waren alles Geschenke meine Großmutter
gewesen. Und eines der Bücher, auf die Grannie Mine
geschworen hatte, zerriss ‚D.‘ praktisch in der Luft,
nannte es übertrieben und dramatisch, einseitig und aus einer Perspektive
verfasst, die nichts anderes zuließ, als Selbstsabotage. Und genau das waren
auch meine Gedanken gewesen. Wie unglaublich war das bitteschön? Dann
entfaltete ich den nächsten Brief, und dieser war anders.
‚Granger,
es tut mir hör
auf, sauer zu sein. Es ist nichts passiert,
und ich weiß, du ignorierst mich
trotzdem. Er wird dich
nicht verlassen, weil du fünf
Minuten zu spät gekommen
bist. (Kann er überhaupt lesen?
Nur als Frage…)
Wieso lässt du dich überhaupt von
ihm bevormunden? Darfst
du nicht einen Abend lang selber
entscheiden, was du machen
willst? Wenn du Lust und Zeit
hast, wirf einen Blick in dieses
brillante
Werk. Ich habe es Lucius entwendet, und er wird
wahrscheinlich wahnsinnig werden,
wenn er merkt, dass es
weg ist. Erstausgabe, du
verstehst?
Lass mich wissen, was du denkst.
D.‘
Und
in meinem Regal stand ebenfalls eine besonders wertvolle Erstausgabe von ‚Der
Reise der Weisen‘. Sie war ein Geschenk meiner Großmutter zum achten Geburtstag
gewesen, und Dad hatte sich sehr gewundert und gesagt, dass es ein viel zu
teures Geschenk für eine Achtjährige sei, aber dann durfte ich es doch
behalten. Es war ebenfalls ein unglaubliches Buch. Eine Geschichte über den
Wandel der magischen Hochgeschichte und ihr Fall. Ich wusste, meine Großmutter
und mein Großvater waren seit dem Krieg ein Paar gewesen. Aber hier klang es
so, als hätte es noch einen weiteren Interessenten gegeben. Ich musste
schmunzeln. Schrieb sie mit dem anderen Schulsprecher? Wer war in ihrem Jahr
überhaupt Schulsprecher gewesen? Nach dem Krieg hatten einige aus ihrer
Generation das letzte Jahr wiederholt.
Es
folgten unsortiert weitere Empfehlungen, und als ich überlegte, mir einige
Titel zu notieren, ging mir auf – ich kannte sie alle! Und ich vertrat meistens
die Meinung von ‚D.‘, nicht die naive Meinung meiner Großmutter. Es waren
spannende Briefwechsel, in denen ich mich gänzlich verlor.
Wenn
die Nachrichten in einer bestimmten Reihenfolge sortiert waren, dann wurden sie
nun kürzer. ‚D.‘ schrieb nicht mehr sonderlich viel,
notierte nur noch spezielle Kapitel, die besonders interessant waren, aber
nichts persönliches fand sich mehr in den Zeilen.
Und
die nächste Nachricht war tatsächlich im Umschlag. Adressiert an Hermine
Granger. Es musste in ihrer Ausbildung gewesen sein, denn es war an die
Leitstelle des Aurorenbüros gegangen. Kein Absender.
Gespannt zog ich den gefalteten Brief hervor. Er war handgeschrieben, und ich
erkannte die Handschrift sofort.
‚Granger,
hast du mittlerweile die Lizenz,
arme, unschuldige Zauberer zu verfluchen? Ich hoffe, der Brief erreicht dich auf
diesem Weg, da ich keine Lust habe, ihn an deine Privatadresse zu schicken, um
einen Weasley-Heulkrampf zu vermeiden.
Einiges passiert, an dieser
Front. Lucius hat seinen Willen durchgesetzt, und bedauerlicherweise erwartet
der Schreibtisch der Firma meine Anwesenheit.
Gerne würde ich ebenfalls eine
Ausbildung mit Lizenz zum Töten absolvieren – vor allem in diesem Umfeld dürfte
sie sich mehr als praktisch erweisen – wenn du verstehst, was ich meine…
Ehemalige zu verfluchen, läge mir persönlich besonders gut.
Wie du messerscharf festgestellt
haben wirst, befindet sich ein Schlüssel im Umschlag. Er gehört zur Suite Nr. 5
des Goldenen Drachens. Sagen wir so, ich wäre heute Abend ab acht Uhr dort anzutreffen
– wen es interessiert.
Ich würde dort einige Zeit lang
warten, mit der neuesten Ausgabe von Baldwins ‚Wunder und Magie‘ Reihe, und es
wäre eine Schande, sie alleine zu genießen.
Mal sehen, wie dieser Abend
ausgeht, nicht wahr?
Dir ergeben,
D.‘
Langsam
öffnete sich mein Mund. Nein! Nicht ernsthaft! Grannie
Mine hatte eine Affäre mit einem mysteriösen Unbekannten, der sie mit Lesestoff
versorgt hat und Granpa Ron nicht leiden konnte?!
Unfassbar! Und natürlich war mir die ‚Wunder und Magie‘ Reihe mehr als bekannt.
Auch sie stand mir gegenüber im Regal. Gierig zog ich den nächsten Brief
hervor, der nach Siegelstempel vom Datum dem letzten nachging. Wieder kein Adressat,
aber noch immer an die Leitstelle der Auroren
geschickt. Ich biss mir auf die Lippe, während ich las.
‚Granger,
hoffe, du konntest ‚Wunder und
Magie‘ unbefangen beenden? (Stell dir mein Grinsen an dieser Stelle bitte
einfach vor.) Keine Ahnung, ob ich es erwähnte, aber es war schön, dich gesehen
zu haben. Wirklich schön. Und vielleicht ist es dreist von mir, ein weiteres
Treffen vorzuschlagen? Nein? Nicht dreist – gut zu hören.
Aber ein Langeweiler bin ich
nicht, und der nächste Schlüssel ist ein wenig privater als das – natürlich
trotzdem exquisite – Zimmer im Drachen, und ich hoffe, du kannst dir das
Wochenende freischaufeln. (Und vielleicht Weasley mit der Schaufel direkt
erschlagen? Vorschlag am Rande?) Vielleicht könnte eine Tante von dir schlimm
erkrankt sein? Nennen wir sie Dorothy? Vielleicht aus irgendeinem Muggel-Kaff? Und vielleicht könntest du dich überwinden,
deinen Koffer zu packen, mit einem Hauch an nichts, was du tragen könntest, um
ins Hochland zu reisen? Stell dir vor, auch dort haben wir ein Ferienhaus.
Inmitten der Berge umgeben von nichts als Stille und Erholung? Verlockend genug
für dich?
Lass mich nicht betteln – obwohl
ich denke, es verkauft sich von selbst…
Adresse folgt unten.
Dir ergeben,
D.‘
Und tatsächlich
starrte ich ein wenig benommen auf diese Zeilen. Denn der Name ‚Tante Dorothy‘
war selbst mir ein Begriff! Und dass ich sie kannte, bedeutete, dass… Grannie Mine tatsächlich ins Hochland gereist sein musste! Ich
erinnere mich noch deutlich an einen Streit zwischen meinen Großeltern. Ich war
noch jung gewesen, und Grannie Mine hatte übers
Wochenende verreisen müssen, da ihre Tante Dorothy nach langer Krankheit
verstorben war, und sie sich um die Beerdigung hatte kümmern müssen. Und Granpa Ron hatte nicht mitkommen dürfen, weil er sich mit Muggel-Gepflogenheiten nicht gut auskannte, und Grannie Mine es alleine erledigen wollte. Bedeutete das,
dass es gar keine Tante Dorothy gab? Dass sich Grannie
Mine auch noch vor zehn Jahren mit ‚D.‘ getroffen
hatte? Es war absolut schockierend. Und hastig suchte ich nach dem nächsten
Brief.
Wieder
an die Aurorenstelle adressiert. Ich öffnete den
Umschlag, und mir fiel ein Bild entgegen. Es war alt, an den Rändern
ausgefranst, aber magisch belichtet, und die beiden Menschen bewegten sich im
Bild. Ich erkannte meine Großmutter sofort! Es war windig – wo auch immer sie
war, und sie strich sich lachend die lockigen Haare aus dem jungen Gesicht. Sie
sah Tante Rose sehr ähnlich, aber… sie sah doch anders aus. Schmaler, das
Gesicht etwas länger, wie das meines Dads. Und neben
ihr stand ein grinsender Mann, etwas größer als sie – und Merlin, er sah
unverschämt gut aus! Die Ähnlichkeit war so schockierend, dass ich zweimal
hinsehen musste. Es hätte Professor Malfoy sein können!
Sie
standen an einer Rehling auf einem Schiff! Irgendwer
hatte sie anscheinend fotografiert, und auch der junge Mann wischte sich immer
wieder die blonden Strähnen aus dem Gesicht. Sie waren wesentlich kürzer, als
die Haare meines Professors, aber die Farbe war dieselbe.
Der
hübsche Mann sah meine Großmutter immer wieder von der Seite an, und ich konnte
nicht umhin, zuzugeben, dass sie sehr glücklich aussahen. Ich drehte das Foto
um. Die Jahreszahl ‚2002‘ stand dort in derselben unleserlichen Schrift wie die
Briefe. Das war… zweiundfünfzig Jahre her. Kurz musste ich schlucken. Es war
wie eine Ewigkeit.
‚Granger,
ich dachte, du solltest das Foto
haben. Damit du mich nicht vergisst, und dir klar machen kannst, wie viel
besser ich aussehe, als dein derzeitiger Typ. Nur nebenbei. Habe ich mich schon
bei dir bedankt? Für die vielen verschiedenen perfekten Momente? Bestimmt,
höflich, wie ich bin. Aber nur noch mal zur Vorsicht: Danke, Hermine!
Leider muss ich die nächsten
Monate ins Ausland, der Ausbildung wegen. Vielleicht will mein Vater mich auch
systematisch loswerden. Zutrauen würde ich es dem alten Todesser ohne weiteres.
Das bedeutet, du wirst mein sexy Gesicht, eine ganze Weile nicht sehen.
Für mich ist es auch nicht
einfach, keine Sorge. Ich schreibe dir, sobald ich da bin. Nebenbei füge ich
dir den interessanten Hinweis bei, auf den ich gestoßen bin. Edward Farlane hat ein neues Werk verfasst. Ich hörte, es sei
brillant. Wenn du Zeit hast, lies in ‚Die blauen Tage‘ rein. Wir referieren im
nächsten Brief darüber, wenn du willst. Auch auf die Gefahr hin, dass es zu
kitschig wird, muss ich dir sagen – ich werde dich vermissen. Wahrscheinlich
sogar sehr. Verdammt. Was für eine Erkenntnis! Ähnliche Gedanken deinerseits?
Dir ergeben,
D.‘
Ich
konnte nicht anders, als bei seinen Worten lächeln zu müssen. Und langsam aber
sicher wurde mir klar, dass meine Großmutter mir alle seiner Buchvorschläge
geschenkt und dringend ans Herz gelegt hatte. Fast kam es mir so vor, als wäre
er… eine Art geheimer Großvater, dessen Vorlieben und Geschmäcker ich durch die
Bücher erfahren habe. ‚Die blauen Tage‘ war eines meiner allerliebsten Bücher!
Ich sortierte weiter durch die Umschläge, aber aus Amerika fand ich keinen
Poststempel. Nicht einen. Der zeitlich nächste Brief war an ein Postfach
adressiert.
‚Granger,
entschuldige die verspätete
Rückmeldung. Ich war zeitlich sehr eingebunden. Am vorgeschlagenen Termin habe
ich leider keine Zeit.
Wir müssten es verschieben.
Vielleicht auf März? Ich lasse dir da noch ein genaueres Datum zukommen.
D.‘
Dieser
Brief war beinahe formell. Mir fehlte auch das ‚dir ergeben‘ am Ende sehr. Ich
runzelte die Stirn. Das Datum sagte mir nicht viel. Allerdings wusste ich auch
nicht wirklich, wann Grannie Mine und Granpa Ron geheiratet hatten. Es waren nicht mehr viele
Briefe über, stellte ich enttäuscht fest und öffnete den nächsten Umschlag. Und
hier fiel mir ein Schlüssel entgegen. Er war schmiedeeisern und verschnörkelt,
und der Kopf des Schlüssels war in Drachenform. Hastig fiel mein Blick.
‚Granger,
wie gehabt. Erster März. Ich bin
in der Suite Nr. 5.
D.‘
Das
war wohl die kürzeste Nachricht, und ich wundere mich nicht wirklich, warum der
Schlüssel unbenutzt war. Der erste März war der Geburtstag von Grandpa Ron gewesen, und Grannie
Mine war an diesem Tag anscheinend nicht aufgetaucht. Fast war ich erleichtert.
Immerhin hatte sie ihn an seinem Geburtstag nicht betrogen. Wie viel das auch
wert sein mochte.
Mit
fahrigen Fingern öffnete ich den nächsten Brief.
‚Granger,
ich fühle mich an die Schulzeit
erinnert, als du mich ignoriert hast.
Nebenbei, Glückwunsch zur
Verlobung. Hat er dich also weich gekriegt? Ich hatte wenig Zeit, das letzte
Jahr über. Ich entschuldige mich aufrichtig.
Beiliegender Schlüssel gehört zu
– Trommelwirbel – meinem neuen Anwesen. Er ist eine Kopie, und ich möchte, dass
du ihn behältst. Großer Schritt, nicht wahr?
Meine Mutter hat in ahnenreicher
Tradition damit begonnen, eine Braut für mich zu finden. Die Schreckgespenster,
die ich mir bereits ansehen durfte, sollten Grund genug sein, meine
Aufforderung, mich besuchen zu kommen, wahrzunehmen.
Ich nehme an, du hast die
Ausbildung gut hinter dich gebracht? Vielleicht findest du am Wochenende in
deiner Gnade die Zeit, mich zu besuchen?
Buchempfehlung der Woche: Hester
Derek – Das Glasspiel.
Adresse folgt.
Dir ergeben,
D.‘
Ich
hatte schon gelauert, aber auch das ‚Glasspiel‘ gehörte zu meinen Favoriten.
Ich las es an Herbsttagen immer mal wieder. Es war ein ‚Kriegsschinken‘, wie Grannie Mine es immer genannt hatte, aber mir gefiel die düstere Stimmung und die Hoffnungslosigkeit. Es
wirkte alles so echt. Fast war ich erleichtert, dass der Briefkontakt noch
nicht vorbei war, allerdings wurde mir klar, dass dies unweigerlich irgendwie
zum Ende kommen musste, denn Grannie Mine hatte Grandpa Ron schließlich geheiratet. Oder… kam es nie
wirklich zum Ende? Hatte meine Großmutter tatsächlich bis ins hohe Alter eine
Affäre mit Malfoy Senior gehabt? Verdammt! Was für eine Geschichte! Meine
Wangen waren mittlerweile hochgerötet.
Der
ominöse Schlüssel war allerdings nirgendwo zu entdecken. Ich glaubte nicht,
dass Grannie Mine ihn behalten hatte. Hastig öffnete
ich den vorletzten Brief.
Er
war wieder an das Postfach adressiert.
‚Hermine,
bitte, hör mich an. Ich meine
vollkommen ernst, was ich gesagt habe. Ich bin bereit, die Konsequenzen zu
tragen, und ich hatte nicht gewollt, dass dieser Abend so endet. Nicht nur der
Schlüssel gehört dir, sondern auch mein Herz, wie du weißt. Ich hatte nicht
vorgehabt, dich zu überrumpeln, und eigentlich hatte ich einen perfekten Plan
gehabt. Der Ring ist immer noch deiner. Und ich gehöre dir auch, wenn du mich
willst. Bitte, denk darüber nach. Ich weiß, uns trennen einige Welten, aber ich
weiß es seit einer ganzen Weile. Ich liebe dich.
Dir ergeben,
D.‘
Ich
hatte nicht gemerkt, die Luft angehalten zu haben. Oh Merlin! Er hatte ihr
einen Antrag gemacht, ich war mir sicher. Und sie ist abgehauen, so wie es
klang! Es war kein Ring im Umschlag, und mit klammem Gefühl öffnete ich den
letzten Umschlag.
Adressiert
war dieser an Hermine Weasley. Ich biss mir auf die Lippe.
‚Sehr geehrte Mrs
Weasley,
meine Glückwünsche zur Hochzeit.
Ich bedank mich für die Einladung, die ich auch in hundert Jahren nicht
wahrgenommen hätte, und mir ist klar, dass es sich um ein Gebot der Höflichkeit
gehandelt hat, welches aber nicht erforderlich gewesen wäre.
Vielleicht darf ich erwähnen,
ebenfalls verlobt zu sein.
Mutter hat scheinbar die perfekte
Braut gefunden.
Nicht, dass es dich groß
interessiert. Dies ist mein letzter Brief. Auch der letzte Idiot liest
irgendwann zwischen den Zeilen. Immerhin hast du dir die Mühe gemacht, den
Schlüssel und Ring, ohne eine Zeile zurückzusenden. Wirklich nett. Danke dafür.
Ich wünsche dir alles Gute, nehme
ich an. Und so weiter, und so weiter.
Letzte Empfehlung, da man
Traditionen wohl nicht brechen sollte: Darwin Danes – Winterwolf.
Dir ergeben,
Draco Malfoy‘
Ich
starrte auf den Namen. Draco…. Er war seltsam, aber sofort schlangen sich meine
Augen um das Wort. Und dieses Buch war mir unbekannt. Grannie
Mine hatte es mir nicht geschenkt. Wann hatten sie sich wiedergesehen? War
Tante Dorothys Beerdigung eine Ausrede gewesen, oder gab es Tante Dorothy
wirklich? Ich verstaute die Briefe wieder in meiner Innentasche bevor ich mein
Zimmer verließ. Noch war es hell draußen. Wusste mein Dad Bescheid? Es betraf
mich alles nicht, und trotzdem war ich schrecklich aufgekratzt. Es war…
unfassbar aufregend und geheimnisvoll. Und mir fiel nur eine Sache ein, die ich
tun wollte. Ich musste förmlich. Ich konnte nicht anders.
„Mum?“, rief ich, als ich im Wohnzimmer die Schulbaden der
Kommode aufzog. Sie kam ins Wohnzimmer und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was
suchst du?“, wollte sie verständnislos wissen.
„Wo
sind die Hogwarts-Unterlagen?“, wollte ich unwirsch
wissen, während ich wie wild durch die verschiedenen Dokumente wühlte. Sie trat
neben mich, schob mich zur Seite und fand mit einem geübten Griff den
Schulordner.
„Hier.
Wofür brauchst du sie? Alles in Ordnung?“ Wahrscheinlich glaubte sie, die
Trauer hatte mich doch noch hinweggerafft.
„Ja“,
erwiderte ich abwesend, während ich durch die Kontaktlisten blätterte. Einige
Professoren waren nicht gelistet, aber – ha! Er war gelistet! Ich klappte den
Ordner zu.
„Wo…
wo willst du hin?“ Sie folgte mir, als ich in den Flur verschwand.
„Raus.
Ich… ich bin gleich wieder da.“
„Nein.
Du gehst nirgendwo mehr hin“, widersprach sie, etwas verwirrt. „Wir trauern
heute. Du kannst nicht-“
„-was
ist los?“ Dad kam ebenfalls in den Flur.
„Deine
Tochter möchte gehen“, erklärte Mum kopfschüttelnd.
„Gehen? Wohin?“, fragte er stirnrunzelnd.
„Es
ist… wirklich wichtig. Und ich kann es nicht erklären. Aber ich bleibe nicht
lange“, versprach ich blind, obwohl ich nicht sicher war, ob es stimmte.
„Frances“,
begann er, aber ich schüttelte heftig den Kopf, dass meine kurzen Locken
wippten.
„Dad,
bitte“, flüsterte ich, und schließlich atmete er aus.
„Abends
bist du zurück“, warnte er mich, und erleichtert atmete ich auf.
„Hugo!“,
rief meine Mum aufgebracht, aber ich schlüpfte in
meinen Mantel und verließ das Haus, bevor Mum ihn
noch umstimmen konnte. Ich lief einige Meter, bevor ich apparierte.
Ich kannte die Adresse. Es war etwas abgelegen, aber schnell erreichte ich mein
Ziel, stolperte fast, aber ich hielt nicht an, und lief weiter.
Keine
Ahnung, warum es mir so wichtig war, warum es nicht warten konnte, warum ich es
wissen wollte.
Vielleicht,
weil mein Leben nicht sonderlich spannend war. Ich hatte keinen festen Freund,
und es war auch keiner in Aussicht. Die Jungen rissen sich nicht um mich, mit
meinen tintenbeklecksten Fingern, den kurzen strohigen Locken und den etwas zu
langen Vorderzähnen. Ich war keine Schönheit. Ich war eher funktional, wie es
sich für die Schulsprecherin gehörte. Dad verglich mich nur zu häufig mit
Großonkel Percy, der gerade ebenso noch lebte und auf seine letzten Tage nur
noch Zaubererschach spielen wollte. Und so wollte ich
nicht enden. Nicht wirklich. Und dass meine Großmutter so ein aufregendes Leben
gehabt hatte und dann auch noch so viel Romantik, dass es schmerzte – das war
zu viel. Ich wollte es wissen! Ich musste.
Und
dann erreichte ich das hohe Tor. Ich zögerte kurz, bevor ich die mechanische
Klingel betätigte. Nach wenigen Sekunden, erwachte die Sprechanlage zum Leben.
Magisch verstärkt vernahm ich eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher.
„Wer
ist da?“
„Hallo,
mein Name ist… Frances Weasley. Ist Professor Malfoy zu sprechen, bitte?“ Meine
Atmung ging flach, und ich biss mir auf die trockenen Lippen. Kurz herrschte
Schweigen, bevor das Tor aufschwang.
„Kommen
Sie rein“, hörte ich die Stimme noch, und die Kälte stach in meinen Wangen, als
ich scheu den Weg zum riesigen Haus wagte. Die Tür stand offen, als ich endlich
die Eingangstreppe erreichte. Zögerlich nähere ich mich, denn etwas Angst hatte
ich doch. Und in der Tür stand aber nicht die Frau, der die Stimme gehörte,
sondern Professor Malfoy. Er trug einen grünen Pullover, darunter ein weißes
Hemd und eine dunkle Hose. Er sah so schick und elegant aus, wie immer. Ich
musste halb erfroren aussehen. Mein Gesicht wurde sehr schnell rot. Es war
peinlich.
„Frances“,
begrüßte er mich stirnrunzelnd. „Was… was tust du hier?“, wollte er etwas
ungläubig wissen.
„Entschuldigen
Sie die Störung, Professor. Ich würde Sie niemals auf diese Art und Weise
belästigen, aber…“
„Schon
gut. Möchtest du reinkommen?“, bot er mir ein wenig überfordert an, und ich
nickte unwirsch, wollte nicht ablehnen. Eine hübsche Frau kam in den Korridor.
Ich erkannte ihre Stimme, als sie sprach. Sie war die Stimme, die mich
reingelassen hatte.
„Wen
haben wir hier?“, fragte sie lächelnd.
„Frances
Weasley. Unsere Schulsprecherin aus Gryffindor“,
stellte er mich ein wenig verwundert vor. „Meine Frau, Rumer“,
wandte er sich an mich, und höflich lächelte ich der Frau mit den dunklen
Haaren entgegen. Im Vergleich zu ihr, musste ich aussehen wie ein Bergtroll.
„Hallo“,
sagte ich scheu.
„Also,
das ist das erste Mal, dass die Mädchen für dich bis vor unsere Haustür
kommen“, bemerkte seine Frau mit einem spöttischen Blick, und mein Mund fiel
auf.
„Oh…
oh nein! Nein, ich… bin nicht hier wegen Ihnen! Es… es geht um Ihren Vater“,
stotterte ich, und wurde noch röter, denn das klang nicht sonderlich besser.
Tatsächlich betrachtete er mich verblüfft, bevor Verständnis über sein Gesicht
fiel.
„Wegen
heute? Wegen der Beerdigung?“, fragte er, und er wandte sich wieder an seine
Frau. „Heute war die Beerdigung von Hermine Weasley“, sagte er knapp, und
Mitleid trat auf das Gesicht seiner hübschen Frau.
„Stimmt.
Das habe ich gelesen. Mein Beileid, Frances. Deine Großmutter war eine
wunderbare Person“, sagte Rumer, und ich nickte etwas
unwirsch.
„Ja,
danke. Könnte ich mit Ihnen reden? Allein?“, ergänzte ich, ohne unhöflich sein
zu wollen, aber Rumer lächelte freundlich, und
Professor Malfoy bot mir an, ihm zu folgen.
„Ich
bringe euch ein Glas Punsch“, rief seine Frau uns zu, und er führte mich durch
eine luxuriöse Halle, in einen Flur, der mit Perserteppichen ausgelegt war, hin
zu seinem Arbeitszimmer. Dort brannte ein Feuer im Kamin und er bot mir einen
Platz in einem der bequemen Sessel an, die davor standen.
„Du
kannst deinen Mantel ausziehen, wenn du willst.“ Ich folgte seiner
Aufforderung, denn langsam wurde mir ziemlich heiß.
„Sie
haben ein schönes Haus“, rang ich mir höfliche Floskeln ab, und er lächelte
freundlich. Mir fiel es immer schwer, in sein Gesicht zu sehen, und heute
besonders. Er machte mich immer verlegen, und ich war stolz, nicht so schwach
zu sein wie meine Freundinnen, und ihm niemals einen Liebesbrief geschrieben zu
haben.
„Danke
dir. Was… was kann ich für dich tun?“, erkundigte er sich dann. Ich atmete
lange aus.
„Ich…
weiß, Sie waren heute mit Ihrem Vater auf dem Friedhof“, begann ich langsam,
und tatsächlich nickte er kurz.
„Ja,
das stimmt. Hat… deine Familie es mitbekommen? Gab es deshalb ein Problem? Mein
Vater ist… manchmal nicht mehr völlig klar, und-“
„-nein,
es gab kein Problem!“, unterbrach ich ihn, auch wenn es nach Tante Roses
Ansicht nicht wirklich stimmte. Er runzelte die Stirn. „Ich…- das klingt
seltsam, aber… gäbe es eine Möglichkeit, dass ich… mit ihm sprechen könnte,
Sir?“, ergänzte sie vorsichtig, und er atmete lange aus.
„Darf
ich fragen, weswegen?“, erwiderte er, und ich war froh, dass er nicht direkt
ablehnte. Allerdings… konnte ich es ihm nicht sagen. Ich wollte es niemandem
sagen.
„Nein“,
entkam es mir entschuldigend. „Tut mir leid“, ergänzte ich, aber zu meiner
Überraschung lächelte er. Er erhob sich, und dann sagte er etwas Wunderbares.
„Dann
werde ich ihn mal holen, Frances“, schloss er, und meine Mundwinkel hoben sich.
„Er
ist hier?“, wagte ich zu fragen, und Professor Malfoy nickte.
„Über
die Weihnachtsferien ist er immer hier. Wie gesagt, er ist… vergesslich und
manchmal… unmöglich, aber… wenn es dir ein solches Anliegen ist, dann…- warte
kurz“, verabschiedete er sich, und unbehaglich bewegte ich mich auf dem Sessel.
Was tat ich eigentlich hier? Ich belästigte meinen Professor, zwang seinen
Vater, zu mir zu kommen, und weswegen überhaupt? Aber bevor die Zweifel Überhand nahmen, öffnete sich die Tür wieder, und seine
Frau brachte zwei Gläser Punsch.
„Wo
ist Scorpius?“, fragte sie mich verblüfft, und es klang so seltsam, dass sie
seinen Vornamen benutzte. Und mir fiel etwas ein.
„Sagen
Sie, waren sie die beste Freundin meiner Tante Rose?“ Und ehrlich gesagt, hatte
ich erwartet, dass sie mir höflich erklären würde, diesen Namen noch nie gehört
zu haben, aber tatsächlich öffnete sich ihr Mund kurz überfordert.
„Ahem… Rose Weasley?“, wiederholte sie. „Ich… nun…- wieso
fragst du?“, wich sie meinen Worten aus, und ich zuckte die Achseln.
„Aus
keinem bestimmten Grund“, entgegnete ich.
„Hat…-
hat sie von mir gesprochen?“, wollte die Frau plötzlich wissen, und ich öffnete
unschlüssig den Mund. Es war einfacher so.
„Ja,
heute“, bestätigte ich, obwohl es nicht ganz stimmte.
„Oh“,
entfuhr es ihr lediglich.
„Entschuldigen
Sie. Ich wollte nicht-“
„-nein,
schon gut“, unterbrach sie mich. „Entschuldige mich, Frances.“ Damit war sie
auch schon wieder verschwunden. Ich hoffte mal, das würde kein Problem werden.
Ich konnte meinen Mund einfach nicht halten.
Und
dann schwang die Tür wieder auf.
„So,
hier sind wir“, schien er seinem Vater zu erklären, und ich erhob mich
automatisch. Es war irgendein Reflex, wenn ich ältere Menschen sah. Mich
überkam das Bedürfnis, höflicher zu sein, als sonst. „Das ist Frances Weasley,
Dad. Frances, mein Vater. Draco Malfoy“, stellte er ihn vor, und ich konnte
nicht behaupten, dass er dem Mann auf dem alten Foto ähnlich sah. Nur die Haare
waren noch immer voll. Das Gesicht trug viele Falten, aber er war schlank,
etwas kleiner als sein Sohn, und ich trat vorsichtig näher. Ich reckte ihm
meine eiskalte Hand entgegen. Der Mann musterte mich kurz, mit schmalen alten
Lippen, bevor er meine Hand schüttelte. Seine Hand war sehr warm. „Sie hat dich
heute auf dem Friedhof entdeckt, Dad“, erläuterte Professor Malfoy in einem
missbilligenden Ton.
„Oh“,
entfuhr es dem Mann, als hätte er es schon wieder verdrängt. „Richtig“, sagte
seine alte Stimme. „Weasley“, wiederholte er mit plötzlichem Verständnis.
„Dann…
ruf mich, wenn was ist, ja?“, wandte er sich direkt an mich, und ich nickte
unbeholfen.
„Was
soll sein?“, fragte sein Vater jetzt eindeutig, aber Professor Malfoy zuckte
die Achseln.
„Keine
Ahnung, Dad. Sei einfach nett und beherrsch dich“, warnte er seinen Vater, und
dieser schnalzte mit der Zunge.
„Also
wirklich!“, entfuhr es ihm. Professor Malfoy verschwand, ließ uns alleine. „Ist
das zu fassen“, wandte er sich an mich. Dann besann er sich und betrachtete
mich ratlos. „Ich vergesse vieles, aber dass eine junge Dame mich besucht – das
wäre mir im Gedächtnis geblieben“, sagte er, kam humpelnd näher und setzte sich
stöhnend in einen der Sessel. Sofort reagierte ich und reichte ihm ein Glas
Punsch. Das war der Mann, der die Briefe geschrieben hatte. Derselbe Mann! Der
meiner Großmutter heimlich Schlüssel zugeschickt hatte, damit sie sich treffen
konnten, um… na ja. Um was auch immer zu tun, dachte ich beschämt. „Ich danke
dir, Mädchen.“ Das war der Mann, der meinen Lesegeschmack maßgeblich geprägt
hatte, und ich hatte sehr viele Fragen.
„Mr.
Malfoy“, begann ich, und setzte mich ihm gegenüber, „ich… war heute im Haus
meiner Großeltern, da… wir es entrümpeln, weil…“ Ich wusste, ich erzählte
unnötige Dinge. „Auch egal, jedenfalls“, besann ich mich und biss mir wieder
auf die Lippe.
„Wie…
wie war dein Name?“, unterbrach er mich, und kurz trat Verwirrung auf seine
Züge.
„Frances“,
wiederholte ich etwas aus dem Konzept gebracht. Er hatte mich schon wieder
vergessen. „Frances Weasley“, ergänzte ich, ein wenig fragend.
„Weasley?“, wiederholte er ebenfalls.
„Sie…
kenne meine Großeltern“, sagte ich dann. „Ron und Hermine?“ Kurz versteiften
sich seine Gesichtszüge. „Sie… waren heute auf dem Friedhof?“, fuhr ich fort.
„Ja“,
sagte er dann.
„Meine
Großmutter Hermine wurde heute beerdigt“, erläuterte ich, nur für den Fall.
Aber der Satz schickte einen direkten Kloß in meinen Hals. Der Mann hatte sehr
helle Augen, und er musterte mich aufmerksam.
„Das
tut mir sehr leid“, sagte er schließlich, und ich bekämpfte die Tränen. Ich
nickte heftig.
„Ja,
mir auch“, erwiderte ich tonlos. Seinem Gesicht war keine Regung anzumerken.
Ich riss mich zusammen. „Ich habe heute einen Stapel Briefe gefunden“, begann
ich zögerlich und griff in meine unpassende Kapuzenjacke. Ich zog den Stapel
unsortierter Briefe hervor und hielt sie ihm entgegen. Er betrachtete sie eine
Weile.
„Was
ist das?“ Verständnislos sah er mich an.
„Sie…
Sie haben sie geschrieben“, erwiderte ich zaghaft. Langsam hob sich seine vor Altersschwäche
zitternde Hand, und er nahm sie mir ab. Stirnrunzelnd entfaltete er eines der losen
Blätter. Er verengte die Augen, hielt das Pergament ein Stück weit weg, denn
anscheinend konnte er nicht mehr gut sehen.
„Ein
Elend, dass ich meinen Zauberstab abgeben musste“, murmelte er. „Kind, kannst
du es vorlesen?“, fragte er mich, und mit zitternder Stimme las ich die Zeilen,
die ich heute schon mal gelesen hatte. Danach sah ich ihn an.
Seine
Mundwinkel hatten sich ein wenig gehoben.
„Erinnern
Sie… sich?“, fragte ich ihn hoffnungsvoll, und er atmete schließlich aus.
„Tut
mir leid, ich… weiß nicht, wovon du sprichst“, erwiderte er aufrichtig.
Enttäuscht atmete ich aus.
„Sie…
Sie haben all diese Bücher empfohlen“, sprach ich leise. „Alle meine
Lieblingsbücher. Meine Großmutter hat sie mir alle geschenkt. Und ich… weiß, es
muss ihr sehr viel bedeutet haben, sonst hätte sie sie mir nicht gegeben. Und…
Ihre Meinung in den Briefen war so differenziert, und ich stimme völlig mit
Ihnen überein, aber… na ja. Wenn Sie es nicht mehr wissen, dann…“ Ich seufzte
auf, hob den Blick, und tatsächlich musterte er mich mit eigenartiger
Wachsamkeit. Er räusperte sich und sprach mit ausgewählt ruhiger Stimme.
„Was
genau wolltest du heute von mir wissen?“, fragte er schließlich, und ich zuckte
die Achseln.
„Ich
wollte wissen- mich hatte interessiert, ob…“ Es fiel mir schwer, aber dann
fragte ich einfach. „Hatten Sie… nach der Hochzeit meiner Großmutter noch
Kontakt? Waren Sie…- Hatten Sie-“
„-ja?“
Und für eine kurze Sekunde, hatte ich das Gefühl, er wusste sehr genau, worauf
ich hinaus wollte, aber er tat mir den Gefallen nicht, beantwortete keine ungestellte Frage, und fast glaubte ich, mildes Interesse
in seinem Blick zu erkennen.
„Gab
es noch… weitere Treffen? Das hätte mich interessiert. Aber wenn Sie es nicht
wissen“, schloss ich, und versuchte, seinem Blick nicht auszuweichen. Dann öffnete
sich sein Mund, aber er sagte gar nichts. Sein Blick fokussierte, als hätte er
etwas gehört.
„Ich
habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst“, erwiderte er lauter, und
nickend fiel mein Blick. Das war unerfreulich. Und wirklich schade. Aber
wahrscheinlich war er zu alt, um sich wirklich noch zu erinnern. Die
Kriegsgeneration war eine bedauerliche Generation, die wesentlich schlimmere
Folgen im Alter nach sich trug, als andere. Es war nicht unwahrscheinlich, dass
sich Mr. Malfoy nicht mehr entsinnen konnte.
Ich
trank einen Schluck Punsch, bevor ich die Briefe wieder verstaute und mich
zurücklehnte. „Erinnern Sie sich an den ‚Winterwolf‘?“, fragte ich ihn
schließlich, und er sah mich sehr ernst an. „Von Darwin Danes?“, ergänzte ich,
was mir noch im Gedächtnis war. Er lehnte sich vor.
„Würdest
du mich kurz begleiten?“, fragte er mich, mit sehr stiller Stimme. Ich
blinzelte verblüfft.
„Sicher?“,
entkam es mir, ohne nachzudenken. Er versuchte, aufzustehen, aber ich sprang
hoch und half ihm sofort, hakte seinen Arm unter, und er schenkte mir ein
knappes Lächeln.
„Sehr
zuvorkommend, danke“, sagte er. Wir gingen zur Tür, aber schon öffnete sie sich.
„Alles ok hier drin?“, fragte Professor Malfoy, und ich wunderte mich, ob er
die ganze Zeit draußen gestanden hatte. Und gleichzeitig fragte ich mich, ob
Mr. Malfoy das gewusst hatte.
„Alles
gut. Miss äh-?“
„-Weasley“,
half ich ihm auf die Sprünge.
„Miss
Weasley hilft mir.“
„Das
kann ich auch übernehmen“, mischte sich Professor Malfoy ein, aber Mr. Malfoy
behielt meinen Arm fest im Griff. Unnatürlich fest.
„Nein,
ich denke, das schafft sie schon, nicht wahr?“ Und sehr kurz spürte ich seinen sanften
Kniff. Und ich reagierte zügig.
„Ja.
Natürlich. Kein Problem. Ich… helfe gern“, fielen die Worte aus meinem Mund,
und Professor Malfoy atmete lange aus.
„Fünf
Minuten“, warnte er vielleicht mich oder seinen Vater. Ich war mir nicht völlig
sicher.
„Fünf
Minuten“, wiederholte sein Vater lächelnd. „Als ob man irgendetwas in fünf
Minuten in meinem Alter noch schaffen würde. Fünf Minuten“, sagte er wieder
kopfschüttelnd, und wir schlichen durch den Flur. Er war sehr langsam.
Zumindest, bis wir außer Sicht seines Sohnes waren. Dann auf einmal löste sich
sein Griff um meinen Arm, und sein Schritt wurde schneller. „Fünf Minuten“,
wiederholte er spöttisch, und wir erklommen recht zügig die Stufen nach oben.
„Mein Sohn hätte Auror werden sollen, mit seinen
Methoden“, bemerkte er etwas bitter, und wir erreichten wohl sein Gästezimmer.
Seine Habseligkeiten waren bereits ausgepackt.
„Frances,
schließ die Tür“, bat er mich, und verwundert folgte ich seinen Worten.
Scheinbar erinnerte er sich doch an meinen Namen. Er öffnete die Schranktür,
bückte sich zu seinem Reisekoffer und öffnete ein Fach am Rand. Und zu meiner
Überraschung holte er ein Buch hervor. Kurz fuhr seine Hand über den Einband, bevor
er sprach. „Es ist… eine Liebesgeschichte“, erklärte er plötzlich nachdenklich.
„Sie… geht nicht gut aus, aber… die meisten Liebesgeschichten enden tragisch.
Zumindest die wirklich guten“, ergänzte er mit scheinbar wissendem Blick.
„Gutes Buch“, sagte er, ehe er es mir entgegenhielt. Ich hob den Blick zu
seinen alten Augen, deren eisgraue Farbe allerdings kein Alter zu zeigen
vermochte. „Hier“, sagte er ernst und ich nahm den ‚Winterwolf‘ entgegen. Ich
wollte ihn gewohnheitsmäßig öffnen, aber er schüttelte den Kopf. „Nicht hier“,
sagte er rasch. Ich runzelte die Stirn. „Behalte es, bevor mein Sohn noch
dahinter kommt. Mit den Jahren wird er findiger. Und das will ich doch
vermeiden“, ergänzte er ernst.
„Hinter
was?“, fragte ich tonlos, denn dieser Mr. Malfoy wirkte nun gar nicht
vergesslich und verwirrt. Er sah mich kurz an.
„Wärst
du in der Lage, ein Geheimnis zu behalten?“, fragte er mich offen, und mit
großen Augen sah ich ihn an.
„Ein
Geheimnis?“, wiederholte ich gespannt, und er nickte.
„Zwar
hatte nicht vorgehabt, ausgerechnet diese Sache auf meinen alten Tage noch zu
beichten, aber… heute ist ein besonderer Tag, nicht wahr?“ Sein Lächeln
verblasste, bis es verschwand. Und ich schluckte schwer.
„Hat…
hat sie zurückgeschrieben?“ Er sah mich kurz verständnislos an, dann nickte er
feierlich.
„Seitenlang“,
bestätigte er knapp, und diese Erinnerung schien ihm zu gefallen. Dann seufzte
er leise. „Ich… habe ihre Briefe nicht mehr. Der Vorsicht halber habe ich sie
vernichtet. Meine Frau Astoria, Merlin hab sie selig, war sehr eifersüchtig,
und… garantiert hätte sie sie irgendwann entdeckt.“ Auch Grannie
Mine hatte sich Mühe gegeben, die Briefe zu verbergen.
„Sie…
hatten eine Affäre mit meiner Großmutter.“ Es sollte eine Frage sein, aber… es
klang wie eine Feststellung aus meinem Mund. Und Mr. Malfoy sah mir kurz fest
in die Augen, bevor die Hände in den Taschen seiner Hose vergrub.
„Dein
Großvater-“, begann er, aber ich unterbrach ihn, denn ich kannte die Beziehung
meiner Großeltern.
„-er
hat ihre Hobbys nie geteilt, nie ein Buch gelesen, und ich hatte nie
verstanden, wieso sie…“ Ich schwieg erschrocken. Ich hatte meinen Großvater geliebt.
Ich hatte nur immer das Gefühl verspürt, dass... er
und meine Großmutter nie sonderlich gut zusammen gepasst hatten. Das war alles.
„Er war ein wunderbarer Großvater“, korrigierte ich mich schließlich, und Mr.
Malfoy nickte langsam.
„Davon
gehe ich aus“, erwiderte er sanft.
„Ich
danke Ihnen, für die vielen Buchempfehlungen. Meine Großmutter hat Ihren Geschmack
gebraucht“, sagte ich offen.
„Vielen
Dank“, entgegnete er lächelnd. „Ich… hatte sie gefragt. Damals“, ergänzte er.
„Ob sie… meine Frau werden würde.“ Es fiel ihm schwer, die Worte zu sagen. Ich
hörte ihm zu. Und ich hatte es geahnt! „Aber…“
„Aber
sie hat Nein gesagt“, entfuhr es mir still.
„Ja“,
bestätigte er dumpf. „Sie… sie war schwanger. Mit…“
„Mit
Tante Rose“, entfuhr es mir atemlos. Hatte sie Grandpa
Ron deshalb geheiratet? Ich fragte es nicht laut, wollte es gar nicht so genau
wissen.
„Na
ja…“, schloss er, aber ich sah ihn wieder an.
„Aber
das war nicht das Ende, oder?“, wisperte ich, und sein folgendes Lächeln
verlieh ihm fast einen sehr jugendlichen Glanz.
„Nein“,
erwiderte er. „Nein, das war es nicht“, wiederholte er wehmütiger, und ich
hatte sehr viele Fragen.
„Mr.
Malfoy-“, begann ich, aber schon klopfte es hinter uns gegen die Tür.
„Dad?“,
hörte ich die scharfe Stimme seines Sohnes.
„Lass
das verschwinden“, sagte Mr. Malfoy tonlos zu mir, und fast hastig zog ich
meinen Zauberstab, verkleinerte das Buch und stopfte es ebenfalls in meine
Innentasche. „Scorpius will dieses Geheimnis seit Jahren aus mir rauspressen,
aber ich gönne ihm diesen Triumpf nicht“, erklärte er sehr kryptisch, und
unentschlossen sah ich ihn an. „Tu einem alten Mann diesen Gefallen, Frances.“
Schon öffnete sich die Tür, bevor ich etwas erwidern konnte.
„Alles
in Ordnung?“ Professor Malfoy schenkte uns einen sehr inquisitorischen Blick,
und ich wandte mich hastig um.
„Ja“,
sagte ich bloß. „Mr. Malfoy hat mir… sein Zimmer gezeigt.“ Es war eine
erbärmliche Ausrede, aber Mr. Malfoy lächelte milde.
„Ich
bekomme selten Besuch“, sagte er dann, die Stimme wieder etwas träger, und er spielte ein gutes Spiel.
„Ich
sollte gehen“, entgegnete ich schließlich.
„Du
kannst gerne noch bleiben, Frances“, sagte Professor Malfoy jetzt, aber ich
schüttelte lächelnd den Kopf.
„Es
war… sowieso schon problematisch, überhaupt gehen zu dürfen“, schloss ich etwas
schuldbewusst.
„Dein
Vater hatte was dagegen?“, vermutete er dann, und ich schüttelte den Kopf.
„Ich…
habe nicht gesagt, wohin ich will, also…“, begann ich beschämt.
„Verstehe“,
sagte er bloß.
Schließlich
verabschiedete ich mich von einem offensichtlich wieder verwirrten Mr. Malfoy
und holte meinen Mantel aus dem Büro. Ich wünschte Professor Malfoy noch schöne
Feiertage, während er mir noch mal sein Beileid bekundete.
Schließlich
war ich auf dem Rückweg, apparierte in die
anbrechende Dunkelheit, und meine Mutter wartete bereits am Küchenfenster. Sie
öffnete die Haustür, noch bevor ich aufschließen konnte, maßregelte mich eine
ganze Weile lang, und ich ließ es über mich ergehen.
Dann
stahl ich mich nach oben, versprach, mich umzuziehen, um anschließend artig am
Esstisch zu sitzen, aber zunächst zog ich das verkleinerte Buch hervor, um es
wieder groß zu zaubern.
Als
ich es aufklappte, erkannte ich die Desillusionierung direkt. Die
Seitenstruktur war verändert. Ein verstecktes Fach war eingefügt worden. Darin
lag mit einem Seidenband umwickelt ein sündhaft teurer Ring – er war umsäumt
mit funkelnden Diamanten, und das Elfensilber glänzte strahlend hell – und
daneben lag eine schmale Phiole mit undurchsichtiger Flüssigkeit. Es war eine
Erinnerung, wurde mir sofort klar! Mr. Malfoy hatte mir eine Erinnerung
gegeben! Und anscheinend einen Verlobungsring.
Merlin,
ich wollte sie sehen! Aber ich wusste schon jetzt, dass ich garantiert nicht
unbemerkt ins Arbeitszimmer meines Vaters gehen konnte, um ungestört eine
fremde Erinnerung in seinem Denkarium anzusehen.
Mist.
Bis
heute Nacht würde ich mich gedulden müssen. Ich sank mit klopfendem Herzen aufs
Bett. Es war… so romantisch, oder?
Und
fast ertappte ich mich dabei, wie ich ein wenig bereute, dass kein weiterer
Malfoy in meinem Alter auf Hogwarts war. Der andere
Schulsprecher war der sehr intelligente, wenn auch stark übergewichtige, Trevor
MacArthur. Und er war in etwa so romantisch wie ein Kröter
im Winterschlaf. Niemals im Leben könnte ich mir vorstellen, eine
jahrzehntelange Affäre mit ihm zu haben.
Jetzt,
wo das Buch leer war, wirkte die Desillusionierung nicht, und ich konnte darin
lesen.
Fast
macht es jetzt ein wenig mehr Sinn, dass Grandpa Ron
die Malfoys nie hatte leiden können. Hatte er von
dieser Verbindung geahnt? Ich glaubte fast, das hatte er nicht. Es war so
aufregend – und niemand wusste davon! Absolut niemand! Na ja, vielleicht ahnte
Professor Malfoy etwas. Und vielleicht ahnte mein Vater etwas? Ich war mir
nicht sicher.
Was
Romantik anging, war meine Familie sehr langweilig. Es gab keine wilden
Geschichten, keine gebrochenen Herzen, es sei denn, es stimmte, was Onkel Albus
über Tante Rose erzählt hatte. Ansonsten… gab es nichts außer der Norm.
Ich
las die erste Seite, und ich wusste jetzt schon, dieses Buch würde mir gut
gefallen. Es spielte im Winter, im ersten Zeitalter – und solche Geschichten
liebte ich. Tragische Liebe setzte dem Ganzen die Krone auf, und es kribbelte
mir in den Fingern, dieses Buch anzufangen.
Es
war Draco Malfoys letzte Buchempfehlung gewesen.
Und
es war das erste Geheimnis meines Lebens. Lächelnd stellte ich mir vor, ob
meine Großmutter wenigstens den Anstand besitzen würde, rot zu werden, wüsste
sie, dass ich ihr kleines Geheimnis aufgedeckt hatte.
Aber
sie hatte es faustdick hinter den Ohren. Wahrscheinlich besäße sie die Dreistigkeit,
mir ins Gesicht zu lügen oder ebenfalls eine Altersschwäche vorzutäuschen. Und
dann wurde mir klar, dass ich sie niemals mehr fragen
konnte. Kurz schloss ich die Augen, als ich die Tränen wieder spürte.
„Frances?
Kommst du zum Essen?“, rief meine Mutter von unten, und ich zwang mich, nicht
mehr zu weinen. Ich versteckte das Buch in meiner Schreibtischschublade, samt
Ring und Erinnerung und würde mir noch ein glaubhaftes Alibi ausdenken müssen,
weshalb ich vorhin hatte gehen müssen. Aber im Ausdenken war ich Meister. Ich
liebte Geschichten jeder Art und Form. Mir würde schon etwas einfallen. Ich
würde Hermine und Dracos Geheimnis schon für mich behalten.
Unten
angekommen, erkannte ich meinen Vater schon im Esszimmer, während er
gedankenverloren eine Flasche Wein aus dem Regal aussuchte. Ich schloss den
Abstand und umarmte ihn fest von hinten. Und ich war ehrlich froh, dass Grannie Mine Grandpa Ron
geheiratet hatte. Sonst hätte sie meinen Dad nicht bekommen. Vielleicht war es
im Detail nicht die richtige Entscheidung von Grannie
Mine gewesen – aber… im Großen und Ganzen war es das absolut Richtige.
„Hey,
Kleine“, sagte mein Vater verwundert, drehte sich um und umarmte mich fest. Ich
nickte gegen die weiche Wolle seines Pullovers. Tante Lily hatte uns dieses
Jahr auch wieder passende Familienpullover gestrickt, aber meiner lag noch oben. „Alles in Ordnung?“, fragte er mich und strich
über meine krausen Haare.
„Ich
weiß nicht“, nuschelte ich wahrheitsgemäß, und er seufzte tief.
„Das
wird schon“, versprach er mir. Auch meine Mum kam ins
Esszimmer, umarmte uns beide, und als ich meinen Dad weinen hörte, schloss ich
fest die Augen. Und plötzlich fiel mir das letzte Gespräch mit meiner
Großmutter wieder ein. Es war vor drei Monaten gewesen. Sie hatte auf ihrem
alten Schaukelstuhl gesessen, und im Kamin hatte ein gemütliches Feuer gebrannt.
Es war das Ende der Ferien gewesen, und der September hatte kalte Tage
gebracht.
‚Erzähl
mir von Hogwarts‘, hatte sie mich gebeten, während
ich an ihrem Wohnzimmertisch schon mal meine Unterlagen vorsortiert hatte.
‚Was
soll ich erzählen, Grannie?‘,
hatte ich lächelnd erwidert.
‚Wer
wird der andere Schulsprecher sein?‘, hatte sie
gefragt. Ich hatte die Achseln gezuckt.
‚Ein
Junge aus Ravenclaw wahrscheinlich‘, hatte ich
erwidert. Dann hatte sie gelächelt.
‚Ja?
Ist er gutaussehend?‘, hatte sie mich dann mit einem
zwinkernden Blick gefragt, und ich war minimal rot geworden.
‚Ich
weiß nicht. Ich… glaube nicht‘, hatte ich gesagt und hatte mich schwer
geschämt.
‚Hast
du einen Lieblingslehrer, Frances?‘ Ihre
haselnussbraunen Augen waren warm und freundlich gewesen. Und wieder war ich
noch röter geworden.
‚Sie
sind alle gut, Grannie‘, hatte ich behauptet, aber
sie hatte gelacht.
‚Na,
dann hast du Glück, mein Goldstück. Vergiss nicht, schrecklich viel Spaß zu
haben, ja?‘, hatte sie mich dann sehr ernst gebeten.
‚Ja‘,
hatte ich leichthin erwidert, aber sie hatte mich ernst angesehen.
‚Versprich
mir das. Versuche immer, einen Grund zum Lachen zu haben. Und sei es mit einem
herrlichen Buch‘, hatte sie mich gewarnt. Ich hatte gelacht und genickt.
‚Versprochen?‘, hatte sie wiederholt, und ich hatte
seufzend die Hand auf meine Brust gelegt.
‚Versprochen,
Grandma.‘
Ich
seufzte lange auf. Hätte ich sie doch vor ein paar Monaten gefragt! Hätte ich
sie gefragt, ob sie einen Lieblingslehrer gehabt hatte, ob der andere
Schulsprecher gutaussehend gewesen war. Aber… das war er wohl gewesen. Ich
wusste genau, was sie gesagt hätte. Es wäre gewesen, wie immer, wenn sie mir
eine sehr gute Geschichte erzählt hätte. Ihre Augen hätten geleuchtet, und sie
hätte erzählt, dass ausgerechnet sie als Muggelgeborene
und ausgerechnet ein reinblütiger Slytherin
ausgewählt worden waren. Und wahrscheinlich hätte sie mir dann von seinem guten
Aussehen und seinem erlesenen Büchergeschmack berichtet, und dass ihre Freunde
Harry und Ron ihn beide nicht hatten ausstehen können….
Ja.
Ungefähr so. So fingen die guten Liebesgeschichten immer an.
Wir
standen noch eine Weile eng umschlungen in unserem Wohnzimmer, und ich hoffte,
dass meine Großmutter in ihrem späteren Leben immer einen Grund zum Lachen
gehabt hatte. Dass sie in ihren Büchern zumindest immer das perfekte Ende
gefunden hatte.
Und
ich war gar nicht mehr so traurig. Ich war dankbar für das Leben meiner
Großmutter. Sie war immer mein Vorbild gewesen. Und für mich würde ihre geheime
Geschichte erst heute Nacht wirklich beginnen, wenn ich in die verbotene
Erinnerung eintauchte. Ein Mensch konnte mehr als ein Leben leben,
in seiner Zeit hier auf dieser Welt. Ein Leben vor dem Krieg, ein Leben nach
dem Krieg, ein Leben, das alle anderen sehen konnten, und dann noch eines, was
niemand sah.
Mum und Dad erzählten an diesem
Abend noch viele Geschichten von damals, von Grannie Mines Heldentaten. Ich hatte nie Auror
werden wollen, aber vielleicht… überlegte ich mir das noch mal. Wenn meine
Großmutter es gewesen war, dann konnte es keine schlechte Entscheidung gewesen
sein. Vielleicht würde man dort einen hübschen jungen Mann kennenlernen, mit
dem besten Büchergeschmack auf Merlins weiter Erde….
Es
war ein netter Gedanke, dass noch ein unentdecktes Leben auf mich wartete. Wer
wusste schon, was noch alles passieren würde? Wer wusste, welche Geschichten
man erzählte, und welche man tatsächlich lieber für sich behielt?
–
The End –